FLUCHTPUNKT - Schweizerische Flüchtlingshilfe
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FLUCHTPUNKT Die Zeitung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) Nr. 96 März 2022 Vorläufige Aufnahme Vom langjährigen Provisorium bis zum Härtefall. Seiten 6 und 7 Neue SFH-Berichte Schwer psychisch erkrankte Geflüch- tete dürfen nicht nach Kroatien und Italien überstellt werden. Seite 4
Editorial «Unser Vorstand wird die Chancen und Risiken des Frontex-Referendums sorgfältig prüfen, bevor er die Position der SFH festlegt» Miriam Behrens, Direktorin der SFH Liebe Leserinnen und Leser Mitgliedsstaaten bereits umgesetzt. Sitz ausreichend nutzt, um die Rechte der Das Referendum birgt zugleich Risiken. Geflüchteten zu verteidigen, ist aufgrund Am 15. Mai 2022 wird die Schweizer Denn als Mitglied des Schengenraums mangelnder Transparenz nicht bekannt. Stimmbevölkerung voraussichtlich da ist die Schweiz verpflichtet, den neuen Ob der Bundesrat bei einem Nein an der rüber befinden, ob die Schweiz die neue Rechtsakt zu übernehmen, einen finan Urne eine bessere Vorlage ins Parlament EU-Verordnung zu Frontex übernimmt. ziellen Beitrag zu leisten und sich an bringen kann, hängt vom Goodwill Europas Die SFH muss zu diesem asylpolitisch Frontex-Einsätzen zu beteiligen. Tut sie ab. Ob die Gegner der Vorlage geschlos wichtigen Geschäft Stellung nehmen. das nicht, droht ihr gemäss Schengener sen argumentieren oder ob daraus eine Doch das ist nicht ganz einfach. Assoziierungsabkommen der Rauswurf Anti-Europa-Debatte wird, hängt auch von bei Schengen/Dublin und der Verlust des der SVP ab. Für die Positionierung der SFH Insbesondere seit der Spiegel und seine Frontex-Verwaltungsratssitzes. Eine ge braucht es mehr Klarheit in diesen Fra Partner im Oktober 2020 offenlegten, meinsame Flüchtlingspolitik wäre damit gen. Unser Vorstand wird die Chancen und dass die europäische Grenzschutzagentur nicht mehr möglich. Risiken sorgfältig prüfen, bevor er zum Frontex an illegalen Push-Backs beteiligt Geschäft Stellung nimmt. ist, reisst die öffentliche Kritik nicht ab. Die SFH ist überzeugt, dass es für den Die teils massiven Menschenrechtsver Schutz und die Wahrung der G rundrechte letzungen an den EU-Aussengrenzen geflüchteter Menschen die Zusam stehen in krassem Widerspruch zu den menarbeit aller europäischen Staaten internationalen und europäischen Geset braucht. Die Grenzschutzagentur Frontex Miriam Behrens, 21. Februar 2022 zen. Dass Frontex teilweise selbst daran muss entsprechend grundlegend re Direktorin beteiligt ist, ist schlicht inakzeptabel, denn formiert werden, keine Frage. Die SFH als EU-Agentur ist Frontex verpflichtet, setzt sich daher mit ihrem europäischen sämtliche ihrer Massnahmen im Einklang Dachverband ECRE seit Jahren für ein mit der EU-Grundrechtecharta, der Eu unabhängiges und effektives Melde-, ropäischen Menschenrechtskonvention Untersuchungs- und Überwachungssys und anderen Normen des Völkerrechts tem der Agentur ein. Inzwischen wurden durchzuführen. Die Agentur darf den Zu auf EU-Ebene auch eine ganze Reihe von gang zum Asylverfahren nicht durch Push- Untersuchungen zu Frontex eingeleitet Backs verhindern. oder bereits durchgeführt, die den Hand lungsbedarf bestätigen. Konkret passiert Das Migrant Solidarity Network will Frontex ist bislang aber leider noch wenig. Für abschaffen und hat daher das Referen nachhaltige Reformen braucht es daher dum gegen die Schweizer Beteiligung an weiterhin