Historische Wortbedeutungen in Johann Wolfgang von Goethes Gedicht "An Charlotte von Stein"

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Universität Lüneburg
Fachbereich Angewandte Kulturwissenschaften
Studienfach Sprach + Kommunikation
Seminar „Historische Wortbedeutung und Kontext“
Seminararbeit von Jessica Franke
Abgabedatum:        10. September 2003

                  Historische
      Wortbedeutungen in
         Johann Wolfgang
     von Goethes Gedicht
„An Charlotte von Stein“

                                   1
Inhaltsverzeichnis

Einleitung ........................................................................................................ 3
1. Historische Einführung in das Gedicht.................................................... 4
2. Gedichtinterpretation unter semasiologischem Aspekt ..................... 5
Literaturverzeichnis........................................................................................18

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Einleitung
Wörter ändern im Laufe der Zeit ihre Bedeutungen. Sie sind nicht statisch, son-
dern unterliegen einem Prozess der Veränderung und Anpassung an die Au-
ßenwelt. Durch Sprache verbinden wir bestimmte Vorstellungen oder Assozia-
tionen von Dingen. Dass diese Vorstellungen andere sein können, als es sie vor
über 200 Jahren waren, ist verständlich. Mit der Lehre dieser Wortbedeutun-
gen beschäftigt sich die Semasiologie.
Wörter sind Lexeme, die eine oder in der Regel mehrere lexikalische Bedeu-
tungen haben. Die lexikalischen Bedeutungen werden im Kontext oder im
Sprachgebrauch aktualisiert und erhalten erst hier ihre jeweilige aktuelle Be-
deutung. Ein Wort kann auch eine übertragene Bedeutung haben, wie zum
Beispiel eine Metapher.
Ich habe für meine Untersuchung ein Gedicht von Johann Wolfgang von
Goethe gewählt, das er 1776 an seine geliebte Freundin Charlotte von Stein
schrieb. Es wird in den meisten Publikationen „An Charlotte von Stein“ betitelt,
ich fand es allerdings auch unter dem Namen „Warum gabst du mir die tiefen
Blicke“. Für meine Interpretation waren mir das Deutsche Wörterbuch der
Gebrüder Grimm, das sich vorteilhaft für ältere Texte verwenden lässt, sowie
Wahrigs Deutsches Wörterbuch behilflich. In den Wörterbüchern finden sich
alle lexikalischen Bedeutungen eines Lexems aufgelistet. Ich habe versucht,
mir aus ihnen die in den Kontext passende Teilbedeutung herauszusuchen
und anhand dieser_ das Gedicht zu interpretieren. Um die Wörter zu erklären
und ihre Bedeutung zu entschlüsseln, habe ich Synonyme eingesetzt, also
Begriffe, deren Bedeutungen im Allgemeinen bekannt sind.
Zunächst möchte ich eine historische Einführung in das Gedicht geben, damit
sein Inhalt besser verstanden wird. Anschließend werde ich jeden Vers durch-
gehen, die Wörter entschlüsseln und unter semasiologischem Aspekt das Ge-
dicht interpretieren. Für einen besseren Überblick ist das Gedicht unter Punkt 2
abgedruckt.

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1. Historische Einführung in das Gedicht
Charlotte von Stein wurde als Charlotte Ernestine Albertine von Schardt am
25. Dezember 1742 in Eisenach geboren. Mit 16 wurde sie Hofdame der Her-
zogin Amalie in Weimar. Sie heiratete 1764 deren herzoglichen Oberstallmeis-
ter Ernst Josias Friedrich Freiherr von Stein und brachte sieben Kinder zur Welt.
Vier Mädchen starben davon schon im Kindesalter.1 Die Ehe war unglücklich,
und Charlotte führte ein trauriges und einsames Leben. 1775 lernten sich die
damals 33-jährige Charlotte von Stein und der 25-jährige Johann Wolfgang
von Goethe in Weimar kennen. Sie hatte „Die Leiden des jungen Werther“
gelesen und wollte ihn unbedingt kennen lernen. Ihr gemeinsamer Freund,
der Arzt Johann Georg Zimmermann, schenkte ihnen jeweils einen Schatten-
riss von dem anderen, der sie noch neugieriger aufeinander machte. Im No-
vember desselben Jahres lernten sie sich schließlich kennen und verliebten
sich ineinander. Ihre Liebe wird vermutlich rein platonisch gewesen sein, da
Charlotte von Stein verheiratet war. Ihre Freundschaft war jedoch sehr intensiv
und hielt zehn Jahre. Goethes Gefühle waren sehr stark, er schrieb seiner
Liebsten über 1600 Briefe2, in denen er am Ende nicht vergaß, einen Gruß an
ihren Ehemann auszurichten. Dieser duldete wohl ihre fragwürdige Beziehung.
Charlotte von Stein wurde zu Goethes Ratgeberin, Seelenverwandten und
engen Vertrauten. Als er die Belastung ihrer ungelebten Liebe nicht länger
ertragen konnte, brach er heimlich am 3. September 1786 zu einer Italienreise
auf und begann bei seiner Rückkehr zwei Jahre später eine Beziehung zu
Christiane Vulpius. Charlotte von Stein zog sich enttäuscht zurück. Erst nach
Christianes Tod entwickelte sich am Ende doch wieder eine Freundschaft zwi-
schen Goethe und Charlotte von Stein.3 Am 6. Januar 1827 starb Charlotte
von Stein in Weimar.
Die Briefe von sich selbst forderte Charlotte von Stein zurück und verbrannte
sie.4 Goethes vermachte sie ihrem Sohn Fritz. Es sind auch noch einige Ge-
dichte erhalten geblieben, in denen man die enge Bindung der beiden er-

