Sozialpsychiatrie Heute und die Entwicklung der Sozialen Arbeit 1 Einleitung

Die Seite wird erstellt Hortensia-Pia Böhme
 
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Sozialpsychiatrie Heute und die Entwicklung der Sozialen Arbeit

1    Einleitung
Die Entwicklung der Sozialpsychiatrie in Deutschland kann als eine Erfolgsgeschichte
beschrieben werden: Die Behandlung von psychisch kranken Menschen erfolgt heute
wesentlich gemeindenäher, mit weniger Betten und viel häufiger ambulant. Die
Deinstitutionalisierung der Versorgung chronisch psychisch beeinträchtigter
Menschen ist voran gekommen und deren Teilhabechancen haben sich verbessert.
Auf der anderen Seite sind jedoch auch problematische Tendenzen auszumachen:
Stationäre Kapazitäten werden -ohne hinreichende Bedarfsplanung- wieder
ausgebaut, sowohl in der Regelversorgung als auch im Maßregelvollzug und in
speziellen Kliniken für psychotherapeutische Medizin und Psychotherapie. Weiterhin
fehlt es an tragfähigen Finanzierungsmodellen für evidenzbasierte ambulante
Behandlungskonzepte und im Bereich der Eingliederungshilfe fließen die meisten
Ressourcen immer noch in institutionelle Strukturen. Es werden wichtige Punkte
dieser Entwicklung zusammengefasst. Im Kontext der Sozialpsychiatrie hat sich die
Soziale Arbeit als wichtige Berufsgruppe im Kanon der in der Psychiatrie tätigen
Professionen etabliert. Gleichwohl sind auch hier kritikwürdige Tendenzen
auszumachen: Die Einführung der Bachelorstudiengänge als Standardabschluss
(BA) führte an den Hochschulen, bei den AbsolventInnen und in der Praxis sowie bei
den AbsolventInnen u. a. zu einer Verunsicherung hinsichtlich der konkret
ausführbaren Aufgaben und Tätigkeiten der Sozialen Arbeit in der Psychiatrie. Daher
werden diesbezüglich einige, für die Praxis relevante, Orientierungspunkte
aufgezeigt.

2.    Entwicklungstrends der Sozialpsychiatrie
Sozialpsychiatrie kann als eine spezifische psychiatrische Betrachtungs- und
Arbeitsweise verstanden werden, die besonders die psychosozialen Ursachen,
sozialen Bedingungen und Folgen von psychischen Störungen berücksichtigt. Der
Begriff bezeichnet sowohl ein entsprechendes theoretisch-empirisches
Wissenschaftsverständnis wie auch eine therapeutische Praxis, die sich vom
biologisch-reduktionistischen, individuellen Körperkrankheitskonzept der
traditionellen Psychiatrie abgrenzt und eine trialogische, partnerschaftliche
Begleitung Betroffener, Partizipation und Empowerment realisieren will.
Gemeindepsychiatrie hat auf diesem Hintergrund den Anspruch zu "ambulantisieren"
und zu "regionalisieren", um eine stärkere gesellschaftliche Verantwortung für
psychisch kranke Menschen zu erreichen und sie zu implementieren. Psychische
Störungen sollen dort behandelt werden, wo sie entstehen und sichtbar werden, d. h.
im sozialen Lebensraum der PatientInnen und möglichst nicht in ab- und
ausgrenzenden spezialisierten Institutionen (Dörr 2005, S. 16f.). Mitunter wird der
Begriff Sozialpsychiatrie auch synonym für Gemeindepsychiatrie verwandt. Ihren
entscheidenden Impuls bekam die Psychiatrie-Reform in Deutschland vor fast 40
Jahren. Im Auftrag des Bundestages wurde eine Untersuchung zur Lage der
Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt. Die Psychiatrie-Enquete
beschrieb eine "brutale Realität" in den Anstalten und stellte fest, dass "eine sehr
große Zahl psychisch Kranker und Behinderter unter elenden, zum Teil als
menschenunwürdig zu bezeichnenden Umständen" leben musste
(Bundestagsdrucksache 7/4200). Sie gilt als der Auslöser für einen tief greifenden
Reformprozess in der bundesdeutschen Psychiatrie, der eine beeindruckende
Erfolgsbilanz vorweisen kann:
(Teil-)stationäre Behandlung: Die Bettenzahl in der Erwachsenenpsychiatrie hat
sich von 1970 (113.000) bis 2012 (53.000) mehr als halbiert. Die stationäre
Verweildauer ist zwischen 1991 (67 Tage) und 2011 (21,8 Tage) erheblich gesunken.
Die Zahl der psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern hat sich auf
über 220 verfünffacht und die Zahl der Tageskliniken ist auf mehr als 400 mit ca.
12.000 Plätzen enorm angestiegen. Heute arbeiten dort vier- bis fünfmal mehr
ÄrztInnen und Pfegekräfte und bis zu 20 mal mehr Fachkräfte anderer Professionen
als zu Zeiten der Psychiatrie-Enquete. Es erfolgte eine spürbare Enthospitalisierung
chronisch psychisch kranker Menschen und eine Dezentralisierung der Behandlung
(Wienberg 2014, S.4).
Ambulante Behandlung: Die Zahl der niedergelassenen FachärztInnen für
Psychiatrie/Psychotherapie in privater Praxis hat sich seit 1980 etwa vervierfacht. Es
bestehen fast 500 Psychiatrische Institutsambulanzen (PIA) an Psychiatrischen
Kliniken. Das Psychotherapeutengesetz von 1999 hat den Zugang zur ambulanten
Psychotherapie als Kassenleistung verbessert. Mit der Soziotherapie und der
häuslichen psychiatrischen Krankenpfege wurden neue ambulante Leistungen in das
Sozialgesetzbuch (§§ 37 und 37a SGB V) aufgenommen.

