Filmische Codes zur Gestaltung medialer Selbstreferenzen in - Menschen am Sonntag
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Humboldt-Universität zu Berlin Institut für deutsche Literatur Seminar: Berlin. Mediengeschichte einer Stadt Wintersemester 2020/21 Filmische Codes zur Gestaltung medialer Selbstreferenzen in Menschen am Sonntag (1930) Weshalb und wie kritisiert „Filmstudio 1929“ das Gegenwartskino seiner Zeit? Thomas Roesnick Deutsche Literatur (3. Fachsemester) Master Datum der Einreichung: 07.04.2021
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung..........................................................................................................................................1 2. Ein Filmstudio zeigt seinen ersten Versuch.......................................................................................7 3. Filmkomparsin läuft sich in Berlin die Absätze schief....................................................................12 4. Kinowelten-Lebenswirklichkeits-Relationen..................................................................................16 4.1 Der Außenraum der Stadt.........................................................................................................16 4.2 Der Innenraum der Stadt...........................................................................................................24 4.3 Der Wannsee.............................................................................................................................35 5. Schlussbetrachtungen......................................................................................................................43 Abbildungsverzeichnis........................................................................................................................46 Literaturverzeichnis.............................................................................................................................48
1. Einleitung Abbildung 1: Babylon Berlin (2017) Staffel 1 Folge 3 (00:38:10) Im Jahr 2017 erscheint mit der Serie Babylon Berlin die bislang teuerste deutsche Fern- sehproduktion mit einem Rekordbudget von 40 Millionen Euro.1 International erfährt die Serie auch ein großes Publikum und wurde vom Sender HBO ausgestrahlt. Die Handlung wird in die politische Umbruchphase, vor der Zeit des NS-Regimes, in das Frühjahr 1929 gelegt. In Folge 3 der ersten Staffel (2017) sieht die Hauptfigur Charlotte Ritter im Kino den Film Menschen am Sonntag (1930).2 Der mit geringem Budget (7.000 RM3/21.700 Euro bei 1 Reichsmark (1929) gleich 3,10 Euro (2021) nach Statis- tischem Bundesamt) umgesetzte Film erhält eine Hommage in der größten deutschen Serienproduktion der Gegenwart. Der Regisseur und Drehbuchautor von Babylon Ber- lin, Achim von Borries, führte im September 2020 den Zuschauer per Videoanmoderati- on in den Film von 1930 ein. Vor Ausstrahlung der neuen 12 Folgen der dritten Staffel 2020 wurden 12 Filme aus der Zeit von 1920 bis 1930 in der ARD Mediathek gezeigt. Achim von Borries führt Menschen am Sonntag als Inspirationsquelle für die Serie an. 4 So wurde vor Drehbeginn der ersten Staffel der Film allen Schauspieler*innen zur Ein- stimmung auf die Zeit vorgeführt. Er betont, wie nahe der Film an unserer Zeit ist und das moderne Gewand des Films bis heute Filmemacher nachhaltig prägt. 1 Mammutprojekt „Babylon Berlin“: ARD und Sky spendieren Tykwer-Serie Rekordbudget 2 Menschen am Sonntag wurde erst am 4. Februar 1930 im UFA-Theater UT Kurfürstendamm uraufgeführt. In Babylon Berlin wird der Film aus erzählerischen Motiven im Mai 1929 gezeigt. 3 Vogt 2001, S. 225. 4 Achim von Borries über "Menschen am Sonntag" ARD 18.09.2020 1
Abbildung 2: People On Sunday (2020) Regie:Tulapop Saenjaroen Die Inspiration und der Einfluss von Menschen am Sonntag weitet sich auf die Welt aus. Im Jahr 2020 verfilmt der 36-Jährige thailändische Filmkünstler Tulapop Saenjaroen eine Version für das 21. Jahrhundert. Die Neuinterpretation People On Sunday (2020) zeigt als Kurzfilm (20:53 Minuten) bildliche Motive des Originals (Abb. 2 5) auf. In sei- nem Film verarbeitet Saenjaroen die Zeitökonomien einer digitalisierten Welt. Das Wo- chenende ist nicht mehr gänzlich als Rückzugsort von der Arbeitswoche (Montag-Frei- tag) getrennt. Eine digitale Kommunikation in Echtzeit gewährt heute über technische Geräte wie Smartphones neue Arbeitsmethoden - auch das Lesen und Schreiben von Nachrichten am Wochenende vor einer Seekulisse. Die medialen Verweise zeigen die Aktualität von Menschen am Sonntag auf. Der halb- dokumentarische Stummfilm von Moriz Seeler (1896-1942), Robert Siodmak (1900- 1973), Curt Siodmak (1902-2000), Edgar G. Ulmer (1904-1972), Eugen Schüfftan (1886-1977), Fred Zinnemann (1907-1997) und Billy Wilder (1906-2002) aus dem Jahr 1930 erfuhr nach seiner Erstaufführung eine große Popularität in deutschen Kinos und internationalen Kinotheatern. So wurde der Film 1930 bereits im britischen Raum als People On Sunday in Kinos aufgeführt. Menschen am Sonntag zeigt universale Themen einer Großstadt wie Arbeits- und Freizeitverhältnisse, Stadt-Land-Konstellationen, Be- ziehungsmuster junger Stadtmenschen, die auch abseits von Berlin rezipiert werden 5 People On Sunday (2020) 2
können. Als Vertreter der Neuen Sachlichkeit im Film stehen Handlungsthemen der Ge- genwart, realistische Drehorte und menschliche Porträts im Fokus.6 7 So transportiert der „Film ohne Schauspieler“ ein modernes Lebens- und Stadtgefühl bis in die heutige Zeit hinein. Menschen am Sonntag gewährt den Zuschauer*innen den ausschnitthaften Blick auf ein spielerisch leichtes Wochenende in der Großstadt (Drehzeit: 13.07.1929 - 11.12.1929)8 bevor Weltkrieg und die Wirtschaftskrise einsetzten. Dieser Querschnitts- film ist eine Zeitreise in die Weimarer Republik Berlins und Gegenwartsbetrachtung zu- gleich, weil er aus einer modernen, experimentellen Sicht produziert wurde. Zugleich kritisiert der „erste Versuch“ bereits das etablierte Gegenwartskino. Das „Filmstudio 1929“ ist sozusagen ein Start-Up der 20er Jahre. Das junge Filmteam startete ab 1932 Karrieren in Hollywood. Billy Wilder (6 Oscars, 21 Nominierungen), Fred Zinnemann (5 Oscars, 11 Nominierungen), Robert Siodmak und Edgar G. Ulmer erhielten bei den Preisverleihungen der Oscars eine dauerhafte Sitzplatzreservierung. Die Schauspielerin- nen in den weiteren Filmen hießen danach auch nicht mehr Christl oder Brigitte, son- dern Marilyn Monroe, Audrey Hepburn, Grace Kelly. In Berlin drehte Wilder noch zwei weitere Filme: A Foreign Affair (1948) und Eins, zwei, drei (1961). Die Verbreitung und Aktualität von Menschen am Sonntag wird zugleich durch eine me- diale Zugänglichkeit erhöht. Neueste Technik und digitale Verfahren der Rekonstruktion und Restauration werden von Archiven weltweit nach „philologischer“ Exaktheit ausge- führt.9 Der Filmrestaurator von Menschen am Sonntag, Martin Koerber (Deutsche Kine- mathek Berlin), beschreibt diesen Vorgang als Wiederherstellung und Annäherung an den Originalzustand von teils unvollständig erhaltenen Filmen.10 Bei der Uraufführung des Films im Februar 1930 umfasste die Filmlänge 2.014 m im Originalnegativ, welches danach verlorengegangen ist. Zu einer gekürzten niederländischen Verleihfassung (1.615 m) wurden 224 m Filmmaterial aus der Schweiz, Belgien und Italien ergänzt. Die neue Filmlänge beträgt seit 1998 1.839 m bei einer Laufzeit (Blu-ray) von 01:14:32. Demnach sind 91,3 % des Films erhalten. Heute fehlen noch 175 m, was umgerechnet 00:07:06 sind. Die Zwischentitel wurden mit der Zensurkarte abgeglichen und werden heute in der originalen Darstellung gezeigt. 