1
  Höfer, Anja: Johann Wolfgang von Goethe. München 1999, S. 61
2
  Ebd., S 61.
3
  Ebd., S. 63.
4
  Ebd.

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kennen kann, wie „Warum gabst du uns die tiefen Blicke“, welches er ihr am
14. April 1776 geschickt hatte. Dieses möchte ich nun auf seine historischen
Wortbedeutungen hin untersuchen. Ich bin davon ausgegangen, da Goethe
das Gedicht an Charlotte von Stein geschrieben hat, dass er sich selbst und
Charlotte von Stein meint, wenn er zum Beispiel in der ersten Person Plural
spricht.

2. Gedichtinterpretation unter semasiologischem Aspekt

An Charlotte von Stein
Warum gabst du uns die tiefen Blicke,
Unsre Zukunft ahndungsvoll zu schaun,
Unsrer Liebe, unserm Erdenglücke
Wähnend selig nimmer hinzutraun?
Warum gabst uns, Schicksal, die Gefühle,
Uns einander in das Herz zu sehn,
Um durch all die seltenen Gewühle
Unser wahr Verhältnis auszuspähn?
Ach, so viele tausend Menschen kennen,
Dumpf sich treibend, kaum ihr eigen Herz,
Schweben zwecklos hin und her und rennen
Hoffungslos in unversehnem Schmerz;
Jauchzen wieder, wenn der schnellen Freuden
Unerwart'te Morgenröte tagt.
Nur uns armen liebevollen beiden
Ist das wechselseit'ge Glück versagt,
Uns zu lieben, ohn uns zu verstehen,
In dem andern sehn, was er nie war,
Immer frisch auf Traumglück auszugehen
Und zu schwanken auch in Traumgefahr.
Glücklich, den ein leerer Traum beschäftigt!
Glücklich, dem die Ahndung eitel wär!
Jede Gegenwart und jeder Blick bekräftigt
Traum und Ahndung leider uns noch mehr.
Sag, was will das Schicksal uns bereiten?
Sag, wie band es uns so rein genau?
Ach, du warst in abgelebten Zeiten
Meine Schwester oder meine Frau.
Kanntest jeden Zug in meinem Wesen,
Spähtest, wie die reinste Nerve klingt,
Konntest mich mit einem Blicke lesen,

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Den so schwer ein sterblich Aug durchdringt;
Tropftest Mäßigung dem heißen Blute,
Richtetest den wilden irren Lauf,
Und in deinen Engelsarmen ruhte
Die zerstörte Brust sich wieder auf;
Hieltest zauberleicht ihn angebunden
Und vergaukeltest ihm manchen Tag.
Welche Seligkeit glich jenen Wonnestunden,
Da er dankbar dir zu Füßen lag,
Fühlt' sein Herz an deinem Herzen schwellen,
Fühlte sich in deinem Auge gut,
Alle seine Sinnen sich erhellen
Und beruhigen sein brausend Blut!
Und von allem dem schwebt ein Erinnern,
nur noch um das ungewisse Herz,
Fühlt die alte Wahrheit ewig gleich im Innern,
Und der neue Zustand wird ihm Schmerz.
Und wir scheinen uns nur halb beseelet,
Dämmernd ist um uns der hellste Tag.
Glücklich, daß das Schicksal, das uns quälet,
Uns doch nicht verändern mag!1

Das Gedicht beginnt in der ersten Strophe mit zwei Fragen. Diese Fragen wer-
den an das Schicksal gestellt, wie man im fünften Vers erkennen kann. Das
Wort „warum“ wird ungewöhnlicherweise auf der ersten Silbe betont. Hier
kann man davon ausgehen, dass Goethe das Wort besonders hervorheben
wollte, da es in derselben Strophe in Vers fünf wiederholt wird. Das Wort
„gabst“ ist die Vergangenheitsform von „geben“. Heute würde man wahr-
scheinlich eher sagen „warum hast du uns gegeben“. Das Wort stammt aus
dem germanischen und kann im Sinne von zuteil werden lassen oder schen-
ken verstanden werden. Das Schicksal schenkte also Charlotte von Stein und
Goethe tiefe Blicke. Tief wird nach Grimm als Gegensatz zu hoch beschrie-
ben. Es bedeutet „sehr niederwärts sich erstreckend“2 Hier ist es jedoch eher
im Sinne von ins innerste eindringend, auf den Grund gehend, intensiv ge-
meint. Ihre Blicke sind so intensiv, dass sie in ihr Innerstes eindringen und es er-
gründen. Der Blick ist der „Licht und Strahl des Auges, das ja selbst das se-

1
    Goethe. Ein Lesebuch für unsere Zeit. Hrsg. von Walther Victor. Berlin, Weimar 38 1987, S. 17 f.
2
    Grimm XI/I, 1, S. 479.

