FORENSISCH-PSYCHIATRISCHE GUTACHTEN ZU DEN VORAUSSETZUNGEN DES MASSNAHMENVOLLZUGS NACH ART. 43 STGB
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Originalarbeit Forensisch-psychiatrische Gutachten zu den Voraussetzungen des Massnahmenvollzugs nach Art. 43 StGB Zweiter Teil: Die Verwahrung n A. Möller 1, F. Urbaniok2, M. Kiesewetter 1, D. Hell 1 1 Psychiatrische Universitätsklinik Zürich; 2 Psychiatrisch-Psychologischer Dienst der Justizdirektion des Kantons Zürich Summary Zusammenfassung Möller A, Urbaniok F, Kiesewetter M, Hell D. Es wurden forensisch-psychiatrische Gutachten [Forensic-psychiatric testimonials according to Art. über 21 gegenwärtig im Raum des Kantons Zürich 43, 1, 2 of the Swiss penal code. Part 2: custody.] nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 durchgeführte Verwah- Schweiz Arch Neurol Psychiatr 1999; 150:136–41. rungen im Psychiatrisch-Psychologischen Dienst der Justizdirektion Zürich ausgewertet. Die Ver- Data from retrospective analysis of 21 forensic wahrung dieser durch den Art. 43 als «geistig testimonials are presented here. All probands abnorm» angesprochenen Tätergruppe ist in Be- (age 33.2 years median) had been prior subject to tracht zu ziehen, wenn bessernde Massnahmen correctional treatment and were found to have a nach anderen Rechtsvorschriften (100bis, Art. 43, misadventageous legal prognosis, so they were 1, 1 und 44 StGB) nicht mehr hinreichend erfolg- now condemned to be placed in custodial condi- versprechend sind und eine schwerwiegende Ge- tions (according to Art. 43, 1, 2 of the Switzerian fährdung der öffentlichen Sicherheit angenommen penal code). The leading axis-1 diagnosis was that wird. Es handelt sich danach erwartungsgemäss of alcohol and/or drug-related dependency or um eher ältere Probanden (Altersmedian 37 Jah- misuse. Personality diagnosis seems to be of major re), die regelhaft früheren Massnahmen nach importance; all except two persons were found to Art. 44 oder 43, Ziff. 1, Abs. 1 unterzogen wurden exhibit abnormal personality traits in conjunction und in einem meist erheblichen Umfang durch with their delinquent behavior. Diagnosis of axis- Vorstrafen belastet sind. Eine Minderung der Zu- 2 disorder could be characterized by a great diver- rechnungsfähigkeit – keine Voraussetzung der sity of methods and implicite reference to different Anwendung dieser Rechtsbestimmung des Art. personality typologies. Criteria-based diagnosis 43, 1, 2 – wurde durchgehend angenommen und according to the DSM (III-R or -IV) or ICD-10 häufig als mittelgradig bis schwer im Sinne des algorithmus was seldom used. Forensic judgement Art. 11 StGB beurteilt. Psychiatrisch-diagnostisch on person’s legal prognosis was mainly influenced überwiegen im Achse-1-Bereich substanzbezogene by the historical aspects of antecendent delinquent Abhängigkeiten und Missbrauchsverhalten, im behavior and lack of therapeutic efficacy. Only a Achse-2-Bereich fast durchwegs – bei 17 der 21 smaller part of the testimonials had referred to Probanden festgestellte – Persönlichkeitsstörun- a more complex criteriology of prognostic judge- gen oder Persönlichkeitsakzentuierungen. Die ment, integrating historical as well as actual, static Ergebnisse der Persönlichkeitsdiagnostik stellen as well as dynamic aspects of delinquents social sich heterogen dar, sie zeigen keine eindeutige behavior, their psychic reactions to and further Bevorzugung eines bestimmten Diagnosenclusters. processing of criminal behavior and the institu- Allerdings sind die verwendeten Typenbegriffe