starken öffentlichen Druck. Titelbild: der neuen EU-Verordnung ergriffen. Das In der Schweiz leben über 46 000 Menschen mit einer vorläufigen Aufnahme, viele von ist aufgrund der Kritik an Frontex nach Ob dieser Druck besser durch ein Nein ihnen seit Jahren. Das Leben mit dem F-Ausweis vollziehbar. Auf die neue EU-Verordnung an der Urne oder durch ein entschlosse beeinträchtigt die Zukunftsperspektiven. hat das Referendum allerdings keinen nes Agieren der Schweiz innerhalb des Foto: provisorisches Bundesasylzentrum Einfluss: Die Verordnung ist innerhalb der Frontex-Verwaltungsrats erreicht wird, Pasture, Balena 2020, © KEYSTONE/Ti-Press/ EU beschlossene Sache und wird von den ist allerdings offen. Ob die Schweiz diesen Francesca Agosta 2 Fluchtpunkt 96 März 2022
Schweizer Asylsymposium Auf der Suche nach Konsens und Verant- wortungsteilung im Flüchtlingsschutz Das 8. Schweizer Asylsymposium findet am 19. und 20. Mai 2022 in der Eventfabrik in Bern statt. Die wichtigste nationale Fachtagung zu den Themen Asyl und Migration wird gemeinsam von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) und dem UNHCR Büro für die Schweiz und Liechtenstein organisiert. Hochkarätige Referent*innen aus der Schweiz und Europa sowie thematisch vielseitige Workshops versprechen einen fundierten Austausch und wertvollen Erkenntnisgewinn. Von Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH Das diesjährige Asylsymposium hat sich den © UNHCR «Zugang zu Schutz für Flüchtlinge – Heraus- forderungen, Perspektiven, Lösungen» zum Leitmotiv gemacht. Die Tagung richtet sich an Fachleute und interessierte Personen aus Verwaltung, Zivilgesellschaft, Politik, Hilfs- werken, Anwaltschaft, Wissenschaft, an Ge- flüchtete sowie an die Medien. Die Themen der Vorträge und des Podiums sowie viele der Workshop-Angebote spiegeln die Spann- breite der Verantwortung für Geflüchtete in der Schweiz und der Beteiligung der Schweiz an europäischer und internationaler Koope- ration und Solidarität wider. Sie gehen der Grundfrage nach, wie der Konsens zu erneu- ern ist, wonach Schutz vor Verfolgung richtig und wichtig ist und der individuelle Zugang Auch das Eidgenössische Departement für Architektur oder neue digitalbasierte For- zu Schutz zu sichern ist. auswärtige Angelegenheiten (EDA) wirkt mit schungen dazu beitragen, dass Geflüchteten Simon Geissbühler, Leiter der Abteilung Frie- trotz zunehmenden Drucks und staatlichen Vielseitiges Programm mit attraktiven den und Menschenrechte, mit. Sein Referat Abschottungstendenzen Zugang zu Schutz Workshops beleuchtet, wie die Schweiz in der internatio- gegeben werden kann. Es lohnt sich also, Nach der Eröffnung der Fachbiennale am nalen Zusammenarbeit den Flüchtlingsschutz einen t ieferen Blick in die zehn Workshop- Donnerstag, 19. Mai 2022, durch die bei- stärkt. Die internationale Perspektive bringen Angebote zu werfen. den gastgebenden Organisationen SFH und zwei Referentinnen aus Brüssel ein: Pascale Den Abschluss macht eine hochkarätig UNHCR, wird Bundesrätin Karin Keller- Moreau, Direktorin des UNHCR-Europabü- besetzte Podiumsdiskussion. Es debattieren Sutter, Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- ros, spricht aus globaler Perspektive über den Claudio Martelli, Vizedirektor und Leiter Di- und Polizeidepartements (EJPD), eine Bilanz Flüchtlingsschutz und dessen Entwicklungen rektionsbereich Asyl des SEM, die Geschäfts- des neuen schweizerischen Asylsystems aus und Herausforderungen