FLUCHTPUNKT - Schweizerische Flüchtlingshilfe
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Die Zeitung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) Nr. 90 August 2020 FLUCHTPUNKT Solidarität kennt keine Grenzen Tausende möchten sofort Schutz suchende aus Griechenland auf nehmen. Der Bund ist gefordert. Seite 3 Gewalt in Bundesasylzentren Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter empfiehlt Gewaltpräventionskonzepte. Interview Seiten 6 und 7
Editorial SFH-Newsflash Foto: © Jordane Altermath Liebe Leserinnen, liebe Leser Spenden statt Reisen Medienberichte über Gewalt Die Corona-Pandemie hat den vorfälle in verschiedenen S chülerinnen und Schülern einer Bundesasylzentren haben die 11. Klasse in der Waadtländer Ge Öffentlichkeit in den letzten meinde St-Prex einen Strich durch Monaten aufgeschreckt. Meh rere Asylsuchende sprachen die Studienreise gemacht. dort von körperlicher Gewalt durch das Sicherheitspersonal, von Essens Während zweier Jahre haben sie intensiv Altermath. «Sie haben im Fernsehen und in entzug oder von unnötigen Schikanen. Geld für ihre Wunschdestination Stockholm den Sozialen Medien Bilder und Berichte Die Rede war auch von «Besinnungsräu gesammelt. «Bevor ich das Geld wieder mei- von Flüchtlingen unterwegs oder in Camps men», kleinen, fensterlosen Zimmern, wo nen Schülerinnen und Schülern ausbezahlen gesehen. Die Schülerinnen und Schüler waren Bewohnerinnen und Bewohner der BAZ wollte, habe ich sie gefragt, ob sie das Geld sehr berührt von den schwierigen und ge- in Konfliktfällen bis zum Eintreffen der nicht einer Organisation spenden möchten», fährlichen Fluchtwegen. Darüber haben sie Polizei festgehalten werden. erzählt Lehrerin Jordane Altermath. «Sie auch im Fach Geografie diskutiert, das hat sie nannten mir mehrere Organisationen, davon sensibilisiert.» Die SFH bedankt sich für diese Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) legte ich ihnen schliesslich vier zur Auswahl eindrückliche, solidarische Geste herzlich im nimmt die Aussagen der Asylsuchenden ernst. Sie hat deshalb bereits im Mai eine vor.» Die Klasse 11VP/3 hat die Schweize Namen aller Verfolgten auf der Flucht oder unabhängige Untersuchung und griffige rische Flüchtlingshilfe (SFH) ausgewählt – in den Camps! Massnahmen zur Gewaltprävention in warum wohl? «Die Jugendlichen interessieren den Bundesasylzentren gefordert. Die sich für die Nachrichten, ganz besonders Lesen Sie dazu die Geschichte von Ali Mohebbi im Nationale Kommission zur Verhütung von während der Covid-19-Zeit», erklärt Jordane Camp Moria: https://bit.ly/3k5rVg8 Folter empfiehlt derweil konkret die Ein führung von Gewaltpräventionskonzepten, wie deren Präsidentin und Geschäfts führerin im aktuellen «Fluchtpunkt»- Interview erläutern. ■ Juristische Fachzeitschrift ASYL geht online Die Situation in den BAZ verweist auch Die Schweizerische Zeitschrift für Asylrecht auf ein Problem im Zusammenhang mit und -praxis ASYL ist ab 28. September 2020 Covid-19. Im Zuge der Pandemie müssen als Online-Ausgabe verfügbar unter http:// viele Gesuchstellerinnen und Gesuch asyl.recht.ch/. Die von der Schweizerischen steller länger als die gesetzlich vorge Flüchtlingshilfe (SFH) herausgegebene und gebene Maximaldauer von 140 Tagen in vom Verlag Stämpfli AG verlegte einzigartige den BAZ bleiben. Während so langer Zeit Fachzeitschrift hat online viele Vorteile: in so engen Platzverhältnissen mit ein geschränkten Bewegungsrechten leben eine erweiterte Such- und Filterfunktion; zu müssen, kann Gewalt begünstigen. Archiv mit Bestand ab 2014, eine integrierte Im Rahmen ihrer Stellungnahme