FLUCHTPUNKT - Schweizerische Flüchtlingshilfe
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Die Zeitung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) Nr. 86 August 2019 FLUCHTPUNKT LGBTQI im Asylverfahren Neuer SFH-Leitfaden hilft, Fluchtgründe zu erkennen Seite 5 SFH-Bildung Schlüsselinformationen für Resettlement-Flüchtlinge im Kanton Waadt Seite 6 und 7
Editorial SFH-Newsflash Liebe Leserinnen, Petition: Das Sterben auf dem Äthiopien bleibt liebe Leser Mittelmeer stoppen! ein Unruheherd Die SFH unterstützt die Petition und die drei Das Mittelmeer ist eine der Forderungen der schweizerischen Solinetze. tödlichsten Fluchtrouten der Bundesrat und Parlament sind aufgefordert, Welt. Letztes Jahr starben sofort Massnahmen zu ergreifen, damit Men laut UNHCR rund 2300 Men- schen beim Versuch, über das schen in Seenot auf dem Mittelmeer gerettet Meer nach Europa zu gelan- und dezentral rasch aufgenommen werden gen. Das ist die direkte Folge können. Die drei Forderungen sind: der rigorosen EU-Abschottungspolitik, 1. Die Schweiz soll sich am Aufbau eines die die Schweiz mitträgt: Die private europäisch organisierten und finanzierten Seenotrettung wird behindert und kri- zivilen Seenotrettungssystems beteiligen. minalisiert, Europas Häfen bleiben für 2. Die Schweiz soll sich für eine Verteilung Rettungsschiffe zu. von Menschen einsetzen, die aus Seenot Die Sicherheitslage in Äthiopien bleibt trotz gerettet werden. Dabei werden humanitäre und teilweise auch wegen der eingeleiteten Die EU und die Schweiz verhindern so und rechtsstaatliche Grundsätze eingehalten. Reformen fragil. Ethnische und politische eine dauerhafte solidarische Verteilung 3. Der Bundesrat und das Parlament sollen die Konflikte treiben Millionen in die Flucht. Der der Schutzsuchenden. Die Schweiz hat bislang keine aus Seenot geretteten rechtlichen Grundlagen schaffen, die eine gefeierte Hoffnungsträger Abiy Ahmed steht Menschen aufgenommen und sich hinter rasche und dezentrale Aufnahme von Boots zunehmend unter Druck. dem Fehlen einer gesamteuropäischen flüchtlingen in der Schweiz ermöglichen. SFH-News vom 9. Juli 2019: Lösung versteckt. Das ist beschämend Unterzeichnen auch Sie! https://bit.ly/2JLyAMt und unhaltbar. Die SFH fordert die https://bit.ly/2ObTjgP Schweiz auf, sich einzusetzen für einen sofortigen europäischen Notfallplan für LGBTQI-Leitfaden Geflüchtete, die aus Seenot gerettet werden. SFH erlässt Empfehlungen für den Umgang mit Asylgesuchen von LGBTQI-Personen. Die Schweiz hat sich der internationalen Diese müssen nach besonderen Grundsätzen Solidarität und dem Flüchtlingsschutz geprüft werden. Lesen Sie dazu die Artikel verschrieben. Sie könnte bei der frei- über LGBTQI-Personen in Tschetschenien auf willigen Aufnahme von Geretteten eine Seite 4 und über die SFH-Empfehlungen auf Vorreiterrolle spielen. Angesichts der Seite 5. tiefen Asylgesuchzahlen hat unser Land dafür die erforderlichen Möglich- SFH-Medienmitteilung vom 22. Juli 2019: keiten und Kapazitäten. https://bit.ly/2Ycj3JA Koalition der Willigen Dass Europas Regierungen Schutzsu- chende in Seenot völlig im Stich lassen, zur Seenotrettung Die Schweiz muss sich an einer Koalition der Reform Schengener Informa macht betroffen, wütend und ohnmäch- tig. Dennoch können wir zumindest im Willigen zur Seenotrettung im Mittelmeer be tionssystem (SIS-Bericht) kleinen Rahmen handeln, indem wir die teiligen, fordert die SFH. Die Seenotrettung Die SFH hat sich an der Vernehmlassung