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Komplementärer Bereich: Im Lebensbereich Wohnen sorgten Ambulantisierung
und Enthospitalisierung für eine Verlagerung aus Großkrankenhäusern in dezentrale
Wohn- und Unterstützungskontexte. Parallel zur Deinstitutionalisierung vollzog sich
ein starker Ausbau des Ambulant betreuten Wohnens in der eigenen (Miet-)
Wohnung der Betroffenen. Mittlerweile erhalten fast 100.000 Personen diese
Unterstützung.
Lebensbereich Arbeit/Beschäftigung: Hier entwickelte sich der Auf- und Ausbau
eines differenzierten Systems zur Unterstützung der Teilhabe am Arbeitsleben. In
verschiedenen beruflichen Ausbildungs-, Rehabilitations- und
Beschäftigungsmaßnamen werden ca. 75.000 Menschen mit (chronischen)
psychischen Störungen unterstützt , davon ca. 45.000 in Werkstätten für behinderte
Menschen (Wienberg 2014, S.4).

Neben diesen beeindruckenden Zahlen, Daten und Fakten hat sich zudem in vielen
Regionen eine Kultur des Trialogs, das Bemühen eines partnerschaftlichen
Miteinanders von Betroffenen, Angehörigen und Professionellen, entwickelt. Der
psychoanalytischen Erkenntnismetapher "wo Licht ist, ist Schatten" folgend, müssen
jedoch auch eine Reihe von Fehl- und Rückentwicklungen aufgezählt werden:
- Die Realität vieler schwer und chronisch kranke PatientInnen ist so, dass sie zwar
dauerhaft in der Gemeinde leben, von einer wirklichen Integration kann allerdings oft
kaum die Rede sein. Die Gemeindepsychiatrie hat sich mitunter in eine
Psychiatriegemeinde mit Wohn-, Arbeits- und Freizeitstätten verwandelt, die eine
"Parallelwelt" für die Betroffenen schafft. Der Alltag vieler chronisch psychisch kranker
Menschen dreht sich hauptsächlich darum, Anlaufstellen in der Gemeinde zu finden und
zu behalten. Oft geht es nicht darüber hinaus, eine gesicherte berufliche Teilhabe ist für
viele Betroffenen nach wie vor nur in Ausnahmefällen möglich. Und selbst diese
Variante der Psychiatriegemeinde hat sich lediglich in größeren Städten oder an
Standorten psychiatrischer Kliniken gebildet, auf dem Land sind die Defizite weiterhin
groß (Eikelmann, Reker, Richter, 2005, S. 667).
- Zwar kam es flächendeckend zur Enthospitalisierung chronisch kranker Menschen,
zur Verkleinerung der Großkrankenhäuser und zur Dezentralisierung, aber in den
letzten Jahrzehnten ist auch ein neuer psychiatrischer Krankenhaussektor
entstanden. So haben sich zwischen 1991 (18.000) und 2011 (ca. 39.000) die Zahl
der "speziellen" Krankenhausbetten für Psychotherapeutische Medizin mehr als

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verdoppelt. "Speziell" bedeutet jedoch, dass nur ein kleiner Teil dieser Betten der
Krankenhausplanung der Länder unterliegt. Es handelt sich daher um einen
weitgehend unregulierten stationären Sektor der Versorgung. Diese Kliniken sind in
der Regel nicht in die psychiatrische Pflichtversorgung eingebunden und sie werden
meist von privaten, profitorientierten Trägern betrieben. Die Behandlung erfolgt
zudem oft gemeindefern und es werden viele PatientInnen mit weniger schweren
Störungen und Krankheitsverläufen (länger) behandelt. Hinzu kommt, dass die
Bettenzahl in psychiatrischen Kliniken der Regelversorgung in den letzten Jahren
wieder ansteigt. Vor allem die Fachkrankenhäuser verfolgen die Strategie, vermehrt
Spezialstationen für die gleichen Diagnosegruppen wie die psychosomatisch-psycho-
therapeutischen Kliniken auszuweisen (Essstörungen, posttraumatische Belastungs-
störungen, Borderline, Depressionen, Angststörungen etc.). Hier deutet sich im
stationären Sektor die Entwicklung einer Zwei-Klassen-Psychiatrie an: Unter dem
Label der Zentrumsbildung werden Spezialangebote etabliert, die bestimmte
Erkrankte qualitativ hochwertig und mit entsprechendem Personaleinsatz behandeln,
während schwer und chronisch Erkrankte in einer tendenziell defizitär ausgestatteten
"klassischen" Psychiatrie versorgt werden (Wienberg 2014, S. 5).
- Trotz der Fortschritte bei der Bedarfsdeckung geht die Zahl der FachärztInnen in
der ambulanten psychiatrischen Grundversorgung seit Jahren zurück (2005: 5.730,
2011: 5.600). Die Zahl der privaten psychologischen und ärztlichen
Psychotherapeuten stieg zwar deutlich an (von 2000 bis 2010 von 14.900 auf
19.200), aber auch hier gibt es problematische Trends: PatientInnen von
niedergelassenen PsychotherapeutInnen sind relativ leicht krank, relativ jung und
überwiegend Frauen (Melchinger 2012). Schwerer erkrankte Betroffene haben
wesentlich größere Schwierigkeiten einen ambulanten Therapieplatz zu finden.
Zudem bestehen teilweise gravierende regionale Versorgungsunterschiede, so gibt
es beispielsweise in Heidelberg mehr niedergelassene PsychotherapeutInnen als im
ganzen Land Brandenburg. Während die Bundespsychotherapeutenkammer und
viele Fachleute dafür plädieren mehr PsychotherapeutInnen zu zulassen, weil die
Bedarfszahlen überholt und die Wartezeiten daher unzumutbar lang sind,
argumentieren die Krankenkassen, dass deren Zahl ausreichend sei. Die
Bundespsychotherapeutenkammer widerspricht dem und verweist darauf, dass psychisch
erkrankte Menschen durchschnittlich mehr als drei Monate auf einen Termin bei
niedergelassenen PsychotherapeutInnen warten müssen, nicht wenige sogar noch