zum Übersetzungsfunktion in DE, FR, IT, EN neuen Covid-19-Gesetz fordert die SFH und vieles mehr! deshalb unter anderem, die maximale http://asyl.recht.ch/ (Aktiv ab 28.09.2020) Aufenthaltsdauer in den BAZ nicht zu überschreiten. Herzlich, ■ Administrativhaft nicht entsprechend gehandelt, nicht so der Kanton rechtens Zürich. Dagegen wurden Beschwerden erhoben, Die SFH hat unmittelbar nach der Veröffent die das Bundesgericht mit seinen Urteilen vom lichung der Covid-19-Bestimmungen zum Asyl- 9. und vom 12. Juni gutgeheissen hat: Die Abseh- Oliver Lüthi bereich auch die Freilassung von Personen in barkeit einer Ausschaffung sei eine zwingende Leiter Kommunikation Administrativhaft gefordert. Betroffene sollen Voraussetzung für die Anordnung bzw. das An uneingeschränkten Zugang zu Nothilfeunter- dauern der Administrativhaft und sei während Über 50 000 Unterzeichnende und 132 Organisationen übergeben am 23. Juni künften und medizinischer Versorgung haben, der Covid-19-Pandemie nicht gegeben. 2020 in Bern der Bundeskanzlei die da der Vollzug von Wegweisungen aufgrund der Petition #evakuierenJETZT zur sofortigen Pandemie auf absehbare Zeit unmöglich ist. Die SFH-News vom 22. Juni 2020: Aufnahme schutzsuchender Menschen Kantone Genf, Basel-Stadt und Baselland haben https://bit.ly/2X1W5XU aus Griechenland. © SFH/Bernd Konrad 2 Fluchtpunkt 90 August 2020
Kampagne zu den Flüchtlingstagen Petition evakuierenJETZT: Breite Solidarität für notleidende Geflüchtete Über 50 000 Unterzeichnende und 132 Organisationen haben den Bundesrat mit einer Petition dazu aufgefordert, Schutzsuchende aus Griechenland aufzunehmen. Acht Städte sind bereit, sich zu engagieren. Die breite Hilfsbereitschaft stösst allerdings auf fehlenden politischen Willen seitens des Bundes. Von Karin Mathys, Redaktorin SFH Seit Jahren verschlechtert sich die Situation der geflüchteten Menschen in den Lagern auf den griechischen Inseln dramatisch. Aktuell müssen dort über 40 000 Menschen unter unmenschlichen Bedingungen ausharren, zu- sammengepfercht auf engstem Raum, ohne Zugang zu Nahrung, Hygiene und medizini- scher Betreuung. Die Covid-19-Pandemie hat diese humanitäre Katastrophe noch verschärft. Zudem sind die Änderungen des griechischen Asylgesetzes seit Januar 2020 in Kraft und wirken sich für die Schutzsuchenden fatal aus. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) hat deshalb die diesjährige Kampagne zu den Flüchtlingstagen im Juni unter das Motto « Solidarität kennt keine Grenzen» gestellt. Gemeinsam mit 132 Organisationen und über 50 000 solidarischen Menschen hat sie den Bundesrat mit einem Appell und einer Petition aufgefordert, sich an der sofortigen Evakuierung der griechischen Flüchtlingscamps zu beteiligen und eine möglichst grosse Anzahl Personen in der Schweiz aufzunehmen. Die Städte Basel, Bern, Genf, Lausanne, Luzern, St. Gallen, Winterthur und Zürich haben ebenfalls ihre Petitionsübergabe auf dem Bundesplatz in Bern nach den Flüchtlingstagen. © SFH/Bernd Konrad Solidarität mit konkreten Angeboten für die Flüchtlingsaufnahme manifestiert; sie würden Hand bieten für die Finanzierung der Flüge aktionen stärker mit privaten Akteuren zusam- verbirgt sich allerdings die Tatsache, dass die und für die Unterbringung. menarbeiten soll. Der Bundesrat versprach Schweiz damit nur ihrer internationalen Ver- damals, die Schaffung der dafür nötigen Ge- pflichtung im Rahmen des Dublin-Abkommens Kantonale und private Beteiligung setzesgrundlage zu prüfen. Doch geschehen nachkommt. Die SFH ist der Ansicht, dass die erwünscht ist das bis heute nicht. Die breite Unterstüt- Schweiz