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hende, leuchtende ist“1. Blicke geben kann man auch als schauen lesen.
Das Wort „Zukunft“ bedeutete bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts im räum-
lichen Sinne „herankunft“ oder „ankunft“2. Bei Goethe hat das Wort schon
eine zeitliche Bedeutung. Gemeint ist „der auf die Gegenwart als folgend
gedachte zeitraum“3, alles was im Gegensatz zur Vergangenheit und Ge-
genwart steht. Diese Zukunft wird „ahndungsvoll“ betrachtet. „Ahndungsvoll“
ist eine ältere Form des Wortes ahnungsvoll. Goethe schrieb sie bis 1817 in der
älteren Form. Er verwendete sie sehr häufig. Die Zukunft wird vorausgesehen
oder erraten. Das Wort „schaun“ ist die verkürzte Form von schauen. Goethe
verzichtet hier auf das Abostroph, um das Weglassen des „e“s anzuzeigen.
Schauen ist eine bewusste Sinneswahrnehmung. Hier hat es, da es in poeti-
scher Rede gebraucht wird, eher die Bedeutung von innerem, geistigem
Wahrnehmen.
Die „Liebe“ hat immer noch dieselbe Bedeutung wie zu Zeiten Goethes, näm-
lich das Gefühl einer innigen Zuneigung eines Menschen zu einem anderen.
Das „Erdenglück“ bedeutet das irdische Glück, das Glück im Leben.4 Das
Wort „wähnend“ kennen wir in unserem heutigen Sprachgebrauch nicht
mehr. Es wird von dem Substantiv Wahn abgeleitet und bedeutet erwarten,
hoffen, vermuten, glauben oder nach Wahrscheinlichkeitsgründen anneh-
men. Das Wort „selig“ kann in aktivem und im passiven Sinne gebraucht wer-
den. Früher wurde es eher von der Kirche verwendet, später kam es auch oft
im weltlichen Zusammenhang vor. Hier hat es die aktive Bedeutung hochbe-
glückt, beglückend und bezieht sich auf das innere seelische Wohl. „Nimmer“
ist die verneinte Form von immer. Heute würde man eher nicht mehr, nie
mehr, nicht länger oder nicht wieder sagen. Das Wort „hinzutraun“ habe ich
weder bei Grimm noch bei Wahrig gefunden. Zutrauen könnte sich an Ver-
trauen anlehnen, dass im Gegensatz zu misstrauen steht. Man könnte die ers-
ten vier Verse also so interpretieren, dass Goethe das Schicksal fragt, wieso sie
sich so sehr ineinander verlieben mussten, dass sie ihre Zukunft voraussehen

1
  Grimm II, S. 8
2
  Grimm Zobel – Zypressenzweig, S. 479.
3
  Ebd.
4
  Vgl. Wahrig, S. 1149.

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konnten und mit ihrer Liebe und ihrem Glück auf Erden nie mehr glücklich
entgegensehen konnten, da ihre Liebe ja hoffnungslos war.
Auch die nächste Frage richtet sich an das Schicksal. Das Wort „Schicksal“
gab es im Mittelalter noch nicht. Es entstand aus schicken und wurde mit dem
Suffix –sal verbunden. Das „Schicksal“ ist das, was einem durch Fügung be-
stimmt ist. Hier ist das Schicksal personifiziert. Es ließ Charlotte und Goethe Ge-
fühle zuteil werden. Mit den Gefühlen sind die sinnlichen Empfindungen ge-
meint, die die beiden einander entgegenbrachten. Es kann hier als ein Syn-
onym für Liebe verstanden werden. Diese Gefühle bringen sie dazu, „einan-
der in das Herz zu sehn“. Das Wort „einander“ zeigt an, dass dies auf Gegen-
seitigkeit beruht. Der eine kann dem anderen ins „Herz“ sehen. Herz ist hier
nicht körperlich, sondern bildlich gemeint. Das Herz steht für das Innerste im
Menschen. Dort wo die Empfindungen verborgen sind. Durch ihre Gefühle
können sie die inneren Empfindungen des anderen erkennen, auch wenn
diese wahrscheinlich vor der Außenwelt verborgen blieben. „Selten“ hat hier
die Bedeutung von seltsam oder eigenartig. Es bezieht sich auf „Gewühle“.
Goethe gebraucht den Plural von Gewühl, da er sich auf Gefühle reimt. Es
bedeutet Aufruhr, Tumult, Gedrängel, ohne Ordnung, Unruhe. Übertragen
wird die Bedeutung auf die Gefühlswelt, die Gedanken und Empfindungen.
Im Inneren von Charlotte von Stein und Goethe herrscht also ein Durcheinan-
der von seltsamen Gefühlen. „Wahr“ bedeutet der Wirklichkeit gemäß, den
Tatsachen entsprechend. „Verhältnis“ ist die Beziehung oder das Verhalten
eines Wesens zu einem anderen. „Ausspähen“ bedeutet suchen, nach etwas
Ausschau halten. Goethe fragt also das Schicksal, wieso es ihnen so tiefe Ge-
fühle gab, dass sie gegenseitig ihre innersten Gefühle erkennen können, um in
diesem seltsamen Durcheinander ihre wahre Beziehung zu erkennen, nämlich
dass sie einander lieben.