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wesentlich länger. So lange keine Einigung mit den Krankenkassen über die notwendige
Anzahl der niedergelassenen PsychotherapeutInnen erzielt werden kann, wird als Notlösung
empfohlen, bei den Krankenkassen eine Kostenerstattung nach § 13 Absatz 3 SGB V zu
beantragen (www.bptk.de/Ratgeber Kostenerstattung). Der Hauptgrund für den
Rückgang der FachärztInnen und die Zunahme der psychologischen und ärztlichen
PsychotherapeutInnen liegt im ökonomischen Bereich bzw. im Fehlen wirksamer
gesundheitspolitischer Steuerungsstrategien. Nur ungefähr 11 % des Budgets
werden für die eher schwer erkrankten PatientInnen aufgewendet, ca. 25 % des
Budgets für die psychiatrische Grundversorgung und ca. 65 % für die psychothe-
rapeutische Spezialversorgung von leichter erkrankten PatientInnen (Wienberg 2014,
S. 6).
- Eine Exklusion aus dem Arbeitsleben hat erhebliche unangenehme Folgen, die mit
ihren psychologischen, kommunikativen und statusbezogenen Aspekten weit über die
direkten wirtschaftlichen Konsequenzen hinausgehen. Die Situation psychisch Kranker
in der beruflichen Teilhabe hat sich in Folge zunehmender Rationalisierungen,
struktureller Massenarbeitslosigkeit und eines wachsenden Qualifikations- und
Leistungsdrucks deutlich verschlechtert. Lediglich ein Viertel der psychisch Erkrankten
im arbeitsfähigen Alter sind beruflich voll integriert. Die Bereitschaft betrieblicher
Entscheidungsträger psychisch erkrankte Menschen einzustellen, geht mittlerweile
gegen Null. Haupthinderungsgründe sind Bedenken hinsichtlich einer vermuteten
Unberechenbarkeit im Sozialverhalten sowie Vorurteile hinsichtlich der Leistungs-
fähigkeit. Die Angebote des beschützenden psychiatrischen Arbeitsmarktes sind für
schwer und chronisch Kranke häufig die einzige Alternative zur Arbeitslosigkeit. Sie sind
jedoch keine tatsächliche Inklusion in das Arbeitsleben. Der gerade in den letzten
Jahren erhebliche quantitative Ausbau solcher institutionellen Angebote weist sowohl
auf den großen Bedarf als auch auf eine gewisse konzeptuelle und faktische
Ratlosigkeit hin. In der Mehrzahl der Fälle wird nicht eine Inklusion in das Arbeitsleben,
sondern eine Integration in die psychosoziale Szene und in einen institutionell
organisierten Sonderarbeitsmarkt erreicht. Die positiven Effekte für die Betroffenen
sollen dabei nicht gering geschätzt werden, es besteht jedoch die Notwendigkeit
Alternativen dazu zu entwickeln (Eikelmann et. al. 2005, S. 670).
- Weiterhin fließt das meiste Geld der Sozialhilfe in institutionelle Strukturen:
Ungefähr 50 % werden für das stationäre Wohnen aufgewendet, ca. 25 % für
teilstationäre Angebote (WfBM und Tagesstätten) und ca. 25 % für das ambulant