seit der Verabschie- leiterin von Amnesty International Schweiz, politischer Perspektive vornehmen. dung des Globalen Paktes für Flüchtlinge Alexandra Karle, sowie Catherine Woollard, 2018. Catherine Woollard, Direktorin des Direktorin ECRE und Stefan Maier, Senior Europäischen Flüchtlingsrats ECRE, macht Policy Officer, UNHCR Brüssel zum Thema © SFH den zunehmenden Druck im europäischen «Schnell und fair – wie viel Schweiz braucht Flüchtlingsschutz zum Thema. das europäische Asylsystem?». Am Freitag, 20. Mai 2022, eröffnet die neue Staatssekretärin für Migration, Christine www.fluechtlingshilfe.ch/programm Schraner Burgener, den zweiten Symposiums tag mit ihrem Referat zur Rolle der Schweiz in der aktuellen europäischen Asylpolitik. Asylsymposium 2022: Jetzt und noch bis Ende März anmelden. Weitere Referierende und Leitende von Workshops erweitern das Leitmotiv www.fluechtlingshilfe.ch/anmeldung der Tagung: So können zum Beispiel die Fluchtpunkt 96 März 2022 3
SFH-Teilberichte zu Kroatien und Italien Prekäre Situation für psychisch erkrankte Geflüchtete in Kroatien und Italien Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) hat den Zugang von Asylsuchenden und Schutzberechtigten zu psychologischer und psychiatrischer Behandlung in Kroatien und Italien untersucht. Ärztliche Be treuung ist bei psychischen Leiden demnach kaum verfügbar. Die SFH rät generell von der Überstel lung schwer erkrankter Personen in Dublin- oder sichere Drittstaaten ab. Von Adriana Romer, Juristin SFH Die Situation geflüchteter Menschen in Europäische Ausschuss zur Verhütung von nach K roatien überstellt, auch von der K roatien ist in vielerlei Hinsicht problema- Folter und unmenschlicher oder erniedrigen- Schweiz. Die SFH hat deshalb den Zugang tisch. Was verschiedene Medien seit Monaten der Behandlung oder Strafe (CPT) und das zu psychologischer und psychiatrischer Be- berichten, bestätigen auch der Europäische Schweizer Bundesverwaltungsgericht (BVGer). handlung in Kroatien untersucht und dazu Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der Das BVGer bemängelte, dass die von der kro- einen Bericht publiziert. In diesem Bericht atischen Polizei an der Grenze praktizierten wird deutlich, dass der Zugang zu Behandlung Wegweisungen – sogenannte Push-Backs – von psychischen Problemen selbst für kroat nach wie vor nicht ausreichend geklärt seien. ische Staatsangehörige schwierig ist. U mso Der Bericht des CPT vom Dezember 2021 mehr gilt dies für Personen, die der Landes- zeigt die durch den kroatischen Staat began- sprache nicht mächtig sind. Ihre Chancen auf genen oder zumindest tolerierten Menschen- eine stabile langfristige Behandlung sind mi- rechtsverletzungen an Geflüchteten. nimal. Lücken bei der Krankenversicherung Das gemeinsame europäische Asylsystem sowie der Mangel an Übersetzenden sowohl gründet in der Annahme des gegenseitigen im Asyl- und Migrationsbereich wie auch Vertrauens, dass die Staaten ihren völker allgemein im Sozialwesen und in der Bildung rechtlichen Verpflichtungen nachkommen. führen dazu, dass psychisch erkrankte Asyl- Vor dem Hintergrund zahlreicher eindeutiger suchende und Schutzberechtigte in Kroatien Berichte über Misshandlungen und Push- oftmals ohne Behandlung bleiben. Zusätzlich Backs an der Grenze drängen sich Zweifel fehlt es an Identifikationsmechanismen für an dieser generellen Annahme in Bezug auf vulnerable Personen, zu denen psychisch Er- Kroatien auf. krankte zählen. In der Folge