FLUCHTPUNKT - Schweizerische Flüchtlingshilfe

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FLUCHTPUNKT - Schweizerische Flüchtlingshilfe
Die Zeitung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH)              Nr. 86 August 2019

FLUCHTPUNKT
                                                         LGBTQI im Asylverfahren

                                                         Neuer SFH-Leitfaden hilft,
                                                         Fluchtgründe zu erkennen     Seite 5
                                                         SFH-Bildung

                                                         Schlüsselinformationen für
                                                         Resettlement-Flüchtlinge im
                                                         Kanton Waadt Seite 6 und 7
FLUCHTPUNKT - Schweizerische Flüchtlingshilfe
Editorial                                         SFH-Newsflash

            Liebe Leserinnen,                     Petition: Das Sterben auf dem                       Äthiopien bleibt
            liebe Leser                           Mittelmeer stoppen!                                 ein Unruheherd
                                                  Die SFH unterstützt die Petition und die drei
           Das Mittelmeer ist eine der
                                                  Forderungen der schweizerischen Solinetze.
           tödlichsten Fluchtrouten der
                                                  Bundesrat und Parlament sind aufgefordert,
           Welt. Letztes Jahr starben
                                                  sofort Massnahmen zu ergreifen, damit Men­
           laut UNHCR rund 2300 Men-
           schen beim Versuch, über das           schen in Seenot auf dem Mittelmeer gerettet
           Meer nach Europa zu gelan-             und dezentral rasch aufgenommen werden
           gen. Das ist die direkte Folge         können. Die drei Forderungen sind:
der rigorosen EU-Abschottungspolitik,             1.	Die Schweiz soll sich am Aufbau eines
die die Schweiz mitträgt: Die private                europäisch organisierten und finanzierten
Seenotrettung wird behindert und kri-                zivilen Seenotrettungssystems beteiligen.
minalisiert, Europas Häfen bleiben für            2.	Die Schweiz soll sich für eine Verteilung
Rettungsschiffe zu.                                  von Menschen einsetzen, die aus Seenot           Die Sicherheitslage in Äthiopien bleibt trotz
                                                     gerettet werden. Dabei werden humanitäre         und teilweise auch wegen der eingeleiteten
Die EU und die Schweiz verhindern so
                                                     und rechtsstaatliche Grundsätze eingehalten.     Reformen fragil. Ethnische und politische
eine dauerhafte solidarische Verteilung
                                                  3.	Der Bundesrat und das Parlament sollen die      Konflikte treiben Millionen in die Flucht. Der
der Schutzsuchenden. Die Schweiz hat
bislang keine aus Seenot geretteten                  rechtlichen Grundlagen schaffen, die eine        gefeierte Hoffnungsträger Abiy Ahmed steht
Menschen aufgenommen und sich hinter                 rasche und dezentrale Aufnahme von Boots­        zunehmend unter Druck.
dem Fehlen einer gesamteuropäischen                  flüchtlingen in der Schweiz ermöglichen.
                                                                                                      SFH-News vom 9. Juli 2019:
Lösung versteckt. Das ist beschämend              Unterzeichnen auch Sie!                             https://bit.ly/2JLyAMt
und unhaltbar. Die SFH fordert die                https://bit.ly/2ObTjgP
Schweiz auf, sich einzusetzen für einen
sofortigen europäischen Notfallplan für                                                               LGBTQI-Leitfaden
Geflüchtete, die aus Seenot gerettet
werden.                                                                                               SFH erlässt Empfehlungen für den Umgang