zur Petition der schweizerischen Solinetze durch private Hilfsorganisationen wurde nur Übernahme und Umsetzung des Reform unterschreiben. nötig, weil die europäischen Staaten ihre völker pakets zum Schengener Informationssystem rechtliche Verantwortung nicht wahrnahmen. (SIS) beteiligt. Doch Seenotrettung und Flüchtlingsschutz Die SFH begrüsst grundsätzlich die Über sind staatliche Aufgaben, die Verantwortung nahme Verordnungen «SIS Polizei», «SIS Herzlich, dafür dürfen die EU und die Schweiz nicht Grenze» und «SIS Rückkehr». Sie fordert die Eliane Engeler, SFH-Mediensprecherin länger auf zivile NGO abwälzen. Angesichts Schweiz auf, die Änderungen menschen des Sterbens auf dem Mittelmeer und der kata rechtskonform umzusetzen und darauf zu strophalen Lage in Libyen fordert die SFH die achten, dass der Datenschutz gewahrt wird. Personen mit besonderen Rechten brauchen besonderen Schutz im Asylverfahren. Dazu Schweiz zum Handeln auf: Sie muss sich an Der erweiterte Datenaustausch sollte mit gehören zum Beispiel Menschen mit einer einer Koalition von willigen europäischen spezifischen Massnahmen für einen besseren sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Staaten beteiligen, die aus Seenot gerettete Datenschutz sowie Wahrung der Menschen Identität (LGBTQI), die nicht den gesellschaft- lichen Vorstellungen entspricht, aber auch Menschen solidarisch aufnehmen. rechte einhergehen. Frauen und Minderjährige. Ihre Verletzlichkeit muss im Asylverfahren gebührend berück- SFH-Medienmitteilung vom 26. Juli 2019: SFH-Stellungnahme vom 16. Mai 2019: sichtigt werden. Foto: © Jaz Cummins/UNHCR https://bit.ly/2YpEvPy https://bit.ly/32ITFP1 2 Fluchtpunkt 86 August 2019
Frauen im Asylverfahren Frauenspezifische Fluchtgründe werden kaum berücksichtigt Viele Frauen flüchten aus ihrem Herkunftsland, weil sie dort wegen ihres Geschlechts besonderer Gewalt, Folter, Bedrohung und Verfolgung ausgesetzt sind. In der Schweiz sind frauenspezifische Fluchtgründe seit 1998 im Asylgesetz verankert und können für den Asylentscheid relevant sein. In der Praxis erhalten betroffene Frauen allerdings kaum einen dauerhaften Schutz. Warum? Von Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH Die Hälfte der rund 71 Millionen Schutz suchenden weltweit sind nach Schätzungen des UNHCR Frauen und Kinder. In der Schweiz machen die Asylgesuche von Frauen etwa 25 Prozent aus. Frauen flüchten aus ihren Herkunftsländern, weil sie politischer und / oder religiöser Unterdrückung und Diskrimi nierung ausgesetzt sind. Leben sie in Kriegs regionen oder sind aus solchen geflüchtet, wurden die meisten schutzsuchenden Frauen bereits einmal vergewaltigt oder anders sexuell ausgebeutet, sei es durch Kriegsparteien, sei es durch Schlepper, sei es durch die eigene Verwandtschaft. Bekannte frauenspezifische Fluchtgründe sind zum Beispiel die Zwangs verheiratung, die Zwangsprostitution oder die genitale Verstümmelung. Subtiler und für betroffene Frauen kaum beweisbar und glaub haft zu machen, ist jedoch die Gewalt und Unterdrückung im privaten und ganz beson ders im häuslichen Bereich. In vielen Ländern erachtet sich der Staat dafür als nicht zustän Iranische Behörden weisen Frauen bei einer Protestaktion in die Schranken. dig; Betroffene sind gesetzlich nicht geschützt, © Hasan Sarbakhshian / Keystone die Handlungen der Täter sind strafrechtlich nicht relevant und damit nicht einklagbar. Das Della Torre ist Expertin für die schweizerische genügend beweisen