Der erste Vers der zweiten Strophe benötigt keine nähere wortbedeutungshis-
torische Untersuchung. Sie besteht nicht mehr aus Fragen an das Schicksal,
sondern richtet sich an Charlotte von Stein. „Ach“ ist ein Ausruf des Schmerzes
oder anderer Empfindungen. Hier kann es als eine Art Seufzer verstanden
werden. Mit den „viele[n] tausend Menschen“ ist einfach die Mehrheit der

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Menschen gemeint. Man könnte auch die meisten Menschen dafür einsetz-
ten. „Dumpf“ bedeutet hier unbewegt, unangeregt vom Geist und vom Le-
ben. Goethe verwendet das Wort häufig in seinen Gedichten. Es ist eine ab-
geschwächte Version von der Bedeutung „geistig niedergedrückt, verdüstert,
betäubt, abgestumpft, gefühllos“ 1. „Sich treibend“ kommt von sich treiben
lassen und ist eine passive Form der Bewegung. Es wird meistens auf Gegens-
tände verwendet, die sich in Flüssigkeiten befinden, wie zum Beispiel ein Treib-
holz. Im Kontext wird jedoch klar, dass das Wort hier bildlich verwendet wird.
Die Menschen bewegen sich passiv, dumpf, ohne Bewegung. Sie sind geistig
nicht aktiv. Sie sind emotionslos, denn sie kennen kaum ihr eigenes Herz,
schon gar nicht das von jemand anderem. Mit „Herz“ sind wieder die inneren
Empfindungen gemeint. Die Mehrheit der Menschen hat also keinen Sinn für
ihre eigenen Empfindungen geschweige denn für die Gefühle von anderen.
Diese Menschen „schweben zwecklos hin und her“. Goethe bleibt in seiner
bildlichen Sprache. „Schweben“ bedeutet „leicht und ohne berührung über
eine fläche gleiten, frei im raume ruhen“ 1. Es ist ein Begriff der Bewegung. Hier
ist es eine Zustandsbezeichnung für einen Menschen, dessen Gedanken oder
Emotionen nicht greifbar sind. Sie bewegen sich „zwecklos hin und her“. Mit
„zwecklos“ ist ziellos, planlos, ohne eine bestimmte Richtung gemeint. „Hoff-
nungslos“ bedeutet keine Hoffnung habend. „Schmerz“ ist ein hoch- und nie-
derdeutsches Wort und ist gleichzusetzen mit Leid, Kummer oder Weh. Ge-
meint sind hier nicht die körperlichen, sondern die seelischen Schmerzen. „Un-
versehen“ bedeutet plötzlich, unvermutet, unbedacht, ohne sich vorzusehen,
ohne Absicht oder Vorsatz. „Rennen“ im Sinne von schnell laufen ist hier im
bildlichen Sinne gebraucht worden. Die Menschen rennen in ihr Schicksal, in
das Laster, die Gefahr, das Verderben oder wie hier, in den unvorhergesehe-
nen Schmerz. „Jauchzen“ ist in unserem heutigen Sprachgebrauch veraltet.
Jauchzen bedeutet Jubellaute oder Freudenschreie von sich geben. Jauch-
zen kann der Mensch, aber auch sein Herz oder seine Stimmung. Was hier
gemeint ist, ist nicht eindeutig. Jedoch sicher ist gemeint, dass der Mensch
nach dem durchlittenen Schmerz wieder froh sein kann. „Wenn“ leitet hier

1
    Grimm, II, S. 1523.

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eine abhängige Aussage ein. Zu Goethes Zeiten wurden in der Literatur oft
wenn und wann vertauscht. Wenn kann im Sinne von „sobald“ verstanden
werden. „Schnell“ bedeutet sich rasch oder eilig bewegen. „Freuden“ sind
Gefühle des Frohseins. Mit „schnellen Freuden“ sind Gefühle gemeint, die
nicht intensiv oder von langer Dauer sind. Sie gehen so rasch wieder, wie sie
gekommen sind. „Unerwartet“ bedeutet ohne es zu erwarten. Die „Morgenrö-
te“ ist „die röthe des himmels vor und bei aufgehender sonne“2. Hier ist der
Begriff als Zeitabgabe gemeint. Die Morgenröte tagt, bedeutet, die Morgen-
röte bringt den Tag, lässt es Tag werden. Goethe meint also, dass die meisten
Menschen nicht so intensive Gefühle erleben, dass sie ohne ein Ziel zu haben
sich blind verlieben und unerwartet verletzt werden, aber auch genauso
schnell wieder darüber hinwegkommen, da ihre Gefühle weder echt noch
innig waren.
In den nächsten Versen wird Goethe ironisch, da er Menschen als glücklich
bezeichnet, die in seinen Augen keine wirkliche Liebe kennen. Gleichzeitig
hört man heraus, wie sehr er unter der intensiven Liebe zu Charlotte gelitten
hat, die keine Zukunft hatte. Mit „beiden“ meint er sich selbst und Charlotte
von Stein. Sie sind die einzigen, die nicht wie die anderen Menschen leben
und lieben können. Er bezeichnet sie als „arm[en]“ und „liebevoll[en]“. Arm
bedeutet hier bemitleidenswert, unglücklich. Liebevoll ist „die leidenschaftli-
che Erfüllung liebevoller Pflichten“ 3. „Wechselseitig“ bedeutet gegenseitig,
beiderseitig. „Glück“ heißt in seiner ursprünglichen Form Schicksal, Geschick
und Ausgang einer Sache, egal ob positiv oder negativ. Im Kontext könnte
man tatsächlich das Wort Geschick für Glück einsetzen. „Versagen“ bedeutet
vorenthalten, nicht zu Diensten sein. Sie haben also beide das Geschick vor-
enthalten bekommen, sich zu lieben, ohne sich zu „verstehen“. Verstehen
bedeutet geistig erfassen, begreifen. Denn sie lieben einander und verstehen
sich, da sie dem anderen ins Herz sehen können. Sie können in dem anderen
erkennen, was er wirklich ist. Das Wort „sehn“ kommt hier von sehen. Goethe
bedient sich wieder einer bildlichen Sprache. Sie nehmen wahr und erkennen