                                                                                                      mit Asylgesuchen von LGBTQI-Personen.
Die Schweiz hat sich der internationalen                                                              Diese müssen nach besonderen Grundsätzen
Solidarität und dem Flüchtlingsschutz                                                                 geprüft werden. Lesen Sie dazu die Artikel
verschrieben. Sie könnte bei der frei-                                                                über LGBTQI-Personen in Tschetschenien auf
willigen Aufnahme von Geretteten eine                                                                 Seite 4 und über die SFH-Empfehlungen auf
Vorreiterrolle spielen. Angesichts der
                                                                                                      Seite 5.
tiefen Asylgesuchzahlen hat unser
Land dafür die erforderlichen Möglich-                                                                SFH-Medienmitteilung vom 22. Juli 2019:
keiten und Kapazitäten.                                                                               https://bit.ly/2Ycj3JA
                                                  Koalition der Willigen
Dass Europas Regierungen Schutzsu-
chende in Seenot völlig im Stich lassen,
                                                  zur Seenotrettung
                                                  Die Schweiz muss sich an einer Koalition der
                                                                                                      Reform Schengener Informa­
macht betroffen, wütend und ohnmäch-
tig. Dennoch können wir zumindest im              Willigen zur Seenotrettung im Mittelmeer be­        tionssystem (SIS-Bericht)
kleinen Rahmen handeln, indem wir die             teiligen, fordert die SFH. Die Seenotrettung        Die SFH hat sich an der Vernehmlassung zur
Petition der schweizerischen Solinetze            durch private Hilfsorganisationen wurde nur         Übernahme und Umsetzung des Reform­
unterschreiben.                                   nötig, weil die europäischen Staaten ihre völker­   pakets zum Schengener Informationssystem
                                                  rechtliche Verantwortung nicht wahrnahmen.          (SIS) beteiligt.
                                                  Doch Seenotrettung und Flüchtlingsschutz                Die SFH begrüsst grundsätzlich die Über­
                                                  sind staatliche Aufgaben, die Verantwortung         nahme Verordnungen «SIS Polizei», «SIS
Herzlich,                                         dafür dürfen die EU und die Schweiz nicht           Grenze» und «SIS Rückkehr». Sie fordert die
Eliane Engeler, SFH-Mediensprecherin              länger auf zivile NGO abwälzen. Angesichts          Schweiz auf, die Änderungen menschen­
                                                  des Sterbens auf dem Mittelmeer und der kata­       rechtskonform umzusetzen und darauf zu
                                                  strophalen Lage in Libyen fordert die SFH die       achten, dass der Datenschutz gewahrt wird.
Personen mit besonderen Rechten brauchen
besonderen Schutz im Asylverfahren. Dazu          Schweiz zum Handeln auf: Sie muss sich an           Der erweiterte Datenaustausch sollte mit
gehören zum Beispiel Menschen mit einer           ­einer Koalition von willigen europäischen          spezifischen Massnahmen für einen besseren
sexuellen Orientierung und geschlechtlichen       Staaten beteiligen, die aus Seenot gerettete        Datenschutz sowie Wahrung der Menschen­
Identität (LGBTQI), die nicht den gesellschaft-
lichen Vorstellungen entspricht, aber auch        Menschen solidarisch aufnehmen.                     rechte einhergehen.
Frauen und Minder­jährige. Ihre Verletzlichkeit
muss im Asylverfahren gebührend berück-           SFH-Medienmitteilung vom 26. Juli 2019:             SFH-Stellungnahme vom 16. Mai 2019:
sichtigt werden. Foto: © Jaz Cummins/UNHCR        https://bit.ly/2YpEvPy                              https://bit.ly/32ITFP1