6 Vgl. Rother 1997, S. 217. 7 Vgl. Filmstile 2016, S. 81. 8 Vogt 2001, S. 224. 9 Vgl. Monaco 2017, S. 210. 10 Vgl. Koerber 1997, S. 123. 3
Abbildung 3: Menschen am Sonntag / Mediabook (2018) Abbildung 4: Menschen am Sonntag, Digitalisierung 2K-Scan 2014 (00:00:30) 4
Der Film erhielt zusätzlich digitale Restaurierungen sowie im Jahr 2014 einen 2K-Scan mit einer Auflösung von bis zu 2048 Pixeln in der Breite (Abb. 4, Seite 4). Das im Ok- tober 2018 veröffentlichte Mediabook (Abb. 3) liefert neben dem Original-Filmplakat als Titelmotiv erstmals einen 2K-Scan, welcher auf Blu-ray und ARD Mediathek als HD-Stream eine neue Generation von Rezipienten erreichen kann. Der Wechsel eines Speicherdatenmediums (VHS>DVD>Blu-ray/HD-Stream) mit höherer Bildauflösung kann somit erheblichen Zugewinn bei einer Filmanalyse leisten. Im Vergleich dazu ha- ben gedruckte Texte keine derartige Steigerung bei Rezeptionsprozessen. Die Erstaufla- ge eines Textes von 1929 hat zumeist bereits einen hochwertigen Schriftdruck erhalten. Die gesteigerte Bildqualität von Filmen kann dabei helfen, neue Beobachtungen genau auszurichten, die für das lesende Publikum von Filmkritiken oder wissenschaftlichen Arbeiten relevant sein können. In der Hausarbeit soll es um die Frage gehen, weshalb und wie der Film Menschen am Sonntag mediale Selbstreferenzen zu Film und Kino aufzeigt und sogleich kritisiert. Welche filmischen Codes bzw. Zeichen nutzt der Film, um intertextuell auf die Filmin- dustrie bzw. mediale Verhältnisse zu verweisen? Welche Medientechnologien werden im Film gezeigt? Welche Funktionen können diese für die Erzählung haben? Weshalb thematisiert der Film Menschen am Sonntag das Gegenwartskino? Wie steht es dabei um die Kinowelten-Lebenswirklichkeits-Relationen? Welche experimentellen Anord- nungen sind bereits im Zwischentitel „Filmstudio 1929 zeigt seinen ersten Versuch“ zu identifizieren? Was für eine Berliner Filmindustrie wird gezeigt, wenn sich eine Film- komparsin die Absätze schief läuft? Die Fragen zu beantworten, kann für den Leser der Hausarbeit einen Mehrwert dahinge- hend bieten, dass hier das Thema präzise auf die Filmwelt und Medienverhältnisse ge- legt wird. So kann es folgerichtig in der Hausarbeit nicht geleistet werden, alle Themen des Films (Freizeit- und Arbeitswelt, Beziehungen, Sexualität; Wohnraumverhältnisse; Verkehr; Umwelt; Kommunikation; Presse etc.) umfassend abzudecken. Die Themen greifen aber teils ineinander, wenn beispielsweise das Zielpublikum von Kinofilmen in den 1920er Jahren thematisiert wird. Hierbei sind besonders die Beobachtungen zur Be- ziehung zwischen Erwin und Annie sowie die erste Begegnung von Wolfgang und Christl gewinnbringend und wie der Film die Beziehungsverhältnisse in den Außen- und Innenräumen der Großstadt inszeniert und mit der Kinowelt in Verbindung setzt. 5
Im Fokus der Hausarbeit steht somit das Zeicheninventar des Films und mit welchen fil- misches Codes auf das Gegenwartskino geantwortet wird. Dabei wird als These formu- liert: Das „Filmstudio 1929“ kritisiert das Gegenwartskino seiner Zeit. Menschen am Sonntag hat ein selbstreferentielles Konzept und behandelt das Medium Film im Film. So hat Greta Garbo zwar keine schauspielerischen Aktionen in Menschen am Sonntag, doch spielt sie trotzdem eine bedeutende Rolle in der visuellen Zeichenan- ordnung des Films. Die Laiendarsteller treffen auf Filmstars. Oder anders ausgedrückt: Ein Film ohne Schauspieler, aber mit Greta Garbo. Diese medialen Selbstreferenzen und Zeichen werden in den nächsten Kapiteln unter- sucht. Der amerikanische Filmwissenschaftler James Monaco (1942-2019) beschreibt das Lesen von filmischen Bildern und Codes treffend: Je besser man ein Bild liest, desto besser versteht man es und umso mehr Macht hat man darüber. Der Leser einer Buchseite erfindet das Bild, der Leser eines Films tut das nicht, und dennoch müssen beide Leser daran arbeiten, die Zeichen, die sie wahrnehmen, zu inter- pretieren, um den Prozess des intellektuellen Verstehens zu vervollständigen. Je mehr sie arbeiten, desto ausgewogener ist die Beziehung von Betrachter und Schöpfer in dem Pro- zess, je ausgewogener die Beziehung, desto vitaler und mitreißender ist das Kunstwerk.11 Das genaue Lesen eines Films gewährt demnach Macht über die Bilder unter Vorausset- zung von investierter Zeit und Aufmerksamkeit. Daraus kann eine intensive Beziehung zwischen Lesern und Künstlern entstehen. So wird ein Kunstwerk umso mitreißender bei genauen Beobachtungen und das im Werk enthaltene Wissen im besten Fall sichtbar. Auf den nächsten Seiten der Hausarbeit sollen diese Beobachtungen für den Leser sicht- bar gemacht werden. Die Zwischentitel im Vorspann (Credits) senden bereits erste Zei- chen an den Filmleser, wenn ein Filmteam seinen „ersten Versuch“ ankündigt. 11 Monaco 2017, S. 170. 6
2. Ein Filmstudio zeigt seinen ersten Versuch Abbildung 5: Credits/Zwischentitel (00:01:24 – 00:02:01) In den Stummfilmen der 1920er Jahre werden relevante Informationen bereits im Vor- spann aufgelistet (Peritext). Die Credits benennen zu dieser Zeit nur die vorrangig betei- ligten Personen eines Films.12 Menschen am Sonntag experimentiert bereits bei der Ein- führung der Figuren, indem diese visuell nicht statisch rein über Text, sondern individu- ell in dynamischen Introsequenzen vorgestellt werden (Abb. 6). Hierbei wird der Bezie- hungskontext der Figuren zueinander erst nach und nach im Film aufgedeckt. Abbildung 6: Credits in Nosferatu (1922), (00:02:53) / The Temptress (1926), (00:01:04) / Menschen am Sonntag (1930), (00:03:10 – 00:03:15) 12 Vgl. Monaco 2017, S. 57. 7