und glaubhaft machen.» war auch in der Schweiz bis 1981 so. Es erstaunt Asylpraxis gegenüber «Menschen mit beson Oft erhalten Gesuchstellerinnen keinen dauer deshalb kaum, dass die Schweiz Vorbehalte deren Rechten», zu denen auch Frauen mit ge haften Schutz, weil sie sozusagen «zu früh» gegenüber internationalen Schutzbestimmun schlechtsspezifischen Fluchtgründen gehören. geflüchtet sind, nämlich bevor sie «nachweis gen hat, welche häusliche Gewalt als Asylgrund Auch wenn es im Schweizer Asylgesetz seit bar» verprügelt, vergewaltigt, entführt oder empfehlen. Dem Übereinkommen des Europa 1998 heisst «Den frauenspezifischen Flucht gar getötet worden sind. Beschwerden scheitern rats zur Verhütung und Bekämpfung von gründen ist Rechnung zu tragen» (Artikel 3, oft, weil in der aktuellen Rechtsprechung das Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt – Absatz 2), liegt bei der Anwendung noch eini Argument vorherrscht, dass das Schweizer kurz Istanbul-Konvention – ist die Schweiz ges im Argen. Lucia Della Torre berichtet von Asylwesen die in der weltweiten Gewalt und 2018 zwar beigetreten. Allerdings mit Vorbehalt zwei Fällen; einer politisch oder gesellschaft Diskriminierung gegen Frauen gründenden zu Artikel 59, wonach Opfer von häuslicher lich engagierten jungen Frau aus Pakistan, die Probleme nicht lösen könne. Mit der Asylge Gewalt bei einer Trennung oder Scheidung ihrer Entführung knapp entkam, und einer währung könnte die Schweiz diese mehrfach nicht ihr Aufenthaltsrecht verlieren sollen. Iranerin, die mit ihrem Kleinkind vor ihrem gepeinigten Frauen zumindest schützen und gewalttätigen Ehemann und dessen Familie damit weltweit ein Zeichen setzen. Fallstrick Glaubhaftigkeit flüchtete. Bei einer Scheidung hätte sie ihr Kind Oft sind Frauen in ihren Herkunftsländern nie mehr sehen dürfen. Lucia Della Torre: «In TERRE DES FEMMES Schweiz, wegen innerstaatlichen und kulturellen Grün ihren Anhörungen konnten beide Frauen ihre Dossier Geflüchtete Frauen: den zur Flucht gezwungen. SFH-Juristin Lucia Situation jedoch aus Sicht der Behörden nicht https://bit.ly/32OoVw7 Fluchtpunkt 86 August 2019 3
Herkunftsländer «Man kann niemanden unterdrücken, den es nicht gibt» Tschetschenische Behörden haben zu Beginn des Jahres eine neue Kampagne gegen schwule und lesbische Menschen gestartet. Betroffene berichten von widerrechtlichen Festnahmen, Prügel, Erniedrigungen und Folter. Von Adrian Schuster, SFH-Länderexperte und das Militär gingen damals in brutaler Weise gegen LGBTQI vor, hielten sie in Ge heimgefängnissen fest, wo sie geschlagen und gefoltert wurden. Im Rahmen der Kampagne wurden LGBTQI-Menschen sowohl von Be hördenvertretern ermordet wie auch von ihren Verwandten «bestraft» respektive getötet, nachdem sie von Behörden «geoutet» worden waren. Eine durch die russischen Behörden durchgeführte Untersuchung möglicher Ver brechen gegen LGBTQI-Menschen in Tschet schenien, welche erst auf starken internationa len Druck westlicher Staatsoberhäupter und internationaler Institutionen durchgeführt wurde, hat keine konkreten Resultate ergeben. Die Straflosigkeit der Taten fördere das erneute Auftreten der Behörden-Gewalt gegen LGBTQI- Menschen, sind Beobachterinnen und Beob achter vor Ort überzeugt. Nach Ansicht des damaligen Sprechers des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow gab es 2017 keine derartigen Vorkommnisse, da …und es gibt sie doch: LGBTQI-Protest vor der russischen Botschaft in London mit