tional aspects of therapeutic interaction. wegen uneinheitlicher Referenzsysteme unter- Keywords: forensic testimony; forensic progno- einander kaum vergleichbar. Häufiger als bei den sis; personality disorders früher ausgewerteten Gutachten über ambulante strafbegleitende Massnahmen wurden persön- lichkeitsdiagnostische Testverfahren einbezogen; Korrespondenz: meist fanden projektive Verfahren Verwendung, Dr. Dr. Arnulf Möller, deren Auswertungskriterien bzw. Deutungspro- Psychiatrische Universitätsklinik, Lenggstrasse 31, portionen – mit einer Ausnahme – nicht angegeben CH-8029 Zürich wurden. Die Prognosebildung zeigt sich über- 136 SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE 150 n 3/1999
wiegend von den historischen Aspekten früherer – die prädeliktische Persönlichkeit mit ihren Delinquenz und Behandelbarkeit bestimmt. möglichen Defiziten der Konfliktlösung, sozia- Schlüsselwörter: Verwahrung; Gutachten, foren- len Integration und Verhaltensdispositionen; sisches; Prognose, forensische; Persönlichkeitsdia- – die postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung gnostik in ihrer Beziehung zu bisheriger Delinquenz, ihrer möglichen «Nachreifung», der Entwick- lung von Hemmungsfaktoren usw.; Einleitung – den sozialen Empfangsraum, also das Ausmass der Eingebundenheit in Arbeitsstrukturen, Die Verwahrung ist Bestandteil des strafgesetzlich Partnerschaft usw. vorgesehenen Katalogs sichernder und bessernder Massnahmen (Übersicht: [1, 2]). Die Verwahrung sogenannter geistig abnormer Rechtsbrecher wird Methodik im Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 geregelt. Voraussetzung der Anwendung dieser Rechtsbestimmung ist der Die Untersuchung bezieht sich auf retrospektiv Umstand einer schwerwiegenden Gefährdung der ausgewertete forensisch-psychiatrische Gutachten öffentlichen Sicherheit als Folge des Geisteszu- über gegenwärtig im Kanton Zürich nach Art. 43, standes des Rechtsbrechers, über den aufgrund 1, 2 durchgeführte Verwahrungen. Das Aktenma- eines Gutachtens zu befinden ist. Hingegen wird terial über diese Verwahrungen liegt im Psychia- die Verwahrung sogenannter Gewohnheitsverbre- trisch-Psychologischen Dienst der Justizdirektion cher im Art. 42 geregelt, ist Ausdruck der rich- des Kantons Zürich vor und wurde dort einge- terlichen Auffassung, es könne durch die Schuld- sehen. Gegenwärtig werden laut persönlicher strafe keine Resozialisierung erreicht werden, Mitteilung des Amtes für Straf- und Massnah- und richtet sich im wesentlichen aufgrund der menvollzug des Kantons Zürich insgesamt 26 Deliktanamnese, die einen «Hang» zu Verbrechen Massnahmen auf der genannten Rechtsgrundlage oder Vergehen bekunden muss. Der Geisteszu- vollzogen1. Es werden also nicht alle derzeit voll- stand des Täters kann Gegenstand einer Begut- zogenen Verwahrungen erfasst. Grundsätzlich ist achtung sein, zumal die Anordnung einer die der Ort einer nach Art. 43, 1, 2 durchzuführenden Legalprognose verbessernden Behandlungsmass- Verwahrung nicht vorgegeben; die Massnahme nahme der «resignativen» Anordnung einer Ver- kann in Haftanstalten, Kliniken oder in seltenen wahrung vorzuziehen ist. Fällen auch in Pflegeheimen oder anderen Ein- Gegenstand dieser Arbeit sind Verwahrungen richtungen vollzogen werden. Diese Beschränkung nach Art. 43, 1, 2, also von sogenannten geistig des vorgestellten Materials ist bei der Interpreta- abnormen Personen. In Anknüpfung an eine vor- tion der Ergebnisse, insbesondere der Diagnosen- ausgehende Arbeit über Massnahmen nach Art. verteilung, zu