Das „Filmstudio 1929“ integriert Credits in die Zwischentitel (Abb. 513). Dieses neue Verfahren ist seit den 1980er Jahren als On Screen Credits etabliert, indem Text und Filmhandlung in Eröffnungssequenzen verbunden werden. So wird die Figur Indiana Jones in Jäger des verlorenes Schatzes (1981) während noch die Credits im Bild vorbei- ziehen, in der Introsequenz bei seinen typischen Aktionen mit Peitsche gezeigt. Die bis- herigen Stummfilme trennen die Credits jedoch von den Zwischentiteln und Filmse- quenzen. Menschen am Sonntag begeht hier bereits einen modernen Weg. Erwin, Brigit- te, Wolfgang und Christl werden in einer medialen Symbiose von Credits, Zwischentitel und Filmsequenzen eingeführt. Der Zuschauer kann die Figuren in ihren typischen Ar- beitsumgebungen in Aktion beobachten, allerdings nicht im Urwalddschungel wie bei Indiana Jones, sondern im Großstadtdschungel. Hierbei erhält das Mannekin Annie eine gesonderte Position, da sie nicht exemplarisch im Milieu der Angestelltenlebensart ge- zeigt wird (mehr dazu in Kapitel 4). Die Beispiele Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens (1922) und The Temptress (1926) sind exemplarisch für die bisherige visuelle Darstellung von Credits in Stumm- filmen und strikter Trennung der Namen von Personen und Figuren. Die Nennung der Namen wird zudem vertraglich genaustens von den etablierten Filmstudios geregelt. 14 Die Credits in Stummfilmen beinhalten teilweise auch berufliche Zusatzinformationen wie das Beispiel Nosferatu aufzeigt. Menschen am Sonntag fügt diese Information je- doch nicht allein über den Text ein. Der Film erweitert die Credits und zeigt eine moder- ne Eröffnungssequenz. Die fokussierte Handlung beginnt somit erst ab 00:03:35 mit den beiden Zwischentiteln „Berlin.“ sowie „Ein Sonnabend.“ Die Introsequenzen haben die Funktion die Grenzen zwischen wirklichkeitsnaher Doku- mentation und Kinofilm aufzulösen. Diese „echten“ Szenen werden irrealisiert durch die Anwesenheit fiktiver Figuren.15 In den Szenen, wo reale Passanten direkt in die Ka- mera blicken, wirkt das fiktive Geschehen umso lebendiger. Die Laiendarsteller in Men- schen am Sonntag zeigen ihre reale Arbeitswelt, spielen die Beziehungsverhältnisse (Liebe, Sexualität, Freundschaft etc.) aber nach Skript. So ist Erwin als Person zwar Ta- xifahrer, aber nur als Figur Liebhaber und Freund von Annie bzw. Wolfgang. Der Film wird in den Credits als Reportage betitelt, diese somit im Stil der Neuen Sachlichkeit 13 Abbildungen mit 4er-Screenshots in der Hausarbeit in der Reihenfolge: 1 links oben, 2 rechts oben, 3 links unten, 4 rechts unten. 14 Vgl. Monaco 2017, S. 57. 15 Vgl. Jacobsen 1993, S. 66. 8
das wirkliche Leben zeigen wollen.16 Die Beziehungskonstellationen scheinen abseits des Films aber zu jeder Zeit denkbar zu sein. Der Filmwissenschaftler Rainer Rother (Deutsche Kinemathek) beschreibt es in Anlehnung auf das Gegenwartskino dieser Zeit: „Hier wurde nicht ein Star als Aschenputtel hergerichtet, um am Ende vom Millionärs- sohn entdeckt und geheiratet zu werden, sondern Verkäuferinnen, Vertreter, Taxifahrer, Komparsinnen und Mannequins spielten ihr Leben.“ 17 Die Credits in Menschen am Sonntag haben zugleich die Funktion, die Figuren- sowie Arbeits- und Medienverhält- nisse und Handlungsräume zu kommentieren. Die Figuren sind an gesellschaftlichen wie medialen Veränderungen im urbanen Raum der Großstadt Berlin direkt beteiligt und gestalten sie mit. Es werden moderne Berufe im Angestelltenverhältnis mit weiblichen und männlichen Teilnehmern aufgezeigt. Brigitte verkauft als Angestellte und somit gleichzeitige Akteurin einer internationalen Kulturindustrie den technologischen Fortschritt in Gestalt von Schallplatten („In einer kleinen Konditorei“ 150 mal im letzten Monat) und dazugehörigen modernsten Abspiel- geräten im Fachgeschaft Electrola (seit 2013 Universal Music Group). Wolfgang ist ehe- maliger Offizier, Eintänzer, adeliger Herkunft, der als Mann seine autoritäre Rolle verlo- ren hat und im Machtgefüge der Frauen steht. Menschen am Sonntag zeigt den filmi- schen Gegenentwurf zu Wolfgang, indem an der Fotowand in Erwins Wohnung der strahlende Filmschauspieler Willy Fritsch in seiner typischen Rolle als Offizier gezeigt wird (mehr dazu in Kapitel 4 Kinowelten-Lebenswirklichkeits-Relationen). Erwin als Taxifahrer befindet sich im sozialen wie finanziellen Gefüge an unterer Position, so will er doch am Wannsee seine Uhr versetzen, um eine Tretbootfahrt zu bezahlen. Für die Beantwortung der These der Hausarbeit soll besonders der Blick auf die Einführung von Christl eingehender untersucht werden (siehe Kapitel 3). Zunächst aber nochmal der Fokus auf die ersten Zwischentitel des Films. Das Filmteam wählt den Namen „Filmstudio 1929“ und setzt eine zeitliche Begrenzung an. Der Film wirkt somit wie ein Projekt mit einmaliger Ausrichtung. So gab es danach keinen weite- ren Film des „Filmstudios“ wegen des politischen Umbruchs sowie der Weltwirtschafts- krise. Die Bezeichnung Filmstudio lässt zudem scheinbar auf sehr große Dimensionen schließen. Der Name kann deshalb als klares Alternativprogramm zu etablierten Film- 16 Vgl. Filmstile 2016, S. 85. 17 Rother 1995, S. 371. 9
studios wie die UFA (Universum Film AG, geründet 1917) verstanden werden. Der Film stellt zudem direkt heraus, dass es sich hierbei um den ersten Versuch handelt. Erste Versuche sind zumeist experimentell. So wie die Laiendarsteller*innen zugleich ihren ersten Versuch vor der Kamera abliefern, zeigt das Filmteam jedoch nicht seine (aller)ersten Schritte hinter der Kamera. So haben Billy Wilder, Robert Siodmak sowie Edgar C. Ulmer Erfahrungen bei Filmproduktionen als Drehbuchschreiber, Produktions- und Kameraassistent sammeln können.18 Der Kameramann Eugen Schüfftan (1929, 40 Jahre) wirkte bei Metropolis (1927) und vielen weiteren Filmen mit. Der „erste Ver- such“ bezieht sich demnach nicht direkt auf das Filmteam, sondern auf das „Filmstudio 1929“, auch wenn die Produzenten noch am Beginn ihrer Filmkarrieren sind. Vielmehr weist der Titel auf das „erste Experiment“ hin. Der Filmtitel benennt unmissverständlich, was der Kinozuschauer erwarten kann: „Menschen am Sonntag, ein Film ohne Schauspieler“ (Abb. 5). Hier werden „echte“ Menschen gezeigt, keine professionellen Stars. Die Hinweise auf den Erstkontakt vor einer Kamera und der anschließenden Wiederaufnahme der beruflichen Aktionen nach der Beendigung des Films verwenden die Adverbien „hier“ und „heute“, welche direkt eine räumliche und zeitliche Dichte sowie einen unmittelbaren Zugang beim Kinozu- schauer herstellen. Der Film gestaltet somit mehrfach dimensionierte Experimentalkonzepte bei der Pro- duktion des Films. Das Skript ist kurz gehalten und wird dynamisch beim Drehen wei- terentwickelt.19 Der Film setzt auf umfangreiche Außenaufnahmen (on location) in der Stadt Berlin mit beweglicher Kamera im Vergleich zu konventionellen Studioaufnah- men. Der Film hat einen halbdokumentarischen Stil, indem er sich als „Film“ definiert, aber keine Film- sondern Laienschauspieler spielen lässt. Der Film zeigt experimentelle Beziehungsverhältnisse junger Menschen (Dreierkonstellationen, brüchige Beziehungs- muster, freizügige Darstellungen etc.), die als kritisches Gegenmodell zu den auf der Ki- noleinwand des Massenkinos gezeigten Zweierbeziehungen mit Fokus auf exklusiven Liebeskonzepten in lebenslänglicher Verbundenheit gezeigt werden. 18 Vgl. Vogt 2001, S. 228. 19 Vgl. Vogt 2001, S. 226. 10