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betreute Wohnen. Mangels beruflicher Perspektiven ist die Zahl der Personen, die
wegen einer psychischen Störung eine Rente wegen teilweiser oder voller
Erwerbsminderung erhalten, zwischen 2000 (39.000) bis 2009 (64.500) um 65 %
gestiegen (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013). Die Zahl der als
schwerbehindert anerkannten Menschen mit psychischen Störungen stieg zwischen
2005 und 2011 um 42 % auf fast 500.000 an (Statistisches Bundesamt, Destatis
2013). Es gibt außerdem Gruppen von psychisch kranken Menschen, die weder eine
qualifizierte stationäre oder ambulante Behandlung noch eine Unterstützung im
Rahmen der Sozialhilfe oder anderer Zuständigkeiten erhalten. Im Jahr 2012
befanden sich in Deutschland ca. 58.000 Personen in Strafhaft und 27.000 Personen
in Untersuchungshaft. Studien belegen, dass mindestens 80 % dieser Menschen
(also ca. 68.000) eine (chronische) psychische Störung aufweisen. Demnach wären
im Justizvollzug mindestens so viele Plätze mit psychisch kranken Menschen belegt
wie in den Psychiatrischen Kliniken der Regelversorgung. Darüber hinaus gab es
2010 ca. 152.000 wohnungslose Menschen, auch hier belegen Studien, dass ca. 80
% (also ca. 120.000) von ihnen (chronisch) psychisch krank sind (Wienberg 2008).
Für diese Klientel gibt es kaum Hilfs- und Versorgungsangebote. De facto sind die
Einrichtungen und Dienste der Wohnungslosenhilfe und Justizvollzug psychiatrische
Einrichtungen ohne konkrete und systematische psychiatrische Hilfeangebote.
- Trotz großer Anstrengungen in der Bewusstseinsbildung und Antistigmakampagnen
ist beispielsweise die Einstellung zu Menschen mit Schizophrenie negativer
geworden. Eine repräsentative Studie zeigt teilweise beunruhigende Ergebnisse: Die
Bereitschaft, mit Betroffenen in Kontakt zu treten, hat sich hinsichtlich Schizophrenie
im Vergleich zu 1990 deutlich verschlechtert. Während es 1990 zum Beispiel 20
Prozent ablehnten, mit einer an Schizophrenie erkrankten Person
zusammenzuarbeiten, seien es 2011 schon 31 Prozent gewesen. Der Anteil
derjenigen, die es ablehnten, jemand mit einer Schizophrenie einem Freund
vorzustellen, stieg von 39 auf 53 Prozent. Für Betroffene mit Depression konnten
zwar tendenziell geringfügige positive Veränderungen beobachtet werden, da etwas
mehr Mitleid und Hilfsbereitschaft und etwas weniger Befangenheit als 1990
geäußert wurden, gleichzeitig stieg aber auch der Ärger über die Betroffenen. Die
Bereitschaft, mit Depressionskranken im Alltag umzugehen, blieb weitgehend
unverändert. Aufklärung und Wissen änderten offenbar nichts am Problem der
Stigmatisierung. Bei der Schizophrenie gibt es sogar Hinweise, dass eine einseitige

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Betonung biologischer Prozesse bei der Darstellung dieser Krankheit in den Medien
oder durch WissenschaftlerInnen den Betroffenen schadet. In den letzten 20 Jahren
haben biologische Ursachenvorstellungen zur Schizophrenie deutlich zugenommen,
während psychosoziale Ursachenvorstellungen etwas abgenommen haben (Ärzte
Zeitung vom 19.03.2014).
Es soll nun hinterfragt werden, ob und welche Konsequenzen dieses Resümee für
die Aufgaben und die Praxis Soziale Arbeit in der Psychiatrie hat und welche
Perspektiven sich daraus ergeben.

3     Aufgaben der Sozialen Arbeit
Die Schlüsselqualifikationen und Aufgaben der Sozialen Arbeit werden
beispielsweise von Heiner (2010) oder Gromann (2013) in den Dimensionen
"Persönlichkeit/personale Ethik/Grundhaltungen", "Sozial-kommunikative
Kompetenzen" und "Systemkompetenzen" unterschieden und diskutiert. Im
folgenden wird eine Integration dieser Dimensionen in System- und
Beziehungskompetenzen vorgenommen.

3.1    Systemkompetenzen
Das System der sozialen Sicherung und der Rehabilitation sowie die psychiatrische
Versorgungslandschaft sind -ohne erkennbare übergreifende Versorgungslogik und
Planungsgrundlage- in diverse Trägerschaften, Institutionen, Verantwortlichkeiten
und Rechtsgrundlagen zersplittert und für Betroffene wie Professionelle stellen sich
oft dieselben Fragen nach einem „Was, wann, wo, bei welchem Kostenträger und auf
welcher Rechtsgrundlage?”. Daraus resultieren Planungs-, Koordinierungs- und
Kontinuitätsbrüche in den Versorgungsabläufen. Dies führt, neben der
Unüberschaubarkeit der gesetzlichen Bestimmungen über zustehende Leistungen,
oft zu institutionellen Abschottungs- und Weiterverweisungsstrategien der einzelnen
Sozialleistungsträger und Institutionen, die oft negative Folgen für die Betroffenen
haben. Die Betroffenen irren mitunter orientierungslos in diesem "System" wie in
einem Labyrinth herum, ohne ein befriedigendes Hilfeergebnis erzielen zu können.
Diese "organisierte Verantwortungslosigkeit" erhöht außerdem ohnehin bestehende
schichtspezifische Zugangsbarrieren zu Versorgungsleistungen. Oft muss sogar von
einem "sozialbürokratischen Risikofaktor" gesprochen werden, der nicht selten einen

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wesentlich größeren (negativen) Einfluss auf den Krankheitsverlauf hat, als
medizinisch definierbare Handicaps. Trotz einiger Verbesserungen hat sich an dieser
Situation bisher weder durch das SGB IX von 2001 noch durch das
Bundesgleichstellungsgesetz für behinderte Menschen 2002 oder das Europäische
Jahr für behinderte Menschen 2003 nachhaltig etwas geändert. Besonders chronisch
psychisch kranke Menschen müssen außerdem zunehmend
„Knappheitserfahrungen“ machen. Die Kürzung oder der Wegfall von Leistungen
(beispielsweise bei den Mitteln der Arbeitsagenturen für die berufliche Teilhabe)
führen zum Erleben von struktureller Gewalt und dauerhaft erlebter
Benachteiligungen. Nicht wenige Betroffene leiden unter einer kaum veränderbaren
und ohnmächtig erlebten Statuszuweisung in Außenseiterrollen und gesellschaftliche
Randgruppen (Stange 2005).