mehr tun kann und soll. Die Schweiz Trotz dieser beeindruckenden Solidaritätsbe- zung für die geforderte Schweizer Beteiligung hat die nötige Infrastruktur und genügend Platz, wegung sind die Kantone und Städte allerdings an der Evakuierung der griechischen Insellager zumal die Zahl der Asylgesuche derzeit so tief nicht dazu legitimiert, eigenmächtig zu han- erhöht nun den Druck auf den Bundesrat. ist wie seit 2007 nicht mehr. Was bislang fehlt, deln. Der Entscheid, ob sich die Schweiz an der ist der klare politische Wille dazu. Evakuierung der griechischen Lager beteiligt Die Schweiz kann und soll mehr tun und Schutzsuchende aufnimmt, liegt alleine Im Mai 2020 hat die Schweiz 23 unbegleitete beim Bund. minderjährige Geflüchtete (UMAs) aus Grie- Bereits 2016 haben indes Bundesparlamen chenland aufgenommen und angekündigt, tarierinnen und -parlamentarier mit mehreren dass später noch weitere UMAs mit Familien- Information: politischen Vorstössen verlangt, dass der Bund bezug in der Schweiz übernommen würden. • Kampagne zu den Flüchtlingstagen 2020: für solche humanitären Hilfs- und Aufnahme- Hinter dieser scheinbar grosszügigen Geste https://fluechtlingstage.ch/ Fluchtpunkt 90 August 2020 3
Covid-19-Bilanz Bilanz und Ausblick: Das neue Covid-19- Gesetz betrifft auch die Asylpraxis Der Bundesrat muss zwingend innert sechs Monaten einen Entwurf für die Überführung von Not verordnungen in ein Gesetz vorlegen. In diesem Covid-19-Gesetz sollen alle dringlichen Massnahmen zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie künftig verankert sein – auch jene, die Asylsuchende betreffen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) hat im Juli dazu Stellung genommen. Von Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH Erinnern wir uns: Mitte Februar wurden die zusammenleben. Mit Erfolg intervenierten die Boudry und Altstätten, sowie in allen Kantonen ersten Covid-19-Fälle in der Schweiz registriert, SFH und weitere Organisationen, sodass die eng mit dem Rechtsschutz für Asylsuchende als sich Norditalien bereits in einer heftigen Asylverfahren für zwei Wochen unterbrochen zusammen. Während der vergangenen Monate Notlage befand. Einen Monat später verordnete wurden, damit die Schutzmassnahmen des konnte sie die Umsetzung und die Auswir- der Bundesrat mit Notrecht den Schweizerinnen Bundesamts für Gesundheit (BAG) auch für kungen der Massnahmen in den vier BAZ und Schweizern einschneidende Massnahmen, Asylsuchende, ihre Rechtsvertretenden und deshalb genau beobachten und dokumentieren. um die Ausbreitung des Coronavirus einzu- alle Mitarbeitenden in den Asylunterkünften Dabei standen die Gestaltung der Asylverfahren dämmen. Allerdings ging dabei beinahe ver- umgesetzt werden konnten. und die Unterbringung im Vordergrund. gessen, dass die Ansteckungsgefahr in den Zunächst ist positiv zu vermerken, dass es Bundesasylzentren (BAZ) und den kantonalen Keine Massenansteckungen in den BAZ in allen BAZ zwar vereinzelte Corona-Fälle, Kollektivunterkünften besonders gross ist, Die SFH arbeitet in vier von sechs Bundes aber keine Massenansteckungen gab. Bis die weil dort viele Menschen auf engem Raum asylzentren (BAZ), nämlich in Basel, Chiasso, eingeforderten Schutzmassnahmen für die Asylsuchenden in den Bundesunterkünften und für alle am Verfahren Beteiligten wirksam wurden, brauchte es jedoch eine gewisse Zeit. Auch heute gibt es immer wieder Berichte von Situationen, in denen die Vorgaben nicht ein- gehalten werden können. «Die Anhörungen in den Asylverfahren konnten nach einigen Anpassungen zumeist korrekt durchgeführt werden», berichtet Tobias