Rainer Rother bemerkt zum experimentellen Profil des Films: Vieles wirkt improvisiert, aber nicht amateurhaft. […] Das offene Konzept ließ Freiräume: Es sind die Zufälle, die hier den Gang der Ereignisse bestimmen, nicht ein Schicksal, nicht die »Logik der Erzählung«. […] Ein Erstlingswerk in vielerlei Hinsicht, mit dem Wagemut, etwas ganz Neues zu versuchen, die Konventionen gering zu schätzen und eher auf die ei- gene Lust und Energie zu vertrauen als auf die alten Pfade.20 Der experimentelle Weg des Filmteams richtet sich demnach auch gegen die bisherigen, statischen Konzepte des Gegenwartskinos. Der Film zeigt im Jahr 1929 den Einsatz von neuen technologischen Konzepten wie die Symbiose von Credits und dynamischen In- trosequenzen sowie lebendigen Außenaufnahmen in einer Zeit des filmischen Über- gangs von Stumm- zu Tonfilm, bei denen sich bereits 1927 Tonfilme in den USA eta- blierten.21 Die finanziellen Möglichkeiten erlaubten dem neuen „Filmstudio 1929“ nicht, auf Tonfilm zu setzen. So entstand ein Low-Budget-Film mit neuen Konzepten, der trotzdem Maßstäbe setzen und Inspiration für viele zukünftige Filmteams sein sollte. So konnten lebendige Außenaufnahmen in frühen Tonfilmen wegen der Störgeräusche nicht umgesetzt werden. Menschen am Sonntag kann daher alle Register ziehen, indem das Filmteam auf die bisher erprobte Technik des Stummfilms zurückgreifen kann. Doch inwieweit hier der Zufall ein Werk erschaffen hat, bleibt auf den nächsten Seiten zu untersuchen, bei denen es um die Darstellung der Filmindustrie in Berlin und den In- nenräumen der Großstadt - exemplarisch hierfür Erwins Wohnung - geht. 20 Rother 1995, S. 372. 21 Vgl. Preußer 2013, S. 266. 11
3. Filmkomparsin läuft sich in Berlin die Absätze schief In der Eröffnungssequenz (Abb. 6, Seite 7) ist Christl mit erwartungsvollem Blick vor dem Eingang der großen Filmproduktionsgesellschaften der 1920er Jahre zu sehen. Der Hut wird nochmals zurechtgerückt. Die Introsequenz lässt zugleich auf mehrfache Wie- derholungen dieses Vorgangs in der Vergangenheit schließen. Der Zwischentitel doku- mentiert es, insofern sich Christl „als Film-Komparsin die Absätze schief [läuft]“. Im Sachlexikon Film wird eine Komparsin definiert als „Darsteller kleiner Rollen, meist ohne Dialog, vor allem in Massenszenen oder für Szenen, die im öffentlichen Raum spielen.“22 Der Begriff Komparsin war in den 1920er Jahren hier noch individueller aus- gerichtet als bei Gegenwartsfilmproduktionen. So konnte die Komparsin zumindest eine geringe Handlungsrolle übernehmen.23 Heute ist die Komparsin nicht mehr in den Handlungsraum eingebunden und führt bestenfalls Hintergrundaktionen aus. Abbildung 7: Filmindustrie in Berlin (00:03:20) Vor Menschen am Sonntag hat die 1911 in Berlin geborene Christl in Frau Holle (D, 1928, Regie: Hanns Walter Kornblum) bereits ein Jahr zuvor eine kleine Rolle. Weitere Informationen oder gar Bilder zu diesem Film sind nicht verfügbar. Billy Wilder berich- tet im Februar 1930 bei einem Interview von der ersten Begegnung mit Christl: „[…] sie hat schon Erfahrung, hat schon mal bei Dupont Komparserie gemacht und gibt uns das Ehrenwort, daß sie mit dem Aufnahmeleiter von Lupu Pick per du ist.“24 22 Rother 1997, S. 176. 23 James zu Hüningen 2012, Komparserie - Lexikon der Filmbegriffe 24 Wilder, 10.02.1930 In: Der Montag Morgen. 12
Der Kommentar Wilders kann Erkenntnisse über die Berufswelt der Komparsin Christl liefern. Demnach steht Christl hier nicht „zum ersten Mal in ihrem Leben vor einer Ka- mera“, sondern ist bereits aktive Teilnehmerin in der Filmproduktionswelt bzw. in beste- hende Medienverhältnisse integriert. Sie hat erste Filmerfahrungen bei Filmen von Ewald André Dupont gemacht. Dieser produziert unter anderem 1929 den Film Atlantik, der erste Tonfilm in deutscher Sprache.25 Sie hat zusätzlich Kontakte vertieft mit Auf- nahmeleitern bekannter UFA-Regisseure wie Lupu Pick, indem sie mit denen „per du“ ist. Der Blick auf heutige Filmportale und Datenbanken verzeichnet jedoch nur ihre Darstellung in Menschen am Sonntag. Die Beteiligung in Frau Holle wird nur in Beiträ- gen des Feuilletons ersichtlich. In welchen Filmen sie tatsächlich mitgewirkt hat, kann selbst nach exemplarischer Sichtung einiger Filme der beiden genannten Regisseure nicht rekonstruiert werden. Die Komparsen werden in den Credits zu dieser Zeit der 20er Jahre nicht angegeben. Abbildung 8: Filmkomparsin Christl am Bahnhof Zoo (00:04:07) Die Unsichtbarkeit der Namen in den Credits von Filmen der 1920er Jahre zeigt das Di- lemma einer Komparsin auf, indem diese im Hintergrund nur Beiwerk darstellt. In Men- schen am Sonntag hat Christl erstmals eine Handlungsrolle, doch zugleich nicht als In- dividuum, sondern als typische Vertreterin einer Berufsgruppe und gesellschaftlichen Moderne.26 Der Film inszeniert konzeptuell die Figuren als Personen der neuen Ange- stelltenkultur und sogleich die moderne Frau in eigenständigen sowie prekären Arbeits- verhältnissen. 25 Vgl. Dibbets 2006, S. 199. 26 Vgl. Igl 2013, S. 7. 13