2    Fluchtpunkt 86 August 2019
FLUCHTPUNKT - Schweizerische Flüchtlingshilfe
Frauen im Asylverfahren

Frauenspezifische Fluchtgründe werden
kaum berücksichtigt
Viele Frauen flüchten aus ihrem Herkunftsland, weil sie dort wegen ihres Geschlechts besonderer
Gewalt, Folter, Bedrohung und Verfolgung ausgesetzt sind. In der Schweiz sind frauenspezifische
Fluchtgründe seit 1998 im Asylgesetz verankert und können für den Asylentscheid relevant sein.
In der Praxis erhalten betroffene Frauen allerdings kaum einen dauerhaften Schutz. Warum?
Von Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH

Die Hälfte der rund 71 Millionen Schutz­
suchenden weltweit sind nach Schätzungen des
UNHCR Frauen und Kinder. In der Schweiz
machen die Asylgesuche von Frauen etwa
25 Prozent aus. Frauen flüchten aus ihren
Herkunftsländern, weil sie politischer und /
oder religiöser Unterdrückung und Diskrimi­
nierung ausgesetzt sind. Leben sie in Kriegs­
regionen oder sind aus solchen geflüchtet,
wurden die meisten schutzsuchenden Frauen
bereits einmal vergewaltigt oder anders sexuell
ausgebeutet, sei es durch Kriegsparteien, sei
es durch Schlepper, sei es durch die eigene
Verwandtschaft. Bekannte frauenspezifische
Fluchtgründe sind zum Beispiel die Zwangs­
verheiratung, die Zwangsprostitution oder die
genitale Verstümmelung. Subtiler und für
­betroffene Frauen kaum beweisbar und glaub­
  haft zu machen, ist jedoch die Gewalt und
  Unterdrückung im privaten und ganz beson­
 ders im häuslichen Bereich. In vielen Ländern
 erachtet sich der Staat dafür als nicht zustän­    Iranische Behörden weisen Frauen bei einer Protestaktion in die Schranken.
 dig; Betroffene sind gesetzlich nicht geschützt,   © Hasan Sarbakhshian / Keystone
 die Handlungen der Täter sind strafrechtlich
 nicht relevant und damit nicht einklagbar. Das     Della Torre ist Expertin für die schweizerische     genügend beweisen und glaubhaft machen.»
 war auch in der Schweiz bis 1981 so. Es erstaunt   Asylpraxis gegenüber «Menschen mit beson­           Oft erhalten Gesuchstellerinnen keinen dauer­
 deshalb kaum, dass die Schweiz Vorbehalte          deren Rechten», zu denen auch Frauen mit ge­        haften Schutz, weil sie sozusagen «zu früh»
 gegenüber internationalen Schutzbestimmun­         schlechtsspezifischen Fluchtgründen gehören.        geflüchtet sind, nämlich bevor sie «nachweis­
 gen hat, welche häusliche Gewalt als Asylgrund     Auch wenn es im Schweizer Asylgesetz seit           bar» verprügelt, vergewaltigt, entführt oder
 empfehlen. Dem Übereinkommen des Europa­           1998 heisst «Den frauenspezifischen Flucht­         gar getötet worden sind. Beschwerden scheitern
 rats zur Verhütung und Bekämpfung von              gründen ist Rechnung zu tragen» (Artikel 3,         oft, weil in der aktuellen Rechtsprechung das
 ­Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt –       Absatz 2), liegt bei der Anwendung noch eini­       Argument vorherrscht, dass das Schweizer
  kurz Istanbul-Konvention – ist die Schweiz        ges im Argen. Lucia Della Torre berichtet von       Asylwesen die in der weltweiten Gewalt und
2018 zwar beigetreten. Allerdings mit Vorbehalt     zwei Fällen; einer politisch oder gesellschaft­     Diskriminierung gegen Frauen gründenden
zu Artikel 59, wonach Opfer von häuslicher          lich engagierten jungen Frau aus Pakistan, die      Probleme nicht lösen könne. Mit der Asylge­
Gewalt bei einer Trennung oder Scheidung            ihrer Entführung knapp entkam, und einer            währung könnte die Schweiz diese mehrfach
nicht ihr Aufenthaltsrecht verlieren sollen.        Iranerin, die mit ihrem Kleinkind vor ihrem         gepeinigten Frauen zumindest schützen und
                                                    gewalttätigen Ehemann und dessen Familie            damit weltweit ein Zeichen setzen.
Fallstrick Glaubhaftigkeit                          flüchtete. Bei einer Scheidung hätte sie ihr Kind
Oft sind Frauen in ihren Herkunftsländern           nie mehr sehen dürfen. Lucia Della Torre: «In       TERRE DES FEMMES Schweiz,
wegen innerstaatlichen und kulturellen Grün­        ihren Anhörungen konnten beide Frauen ihre          Dossier Geflüchtete Frauen:
den zur Flucht gezwungen. SFH-Juristin Lucia        Situation jedoch aus Sicht der Behörden nicht       https://bit.ly/32OoVw7

                                                                                                                       Fluchtpunkt 86 August 2019    3
FLUCHTPUNKT - Schweizerische Flüchtlingshilfe
Herkunftsländer

«Man kann niemanden unterdrücken,
den es nicht gibt»
Tschetschenische Behörden haben zu Beginn des Jahres eine neue Kampagne gegen
schwule und lesbische Menschen gestartet. Betroffene berichten von widerrechtlichen
Festnahmen, Prügel, Erniedrigungen und Folter. Von Adrian Schuster, SFH-Länderexperte