1
  Grimm, IX, S. 2366.
2
  Grimm, VI, S. 2578.
3
  Grimm, VI, S. 959.

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einander, jedoch nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen. „Frisch“ be-
deutet munter, wacker, etwas wagen, keck. Auf etwas ausgehen würde man
heute nicht mehr sagen, sondern auf etwas aus sein oder zu etwas hinstre-
ben. „Traumglück“ ist das scheinbare, nur eingebildete Glück. Das Wort
„schwanken“ bedeutet „hin und her schwingen, wanken, taumeln“1. Ihr Herz
taumelt also hin und her, ist nicht gefestigt. Das Wort „Traumgefahr“ ist eine
Wortbildung Goethes. Man kann es nicht im Wörterbuch finden. Gefahr be-
deutet feindliche Nachstellung, Überfall, auflauern. Traumgefahr könnte man
als Gefahr sehen, die auf einen lauert, wenn man in einem Traum lebt. Die
Menschen streben also auf eingebildetes Glück hin, das sie jedoch in ihrem
Herzen schwanken lässt und sie sich so jederzeit in der Gefahr befinden, dass
ihr Traum zu Ende geht.

Die dritte Strophe des Gedichtes knüpft direkt an die zweite an. Wieder geht
es um die Menschen, die keine wahre Liebe empfinden und um das Bild des
Traumes. Sie werden auf ironische Art beneidet, denn sie werden als „glück-
lich“ bezeichnet. Glücklich bedeutet beneidenswert, erfolgreich, vom Glück
begünstigt, von günstigem Schicksal beschenkt, mit Glück gesegnet. Diese
Menschen sind glücklich, da sie ein „leerer Traum“ beschäftigt. Leer ist hier
wieder im bildlichen Sinne gemeint. Es bezieht sich auf den Traum, der ohne
Inhalt ist. „Beschäftigt“ bedeutet, dass der Traum ihnen etwas zu tun oder zu
schaffen gibt. Das Wort „Ahndung“ gibt es heute nicht mehr. Hier würde man
Ahnung oder Vorgefühl sagen. Bei dem Wort „eitel“ gibt es zwei Möglichkei-
ten der Bedeutung. Entweder eitel im heutigen Sinne von stolz auf etwas sein
oder froh sein, etwas zu haben. Oder in der abstrakten Bedeutung von eitel
im Sinne von unnütz, falsch und vergeblich. Im Kontext passt die zweite Be-
deutung besser, sie fügt sich besser in Goethes bittere Ironie ein. Glücklich sind
die Menschen, die eine falsche Ahnung ihrer Zukunft haben. Denn Goethe
und Charlotte kennen „leider“ ihre Zukunft. Die Bedeutung von „Gegenwart“
entspricht allem, was „in meinem gesichtskreis gegen mich gekehrt oder ge-
gen mich herkommend“ 2 ist. Also ist mit Gegenwart die Anwesenheit des an-

1
    Grimm, IX, S. 2250.
2
    Grimm, IV/I, 2, S. 2289.

                                       11
deren gemeint. Sobald sie beieinander sind und sich ansehen, wird ihnen ihre
hoffnungslose Zukunft, die Goethe mit Traum und Ahndung umschreibt, be-
wusst. „Bekräftigen“ bedeutet bestätigen oder bestärken. Das Wort „leider“
dient der Benennung von etwas sehr Schmerzendem.
Anschließend stellt Goethe wieder zwei rhetorische Fragen. Ob er jemand Be-
stimmten anspricht ist nicht klar. Sehr wahrscheinlich ist jedoch, dass er die
Fragen an Charlotte von Stein richtet. Erneut wird das Schicksal zum Thema,
das ihnen etwas bereitet. Es wird also wieder in personifizierter Form ge-
braucht. Das Wort „bereiten“ bedeutet hier vorbereiten oder einrichten. Goe-
the fragt also, was das Schicksal für sie vorbereitet hat. Der folgende Vers ist
mit unseren heutigen Wortbedeutungen nicht mehr zu verstehen. Dies liegt
hauptsächlich an dem Wort „genau“. Genau und nah waren ursprünglich ein
Wort und gehen zurück auf die Stammform „sich nahen“.1 Genau ist also hier
gleichzusetzen mit nahe oder im Kontext aneinander. „Rein“ bedeutet hier
frei von allem, was es trübt, beeinträchtigt oder stört. „Binden“ bedeutet et-
was aneinander fügen. Goethe fragt also, wie das Schicksal die beiden so
ungetrübt aneinander fügen konnte. Der nächste Vers beginnt wieder mit ei-
nem Ausruf des Schmerzes. Goethe versucht nun den Grund für ihre Seelen-
verwandtschaft herauszufinden. „Abgelebt“ bedeutet zu Ende gelebt, ausge-
lebt, längst vergangen, hinfällig. Unter anderem bedeutet es auch kraftlos,
matt oder altersschwach. Dies macht im Kontext jedoch wenig Sinn. „Zeiten“
kommt von Zeit. Damit ist der Ablauf des Geschehens oder das Nacheinander
des Erlebens gemeint. Goethe folgert also aufgrund ihrer engen Bindung,
dass sie in längst vergangenen Zeiten, also zum Beispiel in einem früheren Le-
ben, Geschwister oder Eheleute waren. „Meine Frau“ entspricht hier der Ehe-
frau.