Billy Wilder setzt dieses Konzept als Drehbuchschreiber und Regisseur im Film Sunset Boulevard (1950) erneut um, wenn darin eine gealterte Starschauspielerin des Stumm- films die Grenzen zwischen Figur und Person aufhebt. 27 In der Fortführung des Themas spielt Hildegard Knef in Fedora (1978) eine gealterte Filmstarikone. Michael York an ihrer Seite spielt im Film sich selbst. Wilder kritisiert in diesen Filmen das Starkino in Hollywood und die Filmindustrie generell. William Holden spielt den Hauptdarsteller in beiden Filmen: In Sunset Boulevard einen Paramount-Drehbuchschreiber, in Fedora ei- nen MGM-Produzenten. Die kritische Sicht auf die Filmindustrie der 1920er Jahre in Menschen am Sonntag wird somit in Billy Wilders Filmen in den 1950er und 1970er Jahren drastisch fortgesetzt. So ist Wilder ein Mitakteur und maßgebender Gestalter der Filmindustrie, die er sogleich auch hart und lebenslang kritisiert. Das „Filmstudio 1929“ braucht für Menschen am Sonntag eine aktive Teilnehmerin der Filmindustrie, um die problematischen Bedingungen der Angestelltenkultur bzw. einge- tragene Kleindarsteller*innen der Filmbranche aufzuzeigen. Der Blick auf die Filmin- dustrie zeigt hier direkt ein Überangebot an Filmschauspieler*innen auf, wenn bei einer Komparsin das Material der Absätze bei übermäßigen Laufen abnutzt. Das abgelaufene Material beweist sogleich die körperliche Aktivität, wenn Christl bei Terra Film, Film- haus Bruckmann, Ziehm-Film (Abb. 6 und 7) sowie am Sonnabend in der Medienmetro- pole Berlin unterwegs ist. Zugleich wird Berlin als Mediengroßstadt sichtbar, in der eine hauptberufliche Karriere als Komparsin bei investierter Zeit des Bewerbens um Film- komparsenrollen theoretisch möglich erscheint, da eine große Rate an Filmproduktions- gesellschaften hier zu finden ist. Im Film wird die finanzielle Lage sichtbar, indem Christl am Wannsee die Tretbootfahrt bezahlt. Bei dieser Berufswahl ist der filmische Zugang auf Szenen im Hintergrund reduziert. 28 So ist auch Christl eine unsichtbare Filmkomparsin. 27 Im Film Sunset Boulevard (1950) kritisiert Billy Wilder die Filmfabrik Hollywood, welche Menschen als ökonomische Ressource betrachtet. Wilder zeigt hier nicht „Menschen am Sonntag“ als filmischen Kommentar zum Gegenwartskino der 20er Jahre, sondern „Menschen in Hollywood“ als reflexives Kino und das menschenverachtende System dahinter. Wie in seinem „ersten Versuch“ inszeniert Wil- der die Figuren teils als Personen, um somit die Grenzen von Fiktion und Wirklichkeit aufzulösen. 28 Am Set von Billy Wilders Oscarfilm Das verlorene Wochenende (1945) begegnet Wilder der Film- komparsin Audrey Young, deren Szene aus dem Film geschnitten wurde. In der Szene ist nur ihre Hand noch zu sehen. Billy Wilder und Audrey Young heiraten 1949 und leben gemeinsam 53 Jahre in Ehe bis zu Wilders Tod 2002. 14
Menschen am Sonntag dokumentiert diesen Zustand, wenn sich Christl erst noch allein unscheinbar verträumt am Bahnhof Zoo bewegt. Die Blickachsen sind entweder nach oben hoffnungsvoll suchend (Abb. 8) oder unsicher nach unten ausgerichtet. Bevor Wolfgang sie am Bahnhof Zoo anspricht, wechseln diese Blickachsen erneut mehrfach. Die permanente Suche nach Komparsenrollen oder gar Neben- sowie Hauptrollen über- trägt sich abseits des Mediensystems Film auf die Freizeitwelt, indem ihre Blicke auch in der Großstadt suchend nach Orientierung verlangen. Der groß angelegte Bewegungsradius und die Mobilität der Figuren Christl und Wolf- gang führt zu einer Schnittmenge von jungen Menschen in der 4-Millionen-Stadt Ber- lin.29 Beide halten sich am Sonnabend am Bahnhof Zoo auf. Christl wartet auf eine Ver- abredung, Wolfgang braucht noch eine Verabredung für den Sonntag. Sie wird versetzt, aber sogleich findet sich Ersatz. Die Beziehungen wirken austauschbar, was am Wann- see noch deutlicher wird. Das Tempo der Großstadt setzt sich in den Beziehungen fort. Der Übergang von Freundschaft, Liebe und Sexualität ist kaum trennbar. Hier gibt es auch eine Schnittmenge, wenn die Freunde Erwin und Wolfgang am Wannsee die Frau- en „teilen“ wie die Zigarette nach ihrem Ausflug. Die Zufallsbegegnung zwischen Wolfgang und Christl am Bahnhof wirkt spielerisch leicht und ist sogleich mehrfach dimensioniert mit filmischen Codes sowie medialen Verweisen ausgestattet. So wird die erste Begegnung der beiden vor einer Konditorei und dem UFA-Palast am Zoo inszeniert. 29 Vgl. Preußer 2013, S. 272. 15
4. Kinowelten-Lebenswirklichkeits-Relationen 4.1 Der Außenraum der Stadt Abbildung 9: Kino Ufa-Palast am Zoo (00:04:15) Der 2. Akt von Menschen am Sonntag beginnt mit dem Zwischentitel „Berlin.“ (00:03:32), worauf im Stile Walther Ruttmanns Berlin – Sinfonie einer Großstadt (1927) das Tempo der Stadt durch Verkehr und Menschenfülle gezeigt wird. Die folgende Sze- ne mit Wolfgang und Christl spielt an einem Sonnabend. Der Zwischentitel „Ein Sonn- abend.“ (00:03:34) betont die wiederholenden Ereignisse in der Großstadt, indem der Tag und die Begegnung als typische Situation eines jeden Sonnabends inszeniert wird. Abbildung 10: Erste Begegnung vor Kino und Conditorei (00:04:36) 16
Die erste Begegnung zwischen Wolfgang und Christl ereignet sich vor einer Konditorei sowie dem UFA-Palast am Zoo (Abb. 9 und 10). Das „Filmstudio 1929“ nutzt hierbei sein filmisches Zeicheninventar in mehrfacher Hinsicht, indem mediale Verweise auf Kino und Musik aufgezeigt werden. Die als „echte“ Personen inszenierten Figuren be- gegnen sich vor einem Kino der UFA. Das Verhältnis von Innen- und Außenraum der Großstadt wird hier sichtbar gemacht. Der Innenraum des Kinos ist für die Filmstars so- wie dem Publikum reserviert, die sich an massenkompatiblen Liebesfilmen von Greta Garbo, Willy Fritsch und Lilian Harvey erfreuen. Die unechten Gefühle der Schauspie- ler, die Fiktion auf der Kinoleinwand, wird parallelisiert mit der „echten“ Zufallsbegeg- nung von Wolfgang und Christl im Außenraum der Großstadt. Die Kinoindustrie in Berlin wandelt sich seit Beginn der 1920er, was den Ort und Sitz- platzangebot angehen. So bewegt sich der Kinobesuch in Richtung Großraumkinos wie dem UFA-Kinopalast am Zoo, das Capitol oder das Universum mit jeweils über 1.000 Sitzplätzen, welche kleine Filmtheater überflüssig machen.30 1921 gab es noch 418 Ki- nos mit einem Gesamtplatzangebot von etwa 148.000 Sitzen. Im Vergleich dazu gab es 1932 bereits etwa 189.000 Sitze, doch nur noch 358 Kinos. Im Jahr 1928 gab es in Ber- lin etwa 60 Millionen Kinobesucher*innen. Der Kinofilm entwickelt sich in Richtung Blockbuster mit wenigen Filmstars in den gleichen Filmrollen. Die UFA (Universum Film AG) investiert in teure Filmproduktionen wie Metropolis (1927) mit einem damali- gen Rekordbudget von 5,3 Millionen RM31/16,5 Millionen Euro bei 1 Reichsmark (1929) gleich 3,10 Euro (2021) nach Statistischem Bundesamt). Zugleich werden über- dimensional viele Liebesfilme produziert, wobei die UFA hierbei mit der erst 1924 ge- gründeten Filmproduktionsgesellschaft MGM (Metro-Goldwyn-Mayer) aus den USA konkurriert, die exklusive Filmstars wie Greta Garbo und Joan Crawford unter Vertrag haben. Die erste Szene des ehemaligen Offiziers und der Filmkomparsin ist zugleich ein media- ler Verweis auf die von Brigitte verkaufte Schallplatte In einer kleinen Konditorei (1928) von Fred Raymond (Musik) und Ernst Neubach (Text). In der originalen Version handelt es sich um einen Rückblick auf ein vergangenes Glück der Liebe zweier Men- schen, die in einer kleinen Konditorei in der Stadt geschehen ist. Der Text hat freudige wie auch melancholische Stimmungen. Dabei auffallend, die Liebe dieser Zweierbezie- hung ist von lebenslangem Fortdauern und exklusiv auf eine Person bezogen. 30 Vgl. Jacobsen 1993, S. 62f. 31 Vogt 2001, S. 134. 17