Besonders für die Soziale Arbeit in der Psychiatrie sollte es ein Hauptziel sein, diese
auf Gesundheit und Krankheit einwirkenden systembedingten Kontextfaktoren zu
erfassen und sie, soweit erforderlich und möglich, im Interesse der Betroffenen zu
modifizieren. Trotz einiger bereits vorhandener und kompetenter
Aufgabenbeschreibungen (Gödecker-Gennen 2003, Bosshard, Ebert, Lazarus 2013),
sind Bemühungen um eine weitere pragmatische Konkretisierung der
Tätigkeitsbereiche der Sozialen Arbeit in der Psychiatrie notwendig. Die folgenden
Beschreibungen sollen außerdem auch der Tatsache Rechnung tragen, dass die
Einführung von BA-Abschlüssen aufgrund des ihnen immanenten Verzichts von
(psychiatrisch ausgerichteten) Studienschwerpunkten für Lehrende, Studierende und
PraktikerInnen den Bedarf nach derartigen pragmatischen Orientierungen
notwendiger gemacht hat:

Tab. 1:       Systemkompetenzen der Sozialen Arbeit in der Sozialpsychiatrie
  1. Fallauswahl
 Prinzipiell ist beim Einsatz Sozialer Arbeit in der Psychiatrie zunächst zu klären, wann sie
 bei welchen PatientInnen überhaupt tätig werden soll. Sie wird nicht von jedem Betroffenen
 benötigt. Daher ist es -sowohl für den stationären wie für den ambulanten Sektor-
 notwendig Fallauswahlkriterien zu entwickeln und offensiv zu vertreten, die eine optimale
 Ressourcennutzung zum Ziel haben. Dies kann vermeiden helfen, dass geeignete Fälle
 "vorenthalten" werden und andererseits sicherstellen, nicht unnötig mit Aufgaben belastet
 zu werden, die von anderen Berufsgruppen in der Psychiatrie übernommen werden
 können bzw. müssten. Diese Fallauswahlkriterien sollten sich auf allgemeine
 sozialmedizinische Erkenntnisse über bekannte Problemhäufigkeiten bei bestimmten
 Diagnose- und Patientengruppen beziehen. Es ist beispielsweise bekannt, dass

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- besonders bei älteren und sozial isolierten PatientInnen die häusliche Situation, die
weitere Versorgung sowie die Unterstützung und Entlastung der Angehörigen, abgeklärt
werden sollte,
- sich bei berufstätigen Patienten -abhängig von Diagnose und Prognose- Fragen nach
dem Erhalt des Arbeitsplatzes stellen,
- besonders bei arbeitslosen PatientInnen Möglichkeiten der beruflichen Teilhabe
abzuklären sind,
- bei Langzeit - Arbeitsunfähigkeitsfällen aufgrund der zeitlichen Befristung von
Krankengeldzahlungen mit ökonomischen Problemen zu rechnen ist und
- anamnestische Erkenntnissse und medizinische Befunde auf eine Suchterkrankung
hinweisen können.
2. Unterstützung bei der Einleitung und Durchführung medizinisch orientierter
Behandlungs-und Rehamaßnahmen
Aufgrund von Multimorbidität und/oder der damit zusammenhängenden psychosozialen
Problemlagen kann die Einleitung und Durchführung medizinisch orientierter Behandlungs-
und Rehamaßnahmen notwendig werden. Die Aufgaben der Sozialen Arbeit beziehen sich
hier meist auf Information, Beratung, Motivation und die Vermittlung der in Frage
kommenden Unterstützungsmöglichkeiten und Leistungen. Diese sind leistungsrechtlich in
den SGB V, VI, VIII, IX, XI und XII verortet; wichtige Beispiele sind:
- ambulante und stationäre Psychotherapie,
- Rehabiltationssport,
- Haushaltshilfen,
- Ernährungsberatung,
- Logopädie,
- Frühförderung/Sozialpädiatrische Leistungen,
- Heil- und Hilfsmittelversorgung.
- Häusliche psychiatrische Pflege
- Ambulante Soziotherapie
- Regionale integrierte Versorgungsaktivitäten, Krisendienste (§ 64 b oder 140 a ff. SGB V)
3. Beratung und Unterstützung bei der Einleitung und Durchführung von Leistungen
zur Teilhabe am Arbeitsleben
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bzw. berufliche Rehamaßnahmen werden von
den PatientInnen oft als gravierendes Lebensereignis erlebt, das mit vielfältigen
Veränderungen, Anforderungen, Reglementierungen und Konflikten verbunden ist. Für die
Soziale Arbeit in der Psychiatrie stellt sich hier die Aufgabe, auf diese Neuausrichtungen
mit entsprechender Methodenkompetenz (Gesprächsführung, Angehörigenarbeit etc.)
einzugehen und andererseits im Sinne von administrativer Kompetenz über die in Frage
kommenden Maßnahmen und die jeweiligen verwaltungstechnischen Verfahrensweisen
Auskunft geben zu können. Hierzu gehören u. a. Leistungen und Maßnahmen wie
- Belastungserprobung und Arbeitstherapie,
- Hilfen zur Erlangung eines Arbeitsplatzes,
- Umschulungen,
- Berufliche Anpassung und Weiterbildung,
- Stufenweise ( berufliche ) Wiedereingliederung ( § 28 SGB IX, § 74 SGB V ),
- Kraftfahrzeughilfe,
- Arbeitsassistenz,
- Werkstätten für behinderte Menschen,
- Beantragung/Ausstellung eines Schwerbehindertenausweis betreffs Anspruch auf
Integrationshilfen nach dem SGB IX Teil II,
- Vermittlung von Unterstützungsmöglichkeiten bei zusätzlichen Sinnesbehinderungen
(GebärdensprachdolmetscherInnen etc.)
- Persönliche Assistenz
- Leistungen zur Teilhabe in Rehabilitationseinrichtungen für psychisch kranke und
behinderte Menschen (RPK)
- Integrations- und Zuverdienstprojekte