                                                                                                    und das Militär gingen damals in brutaler
                                                                                                    Weise gegen LGBTQI vor, hielten sie in Ge­
                                                                                                    heimgefängnissen fest, wo sie geschlagen und
                                                                                                    gefoltert wurden. Im Rahmen der Kampagne
                                                                                                    wurden LGBTQI-Menschen sowohl von Be­
                                                                                                    hördenvertretern ermordet wie auch von ihren
                                                                                                    Verwandten «bestraft» respektive getötet,
                                                                                                    nachdem sie von Behörden «geoutet» worden
                                                                                                    waren. Eine durch die russischen Behörden
                                                                                                    durchgeführte Untersuchung möglicher Ver­
                                                                                                    brechen gegen LGBTQI-Menschen in Tschet­
                                                                                                    schenien, welche erst auf starken internationa­
                                                                                                    len Druck westlicher Staatsoberhäupter und
                                                                                                    internationaler Institutionen durchgeführt
                                                                                                    wurde, hat keine konkreten Resultate ergeben.
                                                                                                    Die Straflosigkeit der Taten fördere das erneute
                                                                                                    Auftreten der Behörden-Gewalt gegen LGBTQI-­
                                                                                                    Menschen, sind Beobachterinnen und Beob­
                                                                                                    achter vor Ort überzeugt.
                                                                                                         Nach Ansicht des damaligen Sprechers des
                                                                                                    tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow
                                                                                                    gab es 2017 keine derartigen Vorkommnisse, da
…und es gibt sie doch: LGBTQI-Protest vor der russischen Botschaft in London mit Unterstützung
                                                                                                    in Tschetschenien keine LGBTQI-­Menschen
von Amnesty International. © Vianney Le Caer/​Shutterstock                                          existierten: «Man kann niemanden verhaften oder
                                                                                                    unterdrücken, den es in der Republik gar nicht gibt»,
Lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle,     Elektroschocks. Eine der interviewten Personen   liess er verlauten. Und wenn es doch welche geben
queer und intersexuelle Menschen (nach der         wurde in Haft vergewaltigt. Damit erzwangen      würde, so seien sie kein Problem für die Polizei, da
englischen Abkürzung LGBTQI) haben in der          die Polizeikräfte die Denunzierung weiterer      «ihre Verwandten sie bereits an einen Ort geschickt
sehr konservativen und mehrheitlich musli­         Homosexueller aus dem sozialen Umfeld der        haben, von wo sie nie zurückkehren könnten.»
mischen Gesellschaft Tschetscheniens einen         Inhaftierten. Nach Angaben einer prominen­
schweren Stand. Homosexualität wird als            ten russischen LGBTQI-Organisation wurden        Morddrohungen gegen Aktivisten
Schande für die Familienehre wahrgenommen.         im Dezember und Januar in der Hauptstadt         Hilfe für die Betroffenen ist vor Ort kaum
Hochrangige Behördenvertreter verstärken die­      Grosny mindestens 14 homosexuelle Männer         möglich. Menschenrechtsaktivistinnen und
se Haltung, indem sie öffentlich «Ehrenmorde»      festgenommen und misshandelt. Andere             -aktivisten sind in Tschetschenien nicht sicher.
an schwulen und bisexuellen Männern billigen.      Quellen geben Hinweise auf eine deutlich         Ein bekannter russischer LGBTI-Aktivist,
                                                  ­höhere Zahl.                                     welcher eine Anzeige zu den aktuellen Ereig­
Elektroschocks und Vergewaltigung                                                                   nissen bei der Polizei einreichte, erhielt in der
Im Frühling 2019 schlugen Menschenrechts­         «Säuberung» der Nation                            Folge Morddrohungen. Dies macht die Arbeit
organisationen, Aktivistinnen und Aktivisten      Das aktuelle Vorgehen ruft Erinnerungen an        auch für die SFH-Länderanalyse schwierig, da
Alarm: Die tschetschenischen Behörden hätten      die Verfolgungen aus dem Jahr 2017 wach.          viele ihrer Erkenntnisse auf der Arbeit dieser
eine Kampagne von Gewalt und Festnahmen           Damals führten die tschetschenischen Be­          mutigen Menschen vor Ort beruhen.
gegen LGBTQI-Menschen gestartet. Betroffene       hörden eine beispiellose Kampagne gegen
berichteten gegenüber Human Rights Watch          LGBTQI-Menschen durch. Das Ziel war, die          SFH-Länderanalyse, Tschetschenien:
von Erniedrigungen, Prügel und Folter mit         «Nation von Schwulen zu säubern». Die Polizei     https://bit.ly/2Sn8Pou

4   Fluchtpunkt 86 August 2019
FLUCHTPUNKT - Schweizerische Flüchtlingshilfe
LGBTQI

Asylsuchende LGBTQI-Personen
sind besonders verletzlich
Menschen mit einer sexuellen Orientierung oder einer Geschlechtsidentität, die nicht den
gesellschaftlichen Vorstellungen entspricht, zählen zu den besonders verletzlichen Personen
im Asylwesen. Um ihre Rechte zu wahren, sind bei der Prüfung der Asylgesuche sowie der
Unterbringung besondere Grundsätze zu beachten. Von Eliane Engeler, SFH-Mediensprecherin