Wie können diese medialen Verweise auf die erste Begegnung von Wolfgang und Christl übertragen werden? Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, die filmi- schen Codes der Szene zu analysieren. So geben die Zeichen Aufschluss über die zwi- schenmenschlichen Beziehungen der Figuren, wie Berlin als filmische Stadt inszeniert wird und weshalb die Szene als Kritik am Gegenwartskino seiner Zeit verstanden wer- den kann. Bei den Eröffnungssequenzen der Hauptfiguren ist die Stadt Berlin nicht viel mehr als ein Schauplatz und Kulisse, um die Figuren in den jeweiligen beruflichen Aktionen zu definieren. Die Stadt wird erst zu einer filmischen Stadt, indem sie als dramatische und dramaturgische Figur als Mitakteur inszeniert wird.32 Abbildung 11: Kameraeinstellungen (00:03:54 – 00:05:37) Bei Menschen am Sonntag entsteht die filmische Stadt nicht im Atelier wie bei vielen deutschen Gegenwartsfilmen bis Ende der 20er Jahre, sondern zeigt städtische Realsze- nen.33 Nach den rasant montierten Bildern im Stile Walther Ruttmanns (00:03:37 – 00:03:53) zeigt die Kamera Wolfgang erstmals nach seiner Introsequenz als Weinreisen- der. Die Figur wird aus der Untersicht (Abb. 11 – Bild 1) gezeigt, um Wolfgang bedeu- tender und mächtiger erscheinen zu lassen. Diese wird mit einer schrägen Perspektive des Geländers aneinander gefügt, was beim Zuschauer eine lebendige Atmosphäre und Irritationen zugleich produzieren kann. Die Untersicht und Schrägsicht (Dutch Angle) 32 Vgl. Vogt 2001, S. 26. 33 Vgl. Vogt 2001, S. 30. 18
als filmische Zeichen betonen die Machtverhältnisse von Figuren und geben sogleich Hinweise auf eine Schräglage in den zwischenmenschlichen Beziehungen.34 35 So ist Wolfgang als Eintänzer in unterwürfiger Position gegenüber den Frauen auftretend so- wie als ehemaliger Offizier der traumatisierten Erste-Weltkriegs-Generation zugehö- rend, bereits vorbelastet. Die aufdringlichen, männlichen Gesten am Bahnhof Zoo und am Wannsee zeigen ein Bild eines nach außen hin dominant wirkenden Mannes, der sich jedoch in Schräglage befindet. Das Bild wechselt in die Halbtotale zu Christl, die am Pressestand in zaghafter Körper- position wartend und zudem in bildlicher Schräge (Dutch Angle) desorientiert gezeigt wird (Abb. 11 - 2). Beide Figuren werden zunächst isoliert voneinander in Szene ge- setzt, wobei Wolfgang dynamisch in Bewegung und Christl verweilend in statischer Po- sition gezeigt wird. Beim ersten Aufeinanderstoßen der beiden, verbleibt Christl in die- ser zögernden Haltung mit Blickachsen wechselnd nach unten auf den Boden oder nach oben gerichtet, den fordernden Blicken Wolfgangs ausweichend. Dieser umkreist im Sti- le eines Jägers in entsprechender Kleidung recht penetrant seine „Beute“ vor dem U- Bahn-Eingang Bahnhof Zoo, welches die Kamera in der Totalen abbildet (Abb. 11 - 3). Bei dieser Einstellungsgröße wird der Handlungsort und die sich darin aufhaltenden Fi- guren als Orientierung für die Zuschauer*innen etabliert. 36 Zugleich wird das Tempo der Stadt mit fahrendem Verkehr und Menschengewühl eingefangen. Die folgenden Bilder zeigen Wolfgang und Christl in wechselnden Kameraeinstellungen von Totale zu Halbtotale mit dazwischen montierten Bildern von rasant fahrenden S- Bahnen, um das Tempo dieser ersten Begegnung zu intensivieren. Danach wechselt das Bild zu einer weiten Kameraeinstellung (Panorama) beim ersten Ansprechen, wobei die Kamera diesen Vorgang nur einen kurzen Augenblick einfängt bevor „zufällig“ direkt eine Straßenbahn die beiden verdeckt, doch zumindest durch die Fenster der Straßen- bahn die Körper erkennen lässt (Abb. 11 - 4). Die tatsächliche erste Interaktion der bei- den wird nur ausschnitthaft dargestellt. Die Figuren sind von der Stadt vereinnahmt. Der Zuschauer wird genau in diesem Augenblick vom Geschehen separiert. Zugleich wie- derholt die Kamera in diesem Moment die schräge Perspektive, was ein filmisches Zei- chen bzw. Vorgriff auf die scheiternde Beziehung von Wolfgang und Christl sein kann. 34 Vgl. Ottiker 2019, S. 106. 35 Vgl. Mikunda 2002, S. 132. 36 Vgl. Ottiker 2019, S. 105. 19
Das „Filmstudio 1929“ dreht somit nicht beliebige Szenen im Außenraum der Stadt Ber- lin. Vielmehr werden Perspektiven und Einstellungsgrößen von Eugen Schüfftan gezielt mit der Großstadt verwoben und in die dramaturgische Figurenzeichnung eingefügt. Die filmischen Codes sind bereits deutlich zu erkennen und weisen auf die erfolgreichen Karrieren in Hollywood mit Filmen im Weltformat hin. Die nachfolgende Szene mit Wolfgang und Christl am Kaffeetisch gewährt weitere Ein- blicke auf die Kinowelten-Wirklichkeits-Relationen. So ist zu erfahren, dass Christl ver- setzt wurde. Wolfgang ist demnach nur die austauschbare, greifbare Alternative. 37 Im Kino bei Greta Garbo und Willy Fritsch wird noch die exklusive, bedingungslose Liebe propagiert. In einer kleinen Konditorei wird zugleich ein ganzes Leben gewartet und auf eine Liebschaft fokussiert. Die Beziehungen in Menschen am Sonntag lösen sich von dieser statischen, medial inszenierten Exklusivität und sind dynamisch. Abbildung 12: Kameraeinstellungen (00:05:55 – 00:07:20) Die nahe Einstellungsgröße am Tisch präzisiert Interaktionen, Gefühlsregungen und Re- aktionen im Vergleich zu der Totalen und Halbtotalen in der Szene zuvor. Erstmals in diesem Film werden Christl und Wolfgang in einer Großaufnahme präsentiert. So kön- nen Gesichter und einzelne Gegenstände sichtbar werden und zugleich die Intimsphäre der Figuren dargestellt werden.38 In der Szene wird eine beidseitige Anziehungskraft sichtbar, indem sich angeregte Blicke treffen. Zugleich ist eine spannungsvolle Aufre- 37 Vgl. Preußer 2013, S. 272. 38 Vgl. Ottiker 2019, S. 105. 20