In der vierten Strophe knüpft Goethe direkt an die dritte an. Er schreibt hier
über ihr vergangenes früheres Leben. Dies erkennt man daran, dass die Ver-
ben im Präteritum stehen. Mit „Zug in meinem Wesen“ ist der Charakterzug
gemeint, die Eigenschaften und Eigenheiten eines Menschen. Das Wesen ist
die Gemütsart oder Beschaffenheit eines Menschen. Der zweite Vers ist nicht

1
    Vgl. ebd., S. 3347.
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mehr so einfach zu verstehen. „Spähtest“ kommt von dem Verb spähen. Es ist
eine Ableitung von sehen und bedeutet angespannt blicken, ausblicken, mit
den Augen etwas suchen, auskundschaften. Mit „Nerve“ ist das Band, die
Sehne, der Muskel und deren Spannkraft gemeint. Früher wurde das Wort in
femininer Form benutzt. Goethe bedient sich hier wieder einer bildlichen
Sprache. Der Nerv erklingt beim Spiel durch seine Spannkraft wie die Saite ei-
nes Instrumentes. Ein Nerv ist der Leiter von Empfindungen und geistigen Be-
wegungen. Er ist das empfindende Organ des Geistes und der Seele. „Klin-
gen“ bedeutet Töne von sich geben, sich anhören, wirken. Etwas kann gut
oder schlecht klingen. Goethe sagt also über Charlotte von Stein, dass sie an-
gespannt danach Ausschau hielt, also genau beobachtete, welche reinen,
also ungetrübten, geistigen Empfindungen Goethe hatte. Auch im folgenden
Vers bleibt Goethe in der Sprache der Metaphern. Charlotte konnte ihn „mit
einem Blicke lesen“. Sie konnte also in ihm lesen, wie in einem offenen Buch.
Sie kann ihn „lesen“. Das bedeutet, sie konnte zum Beispiel seine Gedanken,
in seinem Antlitz, in seinem Herzen oder seiner Seele lesen. Lesen bedeutet
auch ordnen, zurechtlegen, etwas überblicken. Man kann also sagen, dass
Charlotte ihren Goethe mit einem Blick erkennen konnte. Sie musste also nicht
lange überlegen, was in ihm vorging. „Durchdringen“ gibt es in unserem heu-
tigen Sprachgebrauch kaum mehr. Wir können es jedoch noch verstehen. Es
bedeutet mit Anstrengung hindurch gelangen, durchbrechen, mit Mühe er-
kennen oder verstehen. „Schwer“ ist das Gegenteil von leicht. Hier ist es im
Sinne von beschwerlich, mühsam. Goethe sagt also, dass Charlotte mit einem
Blick in ihm lesen kann, den ein sterbliches Auge nur mühsam verstehen kann.
Hier spielt Goethe wieder auf die Seelenverwandtschaft an, denn Seelen sind
unsterblich.
“Mäßigung“ kommt von mäßigen. Es bedeutet Milderung, Verringerung,
Dämpfung. „Tropfen bezeichnet die gestalt, unter der eine flüssigkeit in ihrer
kleinsten natürlichen ausdehnung auftritt.“1 Auch hier verwendet Goethe eine
bildliche Sprache. Mäßigung wird wie Medizin „dem heißen Blute“ getropft,
also in kleinen Einheiten zugefügt, eingeflößt, damit es gemildert wird und ab-