bleiben die Aus- wirkungen von Traumata und chronischem Kaum Zugang zu psychiatrischer Hilfe Stress auf die psychische Gesundheit von Auch innerhalb Kroatiens präsentiert sich Geflüchteten unerkannt und unbehandelt. die Situation für Geflüchtete schwierig. Dies Die SFH rät aufgrund ihrer Erkenntnisse von Keine Hilfe für psychisch Erkrankte. Foto: gilt umso mehr für besonders verletzliche Kroatien-Überstellungen von Personen, die Flüchtlingslager Miral im Grenzgebiet Kroa Menschen mit psychischen Problemen. auf eine psychologische oder psychiatrische tiens (© KEYSTONE/Jean-Christophe Bott). Trotzdem werden betroffene S chutzsuchende Behandlung angewiesen sind, ab. Auch Bericht zu Italien publiziert diese nicht im Interesse der betroffenen Dublin-Staaten als Quelle dienen und eine Person liegt. Die psychische Gesundheit faktenbasierte Einschätzung zur Situation Neben Kroatien hat die SFH auch einen Be sollte immer vorrangig beachtet werden. in einem Land ermöglichen. richt zur Situation von psychisch erkrankten Die SFH geht seit Jahren Hinweisen auf Asylsuchenden und Schutzberechtigten in Mängel im Asylsystem anderer D ublin- SFH-Berichte: www.fluechtlingshilfe.ch/dublin- Italien auf der SFH-Website veröffentlicht. Länder nach und dokumentiert dies wenn laenderberichte Auch dieser Bericht beschäftigt sich vertieft möglich mit Abklärungsreisen vor Ort. Die SFH-Kroatienbericht (Englisch, Zusammen- mit dem Gesundheitssystem in Italien sowie jüngsten beiden Berichte zur Behandlung fassung in Deutsch): www.fluechtlingshilfe.ch/ dem Zugang zu Behandlung für Personen psychisch erkrankter Personen in Kroatien bericht-kroatien-zusamenfassung mit psychischen Erkrankungen. Die SFH und Italien sind mittels schriftlicher und SFH-Italienbericht: www.fluechtlingshilfe.ch/ rät generell von der Überstellung schwer mündlicher Interviews ohne Reise vor Ort bericht-italien psychisch erkrankter Personen in andere entstanden. Die Berichte sollen Rechts Dublin- oder sichere Drittstaaten ab, wenn vertretenden, Behörden und Gerichten in 4 Fluchtpunkt 96 März 2022
Afghanistan Die Schweiz soll mehr Geflüchtete aus Afghanistan dauerhaft aufnehmen Die Menschen in Afghanistan hungern, haben kaum mehr Bargeld, und ihre Sicherheitslage hat sich seit der Machtübernahme der Taliban kontinuierlich verschlechtert. Die Schweiz zeigt sich jedoch bis heute zurückhaltend, wenn es um die konkrete Aufnahme afghanischer Geflüchteter geht. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) verfolgt die Situation in Afghanistan mit Sorge und fordert unter anderem humanitäre Soforthilfe und ein zusätzliches Resettlement-Kontingent. Von Alexandra Geiser, SFH-Länderexpertin Die humanitäre Lage hat sich in den letzten Monaten in Afghanistan dermassen ver- schlechtert, dass die Vereinten Nationen im Januar 2022 ihren grössten jemals gestarteten Hilfsappell für ein einzelnes Land lancieren mussten. Für Afghanistan werden über vier Milliarden US-Dollar benötigt, um 22 Mil- lionen Afghan*innen zu unterstützen, die bereits jetzt ohne humanitäre Hilfe nicht überleben können. Das gebeutelte Land befindet sich in einer humanitären Katastrophe, die Menschen ha- ben keine Nahrung und kein Geld mehr. Die Wirtschaft war bereits angeschlagen, bevor die Taliban an die Macht kamen. Noch dazu leidet das Land unter einer der schwersten Dürren der vergangenen zwei Jahrzehnte. Keine Sicherheit, Angst und Misstrauen Die Sicherheitslage sehr vieler Afghan*innen verschlechtert