In zahlreichen Ländern können schwule und          gespräch teilnehmen, also der Behörden, der       Leitfaden der SFH
lesbische Menschen ihre sexuelle Orientierung      Dolmetscherinnen und Dolmetscher sowie der        Die SFH setzt sich dafür ein, dass die Ver­
und ihre Art zu leben nicht frei zum Ausdruck      Rechtsvertretenden.                               letzlichkeit asylsuchender LGBTQI-Personen
bringen. Einige Staaten tolerieren und schützen                                                      berücksichtigt wird. Sie plädiert für eine Vor­
gar homophobe Haltungen in der Gesellschaft        Mangelhafte Praxis                                gehensweise im Einklang mit den UNHCR­-­
und den Behörden, wie der Länderbericht über       Die schweizerische Praxis ist in vielerlei Hin­   Leitlinien und für eine umsichtige Rechtspre­
Tschetschenien auf Seite 4 zeigt. In anderen       sicht problematisch. Immer noch bleibt vielen     chung, die den Weisungen der europäischen
Ländern ist Homophobie fest verankert, indem       LGBTQI-Personen verwehrt, das Geschlecht          Menschenrechtskonvention und des Euro­
Strafgesetze alle abweichenden Identitätsäusse­    der am Asylgespräch beteiligten Personen          päischen Gerichtshofes entspricht. In diesem
rungen und Verhaltensweisen kriminalisieren.       auszuwählen. Die Existenz kriminalisierender      Sinne hat die SFH einen Leitfaden für Rechts­
Dies betrifft nicht nur schwule und lesbische      Gesetze im Herkunftsland der Gesuchstellen­       beratende und die Rechtsvertreterinnen und
Menschen, sondern alle LGBTQI-Personen             den genügt nicht, um in der Schweiz Schutz        Rechtsvertreter entwickelt. Dieser soll dazu
(Lesbian – Gay – Bisexual – Trans – Queer –        zu erhalten. Die asylsuchende Person muss         beitragen, LGBTQI-spezifische Fluchtgründe
Intersex, entsprechend der englischen Abkür­       glaubhaft machen können, dass sie einem           zu erkennen und die Rechte von LGBTQI-­
zung). Dennoch berücksichtigen die Schweizer       hohen Risiko der Benachteiligung direkt aus­      Asylsuchenden zu wahren.
Behörden die Furcht der LGBTQI-Asylsuchen­         gesetzt ist. Dies ist problematisch, weil die
den, ernsthafte Nachteile in ihrem Heimatland      Kriterien des Staatssekretariats für Migration    • Link zum Leitfaden: http://bit.ly/SFH_Leitfaden
zu erleiden, nur ungenügend.                       (SEM) zur Beurteilung der Intensität der Ver­     • Geschichte von Daniela und Sofia (Bild):
                                                   folgung sehr streng sind.                           https://bit.ly/2YiQ5b1
Vorurteile und Diskriminierung
LGBTQI-Asylsuchende flüchten aus ihren
­Herkunftsländern, weil sie dort gnadenloser
 Verfolgung und Folter ausgesetzt sind. Ausge­
 stossen von der Gesellschaft und oft auch von
 der eigenen Familie, traumatisiert aufgrund
 früherer Verfolgungen, verspüren asylsuchende
 LGBTQI-­Personen während der Anhörungen
 möglicherweise auch Schamgefühle, eine feh­
 lende Akzeptanz der eigenen Person und Miss­
 trauen gegenüber den Behörden. Das kann sich
 direkt negativ auf ihr Asylgesuch auswirken.
 Zudem sind sie auch in der Schweiz Vorurteilen
 und Diskriminierungen homophober Art
 ­ausgesetzt. Dazu gehört zum Beispiel die An­
  nahme, dass die LGBTQI-Personen in ihrem
  Herkunftsland nichts zu fürchten hätten, so­
  lange sie sich «unauffällig» verhalten würden.
      Auf internationaler Ebene enthalten die
  Richtlinien des UNHCR wichtige Empfehlun­
  gen zur Prüfung der Asylgesuche von LGBTQI­-
  Personen. Demnach sollten LGBTQI-Asyl­
  suchende zum Beispiel immer das Geschlecht       Daniela und ihre Partnerin Sofia wurden wegen ihres Engagements für LGBTIQ-Menschen in Kolumbien
  aller Personen auswählen können, die am Asyl­    verfolgt. Im Dezember 2016 fanden sie mit ihrem Sohn Zuflucht in der Schweiz. © Mark Henely / UNHCR

                                                                                                                     Fluchtpunkt 86 August 2019     5
FLUCHTPUNKT - Schweizerische Flüchtlingshilfe
SFH-Bildung

Schlüsselinformationen für einen Neustart
Das Bildungsteam der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH erteilt im Auftrag des Kantons Waadt
Einführungskurse für Resettlement-Flüchtlinge. So kennen sie ihre Rechte und Pflichten und sind
für das praktische Leben, den Arbeitsmarkt und die Gesundheitsversorgung in der Schweiz gut vor-
bereitet. Von Karin Mathys, Redaktorin SFH