Heiniger, Jurist bei der SFH. Aufgrund der neuen Situation kommen technische Hilfs- mittel wie Audio- oder Videoübertragung zum Einsatz. «In der Schweiz fehlen aber die Erfahrungen im Umgang mit technischen Hilfsmitteln im Anhörungssetting weitgehend», sagt Tobias Heiniger. «Wir werden die Situa- tion deshalb weiter kritisch beobachten. Der nonverbalen Kommunikation, möglichen gesundheitlichen Beschwerden oder Traumata muss dabei besondere Aufmerksamkeit ge- schenkt werden.» Grenzschliessung für Schutzsuchende nicht rechtens Die Reisebeschränkungen weltweit bewirkten, dass es ab März massiv weniger Asylgesuche in der Schweiz gab. Im April wurden daher in den BAZ kaum Eintritte verzeichnet, erst im Mai und Juni nahmen die Asylgesuche lang- sam wieder zu. 4 Fluchtpunkt 90 August 2020
kann erst beantwortet werden, wenn dazu eine Wie geht es weiter? verlässliche Statistik vorliegt. «Die zwingenden Inzwischen ist klar, dass die Massnahmen zum völkerrechtlichen Vorgaben, insbesondere das Gesundheitsschutz trotz stark gesunkener Non-Refoulement-Gebot, müssen jedoch auch A nsteckungszahlen weitergeführt werden. in Pandemiezeiten eingehalten werden», erklärt So hat der Bundesrat die Geltungsdauer der Tobias Heiniger. «Eine pauschale Vermutung, COVID-19-Verordnung Asyl bis Anfang dass die Situation für Asylsuchende in einem Oktober 2020 verlängert. Gleichzeitig arbeitet anderen Staat sicher sei, genügt nicht.» Das er an einer Gesetzesgrundlage, um die Not Non-Refoulement-Gebot ist nur dann gewähr- regelungen in ein dringliches Bundesgesetz leistet, wenn Schutzsuchende an der Grenze zu überführen und in der Herbstsession der die Möglichkeit haben, ein Asylgesuch zu Bundesversammlung vorzulegen. stellen. Die SFH hat dies bereits Ende März Die SFH begrüsst grundsätzlich die Aus eingefordert. arbeitung eines Covid-19-Gesetzes und setzt sich für die Einhaltung der Richtlinien des Zu lange in den BAZ Bundesamtes für Gesundheit (BAG) im Asyl- Aktuell zeigt sich zudem, dass viele Gesuch- bereich ein. Sie hat sich an der Vernehm stellerinnen und -steller während der Pandemie lassung beteiligt und fordert, dass die Qualität Abstand halten? Weil es im März und April kaum länger als die gesetzlich vorgesehene Maximal der Asylverfahren nicht unter den Massnahmen noch Eintritte in die Bundesasylunterkünfte aufenthaltsdauer von 140 Tagen in den BAZ zur Einhaltung der BAG-Richtlinien leiden gab, konnten die Asylsuchenden besser verteilt bleiben. Es gab und gibt auch aktuell nur we- darf. Die Einhaltung der Verfahrensgarantien, werden. © SFH/Bernd Konrad nige Zuweisungen in die Kantone. «Während ein effektiver Rechtsschutz sowie eine Unter- dies zu Beginn der Krise aufgrund der Über- bringung unter Berücksichtigung der gesetz lichen und gesundheitlich erforderlichen Vor- gaben für die Asylsuchenden müssen jederzeit «Die lange Aufenthaltsdauer in den BAZ führt zu sichergestellt sein. Spannungen, fördert die Isolation und verzögert den Integrationsprozess schutzsuchender Menschen.» Informationen: Tobias Heiniger, Jurist bei der SFH • Faire und korrekte Asylverfahren auch unter Covid-19-Gesetz, SFH-Medienmitteilung 10.07.2020: https://bit.ly/3hjZfOl Von der Einreisebeschränkung in die lastung der kantonalen Strukturen nachvoll- • Vernehmlassungsantwort Bundesgesetz über die gesetzlichen Grundlagen für Verordnungen Schweiz waren zumindest formell auch Asyl- ziehbar und mehrheitlich wohl auch im Sinne des Bundesrates zur Bewältigung der Covid-19- suchende betroffen, denn die entsprechende der Betroffenen war, ist dies heute nicht mehr Epidemie (Covid-19-Gesetz). Vernehmlassungs