sich seit der Machtübernahme Die Versorgung mit Nahrung ist prekär, die Menschen in Afghanistan leiden an Hunger. Februar 2022 der Taliban kontinuierlich. Trotz der verkün- © KEYSTONE/AP Photo/Hussein Malla deten Generalamnestie für alle, die gegen die Taliban gekämpft hatten, und des Verspre- schiedliche Regeln gelten, Amnestien nicht Zusammenhang, dass die Schweiz die Auf- chens, die Rechte der Frauen innerhalb der einheitlich umgesetzt werden und «Normver- nahme eines zusätzlichen Kontingentes an Grenzen der islamischen Sharia zu wahren, stösse» unterschiedlich bestraft werden. Zu Resettlement-Flüchtlingen beschliesst. hat Human Rights Watch allein in vier Pro- letzteren gehört beispielsweise, wenn jemand Zudem fordert die SFH erleichterte Visa vinzen die Tötung oder das Verschwinden- keinen Bart oder weisse Socken, die Farbe der erteilungen und beschleunigte Familienzu- lassen von 100 ehemaligen Sicherheitskräften Taliban-Flagge, trägt, oder sich stattdessen sammenführungen sowie Schutz und einen seit August 2021 dokumentiert und geht westlich kleidet. Berichte über Hausdurchsu- regulären Aufenthaltsstatus für afghanische davon aus, dass die Dunkelziffer hoch ist. Die chungen, Fahndungslisten und Vergeltungs Geflüchtete in der Schweiz, das heisst Asylge- Taliban verhängen Berufs- und Bildungsver- tötungen haben eine Atmosphäre von Miss- währung oder zumindest eine vorläufige Auf- bote für Frauen. Frauen müssen sich verschlei- trauen und Angst geschaffen. nahme. Hängige Gesuche sollen möglichst ern, in einigen Provinzen dürfen sie das Haus rasch entschieden werden. Denn dass sich die ohne Verschleierung und ohne männliche Be- Mehr Schutz und Bleiberecht Situation in Afghanistan bald verbessert, ist gleitung nicht mehr verlassen, oder sie dürfen UNHCR hat die Länder der Welt aufgeru- nicht absehbar. keinen Sport treiben. fen, in den nächsten fünf Jahren mindes Bis heute verfügen lokale Taliban-Führer tens 85 000 Menschen aus Afghanistan im www.fluechtlingshilfe.ch/laenderinformation- über erhebliche Autonomie, was dazu führt, Rahmen von Resettlement-Programmen afghanistan dass in den verschiedenen Provinzen unter- aufzunehmen. Die SFH forderte in diesem Fluchtpunkt 96 März 2022 5
Dieser passionierte Maurer mit eidgenössischem Fachausweis lebt seit über sieben Jahren als vorläufig Aufgenommener ohne Bleiberecht, während es der Schweiz an ausgebildeten Handwerkerinnen und Handwerkern mangelt. Foto: © Djamila Grossman Vorläufige Aufnahme: Leben mit dem F-Ausweis Der Hürdenlauf im Provisorium Ein positiver Schutzstatus anstatt vorläufige Aufnahme, dafür setzt sich die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) seit Jahren ein. Warum, das zeigen Geschichten aus dem Leben von zwei somalischen Geflüchteten, die in der Schweiz mit dem F-Ausweis zurechtkommen müssen. Die vorläufige Aufnahme verlängert und verteuert den Integrationsprozess sowohl für Direktbetroffene wie für die Schweiz. Von Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH Seit Sommer 2021 ist O.H. stolzer Besitzer und die Arbeitseinsätze waren meistens befris- meiner Familie Ehre gebieten – all das, was des Führerscheins. Der Somalier, der gerne tet, auch aufgrund der Corona-Pandemie, aber mit einem F-Ausweis nicht möglich ist, oder anonym bleiben möchte, flüchtete 2016 in besser bezahlt als zuvor. Ende 2021 konnte er nur mit vielen Schwierigkeiten und hohen die Schweiz und erhielt im März 2020 den sich aus der Sozialhilfeabhängigkeit