Eine neue Existenz aufzubauen in einem          Katy François zum ersten Modul «Rechte und        wieder. «Wir haben beschlossen in die Schweiz
komplett unbekannten Land, ohne dessen          Pflichten von Flüchtlingen». «Diese zu kennen,    zu kommen, weil mein Schwager hier wohnt»,
Sprache, Kultur oder Institutionen zu kennen,   ist sehr wichtig», ergänzt SFH-­Bildungskollege   fährt Seladjin Doli weiter. Er beschreibt seinen
das ist für viele unter uns kaum vorstellbar.   Andres Guarin. «Nur so kann man sie auch          Integrationsprozess, ohne die ­Schwierigkeiten
Dennoch müssen Geflüchtete diese Etappe im      einfordern.» Die Tipps werden an der Veran­       zu verbergen, die er zwischen seiner Ankunft,
Integrationsprozess irgendwie meistern; auch    staltung direkt ins Arabische übersetzt. Die      dem Warten auf den Asylentscheid, dem Sprach­
die sechs syrischen Familien, die im Herbst     Bildungsverantwortlichen stellen die wich­        erwerb und der Arbeitssuche erlebt hatte. Trotz
2018 im Kanton Waadt eingetroffen sind.         tigsten Akteure im Asylbereich des Kantons        all dem wirkt er gelassen und zuversichtlich:
Nach ihrer Flucht aus den syrischen Städten     Waadt vor und unterbreiten den Neuankömm­         «Man darf keine Angst haben, die Dinge arran­
Aleppo, Homs und Deraa, lebten sie fünf         lingen einen Multiple-Choice-Fragebogen.          gieren sich mal für mal. Es werden sich viele
Jahre in Jordanien. Das UNHCR und die           Eine nützliche Aufgabe, geht es doch darum        Möglichkeiten auftun, um die Sprache zu er­
Schweizer Behörden haben sie schliesslich als   herauszufinden, an welche Institutionen man       lernen, sich auszubilden und eine Arbeit zu
Flüchtlinge anerkannt und im Rahmen des Re­     sich für welche Fragen wenden muss.               finden, auch für euch», ist er überzeugt. Seine
settlement-Programms in die Schweiz gebracht.                                                     Geschichte macht die Teilnehmenden zunächst
Hier können sie dauerhaft bleiben und sich in   Sich im andern wiedererkennen                     sprachlos; sie sind berührt von allem, was sie
Sicherheit eine neue Existenz aufbauen (vgl.    Nun ist die Reihe an Seladjin Doli, einem         gehört haben. Offenbar ist es möglich, sein
Kasten). Das SFH-Bildungsteam stattet die       externen Mitarbeiter des SFH-Bildungsteams.       Leben neu zu gestalten und sich wieder aufzu­
Familien nun im Auftrag der kantonalen Fach­    Der eingebürgerte Schweizer stammt ursprüng­      richten – trotz aller Schwierigkeiten.
stelle für Flüchtlingsintegration und Rassis­   lich aus dem Kosovo und ist hier, um seine
musprävention BCI mit dem nötigen Rüstzeug      Fluchtgeschichte zu erzählen: die Bedrohun­       Spielerischer Lernprozess
aus, damit sie sich möglichst bald autonom      gen wegen seiner Opposition gegen die Politik,    Mit einem interaktiven Quiz beginnt einen
und selbstständig zurechtfinden.                die Zeit im Gefängnis, die Demütigungen, die      Monat später das Kursmodul zum ­praktischen
                                                Folter, die Angst, die überstürzte Flucht aus     Leben. Jetzt geht es um den Alltag, das
Orientierung auf unbekanntem Terrain            dem Land mit seiner Frau und seinem Klein­        ­Wohnen, die Mobilität, die Freizeitgestaltung.
«Das institutionelle System in der Schweiz      kind, die Überquerung des adriatischen Meers       ­«Warum muss man die Abfälle trennen? Wie
ist komplex. Damit man sich darin nicht         und die Ankunft in Italien. Aufmerksam hören        viel Zeit hat man, um seinen Führerschein in
verliert, muss man wissen, wen man für was      die syrischen Flüchtlinge zu. Viele erkennen        der Schweiz anerkennen zu lassen? Wie erfährt
kontaktieren kann», erklärt SFH-Ausbildnerin    sich im einen oder anderen Lebensabschnitt          man, welche Angebote und Möglichkeiten