Unterstützung in Tschetschenien keine LGBTQI-Menschen von Amnesty International. © Vianney Le Caer/Shutterstock existierten: «Man kann niemanden verhaften oder unterdrücken, den es in der Republik gar nicht gibt», Lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, Elektroschocks. Eine der interviewten Personen liess er verlauten. Und wenn es doch welche geben queer und intersexuelle Menschen (nach der wurde in Haft vergewaltigt. Damit erzwangen würde, so seien sie kein Problem für die Polizei, da englischen Abkürzung LGBTQI) haben in der die Polizeikräfte die Denunzierung weiterer «ihre Verwandten sie bereits an einen Ort geschickt sehr konservativen und mehrheitlich musli Homosexueller aus dem sozialen Umfeld der haben, von wo sie nie zurückkehren könnten.» mischen Gesellschaft Tschetscheniens einen Inhaftierten. Nach Angaben einer prominen schweren Stand. Homosexualität wird als ten russischen LGBTQI-Organisation wurden Morddrohungen gegen Aktivisten Schande für die Familienehre wahrgenommen. im Dezember und Januar in der Hauptstadt Hilfe für die Betroffenen ist vor Ort kaum Hochrangige Behördenvertreter verstärken die Grosny mindestens 14 homosexuelle Männer möglich. Menschenrechtsaktivistinnen und se Haltung, indem sie öffentlich «Ehrenmorde» festgenommen und misshandelt. Andere -aktivisten sind in Tschetschenien nicht sicher. an schwulen und bisexuellen Männern billigen. Quellen geben Hinweise auf eine deutlich Ein bekannter russischer LGBTI-Aktivist, höhere Zahl. welcher eine Anzeige zu den aktuellen Ereig Elektroschocks und Vergewaltigung nissen bei der Polizei einreichte, erhielt in der Im Frühling 2019 schlugen Menschenrechts «Säuberung» der Nation Folge Morddrohungen. Dies macht die Arbeit organisationen, Aktivistinnen und Aktivisten Das aktuelle Vorgehen ruft Erinnerungen an auch für die SFH-Länderanalyse schwierig, da Alarm: Die tschetschenischen Behörden hätten die Verfolgungen aus dem Jahr 2017 wach. viele ihrer Erkenntnisse auf der Arbeit dieser eine Kampagne von Gewalt und Festnahmen Damals führten die tschetschenischen Be mutigen Menschen vor Ort beruhen. gegen LGBTQI-Menschen gestartet. Betroffene hörden eine beispiellose Kampagne gegen berichteten gegenüber Human Rights Watch LGBTQI-Menschen durch. Das Ziel war, die SFH-Länderanalyse, Tschetschenien: von Erniedrigungen, Prügel und Folter mit «Nation von Schwulen zu säubern». Die Polizei https://bit.ly/2Sn8Pou 4 Fluchtpunkt 86 August 2019
LGBTQI Asylsuchende LGBTQI-Personen sind besonders verletzlich Menschen mit einer sexuellen Orientierung oder einer Geschlechtsidentität, die nicht den gesellschaftlichen Vorstellungen entspricht, zählen zu den besonders verletzlichen Personen im Asylwesen. Um ihre Rechte zu wahren, sind bei der Prüfung der Asylgesuche sowie der Unterbringung besondere Grundsätze zu beachten. Von Eliane Engeler, SFH-Mediensprecherin In zahlreichen Ländern können schwule und gespräch teilnehmen, also der Behörden, der Leitfaden der SFH lesbische Menschen ihre sexuelle Orientierung Dolmetscherinnen und Dolmetscher sowie der Die SFH setzt sich dafür ein, dass die Ver und ihre Art zu leben nicht frei zum Ausdruck Rechtsvertretenden. letzlichkeit asylsuchender LGBTQI-Personen bringen. Einige Staaten tolerieren und schützen berücksichtigt wird. Sie plädiert für eine Vor gar homophobe Haltungen in der Gesellschaft Mangelhafte Praxis gehensweise im Einklang mit den UNHCR- und den Behörden, wie der Länderbericht über Die schweizerische