Verordnung sieht keine Ausnahme für sie vor. zu rechtfertigen», sagt Tobias Heiniger: «Die antwort der Schweizerischen Flüchtlingshilfe Wie dies in der Praxis gehandhabt wurde, ist lange Aufenthaltsdauer in den BAZ führt zu 09.07.2020: https://bit.ly/2CyrI46 bisher nicht klar. Ob – und wenn ja, wie viele Spannungen, fördert die Isolation und ver • Zugang zu Asylverfahren an der Grenze muss – Schutzsuchende während des Einreisever- zögert den Integrationsprozess schutzsuchender gewährleistet sein, SFH-News 31.03.2020: bots an der Grenze abgewiesen worden sind, Menschen.» https://bit.ly/30IIVjJ Forderungen der SFH für das Covid-19-Gesetz • Die von der geltenden Asylgesetzgebung • Eine Ausnahmebestimmung für Asyl wenn diese aufgrund Covid-19-bedingter abweichenden Normen für Asylverfahren suchende bei den Einreisebeschränkungen: Umstände verhindert ist, verletzt verfas und die Unterbringung sollen aus Gründen Der Zugang zum Asylverfahren an der Grenze sungsmässige Garantien und darf deshalb der Transparenz und der Rechtssicherheit muss auch in Pandemiezeiten gewährleistet keine Rechtsgültigkeit entfalten. auf Gesetzesstufe verankert werden. sein, um die Einhaltung des zwingenden • Fristerstreckungen für Beschwerden im völkerrechtlichen Non-Refoulement-Gebots • Einhaltung der maximalen Aufenthaltsdauer Asylverfahren, für die Stellungnahme zum sicherzustellen. in den BAZ von 140 Tagen: Asylsuchende Entwurf eines ablehnenden Asylentscheids, sollten trotz Covid-19 nach 140 Tagen einem • Anhörungen nur mit Rechtsvertretung bzw. für die Ausreise sowie für das Erlöschen Kanton zugewiesen werden. Falls nötig, Hilfswerkvertretung: Die Durchführung von Asyl und von vorläufiger Aufnahme. sind alternative Strukturen in Betracht zu einer Anhörung ohne Präsenz einer Rechts ziehen. vertretung bzw. Hilfswerksvertretung, Fluchtpunkt 90 August 2020 5
Gewaltprävention «Zum professionellen Umgang mit Gewalt gehört ein systematisches Beschwerdemanagement» Medienrecherchen zeigen, dass es in verschiedenen Bundesasylzentren immer wieder zu gewalt tätigen Auseinandersetzungen zwischen dem Sicherheitspersonal und Asylsuchenden kommt. Die Vorfälle sind aus Sicht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe besorgniserregend und müssen behördenunabhängig untersucht und dokumentiert werden. Die Nationale Kommission zur Ver hütung von Folter (NKVF) nimmt Stellung. Interview: Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH Menschen, die in der Schweiz ein Asylgesuch suchenden gewahrt werden – auch wenn es sationen im Asylbereich dokumentierten stellen, können sich nicht frei bewegen. Sie wie jüngst zu Konflikten und gewalttätigen und beanstandeten Gewaltanwendungen werden einem der Bundesasylzentren (BAZ) Auseinandersetzungen mit dem Sicherheits- in verschiedenen BAZ ein? in den sechs Asylregionen zugeteilt. Dort leben personal kommt. Die NKVF-Präsidentin Regula Mader und Livia Hadorn: Hinweise zu sie während ihres Verfahrens mit eingeschränk- Regula Mader und Geschäftsführerin Livia Hadorn möglichen Missständen nehmen wir sehr ernst. ter Bewegungsfreiheit und diversen Auflagen. nehmen dazu Stellung. Diese überprüfen wir im Rahmen unserer Die NKVF hat gesetzlichen Auftrag, diese B esuche in Gefängnissen, Justizvollzugsan- Zentren regelmässig zu überprüfen. Sie soll Wie schätzt die NKVF die aktuell in den stalten, Polizeistationen, psychiatrischen sicherstellen, dass die Grundrechte der Asyl- Medien und von verschiedenen Organi- K liniken oder eben auch in den Bundesasyl- zentren (BAZ). Nach unseren Erfahrungen können sowohl Asylsuchende als auch Mitar- beitende von Gewalt