befreien. Kosten.» F-Ausweis. Seine Geschichte über das Leben O.H. hat sich über die Grosszügigkeit seiner mit einer vorläufigen Aufnahme – im Flucht- Unterstützerinnen zugleich gefreut wie auch Ungleiche kantonale Behandlung punkt vom Oktober 2020 publiziert – hat dafür geschämt: «Es gibt Momente im Leben, Eine vorläufige Aufnahme ist ein negativer zwei Spenderinnen offenbar so berührt, dass da geht es einfach nicht ohne Hilfe», sagt der Asylentscheid mit aufgeschobener Wegwei- sie die Finanzierung seiner praktischen Auto- Somalier. «Ich bin den beiden Frauen unend- sung, die aktuell nicht vollzogen werden fahrprüfung übernahmen. Dank dieser zeit- lich dankbar, wirklich. Aber ich möchte mein kann, weil ein Leben im Herkunftsland un- lich flexibleren Mobilität hat er seither immer Leben selbst finanzieren und endlich frei zulässig oder unzumutbar ist. Ändert sich aus wieder Arbeit gefunden, etwa im Logistikbe- sein, selbstständig Verträge abschliessen, den Sicht der Schweiz diese Situation, dann droht reich, auf Bahnhöfen oder bei der Post, und Wohnsitz in einen anderen Kanton wechseln, vorläufig aufgenommenen Ausländer*in- dazu noch einen Hubstaplerkurs erfolgreich ins Ausland reisen, zum Beispiel meinem nen die Wegweisung zum Beispiel zurück absolviert. Oft arbeitete O.H. in der Nacht, Vater, der im Januar 2021 verstorben ist, und in ein Kriegsland wie Afghanistan, Eritrea, 6 Fluchtpunkt 96 März 2022
Irak, S omalia oder Syrien. Denn aus diesen Ländern stammt die Mehrheit der vorläufig Entwicklung der Anzahl Personen mit einer aufgenommenen Ausländer*innen; das waren vorläufigen Aufnahme in der Schweiz seit 2000 Ende November 2021 nach der Statistik des Bundesamtes für Migration (SEM) 37 256 von 35000 insgesamt 54 474 Menschen im Asylprozess. Nach Ansicht der Schweizerischen Flücht- 30000 lingshilfe (SFH) bietet dieser Status zu wenig Schutz gerade für Bürgerkriegsflüchtlinge. 25000 Zudem ist die Bezeichnung der Aufnahme als «vorläufig» unter anderem für die Arbeits- 20000 suche nachteilig, weil sie einen nur vorüber gehenden Aufenthalt suggeriert. Das wirkt 15000 sich negativ auf die Volkswirtschaft aus. Die vielen Hürden für das finanzielle Selbstma- 10000 nagement und für die Arbeitssuche kosten Zeit und Geld. Dazu kommt die nachweisbar 5000 ungleiche Behandlung je nach Kanton, zum Beispiel die kantonal und kommunal unter- 0 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 schiedliche Höhe der Sozialhilfegelder und die daran geknüpften Bedingungen, die oft Vorläufige Aufnahme seit weniger/genau 7 Jahren erheblich variieren. Wenn vorläufig Aufgenommene keine Vorläufige Aufnahme über 7 Jahre Sozialhilfe (mehr) beziehen und mindestens fünf Jahre in der Schweiz sind, können sie Zu den über 37 000 vorläufig aufgenommenen Ausländer*innen in der Schweiz kommen rund beim Wohnsitz-Kanton ein Härtefallgesuch 9000 vorläufig aufgenommene Flüchtlinge hinzu. Deren rechtlicher Status ist anders geregelt. für ein dauerhaftes Bleiberecht einreichen. Insgesamt leben in der Schweiz über 46 000 Menschen mit einer vorläufigen Aufnahme, viele von ihnen seit Jahren. Quelle: SEM Allerdings wird auch dies unterschiedlich gehandhabt, kann lange d auern und ist mit viel administrativem Aufwand verbunden. Dossiers bleiben liegen Gesuch jetzt behandelt würde, der Eintrag Wo liegt das Problem, warum erhält der junge, sei nicht relevant dafür.» Die Freude währte Vom Provisorium zum Härtefall motivierte Handwerker