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4. Beratung und Unterstützung bei der Einleitung und Durchführung von Hilfen zur
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
Unter Teilhabe am gesellschaftlichen Leben oder sozialer Rehabilitation wird eine
Teilhabermöglichung am "Gemeindeleben" verstanden. Nach wie vor gehören derartige
Leistungen aber nicht zum Zuständigkeitsbereich der gesetzlichen Rehabilitationsträger
wie Rentenversicherung oder Krankenkasse, d. h. die PatientInnen werden hier in der
Regel auf die Sozialhilfeträger verwiesen. Die Aufgaben der Sozialen Arbeit in der
Psychiatrie beziehen sich hier ebenfalls hauptsächlich auf Information, Beratung,
Motivation sowie die Vermittlung der in Frage kommenden Maßnahmen und Leistungen.
Diese sind u. a.:
- Behinderungsgerechter Wohnungsumbau (SGB XI und XII)
- Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln für den sozialen Gebrauch bei zusätzlichen
körperlichen Handicaps
- Materielle Hilfen nach dem SGB XII,
- Hinweise auf sonstige Hilfen ( Stiftungen, Sonderfonds ).
- Wohngeld
5. Vernetzung und Nachsorge
"MultiproblempatientInnen" nehmen zu, sie sind mittlerweile eher die Regel als eine
Ausnahme. In der Versorgung führt dies oft zur parallelen Inanspruchnahme
verschiedener, spezialisierter Dienste, Institutionen und Einrichtungen. Deren
Zuständigkeiten sind durch spezifische, gesetzlich streng normierte (oder aber relativ
ungenaue) Aufgabenbestimmungen gekennzeichnet, die in ihren segmenthaften
Sichtweisen oft kontraproduktiv für die notwendigen Versorgungsprozesse sind. Daraus re-
sultieren nicht selten Planungs-, Koordinierungs- und Kontinuitätsbrüche in den Versor-
gungsabläufen. Dem kann nur durch eine bessere Vernetzung und Case-Management
entgegen gewirkt werden. Dies erfordert die Kooperation der Sozialen Arbeit in der
Psychiatrie mit relativ vielen Institutionen und Versorgungseinrichtungen sowie unter- und
miteinander:
- Rehabilitationsträger (Rentenversicherung, Krankenkassen, Agenturen für Arbeit etc.)
- Suchtkrankenberatungsstellen
- Sozialhilfeträger
- Integrationsämter
- Schuldnerberatungstellen
- Psychosoziale Beratungsstellen
- Sozialpsychiatrische Dienste
- Selbsthilfegruppen
- Betroffenenorganisationen und -verbände
- Vereine etc.

6. Trialogische Begleitung
Erfreulicherweise hat die psychiatrische Selbsthilfebewegung in den letzten Jahrzehnten
immer mehr zugenommen. Eine wesentliche Aufgabe liegt in der gegenseitigen
Unterstützung und im Erfahrungsaustausch von psychisch Erkrankten und/oder
Angehörigen. Die trialogische Begleitung bezieht die HelferInnen in diesen Prozess mit ein.
Besonders die Soziale Arbeit in der Psychiatrie hat die Aufgabe dies zu unterstützen, zu
initiieren und als Grundhaltung zu praktizieren. Beispiels hierfür sind:
- Psychosegespräche
- Antistigma- und Öffentlichkeitsarbeit
- Einbeziehung von ExIn-Iniitativen
- Organisationen Psychiatrieerfahrener
- Verbände der Angehörigen psychisch kranker Menschen
- Partizipation und NutzerInnenorientierung
- Empowerment
- Recovery-Konzepte

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7. Qualitätssicherung/Evaluation
 Methodisch-fachliche Konzepte der Sozialen Arbeit in der Psychiatrie sollten immer auch
 Evaluationsverfahren und Qualitätssicherungsinstrumente beinhalten. Im engeren Sinn
 kann davon jedoch erst gesprochen werden, wenn spezielle Instrumente der
 Selbstkontrolle und Bewertung bewusst eingesetzt und Kriterien benannt werden, anhand
 derer die praktische Arbeit eingeschätzt werden soll. Selbstevaluation des Alltagshandelns
 gehört zur Fallarbeit und ist Teil der Handlungsverantwortung. Es gibt mittlerweile einige
 geeignete Methoden, die in diesem Sinne zur Qualitätssicherung und Evaluation eingesetzt
 werden können, Forschung und Studien dürften jedoch wohl nur von MA-AbsolventInnen
 durchgeführt werden können:
 - PatientInnenbefragungen
 - Dokumentationsverfahren
 - Statistiken
 - Qualitätssicherungsverfahren (ISO)
 - Forschungsaktivitäten/Studien
 - Evidenzbasierung

Derartige "Wunschzettel-Aufzählungen" sind natürlich idealtypisch und sollen nicht
darüber hinweg täuschen, dass in vielen BA-Studiengängen die hierfür erforderlichen
Qualifikationen gar nicht angeboten bzw. vermittelt werden (können) und auch die
entsprechenden MA-Studiengänge sind keineswegs hinreichend etabliert. Außerdem
haben sich die strukturellen und institutionellen Bedingungen für die Soziale Arbeit in
der Psychiatrie teilweise verschärft: Ökonomische Zwänge, Bürokratisierungen und
eine persistierende Status- und Habitusdominanz der Medizin haben zugenommen
und -neben einer oft schlechten Bezahlung- werden SozialarbeiterInnen in der Praxis
oft zu "Cash-Management anstatt Case-Management" genötigt. Der Unmut über
weitere neoliberale Zumutungen wächst (Paternoga 2004, S. 19). Leider haben sich
aber auch Befürchtungen einer tendenziellen Dequalifizierung der Sozialen Arbeit
durch die Abschaffung der Diplomstudiengänge und Einführung der BA-Abschlüsse
bestätigt (Stange 2004). Dies wird schon allein durch die Verkürzung der
Studiendauer um zwei Semester impliziert. Gleichwohl kann die Benennung
idealtypischer Systemkompetenzen zu einer Orientierung, Überprüfung des
Entwicklungsstandes und Diskussion der Perspektiven beitragen.