betroffen sein, und Gewalt kann von verschiedenen Personen ausgehen. Entsprechend unserem Mandat legen wir den Fokus auf die Unterbringung, Betreuung und Lebensbedingungen der asylsuchenden Men- schen in den BAZ. Was plant die NKVF konkret zu den Vor fällen in den BAZ? Wir werden die Bundesasylzentren weiter besuchen. Diese regelmässigen Besuche sind ein wirksames Mittel, um Missbräuche aufzu- decken oder gar zu verhindern. Den Themen Gewalt und Gewaltprävention wird die Kom- mission vermehrt Beachtung schenken. Wir werden bei den Besuchen genau hinschauen und auf allfällige Missstände hinweisen. Welche Faktoren begünstigen Gewalt anwendungen in den BAZ? Was wir während unserer Besuche immer wieder beobachten: Konflikte gehören zum Alltag in einem BAZ. Dazu tragen zahlreiche Faktoren bei wie Traumata der Asylsuchen- den, die Ungewissheit, wie der Asylentscheid ausfallen wird, das Leben und Arbeiten in einer Kollektivunterkunft, ein Kommen und Gehen der asylsuchenden Menschen oder Traumatisiert, ohne Zukunftsperspektive, kontrolliert und eingeschränkt in der Bewegungsfreiheit – Überforderung und Stress von Asylsuchenden ein Nährboden für Konflikte. © SFH/Bernd Konrad und Mitarbeitenden, um einige Beispiele zu 6 Fluchtpunkt 90 August 2020
nennen. Wichtig erscheint uns, dass mit Kon- Die gleichen Überlegungen gelten auch für das flikten professionell umgegangen wird, damit Betreuungspersonal. diese möglichst nicht in Gewalt eskalieren und ein BAZ ein möglichst sicherer Ort für Ist eine unabhängige Überprüfung über- alle ist und bleibt, die dort wohnen, leben haupt möglich, wenn es sich bei den und arbeiten. Sicherheitsdienstleistern um private Firmen handelt? Wäre die Schaffung einer Ombudsstelle Gestützt auf unseren menschenrechtlichen hilfreich? Auftrag können wir Besuche durchführen, Zu einem professionellen Umgang mit Gewalt- dabei vertrauliche Einzelgespräche mit allen vorwürfen und Gewalt, unabhängig davon, von Personen vor Ort führen und sämtliche Unter- wem sie ausgeht und wen sie betrifft, gehört lagen einsehen, die für unsere Arbeit relevant nach Ansicht der NKVF ein systematisches sein könnten. Das gilt auch gegenüber dem Beschwerdemanagement. Die Schaffung einer privaten Sicherheitspersonal und den privaten Ombudsstelle könnte hilfreich sein. Sicherheitsunternehmen. Während der Besu- che in den BAZ in den vergangenen Jahren hatten wir uneingeschränkten Zugang zu allen Mitarbeitenden und Dokumenten. «Konflikte gehören zum Alltag in einem BAZ. Dazu tragen Das SEM hält in einem Bericht zur Situation von Flüchtlingsfrauen in der Schweiz fest: zahlreiche Faktoren bei wie «Das BAZ Bern hat als erstes BAZ ein Ge- Traumata der Asylsuchenden, waltpräventionskonzept erarbeitet, das als Vorlage für die anderen Asylregionen die Ungewissheit, wie der des Bundes genutzt wurde.» Gemäss SEM Asylentscheid ausfallen wird, wird dieses Konzept aktuell überarbeitet. Eingangsbereich im Bundesasylzentrum Giffers. das Leben und Arbeiten in Hat die NKVF Einsicht in dieses Konzept, © SFH / Barbara Graf Mousa wirkt sie mit? einer Kollektivunterkunft, ein Das Gewaltpräventionskonzept entspricht einer Kommen und Gehen der asyl Empfehlung der NKVF. Wir werden dessen Sicherheitspersonal. Die Gesamtverantwortung Umsetzung im Rahmen unserer Besuche über- trägt das SEM. suchenden Menschen oder prüfen. Überforderung und Stress von Asylsuchenden und Mit Was würde sich ändern, wenn die Behörden selbst für Sicherheit zuständig wären, arbeitenden, um einige Bei statt damit gewinnorientierte Firmen zu Informationen: spiele zu nennen.» beauftragen? • SFH-News Gewalt in den BAZ vom 