Praxis ist in vielerlei Hin Leitlinien und für eine umsichtige Rechtspre Tschetschenien auf Seite 4 zeigt. In anderen sicht problematisch. Immer noch bleibt vielen chung, die den Weisungen der europäischen Ländern ist Homophobie fest verankert, indem LGBTQI-Personen verwehrt, das Geschlecht Menschenrechtskonvention und des Euro Strafgesetze alle abweichenden Identitätsäusse der am Asylgespräch beteiligten Personen päischen Gerichtshofes entspricht. In diesem rungen und Verhaltensweisen kriminalisieren. auszuwählen. Die Existenz kriminalisierender Sinne hat die SFH einen Leitfaden für Rechts Dies betrifft nicht nur schwule und lesbische Gesetze im Herkunftsland der Gesuchstellen beratende und die Rechtsvertreterinnen und Menschen, sondern alle LGBTQI-Personen den genügt nicht, um in der Schweiz Schutz Rechtsvertreter entwickelt. Dieser soll dazu (Lesbian – Gay – Bisexual – Trans – Queer – zu erhalten. Die asylsuchende Person muss beitragen, LGBTQI-spezifische Fluchtgründe Intersex, entsprechend der englischen Abkür glaubhaft machen können, dass sie einem zu erkennen und die Rechte von LGBTQI- zung). Dennoch berücksichtigen die Schweizer hohen Risiko der Benachteiligung direkt aus Asylsuchenden zu wahren. Behörden die Furcht der LGBTQI-Asylsuchen gesetzt ist. Dies ist problematisch, weil die den, ernsthafte Nachteile in ihrem Heimatland Kriterien des Staatssekretariats für Migration • Link zum Leitfaden: http://bit.ly/SFH_Leitfaden zu erleiden, nur ungenügend. (SEM) zur Beurteilung der Intensität der Ver • Geschichte von Daniela und Sofia (Bild): folgung sehr streng sind. https://bit.ly/2YiQ5b1 Vorurteile und Diskriminierung LGBTQI-Asylsuchende flüchten aus ihren Herkunftsländern, weil sie dort gnadenloser Verfolgung und Folter ausgesetzt sind. Ausge stossen von der Gesellschaft und oft auch von der eigenen Familie, traumatisiert aufgrund früherer Verfolgungen, verspüren asylsuchende LGBTQI-Personen während der Anhörungen möglicherweise auch Schamgefühle, eine feh lende Akzeptanz der eigenen Person und Miss trauen gegenüber den Behörden. Das kann sich direkt negativ auf ihr Asylgesuch auswirken. Zudem sind sie auch in der Schweiz Vorurteilen und Diskriminierungen homophober Art ausgesetzt. Dazu gehört zum Beispiel die An nahme, dass die LGBTQI-Personen in ihrem Herkunftsland nichts zu fürchten hätten, so lange sie sich «unauffällig» verhalten würden. Auf internationaler Ebene enthalten die Richtlinien des UNHCR wichtige Empfehlun gen zur Prüfung der Asylgesuche von LGBTQI- Personen. Demnach sollten LGBTQI-Asyl suchende zum Beispiel immer das Geschlecht Daniela und ihre Partnerin Sofia wurden wegen ihres Engagements für LGBTIQ-Menschen in Kolumbien aller Personen auswählen können, die am Asyl verfolgt. Im Dezember 2016 fanden sie mit ihrem Sohn Zuflucht in der Schweiz. © Mark Henely / UNHCR Fluchtpunkt 86 August 2019 5
SFH-Bildung Schlüsselinformationen für einen Neustart Das Bildungsteam der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH erteilt im Auftrag des Kantons Waadt Einführungskurse für Resettlement-Flüchtlinge. So kennen sie ihre Rechte und Pflichten und sind für das praktische Leben, den Arbeitsmarkt und die Gesundheitsversorgung in der Schweiz gut vor- bereitet. Von Karin Mathys, Redaktorin SFH Eine neue Existenz aufzubauen in einem Katy François zum ersten Modul «Rechte und wieder. «Wir haben beschlossen in die Schweiz komplett unbekannten Land, ohne dessen Pflichten von Flüchtlingen». «Diese