1
    Grimm, XI/I, 2, S. 864.

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kühlt. Auch das heiße Blut ist eine Metapher. Heiß ist hier ein hoher Grad inne-
rer Wärme eines Menschen im Bezug auf Leidenschaften und Liebe. Heißes
Blut bedeutet, unruhig sein und von Leidenschaften schnell erregt werden.
“Richten“ bedeutet etwas gerade machen, zu Recht biegen, etwas eine be-
stimmte Richtung geben. Charlotte gab also dem „wilden irren Lauf“ des Blu-
tes eine bestimmte und, wie aus dem Kontext ersichtlich wird, richtige Rich-
tung. Lauf kann hier als Verlauf verstanden werden. Der Verlauf des Blutes ist
nicht geradlinig, sondern verläuft wild und irr. Mit wild meint Goethe heftig,
stark, unbändig, erregt, unvernünftig und regellos. Irre bedeutet umherschwei-
fend, zerstreuend, vom rechten Weg abschweifen. „Blut“ war für Goethe ein
lebenserhaltender Saft.1 Das Blut hat unterschiedliche Eigenschaften. Es kann
gut, böse, warm, kalt, feurig oder abgekühlt sein. Es entspricht somit den Ei-
genschaften des jeweiligen Menschen und ist eine Verbildlichung dessen. Hier
ist das Blut heiß und hat einen wilden und irren Lauf. Charlotte schaffte es al-
so, die Leidenschaften von Goethe und wohl auch ihre eigenen, unter Kon-
trolle zu halten und sie in eine richtige Richtung zu lenken. Auch das Wort „En-
gelsarmen“ ist eine Wortbildung von Goethe und in dieser Form weder bei
Wahrig, noch bei Grimm zu finden. Ein Engel ist Geist, der von Gott erschaffen
wurde, um dem Menschen zu dienen. Er ist die Versinnbildlichung von Rein-
heit, Schönheit und Selbstlosigkeit.2 Auch wurden (und werden auch heute
noch) geliebte Frauen oftmals Engel genannt, da sie als höhere Wesen be-
trachtet wurden. Was Goethe hier genau meint, ist nicht eindeutig. Wahr-
scheinlich von beiden Bedeutungen einen Teil. Charlotte nahm ihn als schö-
nes, selbstloses Wesen bei sich auf. Auch das Wort „aufruhen“ habe ich we-
der bei Wahrig noch bei Grimm gefunden. Es gibt es nur im Sinne von „etwas
beruht auf“. Im Kontext ist jedoch eher ruhen in der Bedeutung von „ausru-
hen“ verständlich. Ruhen oder ausruhen bedeutet, sich von einer Anstren-
gung erholen, rasten von Tätigkeiten, sich erholen. „Zerstörte“ heißt hier ent-
kräftet, verdorben, verstört oder verwirrt. Die Brust gilt als der „sitz des lebens
und empfindens, kammer, wohnung des herzens“3. Seine Empfindungen wer-

1
  Vgl. Grimm, II, S. 170.
2
  Vgl. Wahrig, S. 1108.
3
  Grimm, II, S. 445.

                                         14
den also durch ihre Liebe nicht nur abgekühlt und in die richtige Bahn ge-
lenkt, sondern auch beruhigt und ausgeruht.
Goethe beginnt ab dem folgenden Vers, von sich in einem früheren Leben in
der dritten Person zu reden. Dies ist etwas verwunderlich, da er Charlotte in
diesem früheren Leben immer noch mit „du“ anredet. „Zauberleicht“ bedeu-
tet wunderbar leicht. Leicht ist hier im Sinne von ohne besondere Anstrengung
oder Mühe gemeint. „Angebunden“ heißt hier, dass sie ihn an ihr Herz oder
ihre Seele gebunden hatte. Sie ließ ihm zum Beispiel keinen Freiraum, für je-
mand anderen etwas zu empfinden, jedoch ohne, dass er sich dessen be-
wusst war oder es ihn gestört hätte. „Hieltest“ kommt von halten und bedeu-
tet hier verharren, pflegen oder bei etwas bleiben. „Vergaukeltest“ bedeutet
„mit gleichgültigen Dingen verbringen, unter gleichgültiger beschäftigung
hinbringen“1 Das Wort „manchen“ betont viele einzelne, unbestimmte Tage.
Er verbrachte also Zeit mit ihr, in der sie sich mit eher unwichtigen Dingen be-
schäftigen. Dass ihm diese Zeit mit ihr aber alles andere als unwichtig war, er-
kennt man aus den folgenden Versen. Er bezeichnet die Zeit als „Wonnestun-
den“, also als freudenreiche, angenehme, liebevolle, schöne Stunden. „Selig-
keit“ hat hier den weiteren Sinn von Glück. „Gleichen“ entspricht hier dem
Verb gleichsetzen, dem Wert oder Range nach. Diese Stunden mit Charlotte
waren also für Goethe ein unbeschreibliches Glück. Die Redensart „zu Füßen
liegen“ kennen wir auch in unserem heutigen Sprachgebrauch noch. Es be-
deutet, jemandem ganz und gar ergeben sein. Er genoss diesen Zustand,
denn er war dankbar, also von Dank erfüllt.
„Schwellen“ bedeutet sich von innen ausdehnen. Hier schwillt ihr Herz an sei-
nem Herzen vor Liebe oder Ähnlichem. Diese Gemütsbewegungen wirken auf
das Herz, das sich daraufhin ausdehnt. Da das Herz der Mittelpunkt der
menschlichen Gefühlswelt ist, könnte dies bedeuten, dass Goethe durch
Charlottes Liebe noch mehr für sie empfinden kann und noch offener für Emo-
tionen ist. „Fühlt‘“ von fühlen bedeutet „an sich oder in sich durch oder als
sinnliche oder geistige erregung wahrnehmen“1. Er nahm also wahr, wie seine
Gefühle durch ihre Liebe immer stärker wurden. Auch fühlte er sich in ihrem

1
    Grimm, XII/I, S. 380.

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„Auge gut“. Auf die Art, wie sie ihn sieht, gefällt er sich. So fühlt er sich gut.
Gut ist hier im Sinne von wohl gemeint. Mit „Sinnen“ ist hier nicht das Verb
gemeint, das bedeutet, dass man nachdenkt und seine Gedanken auf etwas
richtet. Es ist eher die dichterische Form des Wortes „Sinn“. Ein Sinn ist die Fä-
higkeit verschiedene Arten von Reizen zu empfangen. Aber auch das Ver-
ständnis für geistige Gehalte oder geschlechtliches Empfinden.2 Erhellen heißt
hier deutlich oder klar hervortreten. Alle seine Empfindungen und Empfäng-
lichkeiten werden also noch deutlicher und intensiver. Sein „brausend Blut“ ist
wieder seine wilde, tobende und ungeordnete Gefühlswelt. Diese wird durch
sie beruhigt, also zur Ruhe gebracht.