15.05.2020: https://bit.ly/39npXmm Wir überprüfen die Situation von asylsuchen- den Personen in den BAZ gestützt auf das • Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF). Einschränkung der Bewegungsfreiheit Zusatzprotokoll der UNO-Konvention gegen von asylsuchenden Personen: https://bit.ly/ Welche Rolle spielt die Aus- und Weiter- Folter und das Bundesgesetz zur NKVF. Wäh- 3fMnwMD bildung des für die Sicherheit zuständigen rend unserer Besuche schauen wir unter ande- • Bericht an das Staatssekretariat für Migration Personals in den BAZ? rem die Arbeit des Sicherheitspersonals an, (SEM) betreffend Überprüfung durch die Natio Die Aus- und Weiterbildung ist ein wichtiges unabhängig davon, ob es sich um private oder nale Kommission zur Verhütung von Folter in den Element, damit die Sicherheitsmitarbeitenden staatliche Angestellte handelt. Dabei ist die Zentren des Bundes im Asylbereich 2017–2018: ihre Aufgabe korrekt wahrnehmen können. Schweiz in der Pflicht sicherzustellen, dass https://bit.ly/3fMnwMD (nach unten scrollen: Im Zentrum steht dabei, für die sichere Unter- sie menschenrechtliche Standards nicht nur Thematische Schwerpunkte, PDF) bringung der Asylsuchenden zu sorgen. Wich- selbst einhält, sondern dass auch mit staat • Stellungnahme SEM an NKVF 18.12.2018: tig ist nach Einschätzung der NKVF zudem, lichen Aufgaben betraute Dritte diese respek- https://bit.ly/3fMnwMD (nach unten scrollen: dass die Aufgaben der Sicherheitsmitarbei- tieren. Thematische Schwerpunkte, PDF) tenden klar definiert und die Rollenteilung • Im Rahmen der 19.4533 INTERPELLATION zur Situation geflüchteter Frauen in den Flughäfen zwischen Sicherheit und Betreuung geklärt Gibt die NKVF diesbezüglich Empfehlun- Zürich und Genf fragte die Grüne Nationalrätin sind. Unsere Berichte und die darin enthaltenen gen ab? Sibel Arslan am 19.12.2019 den Bundesrat unter Empfehlungen können dem SEM als Gesamt- Nein. Wichtig erscheint uns, dass in einem anderem unter Punkt 4 nach gewaltpräventiven verantwortliche und den privaten Sicherheits- BAZ mit Konflikten professionell umgegangen Massnahmen: https://bit.ly/2CSsY28 unternehmen als Umsetzende zur Orientierung wird und die Zentren ein sicherer Ort für die • Bericht des SEM zum Bundesratsbericht in Er dienen, wenn es darum geht, Schwerpunkte asylsuchenden Menschen und die Mitarbei- füllung des Postulats 16.3407, Feri, vom 9. Juni bei der Aus- und Weiterbildung festzulegen. tenden sind. Dazu braucht es Betreuungs- und 2016; 25.09.2019: https://bit.ly/3eIkvvE Fluchtpunkt 90 August 2020 7
Publikation zur Asylpraxis Grundlage für zukünftige Forschungsarbeiten Die Bestandesaufnahme «Asylpraxis der Schweiz von 1979 bis 2019» des Historikers Stephan Parak bietet einen faktentreuen Überblick über vier Jahrzehnte Schweizer Asyl- und Wegweisungspraxis aus der Perspektive der Bundesverwaltung. Von Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH Behörde in einer zunehmend globalisierten bar sind.» Für die wissenschaftliche Unabhän- Welt mit immer neuen Konfliktherden. Das gigkeit bürgten eine Begleitgruppe mit Fach- belegen die Fakten und Grafiken über zwölf personen der Universität, der Eidgenössischen relevante Herkunftsländer sowie die im Kapitel Kommission für Migration (EKM) und des «Themen» ausgewählten Besonderheiten des Bundesarchivs sowie das kritische Lektorat des Asylverfahrens, etwa das Dublin-Verfahren, die ehemaligen NZZ-Inlandredaktors Christoph Aufnahme von Flüchtlingsgruppen, die Vor- Wehrli. läufige Aufnahme, der Umgang mit geschlechts- spezifischer Verfolgung oder die Rückkehr. Sorgfältig ausgewählte historische