zu kennen, zu kommen, weil mein Schwager hier wohnt», Sprache, Kultur oder Institutionen zu kennen, ist sehr wichtig», ergänzt SFH-Bildungskollege fährt Seladjin Doli weiter. Er beschreibt seinen das ist für viele unter uns kaum vorstellbar. Andres Guarin. «Nur so kann man sie auch Integrationsprozess, ohne die Schwierigkeiten Dennoch müssen Geflüchtete diese Etappe im einfordern.» Die Tipps werden an der Veran zu verbergen, die er zwischen seiner Ankunft, Integrationsprozess irgendwie meistern; auch staltung direkt ins Arabische übersetzt. Die dem Warten auf den Asylentscheid, dem Sprach die sechs syrischen Familien, die im Herbst Bildungsverantwortlichen stellen die wich erwerb und der Arbeitssuche erlebt hatte. Trotz 2018 im Kanton Waadt eingetroffen sind. tigsten Akteure im Asylbereich des Kantons all dem wirkt er gelassen und zuversichtlich: Nach ihrer Flucht aus den syrischen Städten Waadt vor und unterbreiten den Neuankömm «Man darf keine Angst haben, die Dinge arran Aleppo, Homs und Deraa, lebten sie fünf lingen einen Multiple-Choice-Fragebogen. gieren sich mal für mal. Es werden sich viele Jahre in Jordanien. Das UNHCR und die Eine nützliche Aufgabe, geht es doch darum Möglichkeiten auftun, um die Sprache zu er Schweizer Behörden haben sie schliesslich als herauszufinden, an welche Institutionen man lernen, sich auszubilden und eine Arbeit zu Flüchtlinge anerkannt und im Rahmen des Re sich für welche Fragen wenden muss. finden, auch für euch», ist er überzeugt. Seine settlement-Programms in die Schweiz gebracht. Geschichte macht die Teilnehmenden zunächst Hier können sie dauerhaft bleiben und sich in Sich im andern wiedererkennen sprachlos; sie sind berührt von allem, was sie Sicherheit eine neue Existenz aufbauen (vgl. Nun ist die Reihe an Seladjin Doli, einem gehört haben. Offenbar ist es möglich, sein Kasten). Das SFH-Bildungsteam stattet die externen Mitarbeiter des SFH-Bildungsteams. Leben neu zu gestalten und sich wieder aufzu Familien nun im Auftrag der kantonalen Fach Der eingebürgerte Schweizer stammt ursprüng richten – trotz aller Schwierigkeiten. stelle für Flüchtlingsintegration und Rassis lich aus dem Kosovo und ist hier, um seine musprävention BCI mit dem nötigen Rüstzeug Fluchtgeschichte zu erzählen: die Bedrohun Spielerischer Lernprozess aus, damit sie sich möglichst bald autonom gen wegen seiner Opposition gegen die Politik, Mit einem interaktiven Quiz beginnt einen und selbstständig zurechtfinden. die Zeit im Gefängnis, die Demütigungen, die Monat später das Kursmodul zum praktischen Folter, die Angst, die überstürzte Flucht aus Leben. Jetzt geht es um den Alltag, das Orientierung auf unbekanntem Terrain dem Land mit seiner Frau und seinem Klein Wohnen, die Mobilität, die Freizeitgestaltung. «Das institutionelle System in der Schweiz kind, die Überquerung des adriatischen Meers «Warum muss man die Abfälle trennen? Wie ist komplex. Damit man sich darin nicht und die Ankunft in Italien. Aufmerksam hören viel Zeit hat man, um seinen Führerschein in verliert, muss man wissen, wen man für was die syrischen Flüchtlinge zu. Viele erkennen der Schweiz anerkennen zu lassen? Wie erfährt kontaktieren kann», erklärt SFH-Ausbildnerin sich im einen oder anderen Lebensabschnitt man, welche Angebote und Möglichkeiten 6 Fluchtpunkt 86 August 2019