6   Fluchtpunkt 86 August 2019
FLUCHTPUNKT - Schweizerische Flüchtlingshilfe
Die Familie Alaboud ist eine der sechs syrischen Familien, die dank des Resettlement-Programms in der Schweiz bleiben können. © Stephan Hermann /COUPDOEIL

es in der Wohngemeinde gibt?» Diese spiele­         sind genau dem Profil und den Bedürfnissen           erfahren mehr über verschiedene Ausbildungs-
rische Seite im Lernprozess findet grossen          dieser Kursteilnehmenden, die momentan nur           und Arbeitsbranchen. Sie lernen, ihre bisheri­
Anklang. Den Flüchtlingen scheint das Quiz          über rudimentäre Sprachkenntnisse verfügen,          gen Ausbildungen und Arbeitserfahrungen zu
zu gefallen, sie lachen und applaudieren. Nun       angepasst.                                           gewichten und ein wirkungsvolles Bewerbungs­
werden die Willkommens-Broschüre der BCI                                                                 dossier zu erstellen. Nun sind die sechs syri­
und das schweizerische Schulsystem vorge­           Zugang zum Arbeitsmarkt vereinfachen                 schen Resettlement-Familien gut ausgestattet
stellt, jeweils aufgelockert mit kleinen Aufga­     Nach dem Gesundheitsmodul erfolgt schliess­          für ein neues, sicheres Leben in der Schweiz,
ben, Szenen- und Rollenspielen. Der pädagogi­       lich der Ausbildungsteil über den Arbeitsmarkt       fern von Krieg und Zerstörung.
sche Ansatz der SFH-Bildung stützt sich nicht       zusammen mit der SFH-Mitgliedorganisation
nur auf die theoretische Wissensvermittlung         Caritas Waadt. Für ihre zukünftige Arbeitsin­        Resettlement ist ein sicherer, legaler Fluchtweg.
ab, sondern umfasst auch visuelle, interaktive      tegration werden die Flüchtlinge sensibilisiert      Informationen: https://bit.ly/2SEJF4O
und gemeinsam zu lösende Situationen. Diese         auf Fragen zu den Sozialversicherungen und           auf www.fluechtlingstage.ch

                                                      Resettlement: 800 Kontingentsplätze für 2020 und 2021
                                                      Die SFH begrüsst den Entscheid des Bun-           sichts der rekordhohen globalen Flücht-
                                                      desrates, die kontinuierliche Teilnahme           lingszahlen und des breiten Rückhalts
                                                      an den Resettlement-Programmen des                seitens der Kantone, Gemeinden und
                                                      UNHCR als festen Bestandteil der Schwei-          Zivil­gesellschaft, sollte der Bundesrat
                                                      zer Asylpolitik zu verankern.                     aus Sicht der SFH indes mehr als die
                                                                                                        jährlich 800 Kontingentsplätze bereit­
                                                      Die Schweiz setzt damit ein wichtiges             stellen, die er nun für die Jahre 2020/21
                                                      ­Zeichen in einer Zeit, in der Millionen von      beschlossen hat.
                                                       Menschen auf der Flucht ihr Leben riskie-
Die Flucht- und Integrationsgeschichte von
                                                       ren oder ohne Perspektive unter prekären         SFH-Medienmitteilung vom 29. Mai 2019
Seladjin Doli beeindruckt die syrischen Resettle-      Verhältnissen in Lagern festsitzen. Ange-        https://bit.ly/2So6GJc
ment-Flüchtlinge. © Karin Mathys/SFH

                                                                                                                        Fluchtpunkt 86 August 2019       7
FLUCHTPUNKT - Schweizerische Flüchtlingshilfe
SFH-Akzente

Im Gruppenbild vereint: Die internationale Musicalcrew und die eingeladenen Geflüchteten aus aller Welt. © SFH/Bernd Konrad

«Im Zirkus war es immer üblich,                                                                             ­ ritrea findet es tröstlich, dass selbst eine so
                                                                                                            E
                                                                                                            mächtige Familie um eine Aufenthaltsbewilli­
                                                                                                            gung bitten musste. Die entsprechende Szene