Dokumente «Vieles hat sich in den Abläufen und Fotografien auch aus dem Archiv der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) unter- und Entscheidungsgrundlagen stützen den Inhalt; die Fussnoten sind ange- geändert, aber die Beschleuni nehm auf der gleichen Seite platziert. Fakten, gung der Asylverfahren ist von Zahlen, Namen und Orte sowie eine knappe Chronologie runden das historisch-wissen- Beginn weg eine Konstante.» Historiker Stephan Parak hat Dutzende von Lauf schaftliche Nachschlagewerk ab. metern Aktenmaterial aus dem Bundesa rchiv ausgewertet. Aus einer Broschüren-Idee à maxi mal 40 Seiten ist schliesslich ein wissenschaft Reduktion auf das Wesentliche «Vieles hat sich in den Abläufen und Ent- liches Nachschlagewerk von über 200 Seiten ent «Es ging mir darum, eine Lücke in der Schweizer scheidungsgrundlagen geändert, aber die Be- standen. © SFH/Barbara Graf Mousa Geschichtsschreibung zu schliessen und ein schleunigung der Asylverfahren ist von Beginn Grundlagenwerk zu schaffen, das Appetit auf weg eine Konstante, ebenso die Art und Weise, Das Werk führt chronologisch vom ersten weitere externe wissenschaftliche Vertiefung wie ein Asylgesuch im Einzelfall geprüft wird», Schweizer Asylgesetz von 1979 bis zu der von macht», erklärt Autor Stephan Parak, der beim sagt Stephan Parak. Wie eine Anhörung und den Stimmberechtigten 2016 angenommenen SEM zuletzt als Qualitätsbeauftragter des ein Verfahren ablaufen und wie es in histori- Neustrukturierung des Asylbereichs, die am Direktionsbereichs Asyl wirkte. Intern soll mit scher Perspektive zum Asylentscheid kommt, 1. März 2019 in Kraft getreten ist. Dazwischen diesem Auftragswerk das institutionelle Ge- kann nun dank seines Insiderwissens und des liegen zahlreiche Gesetzesrevisionen, geänderte dächtnis gestärkt werden. ihm gewährten Zugangs zu teilweise noch ge- Kompetenzregelungen zwischen Bund und Der promovierte Historiker gewährt in sperrten Akten nachgelesen werden. Kantonen, die institutionelle Entwicklung von seiner Studie einen Einblick in die operative einem provisorischen Amt unter dem ersten Tätigkeit einer Migrationsbehörde. Das Werk Delegierten für das Flüchtlingswesen 1986 bis stützt sich vorwiegend auf Aktenmaterial des zum 2015 zum Staatssekretariat erhobenen SEM und seiner Vorgängerinstitutionen. Staatssekretariat für Migration SEM, Bern 2020, 208 Seiten, Art.-Nr. 420.016.D Migrationsamt (SEM). «Manchmal habe ich hunderte Akten gesichtet, Die bewegte Geschichte spiegelt das Verhält- um daraus vielleicht zwei Zeilen schreiben zu Bezugsquelle: www.bundespublikationen.admin.ch nis von Gesellschaft, Politik und ausführender können, die dafür nachvollzieh- und überprüf- Impressum Der Fluchtpunkt erscheint viermal jährlich für Spenderin Verlag und Herausgeberin «Fluchtpunkt»: nen und Spender der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Der Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) Abo-Beitrag von 5 Franken ist im Spendenbetrag inbegriffen. Weyermannsstrasse 10, Postfach, 3001 Bern Auflage dieser Ausgabe: 16 300 Tel. 031 370 75 75, E-Mail: info@fluechtlingshilfe.ch Internet: www.fluechtlingshilfe.ch Redaktion: Barbara Graf Mousa (verantwortlich), Peter Meier, Remo Gubler, T obias Heiniger, Oliver Lüthi, Karin Mathys, Beat von Wattenwyl Übersetzungen: Sabine Dormond, Montreux, Emmanuel Spendenkonto: PC 30-1085-7 Gaillard, SFH Layout: Bernd Konrad und Hanspeter Walser (SatzPunkt) Ihre Spende Druck: rubmedia AG, Wabern/Bern in guten Händen. Hergestellt aus 100% Recycling-Papier 8 Fluchtpunkt 90 August 2020
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