Die Familie Alaboud ist eine der sechs syrischen Familien, die dank des Resettlement-Programms in der Schweiz bleiben können. © Stephan Hermann /COUPDOEIL es in der Wohngemeinde gibt?» Diese spiele sind genau dem Profil und den Bedürfnissen erfahren mehr über verschiedene Ausbildungs- rische Seite im Lernprozess findet grossen dieser Kursteilnehmenden, die momentan nur und Arbeitsbranchen. Sie lernen, ihre bisheri Anklang. Den Flüchtlingen scheint das Quiz über rudimentäre Sprachkenntnisse verfügen, gen Ausbildungen und Arbeitserfahrungen zu zu gefallen, sie lachen und applaudieren. Nun angepasst. gewichten und ein wirkungsvolles Bewerbungs werden die Willkommens-Broschüre der BCI dossier zu erstellen. Nun sind die sechs syri und das schweizerische Schulsystem vorge Zugang zum Arbeitsmarkt vereinfachen schen Resettlement-Familien gut ausgestattet stellt, jeweils aufgelockert mit kleinen Aufga Nach dem Gesundheitsmodul erfolgt schliess für ein neues, sicheres Leben in der Schweiz, ben, Szenen- und Rollenspielen. Der pädagogi lich der Ausbildungsteil über den Arbeitsmarkt fern von Krieg und Zerstörung. sche Ansatz der SFH-Bildung stützt sich nicht zusammen mit der SFH-Mitgliedorganisation nur auf die theoretische Wissensvermittlung Caritas Waadt. Für ihre zukünftige Arbeitsin Resettlement ist ein sicherer, legaler Fluchtweg. ab, sondern umfasst auch visuelle, interaktive tegration werden die Flüchtlinge sensibilisiert Informationen: https://bit.ly/2SEJF4O und gemeinsam zu lösende Situationen. Diese auf Fragen zu den Sozialversicherungen und auf www.fluechtlingstage.ch Resettlement: 800 Kontingentsplätze für 2020 und 2021 Die SFH begrüsst den Entscheid des Bun- sichts der rekordhohen globalen Flücht- desrates, die kontinuierliche Teilnahme lingszahlen und des breiten Rückhalts an den Resettlement-Programmen des seitens der Kantone, Gemeinden und UNHCR als festen Bestandteil der Schwei- Zivilgesellschaft, sollte der Bundesrat zer Asylpolitik zu verankern. aus Sicht der SFH indes mehr als die jährlich 800 Kontingentsplätze bereit Die Schweiz setzt damit ein wichtiges stellen, die er nun für die Jahre 2020/21 Zeichen in einer Zeit, in der Millionen von beschlossen hat. Menschen auf der Flucht ihr Leben riskie- Die Flucht- und Integrationsgeschichte von ren oder ohne Perspektive unter prekären SFH-Medienmitteilung vom 29. Mai 2019 Seladjin Doli beeindruckt die syrischen Resettle- Verhältnissen in Lagern festsitzen. Ange- https://bit.ly/2So6GJc ment-Flüchtlinge. © Karin Mathys/SFH Fluchtpunkt 86 August 2019 7
SFH-Akzente Im Gruppenbild vereint: Die internationale Musicalcrew und die eingeladenen Geflüchteten aus aller Welt. © SFH/Bernd Konrad «Im Zirkus war es immer üblich, ritrea findet es tröstlich, dass selbst eine so E mächtige Familie um eine Aufenthaltsbewilli gung bitten musste. Die entsprechende Szene dass man jeden akzeptiert» mit den misstrauischen Behörden beeindruckt viele Geflüchtete. Ob es Gemeinsamkeiten gibt zwischen der Knie-Geschichte und Men 250 geflüchtete Menschen aus der Region Bern, darunter viele Familien, schen auf der Flucht? «Nicht direkt», sagt Rolf sind der Einladung ins Circus Musical von Rolf Knie gefolgt. Im heissen Knie, der persönlich viel Mitgefühl für Ge Zirkuszelt brodelte und flirrte es vor Hitze, Spannung und Begeisterung. flüchtete empfindet. «Beim Zirkus war es immer Von Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH üblich, dass man jeden akzeptiert, egal welcher Hautfarbe oder Religion.» «Wir haben uns überlegt, wie wir die Freude aus allen Ländern zusammen leben können», Als Schluss-Highlight gibt es auf der Bühne am Circus