dass man jeden akzeptiert»                                                                                  mit den misstrauischen Behörden beeindruckt
                                                                                                            viele Geflüchtete. Ob es Gemeinsamkeiten
                                                                                                            gibt zwischen der Knie-Geschichte und Men­
250 geflüchtete Menschen aus der Region Bern, darunter viele Familien,                                      schen auf der Flucht? «Nicht direkt», sagt Rolf
sind der Einladung ins Circus Musical von Rolf Knie gefolgt. Im heissen                                     Knie, der persönlich viel Mitgefühl für Ge­
Zirkuszelt brodelte und flirrte es vor Hitze, Spannung und Begeisterung.                                    flüchtete empfindet. «Beim Zirkus war es immer
Von Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH                                                                      üblich, dass man jeden akzeptiert, egal welcher
                                                                                                            Hautfarbe oder Religion.»
«Wir haben uns überlegt, wie wir die Freude         aus allen Ländern zusammen leben können»,                    Als Schluss-Highlight gibt es auf der Bühne
am Circus Musical für einen guten Zweck             freut sich Nelly Steiner aus Venezuela, die seit        ein Gruppenfoto und damit eine kurze Begeg­
­einsetzen könnten», erklärt Kunstmaler, Schau­     16 Jahren in der Schweiz lebt.                          nung zwischen den internationalen Artistinnen
  spieler und Artist Rolf Knie die herzliche                                                                und Artisten und dem ebensolchen Publikum.
 ­Geste. Der Sohn von Fredy Knie senior, dem        Skeptische Behörden                                     Die Begeisterung ist gross: «Ich war noch nie
  Patron der fünften Generation und Wegbereiter     Die knapp 600 schwitzenden Zirkusfans lassen            in einem Zirkus, oh, war das jetzt schön! Die
  für den modernen Zirkus mit Tierdressuren,        sich gerne von der Livemusik und Artistik, dem          Kostüme, die Stimmung, das hat mir sehr ge­
  hat ein Musical produziert. Inhalt ist die wun­   stimmlichen und schauspielerischen Können               fallen», freut sich Esraa Al-Hile. «Bei uns im
  dersame Geschichte der Knie-Dynastie seit         und der packenden Geschichte dieser legen­              Irak gibt es so etwas nicht, nur Theater, Film
  1803 mit all ihren Aufs und Abs. Denn heuer        dären Zirkusfamilie verzaubern. Jung und Alt           und etwas Gesang. In arabischen Ländern gibt
  feiern die Knies nun in der siebten Generation     staunen, lachen und klatschen begeistert               oder gab es nur in Ägypten und im Libanon
  ihr 100-Jahre-Jubiläum als «Schweizer Natio­      rhythmisch mit, wie sich das im Zirkus gehört.          Zirkus. Das ist wirklich nett und grosszügig von
  nal-Circus der Gebrüder Knie».                    «Mir ist aufgefallen, dass die Familie Knie             Rolf Knies Circus Musical, so viele Flüchtlinge
                                                    auch in schwierigen Zeiten zusammengehalten             einzuladen.»
Multikultureller Zirkus                             hat, eine starke Bande. Sie haben verstanden,
Nach und nach tröpfelt das Publikum herein in       dass sie nur so eine Zukunft als Zirkusunter­                     Weitere Vorstellungen u.a. in Basel:
das schmucke, innen rot ausgestattete Doppel­       nehmen haben», sagt Miriam Fa­                                    www.kniemusical.ch
zelt. Die Kinder klettern auf die Elefanten- und    biola Peralta aus Nicaragua. Auch
Löwenstatuen, tollen in Vorfreude zwischen          die Szene, wo der kleinwüchsige                                   «Die Schweizerische Flücht-
­historischen Kostümen und Ständen mit Schle­       ­Pipo in die Zirkusfamilie aufge­                                 lingshilfe leistet grossartige
 ckereien herum; die Erwachsenen bestaunen          nommen wird, berührt die Gäste
                                                                                                                      Arbeit, es wäre wünschens-
 historische Filmszenen, Plakate und Fotogra­       mit Fluchthintergrund: «Wir s­ tehen
 fien. «Zirkus macht einfach alle glücklich, die      jetzt auch gerade am Rande der                                  wert, wenn sie von der
 Kleinen und die Grossen! Es beeindruckt             ­Gesellschaft», meint ein syrischer                              Politik mehr Unterstützung
 mich, dass so viele verschiedene Menschen            Familienvater. Eine Gruppe aus                                  erhalten würde.» Rolf Knie

                                                    Impressum                                               Der Fluchtpunkt erscheint viermal jährlich für Spenderin-
                                                    Verlag und Herausgeberin «Fluchtpunkt»:                 nen und Spender der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Der
                                                    Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH)                   Abo-Beitrag von 5 Franken ist im Spendenbetrag inbegriffen.
                                                    Weyermannsstrasse 10, Postfach, 3001 Bern
                                                    Tel. 031 370 75 75, E-Mail: info@fluechtlingshilfe.ch   Auflage dieser Ausgabe: 12 400
                                                    Internet: www.fluechtlingshilfe.ch                      Redaktion: Barbara Graf Mousa (verantwortlich),
                                                                                                            Lucia Della Torre, Eliane Engeler, Karin Mathys, Adrian Schuster
                                                                                                            Übersetzungen: Sabine Dormond, Montreux
                                                                Spendenkonto: PC 30-1085-7
                                                                                                            Layout: Bernd Konrad
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8   Fluchtpunkt 86 August 2019
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