3.2    Beziehungskompetenzen
Unter Beziehungskompetenz werden sowohl bestimmte Grundhaltungen, eine
Selbst- und Fremdwahrnehmungsbereitschaft sowie individuelle
Reflexionsbefähigung wie auch eine methodisch fundierte Beratungs- und
Interventionskompetenz verstanden. In vielen Beratungs- und Therapiekonzepten

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wird Adherence -die Vertrauensbeziehung zwischen PatientInnen und den
BeraterInnen- als wichtigster Faktor für den Veränderungs- und Therapieerfolg
angesehen. Vertrauen erleben bedeutet dabei nicht lediglich das Befolgen fachlicher
Ratschläge, sondern das Erleben gegenseitiger Wertschätzung und Achtung - auch
wenn die NutzerInnen vielleicht andere Entscheidungen treffen, als von den
BeraterInnen erwartet. Diese Grundhaltung als Basis von Beziehungsgestaltung
erfordert selbstreflexive Kompetenzen, wie die Fähigkeit Verknüpfungslinien
zwischen der eigenen biografischen Entwicklung und der beruflichen
Beziehungsarbeit herzustellen. Weiterhin ist die Bereitschaft notwendig, die eigene
Identität in der Ausgestaltung der beruflichen Rolle zu spiegeln und Grenzen zu
setzen, die es möglich machen, dass Übertragung, Gegenübertragung,
Verstrickungen, Widerstand und emotionale Kollusionen hinreichender kontrolliert
werden können (Gromann 2013, S. 10f.). Die Lernorte für einen derartigen
Kompetenzerwerb sind bzw. können die Praxis, die Hochschulen, Supervision oder
Aus- und Fortbildungen sein.

Das Konzept der motivierenden Gesprächsführung beschreibt in den folgenden
Fragen (Kremer und Schulz 2012) die Herausforderung zur Reflexion der eigenen
Persönlichkeitsanteile im Rahmen der beruflichen Rollenklärung:
- Weiß ich genug über die Erkrankung und die soziale Situation? ( ...oder will ich gar
kein vertiefteres Wissen haben, weil dadurch biografisch bedingte eigene Ängste
dabei getriggert werden könnten und ich dies gern vermeiden will?)
- Kann und will ich alle Informationen mit den KlientInnen und den Angehörigen
besprechen? ( ... oder habe ich Schwierigkeiten damit ein Verursachungsprinzip zu
erkennen und zu akzeptieren und kann die KlientInnen daher bis hin zum "Freispruch
der Familie" schlecht vor Schaden zufügenden Angehörigen schützen oder verbünde
mich sogar mit ihnen?)
- Was weiß ich über den subjektiven Sinn der Symptome ( ... oder teile ich unkritisch
den biologischen Reduktionismus der Körpermedizin, weil er mich vom Nachdenken
über psychosomatische und biografische Zusammenhänge und vor eigenen
Krankheitssymbolisierungen schützt?)
- Was soll vorrangig bearbeitet werden, die Erkrankung, die Person oder das
Umfeld? ( ... oder sind hier nicht fachliche Notwendigkeiten, sondern individuelle
Aspekte wie Sympathie oder Arbeitserleichterung im Alltag handlungsleitend?)

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- Was wäre aus meiner Sicht der nächste Schritt zu einer Stabilisierung der Situation
der Betroffenen? ( ... oder warum fühle ich mich überlastet und unzufrieden, wenn es
nicht schnell genug geht?)

Die beiden folgenden Tabellen fassen für die Soziale Arbeit in der Sozialpsychiatrie
relevante Haltungs- und Beziehungskompetenzen zusammen:

Tab. 3:      Haltungskompetenzen der Sozialen Arbeit in der Sozialpsychiatrie

Quelle:      Damm, Kunstreich 2013, S. 38

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Tab. 4:      Beziehungskompetenzen der Sozialen Arbeit in der Sozialpsychiatrie

Quelle:      Damm, Kunstreich 2013, S. 39

Es ist zweifellos keine geringe Herausforderung, diese Haltungs- und
Beziehungskompetenzen im Studium der Sozialen Arbeit und in der Weiterbildung
adäquat zu vermitteln. Andererseits ist eine Auseinandersetzung innerhalb der
Sozialen Arbeit über dieses Essentials offenbar leichter als in der, die Psychiatrie