Musical für einen guten Zweck freut sich Nelly Steiner aus Venezuela, die seit ein Gruppenfoto und damit eine kurze Begeg einsetzen könnten», erklärt Kunstmaler, Schau 16 Jahren in der Schweiz lebt. nung zwischen den internationalen Artistinnen spieler und Artist Rolf Knie die herzliche und Artisten und dem ebensolchen Publikum. Geste. Der Sohn von Fredy Knie senior, dem Skeptische Behörden Die Begeisterung ist gross: «Ich war noch nie Patron der fünften Generation und Wegbereiter Die knapp 600 schwitzenden Zirkusfans lassen in einem Zirkus, oh, war das jetzt schön! Die für den modernen Zirkus mit Tierdressuren, sich gerne von der Livemusik und Artistik, dem Kostüme, die Stimmung, das hat mir sehr ge hat ein Musical produziert. Inhalt ist die wun stimmlichen und schauspielerischen Können fallen», freut sich Esraa Al-Hile. «Bei uns im dersame Geschichte der Knie-Dynastie seit und der packenden Geschichte dieser legen Irak gibt es so etwas nicht, nur Theater, Film 1803 mit all ihren Aufs und Abs. Denn heuer dären Zirkusfamilie verzaubern. Jung und Alt und etwas Gesang. In arabischen Ländern gibt feiern die Knies nun in der siebten Generation staunen, lachen und klatschen begeistert oder gab es nur in Ägypten und im Libanon ihr 100-Jahre-Jubiläum als «Schweizer Natio rhythmisch mit, wie sich das im Zirkus gehört. Zirkus. Das ist wirklich nett und grosszügig von nal-Circus der Gebrüder Knie». «Mir ist aufgefallen, dass die Familie Knie Rolf Knies Circus Musical, so viele Flüchtlinge auch in schwierigen Zeiten zusammengehalten einzuladen.» Multikultureller Zirkus hat, eine starke Bande. Sie haben verstanden, Nach und nach tröpfelt das Publikum herein in dass sie nur so eine Zukunft als Zirkusunter Weitere Vorstellungen u.a. in Basel: das schmucke, innen rot ausgestattete Doppel nehmen haben», sagt Miriam Fa www.kniemusical.ch zelt. Die Kinder klettern auf die Elefanten- und biola Peralta aus Nicaragua. Auch Löwenstatuen, tollen in Vorfreude zwischen die Szene, wo der kleinwüchsige «Die Schweizerische Flücht- historischen Kostümen und Ständen mit Schle Pipo in die Zirkusfamilie aufge lingshilfe leistet grossartige ckereien herum; die Erwachsenen bestaunen nommen wird, berührt die Gäste Arbeit, es wäre wünschens- historische Filmszenen, Plakate und Fotogra mit Fluchthintergrund: «Wir s tehen fien. «Zirkus macht einfach alle glücklich, die jetzt auch gerade am Rande der wert, wenn sie von der Kleinen und die Grossen! Es beeindruckt Gesellschaft», meint ein syrischer Politik mehr Unterstützung mich, dass so viele verschiedene Menschen Familienvater. Eine Gruppe aus erhalten würde.» Rolf Knie Impressum Der Fluchtpunkt erscheint viermal jährlich für Spenderin- Verlag und Herausgeberin «Fluchtpunkt»: nen und Spender der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Der Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) Abo-Beitrag von 5 Franken ist im Spendenbetrag inbegriffen. Weyermannsstrasse 10, Postfach, 3001 Bern Tel. 031 370 75 75, E-Mail: info@fluechtlingshilfe.ch Auflage dieser Ausgabe: 12 400 Internet: www.fluechtlingshilfe.ch Redaktion: Barbara Graf Mousa (verantwortlich), Lucia Della Torre, Eliane Engeler, Karin Mathys, Adrian Schuster Übersetzungen: Sabine Dormond, Montreux Spendenkonto: PC 30-1085-7 Layout: Bernd Konrad Ihre Spende Druck: rubmedia AG, Wabern/Bern in guten Händen. Hergestellt aus 100% Recycling-Papier 8 Fluchtpunkt 86 August 2019
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