In der letzten Strophe schließt Goethe seine Betrachtung eines früheren Le-
bens, in dem er mit Charlotte von Stein glücklich war. Er kommt nun wieder in
die Gegenwart zurück. „Schwebt“ bedeutet, dass etwas frei und ohne Berüh-
rung im Raum ruht. In diesem Falle ist es das „Erinnern“. Heute würde man e-
her die „Erinnerung“ sagen. Es bedeutet Andenken oder an etwas denken, es
nicht vergessen. Die gemeinsame Zeit existiert also nur noch in ihrer Erinne-
rung. Die Präposition „um“ dient der räumlichen Bestimmung. Ein Gegens-
tand, hier das Erinnern, befindet sich in mehrere Richtungen zu einem ande-
ren Gegenstand, also dem Herzen. Das Herz ist wieder das Zentrum der Ge-
fühlswelt. Diese ist „ungewiss[e]“, also unsicher, unbestimmt, schwankend und
haltlos. Ich denke jedoch nicht, dass Goethe hier meint, dass ihre Gefühle
nicht konstant gewesen wären. Eher ist es so zu interpretieren, dass die aus-
sichtslose Situation des Paares die beiden belastet. Mit „alte Wahrheit“ ist hier
ihr früheres Leben gemeint. Alt ist hier im Sinne von früher, ehemals, längst
vergangen, einst gelebt zu verstehen. Eine Wahrheit ist die Übereinstimmung
mit dem wirklichen Sachverhalt.3 Also ein Zustand, wie er damals tatsächlich
existiert hat. Diese Wahrheit fühlt Goethe „ewig gleich im Innern“. Ewig ent-
spricht dem Immerwährenden, Endlosen. Gleich bedeutet hier gleichartig,
auf gleiche Art und Weise. „Innern“ ist das innere der menschlichen Brust, der

1
  Grimm, IV/I,1, S. 409.
2
  Vgl. Wahrig, S. 3399.
3
  Vgl. Grimm, XIII, S. 839.

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Sitz des Gefühls und der Seele.1 Er fühlte also den damaligen Zustand, also ihr
Glück, permanent in seinen Gefühlen. Unter dem „neue[n] Zustand“ ist ihre
jetzige Situation gemeint. Zustand bedeutet ihre augenblickliche Lage.
Schmerz werden würde man heute nicht mehr sagen, sondern, dass ihm et-
was schmerzlich bewusst wird. Unter Schmerz kann geistiges Weh und Unbe-
hagen verstanden werden. Der Gedanke an den alten und aktuellen Zustand
verursacht ihn ihm also Schmerzen.
„Scheinen“ bedeutet wie etwas aussehen oder wie etwas sein, wobei unbe-
stimmt bleibt, ob dies der Wirklichkeit entspricht oder nicht. Goethe und Char-
lotte sind wie „nur halb beseelet“. „Halb bezeichnet den einen von zwei glei-
chen theilen...“2, also die Hälfte eines Ganzen. Wenn jemand beseelt ist, ist er
von einer Seele erfüllt. Hier weist Goethe erneut auf ihre Seelenverwandt-
schaft hin. Er geht sogar so weit, zu sagen, dass sie scheinbar nur eine ge-
meinsame Seele gehabt hätten, jeder jeweils eine Hälfte. Der anschließende
Vers ist eine Metapher. „Dämmernd“ bedeutet zwielichtig, langsam hell oder
dunkel werden. Der „hellste Tag“ ist für die beiden also stets zwielichtig, da sie
nicht glücklich sein können und die hoffnungslose Gegenwart sie immer wie-
der betrübt. Trotzdem sind Goethe und Charlotte glücklich, auch wenn das
Schicksal sie „quälet“, sie also peinigt, ihr Leben zur Qual macht und plagt. Es
ist nämlich dasselbe Schicksal, dass sie „nicht verändern mag“. Verändern
heißt anders werden, zu jemand anderem werden. Goethe ist also froh, dass
das Schicksal sie trotz aller Qualen nicht verändert, sie in ihrem Wesen und in
ihre Liebe gleich lässt, also ihre Liebe weiterhin besteht.

1
    Vgl. Grimm, IV/II, s. 2131.
2
    Grimm, IV/II, S. 185.

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Literaturverzeichnis

Primärliteratur

   •   Goethe. Ein Lesebuch für unsere Zeit. Hrsg. von Walther Victor. Berlin,
       Weimar 38 1987.

Sekundärliteratur

   •   Höfer, Anja: Johann Wolfgang von Goethe. München 1999.

Wörterbücher

   •   Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Hrsg. von der Deut-
       schen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 16 in 32 Bänden. Leipzig
       1854-1960.

   •   Wahrig, Gerhard: Deutsches Wörterbuch. Mit einem „Lexikon der deut-
       schen Sprachlehre“. Hrsg. in Zusammenarbeit mit zahlreichen Wissen-
       schaftlern und anderen Fachleuten. Sonderausgabe, ungekürzt völlig
       überarbeitete Neuauflage Gütersloh, Berlin 1977.

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