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nach wie vor dominierenden, Medizin: Beziehungsverweigerungen, Näheangst und
Kontaktabwehr von PatientInnen und MitarbeiterInnen komplementärer
sozialpsychiatrischer und gemeindepsychiatrischer Dienste, Medikamente anstatt
Therapie, Krankheitsvorstellungen von psychischen Erkrankungen als ausschließlich
organische Störungen etc., scheinen wieder zugenommen zu haben und es
notwendig zu machen, den Blick zurück nach vorn zu richten (Wenzl 2014 10f.). In
meinen Lehrveranstaltungen und Weiterbildungen ist im Rahmen von qualitativen
Erhebungen in Einrichtungen der Sozialpsychiatrie von SozialarbeiterInnen der
Begriff "30-Prozent-Regel" geprägt worden. Damit ist beispielsweise gemeint, das
von zehn niedergelassenen PsychiaterInnen in einer Versorgungsregion höchstens
drei als PatientInnenorientiert und kooperationsfähig eingeschätzt werden. Zwar
haben Fehlerdiskussionen in der Sozialen Arbeit bisher kaum Kultur, da ihr
gesellschaftlicher Status relativ labil ist und derartige Debatten in der Regel mit
zusätzlichen individuellen und kollektiven Kränkungen verbunden sind, in der Medizin
scheinen die Selbst- und Fremdwahrnehmungskompetenzen mittlerweile aber
offenbar im Raritätenbereich angekommen zu sein.

4. Zusammenfassung
Die alten Themen und Entwicklungsaufgaben der Sozialpsychiatrie sind wohl auch
die Neuen:
- Verkleinerung oder Auflösung von Großkrankenhäusern und Aufbau psychiatrischer
Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern
- Dezentralisierung der Dienste und Einrichtungen
- Verlagerung der Behandlung und Versorgung in die Gemeinde
- Vernetzung der Dienste und Versorgungseinrichtungen miteinander auf der Basis
von empirisch ermittelten Bedarfsplänen
- Partnerschaftliche Einbeziehung der Betroffenen und Angehörigen
- Entwicklung einer trialogisch und partnerschaftlich orientierten Haltungs- und
Beziehungskompetenz

Sozialpsychiatrische Soziale Arbeit muss sich einerseits intensiv mit ihren eigenen
Professionalisierungsmöglichkeiten auseinandersetzen und ist lediglich eine von
vielen Variablen im komplexen Geflecht gesellschaftlicher Bedingungen, diverser

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Akteure, Institutionen und Interessen. Dennoch hat sie einen, nicht durch andere
Professionen substituierbaren Handlungsbereich und -spielraum. Diesen gilt es im
Kontext sozialpsychiatrischer Zielsetzungen forschungsbasiert zu verteidigen, zu
konsolidieren und weiterzuentwickeln.

Literatur:
Ärzte Zeitung: Stigmatisierung. Bevölkerung sucht Distanz zu Schizophrenen,
19.03.2014.
Bosshard, M., Ebert, U, Lazarus, H. (2013): Soziale Arbeit in der Psychiatrie (5.
überarb. Auflage). Köln: Psychiatrie-Verlag
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2013): Teilhabebericht der
Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen.
Berlin.
Damm, R, Kunstreich, T. (2013): Ungewissheit und Ohnmacht. Professionelle
Beziehungskompetenz in der Sozialen Arbeit,. in: Gromann, P. (Hg):
Schlüsselkompetenzen für die psychiatrische Arbeit, Köln: Psychiatrie-Verlag, 15-42.
Deutscher Bundestag (1975): Bundestagsdrucksache 7/4200.
Dörr, M. (2005): Soziale Arbeit in der Psychiatrie, München/Basel: Reinhardt/UTB.
Eikelmann, B., Reker, T., Richter, D. (2005): Zur sozialen Exklusion psychisch
Kranker - Kritische Bilanz und Ausblick der Gemeindepsychiatrie zu Beginn des 21.
Jahrhunderts. Fortschr Neurolo Psychiat, 36. Jg. H. 73, 664-673.
Heiner, M. (2010): Kompetent handeln in der Sozialen Arbeit, München: Reinhardt
Kremer, G., Schulz, M. (2012): Motivierende Gesprächsführung in der Psychiatrie.
Köln: Psychiatrie-Verlag.
Gödecker-Geenen, N. (2003): Soziale Arbeit in der Rehabilitation, München/Basel:
Reinhardt/UTB.
Gromann, P. (2013): Schlüsselqualifikationen für sozialpsychiatrisches Handeln -
gibt es das?, in: Gromann, P. (Hg): Schlüsselkompetenzen für die psychiatrische
Arbeit, Köln: Psychiatrie-Verlag, 7-14.
Melchinger, H. (2012): Psychotherapeutische Versorgung zwischen Hausarzt,
Facharzt, Psychotherapeuten und Hilfeangeboten außerhalb der GKV. Vortrag 12.
Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen in Hannover
29.09.2012.
Paternoga, D. (2004): Quo vadis Psychiatrie. Sozialpsychiatrische Informationen, 44.
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Stange, K-H (2004): Einführung von BA/MA - Widersprüche und Gegenargumente.
Gewerkschaftliche Bildungspolitik, 27 Jg., H. 3, 18-24.
Stange, K-H. (2005): Gewalt gegen behinderte Menschen", in: Lutz, R. (Hg.):
Rückblicke und Aussichten, Oldenburg: Paulo Freire Verlag, 155-173.
Statistisches Bundesamt, Destatis (2013): Datenreport 2013. Ein Sozialbericht für
die Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
Wenzl, H. (2014): Blick zurück nach vorn. Sozialpsychiatrische Informationen, 44 Jg.,
H. 1, 10-11.
Wienberg, G. (2014): 40 Jahre Psychiatriereform in Deutschland - Auf dem Weg in
die Drei-Klassen-Psychiatrie?! Sozialpsychiatrische Informationen, 44. Jg., H. 1, 4-9.
Wienberg, Günther (2008): Gemeindepsychiatrie heute - Erreichtes, aktuelle
Herausforderungen und Perspektiven. Sozialpsychiatrische Informationen 38. Jg. H.
1, 2-8.

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