kein Bleiberecht? Er allerdings nur kurz: Sein Dossier kam wieder Davon kann ein junger Somalier, der eben- habe Betreibungen gehabt, die er alle bezahlt in andere Hände. Jetzt muss er erneut Doku- falls anonym bleiben möchte, ein Lied singen: habe, und wofür er dem Gesuch eine Bestä- mente nachreichen, die er bereits geschickt «Ich lebe nun seit siebeneinhalb Jahren mit tigung beilegen musste. Einmal fuhr er im hat. Er prüft jetzt einen Kantonswechsel. dem F-Ausweis, beziehe seit mehreren Jahren jugendlichen Übermut mit seinen Kollegen «Sonst suche ich in einem anderen Land eine keine Sozialhilfe mehr. Im Dezember 2019 nach Deutschland. Wegen unerlaubtem Gren- bessere Zukunft», sagt er. «Was soll ich denn habe ich beim Kanton ein Härtefallgesuch zübertritt mit F-Ausweis erhielt er prompt hier noch Zeit verlieren?» für ein dauerndes Bleiberecht eingegeben», eine hohe Geldstrafe, die er sofort bezahlte, berichtet er. «Bis heute ist darüber nicht ent- und einen Eintrag ins Strafregister. «Ich dach- Die vorläufige Aufnahme wird auch an schieden worden. Wenn ich nachfrage, muss te, oje, blöd, jetzt muss ich nochmals zwei den Flüchtlingstagen am 18./19. Juni 2022 ich wieder Dokumente nachliefern, die ich Jahre warten», erzählt er zerknirscht. «Aber Thema sein. www.fluechtlingshilfe.ch/vorlaeufige-aufnahme bereits eingegeben habe. Sie sagen, sie hätten dann rief mich das kantonale Migrationsamt die alten Unterlagen nicht mehr.» im Dezember 2021 an und meldete, dass mein Der heute 24-Jährige flüchtete minder- jährig aus Somalia über Sudan, Libyen, das Mittelmeer, Italien bis in die Schweiz, wo er 2013 eintraf. Er lernte rasch Deutsch, legte ei- ne steile berufliche Karriere hin und arbeitet heute als Maurer mit eidgenössischem Fach- ausweis in einer Branche, der es seit Jahren an gelernten Fachkräften mangelt. Er tut dies mit Freude und Berufsethos, liebt Herausforde- rungen wie Treppen bauen, bei Minustempe- raturen spezielle Betonmischungen hinzukrie- gen, werkt auf Grossbaustellen in gemischten Teams überall in der Schweiz wie auch in Der Führerschein öffnet vielen Geflüchteten mit F-Ausweis den Weg zu besser bezahlter Arbeit. kleineren Betrieben in seinem Wohnkanton. Foto: © SFH/Barbara Graf Mousa Fluchtpunkt 96 März 2022 7
SFH-Akzente Neue SFH-Weiterbildung für Lehrpersonen in Bundesasylzentren Das Bildungsteam der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) bietet neu eine Weiterbildung für Lehrpersonen an, die Flüchtlingskinder in den Bundesasylzentren (BAZ) unterrichten. Die Berner Primarschullehrerin und Buchautorin Désirée Scheidegger nimmt daran teil, gehört sie doch seit 2019 zu den ersten Lehrkräften im Bundesasylzentrum in Bern. Was erwartet sie von dem neuen Kursangebot und was bringt die Schule in den BAZ den Kindern? Von Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH die auf Deutsch noch kaum möglich ist. Ich regelmässigen Ritualen sind, die den Kindern staune, was da haften bleibt! Plötzlich beginnt das nötige Rüstzeug vermitteln, für das, was ein Kind zu sprechen, oder singt fehlerfrei ein nachher kommt? Lied auf Deutsch.» Fragmente solcher kleinen Wunder, aber auch Nöte und Ängste der Kin- Désirée Scheidegger. Die Fragmentsammlerin. dern thematisiert die Buchautorin in ihrem Knapp Verlag, ISBN: 978-3-906311-89-0. Die neusten Roman (Hinweis unten). Fragmente mit den Kindern aus dem Bundesasyl- zentrum im Buch sind inspiriert von der Realität, Das Unterrichten von Flüchtlingskindern