gung erkennbar, indem die Kamera Details wie die Hände mit erotischer Löffelgeste einfängt und in den Vordergrund setzt. Die Figuren werden zunächst einzeln in Großauf- nahmen gezeigt, um die Gefühlsausdrücke in den Gesichtern zu zeigen (Abb. 12 – 2 und 3). So entsteht eine spürbare Intimität, die für den Zuschauer sichtbar wird. Das letzte Bild dieser Szene führt schließlich Wolfgang und Christl in einer Nahaufnahme zusam- men (Abb. 12 - 4). Dabei zeigt die Kamera die Figuren im Profil. Die Gesichter der Fi- guren sind zueinander ausgerichtet und zeigen einen intimen Glückszustand. Die Objek- te im Vordergrund haben eine symmetrische Anordnung, was auf eine harmonische Be- ziehung schließen lässt. Zugleich verleiht der Eiskaffee als größeres Objekt Wolfgang ein bildkompositorisches Übergewicht. Das Bild hat somit die narrative Funktion, Wolf- gang in der Machtposition zu etablieren. Diese Kameraeinstellung, der profile two shot, wird konventionell für die Darstellung von Liebesbeziehungen im Film genutzt, um die Spannung zu intensivieren.39 Das „Filmstudio 1929“ komponiert im letzten Bild dieser Szene eine von der Filmindus- trie bereits etablierte Kameraeinstellung wie sie auf Filmplakaten und den Kinowelten des Massenkinos gezeigt werden. Zugleich weisen die filmischen Zeichen auf keinen guten Ausgang hin, indem die erste Kameraeinstellung der Szene am Tisch die Irritatio- nen aus vorheriger Szene fortsetzt, wenn die Figuren das Bild mit dem Stuhl in schräger Perspektive teilen und der Tisch schräger Neigung ist (Abb. 12 - 1) . Die Szenen der ersten Begegnung von Wolfgang und Christl haben trotz scheinbar lie- bevoller Gesten am Kaffeetisch doch kein Happy End wie in Filmen mit Greta Garbo und Willy Fritsch. Der experimentelle Versuch des Filmteams wird an filmischen Codes wie des profile two shots aufgezeigt, indem bestehende Erwartungen beim Zuschauer des Massenkinos gesetzt werden und zugleich in den folgenden Szenen aufgebrochen werden. So etabliert das Filmteam mit den letzten Kameraeinstellungen am Kaffeetisch eine scheinbar traditionelle Zweierbeziehung, um danach die Konflikte einer Dreierbe- ziehung aufzuzeigen. Diese narrative „Fallhöhe“ wirkt bei den Szenen am Wannsee umso eindringlicher und emotionaler, indem die am Bahnhof Zoo und Kaffeetisch in- szenierte Liebesbeziehung zu einer austauschbaren und rein auf sexueller Tempobefrie- digung konzentrierten Beliebigkeit zerfällt. 39 Vgl. Mikuda 2002, S. 56 21
Menschen am Sonntag als Vertreter der Neuen Sachlichkeit zeigt hier die Austauschbar- keit und Brüchigkeit von zwischenmenschlichen Beziehungen. So verabredet sich Wolf- gang mit Christl vor ihrer Wohnung, um nur einen Tag später ohne Verbindlichkeiten Brigitte an gleicher Stelle zärtlich in die Woche zu verabschieden (Abb. 13). Es gibt vielleicht ein zweite Verabredung am nächsten Sonntag- oder der Besuch eines Fußball- spiels mit Erwin. Auch hier gibt es kein Happy End wie in Kinofilmen von MGM/UFA. Die Großstadtwirklichkeit ist nach Wochentagen aufgeteilt. Liebschaften finden an Sonntagen außerhalb Berlins im ländlichen Raum statt. Die Woche ist für die berufli- chen Aktionen reserviert. So kann es die nächste Verabredung zwischen Wolfgang und Brigitte gar nicht vorher geben. Die Beziehung zu Brigitte scheint zudem seitens Wolf- gang wie eine geschäftliche Beziehung zu funktionieren. So zeigt die Kamera eine wie- derholende Körperhaltung bei der Introsequenz beim Aufschreiben von geschäftlichen Dingen und nach dem Sexualverkehr mit Brigitte im Wald (Abb. 13). Der Blick wirkt abwertend und keinesfalls erscheint es so, dass sich hier eine große Liebesbeziehung an- bahnt. Abbildung 13: Beziehungen in der Großstadtwirklichkeit (00:03:05) / (00:09:51) / (00:52:25) / (01:08:55) Die Beziehungen sind demnach brüchiger, anonymer und sogleich freizügiger. Hier sit- zen nicht länger zwei in einer kleinen Konditorei und gewähren einander die uneinge- schränkte Liebe, sondern es liegen drei am See und gewähren einander zügellose Lei- denschaften und Lustbeziehungen. Am Wannsee flirten Wolfgang und Erwin selbst im Beisein von Brigitte und Christl mit neuen Bekanntschaften. Erwin ist bereits vorher 22
nicht abgeneigt, neue Erfahrungen bei Frauen zu machen. Die wartende Annie ist schließlich zu Hause und verschläft den Sonntag. Die Kinowelten-Lebenswirklichkeits- Relationen bei der Beziehung zwischen Erwin und Annie verlaufen anders als bei Wolf- gang und Christl, die ihre erste Begegnung eine Tag zuvor erlebt haben. Sie haben sich vor dem Kino entdeckt. Erwin und Annie wollen sich zum Kinobesuch verabreden. Die nächsten Seiten untersuchen diese Relationen und wie der Innenraum bzw. die Wohnung filmische Codes enthält. 23
4.2 Der Innenraum der Stadt Abbildung 14: Berlinia IA 10088 (00:02:21) / Translag IA 63765 (00:08:28) / (00:08:47) / (00:09:37) Die Verabredung zum gemeinsamen Kinobesuch findet zunächst im Außenraum statt. Dazu nutzt Annie das Telefon, um bei Erwin nachzufragen. Im Jahr 1929 hat die 4,3- Millionen-Stadt Berlin mit etwa 500.000 Anschlüssen die höchste Telefondichte der Welt.40 Am Nikolassee versucht Erwin über einen öffentlichen Fernsprecher Annie anzu- rufen, doch telefonisch wie auch metaphorisch erreicht er sie nicht mehr. Die Kommuni- kationsart erscheint modern, indem ein wechselnder Kontakt von Außen- und Innen- raum möglich ist, sofern der Raum des Aufenthalts bekannt ist. So kann Annie Erwin kontaktieren, der sich im Außenraum bei den von Architekt Heinrich Kosina 1928 ent- worfenen Translag-Garagen bei Reparaturarbeiten befindet. In der Eröffnungssequenz sowie im Zwischentitel gezeigt, fährt er die Taxe IA 10088 (Mercedes Kraftdroschke 10/50 PS Typ Stuttgart 260, 1926-1928), repariert hier jedoch einen Lastwagen mit Kennzeichen IA 63765. Hat Erwin eine Zweitbeschäftigung neben den Taxifahrten für die Berlinia? Ein Mitarbeiter überbringt Erwin die Nachricht von Annie, die am Telefon wartet. Er- win kraucht wie eine Raupe unter dem IA 63765 hervor. Im Anschluss fährt der repa- rierte IA 63765 vom Gelände der Translag und Erwin „springt“ in das Wochenende. Der Zuschauer erfährt hier über den Telefonanruf erstmals von einer Verbindung zwischen 40 DHM (Deutsch Historisches Museum, Berlin) Weimarer Republik Alltagsleben, 01.09.2014 24
den Figuren Erwin und Annie, die zuvor in den Eröffnungssequenzen individuell vorge- stellt wurden. Sie hat das Verlangen nach Unterhaltung und speziell auf einen Kinofilm mit Greta Garbo. Sie ruft bei Erwin an. Es ist Sonnabend. Hierbei wird die neue mediale Unterhaltungskultur des Kinos sichtbar. So gehören beide zu den in Kapitel 3 angeführ- ten 60 Millionen Kinobesuchern pro Jahr (1928) in Berlin. Das „Filmstudio 1929“ zeigt die individualisierte Betrachtung einer typischen Zweierbeziehung, die am Sonnabend einen Kinobesuch plant. Erwin antwortet im Dialekt und bewertet Annies Vorhaben als zu voreilig. Abbildung 15: Greta Garbo im Film Menschen am Sonntag (00:08:54) / (00:09:07) / (00:16:05) / (00:39:17) Auf der Plakatsäule (00:39:17) ist der Filmtitel zu erkennen, der noch bis Dienstag in den Kinos läuft: Greta Garbo in Der Krieg im Dunkel (Originaltitel: The Mysterious Lady, 1928) ab Sommer 1929 in deutschen Kinos. Der MGM-Film ist ein traditioneller Liebesfilm bei der sich die weibliche Hauptfigur zu einem Offizier hingezogen fühlt und nach anfänglichen Hürden eine glückliche Liebe mit Happy End gezeigt wird. Die Innenräume des im Garbo-Films dargestellten Anwesens sind opulent mit riesigen Trep- pen, Kronleuchtern, massiven Säulen, Piano, kunstvollen Statuen und Gemälden einge- richtet. Die Figuren werden in ansehnlichen Garderoben, Ballkleidern sowie Uniformen gezeigt. Die Bilder der Kinowelt laden zum Träumen ein und geben sogleich Zuflucht. Wie ist der städtische Innenraum bzw. die Lebenswirklichkeit bei Erwin und Annie dar- gestellt? 25