aber literarisch aufgearbeitet. ist geprägt von ständig wechselnden Klas- sengrössen und Altersstufen. Aber auch das Schulunterricht mit Désirée Scheidegger im unterschiedliche Vorwissen der Kinder aus Auch für Unterrichtende in Bundesasylzentrum Bern. Foto: © Lina Bieri verschiedenen Herkunftsländern und ihre Bundesasylzentren psychische Verfassung ist für Lehrpersonen Das SFH-Bildungsteam bietet Weiter Auch für Kinder von geflüchteten Familien, anspruchsvoll. Nadine Hagen, welche die neu- bildungen für Lehrpersonen, welche die in einem BAZ gerade ein Asylgesuch ge- en SFH-Kurse mitgestaltet, holt vorher die Be- geflüchtete Kinder und Jugendliche in stellt haben, gilt der in der Schweizerischen dürfnisse der Teilnehmenden mit einem Fra- ihren Klassen haben. Auch in den Bunde Bundesverfassung verankerte «Anspruch auf gebogen ab: «So kann ich ihr Vorwissen über sasylzentren (BAZ) in den Kantonen Basel, ausreichenden und unentgeltlichen Grund- das neue Asylwesen, über die Statusrechte von Zürich und Bern erhalten Flüchtlings schulunterricht» (Artikel 19). Oft sind diese Geflüchteten und zur Flucht weltweit bereits kinder und Jugendliche Schulunterricht Flüchtlingskinder nur zwei, drei Wochen in einbauen. Die Erfahrungen zeigen, dass die bereits ab dem ersten Tag nach ihrer den BAZ. «Trotzdem ist die Schule ab dem Lehrkräfte ein massgeschneidertes Konzept A nkunft in der Schweiz. Ihre Lehrer*innen ersten Tag in der Schweiz sehr sinnvoll», schätzen», berichtet die SFH-Bildungsfach- sind in der Regel von den Standortkanto findet Désirée Scheidegger. «Diese Kinder frau. Was erhofft sich Primarlehrerin Schei- nen angestellt; in Bern und in Basel unter haben auf der Flucht viel Bildungszeit ver- degger von dem Kurs? «Mich interessiert vor richten sie die Kinder innerhalb der BAZ. loren, Schule gibt ihnen Struktur und Ge- allem der Prozess des Ankommens», sagt sie. Auch für diese Lehrpersonen ist das neue borgenheit.» Begeistert erzählt die 32-Jährige «Was hilft einer Familie und den Kindern SFH-Weiterbildungsangebot gedacht. Primarlehrerin, wie die Kinder jeden Morgen dann am meisten? Gibt es Studien dazu?» Sie zu ihrem Schulraum rennen, wie sie alles, fragt sich zudem, was sie den Flüchtlingskin- Informationen was sie hören, sehen und ausprobieren dür- dern als Lehrperson mitgeben kann; ob es • www.fluechtlingshilfe.ch/weiterbildung- flucht-und-asyl fen, aufsaugen wie ein Schwamm. «Es geht – wie sie vermutet – weniger die Lerninhalte • Telefon 031 370 75 81 im U nterricht immer um Kommunikation, als konstante Strukturen, klare Bezüge mit Hergestellt aus 100% Recycling-Papier Impressum Der Fluchtpunkt erscheint viermal jährlich für Spenderin Verlag und Herausgeberin «Fluchtpunkt»: nen und Spender der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Der Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) Abo-Beitrag von 5 Franken ist im Spendenbetrag inbegriffen. Weyermannsstrasse 10, Postfach, 3001 Bern Tel. 031 370 75 75, E-Mail: info@fluechtlingshilfe.ch Auflage dieser Ausgabe: 24 000 Internet: www.fluechtlingshilfe.ch Redaktion: Barbara Graf Mousa (verantwortlich), Miriam Behrens, Alexandra Geiser, Nadine Hagen, Oliver Lüthi, Karin Mathys, Adriana Romer, Désirée Scheidegger Spendenkonto: PC 30-1085-7 Übersetzungen: Sabine Dormond, Montreux Ihre Spende Layout: Baptiste Babey in guten Händen. Druck: rubmedia AG, Wabern/Bern 8 Fluchtpunkt 96 März 2022
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