Abbildung 16: Kinostars Greta Garbo und Willy Fritsch (00:11:57) Die Wohnungsszene beginnt mit einer Detailaufnahme von den wohl populärsten Film- stars des Gegenwartskinos zu dieser Zeit (seit 1925): Willy Fritsch und Greta Garbo. Das Foto zeigt die Filmfigur als Offizier inmitten zweier Aufnahmen der Schauspielerin Greta Garbo. Bei der Fritsch-Aufnahme ist rechts unten das UFA-Logo, bei Garbo das Banner von MGM zu erkennen. So zeigt der filmische Code die bestehenden internatio- nalen Machtverhältnisse des Kinos. Die großen Filmgesellschaften und ab 1927 (Paru- fament) zugleich Konkurrenten, die UFA- und MGM-Studios (USA), regieren den Film- markt.41 Die Fotos an der Wand haben unterhalb des Motivs eine Beschriftung: „Ross“ Verlag (links unten), Name von Schauspieler*in/Filmtitel (Mitte), Reproduction verboten (rechts unten). Der Berliner Ross-Verlag wurde 1912 vom jüdischen Unternehmer Hein- rich Ross (1870-1957) gegründet und veröffentlichte vor allem in den 1920er und frü- hen 30er Jahren etwa 40.000 verschiedene Postkarten mit Porträts von Filmstars und Filmszenen, die heute als begehrte Sammelobjekte gehandelt werden. 42 43 Das Kinopu- blikum wie Erwin und Annie können sich die Filmstars der Kinoleinwand an die eigene Wand in die Wohnung holen. So begegnen sich fiktionale Kinowelten und alltägliche Lebenswirklichkeit im städtischen Innenraum. Zugleich wird die Paarbeziehung im All- tag permanent mit dem „Idealbild“ weiblicher sowie männlicher Filmstars konfrontiert. 41 Vgl. Vasey 2006, S. 55. 42 Neuköllns Postkartenkönig. Von Ruhm und Sehnsucht. taz am 13./14. Juni 2020, Bettina Müller 43 Ross-Verlag Übersicht Postkarten 26
Abbildung 17: Filmstars auf Postkarten (Ross-Verlag) Die Postkarten an der Wand zeigen internationale Filmstars. Ein Blick auf eine Auswahl von Kinoplakaten populärer Filme aus der Entstehungszeit von Menschen am Sonntag zeigt eine recht eindimensionale Darstellung von Paarbeziehungen und sozialer Zuord- nung. Beachtenswert auch die Unterschiede von US-Original-Filmplakaten (profile two shot) zu deutschen Aufmachungen, die Stars wie Greta Garbo in Großaufnahme und überdimensionierten Schriftzug im Verhältnis zum Filmtitel präsentieren. So führt Er- win bezeichnenderweise an, dass „die Greta [Jarbo] noch bis Dienstag läuft“. Hier wird explizit kein Filmtitel genannt, sondern Greta Garbo ist das Synonym für Kino. Abbildung 18: Kinoplakate mit Filmstars (1925-1929) 27
Nachdem Erwin seine Tätigkeit bei den Translag-Garagen beendet hat, geht er nach Hause. Die Wohnung ist ein kleines Zimmer mit Dachschräge. Der Wohnraum verbindet Wohn- und Schlafzimmer, Küche und Bad. Annie und Erwin teilen sich das zu kleine Zimmer, wobei an der Außentür nur ein Namensschild mit Aufschrift „Erwin Splettstö- ßer“ angebracht ist. Beide tragen verschiedene Nachnamen (Schreyer/Splettlstößer) und sind vermutlich nicht verheiratet. Menschen am Sonntag zeigt den privaten Innenraum, auf den Walther Ruttmanns Berlin – Sinfonie einer Großstadt noch verzichtet hat.44 Der städtische Innenraum steht hier im Kontrast zu den fiktionalen Kinowelten des Massenkinos mit weit ausladenden Paläs- ten, Villen und Anwesen. Die Lebenswirklichkeit ist zusätzlich mit Störungen und dys- funktionalen Gegenständen aufgeladen, indem die Kamera mehrfach Bilder im Detail zeigt. Abbildung 19: Innenraum, Detailaufnahmen >Zigarette (00:13:25) / Wasserhahn (00:14:10) / Schranktür (00:15:01) / Foto (00:16:15) Nach dem Erwin die Wohnungstür öffnet, setzt er sich, ohne Annie zu begrüßen an den Tisch. Es folgen eine Reihe von Detailaufnahmen: Erwin drückt eine Zigarette auf An- nies Teller aus, die für beide den Tisch eingedeckt hat. Der Wasserhahn tropft. Die Schranktürmechanik ist defekt. Erwin isst allein. Er bewirft Annie mit Zeitungsseiten, die er nicht lesen möchte. Annie zerstört schließlich mit einer Heißschere das Foto Greta Garbos, da Erwin zuvor das Foto von Willy Fritsch mit Rasierschaum verschandelt hat. 44 Vgl. Vogt 2001, S. 233. 28
Die Beziehung wird keinesfalls liebevoll dargestellt. Beide sind gemeinsam und zu- gleich isoliert voneinander im Raum.45 Die Paarbeziehung erscheint brüchig, was visuell über filmische Zeichen wie defekten Gegenständen in Detailaufnahmen symbolisiert wird. Können die Gegenstände bzw. die Beziehung noch repariert werden? Erwin scheint immerhin Fähigkeiten zu besitzen, Lastwagen zu reparieren. Hier scheitert es je- doch an Wasserhahn und Schranktür. Abbildung 20: Filmstars eliminieren (00:15:53) / (00:16:15) / (00:17:51) / (00:18:01) Erwin und Annie reagieren erst aufeinander und kommunizieren, als er das Foto des Filmstars verschandelt. Der Konflikt steigert sich, wenn es um das Tragen der Hutkrem- pe geht. So ist die gezeigte Dingwelt Auslöser des Streits und ironisch kommentierender Indikator der Beziehung.46 Der nachbarliche Freund Wolfgang wird auf den Krach auf- merksam, stößt hinzu und amüsiert sich über das Eliminieren der Filmstars. Die Kino- welt als Zufluchtsort wird zerstört. Dabei zerreißen Erwin und Annie jeweils die Post- karten beider Geschlechter. Annie eliminiert weibliche und männliche Filmstars, Erwin auch (Abb. 20). Der Konflikt richtet sich ironisch gegen den glamourösen Schein der Kinowelt als Ganzes. So identifiziert sich weder Annie noch Erwin mit ihrem jeweiligen Filmgeschlecht. Der Konflikt ist als emanzipatorischer Prozess einzuordnen, wenn sich beide zugleich von den körperlichen Idealbildern der weiblichen und männlichen Film- stars abwenden und die Wand im Raum für eigene Beziehungsprojektionen frei wird. 45 Vgl. Martin 2019. Audiokommentar Blu-ray People On Sunday. 46 Vgl. Preußer 2013, S. 278. 29
Der Innenraum der Stadt wurde für die Wohnungsszene im Studio hergerichtet. An nur einem Drehtag wurde die Szene inszeniert47. Hierbei ist die mehrfache Dimensionierung des Raums von Bedeutung. So verbinden sich intermediale Kunstformen, die über das Medium Film hinausgehen, doch sogleich in die Filmarchitektur verwoben sind. Abbildung 21: Wohnung / Antinous (00:12:55) In Erwins Wohnung wird die populäre Gegenwartskunst wie das Kino mit antiker Kunst verbunden. So befinden sich Statuetten und Büsten der griechischen Antike in Nachbil- dungen auf Tischen, Säulen und Regalen. Der Raum wird damit zusätzlich symbolisch aufgeladen. Abbildung 22: Wohnung / Zimmergröße (00:13:02) 47 Vgl. Vogt 2001, S. 227. 30
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