berücksichtigen. Es ist anzuneh- 43, 1, 1 sollen die der Massnahmenanordnung zu- men, dass gerade die in Kliniken vollzogenen grundeliegenden forensisch-psychiatrischen Gut- Massnahmen mit ihrem mutmasslich höheren achten gesichtet und danach die Gruppe der Ver- Anteil psychotisch gestörter oder erheblich wahrten beschrieben werden. Durch die in der schwachsinniger Patienten hier nicht erscheinen. Verwahrungsanordnung notwendig enthalteneAn- Gleichwohl wird mit 21 von 26 gegenwärtig voll- nahme einer schwerwiegenden Gefährdung der zogenen Massnahmen ein erheblicher Anteil in öffentlichen Sicherheit ergibt sich ein Schwerpunkt dieser Auswertung berücksichtigt (81%), so dass prognostischer Aspekte in diesen Gutachten. angenommen werden darf, dass – mit Einschrän- Dieser Bereich der Prognosenbildung ist seit kungen am ehesten im Bereich der Achse-1- Jahren Gegenstand einer Diskussion, die sich um Diagnosen – gewisse Rückschlüsse auf Merkmale eine Verbesserung der Reliabilität anhand be- der Gesamtgruppe möglich sind. stimmter Kriterienkataloge und eine wissenschaft- liche Absicherung ihrer Validität bemüht. Vorge- schlagene Kriterien sollten nicht im Sinne einer Ergebnisse und Diskussion Summenbildung, sondern in persönlichkeitsbe- zogen unterschiedlicher Gewichtung das Progno- Beschreibung der Untersuchungsgruppe seurteil bestimmen (Übersicht: [3]). Sie betreffen – das Ausgangsdelikt unter Gesichtspunkten sei- Die Zusammensetzung des in den Gutachten be- ner statistischen Rückfallwahrscheinlichkeit, schriebenen Kollektivs zeigt Besonderheiten der seiner Einbindung in eine bestimmte psychi- 1 persönliche Mitteilung des Amtes für Straf- und Mass- sche Störung bzw. Persönlichkeitsstruktur; nahmenvollzug des Kantons Zürich vom 25. August 1997 137 SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE 150 n 3/1999
Tabelle 1 Beschreibung der Untersuchungsgruppe. delt sich also offensichtlich um eine in erheblichem Untersuchungs- Umfang durch Delinquenz vorbelastete, durch gruppe (n = 21) Therapiebemühungen zumindest des Massnah- Altersverteilung (Jahre) menvollzugs bisher kaum in ihrem Legalverhalten 15–20 0 beeinflussbare Gruppe (Tab. 1). 21–25 2 26–30 4 Psychiatrische Diagnosen 31–35 4 36–40 6 (29%) Ähnlich den Ergebnissen der Auswertung von 41–45 3 Gutachten zu ambulanten strafbegleitenden Mass- 46–50 0 nahmenvollzügen werden auch in diesem Material explizit ICD- oder DSM-bezogene Diagnosen nur Älter 2 ausnahmsweise gestellt. Drei der Gutachten geben Anlassdelikte ICD-10-bezogene Diagnosen wieder, ein Gutach- Tötungsdelikte 9 (43%) ten bezieht die Diagnose einer narzisstischen Sexualdelikte 5 (24%) Persönlichkeitsstörung auf DSM-III-R-Kriterien. Eigentumsdelikte 3 Strukturierte Verfahren der Befunderhebung (et- Versuchte Tötung 1 wa SCID-I oder -II) sind nicht zur Anwendung Verstoss gegen das 1 gekommen. Betäubungsmittelgesetz Wenn im folgenden zwischen Achse-1- und Andere 2 Achse-2-Diagnosen unterschieden wird, entspricht dies einer durch die Untersucher auf das Material Frühere Massnahmen* angewendeten, nicht der diesem Gutachtenma- Nach Ar t. 44 StGB 4 terial selbst eigenen Diagnosensystematik. Im Nach Ar t. 43, 1, 1 StGB 16 (78%) Achse-2-Bereich wurden Auffälligkeiten beinahe Nach Ar t. 100bis StGB 4 ausnahmslos vermerkt; lediglich vier Gutachten Vorverurteilungen weisen keine diagnostisch bewertete Persönlich- Ohne Vorstrafen – keitsabnormität aus. Diese Häufigkeit aufgezeigter Eine Vorstrafe – Persönlichkeitsstörungen oder -akzentuierungen entspricht der Beobachtung an dem Kollektiv der Zwei Vorstrafen 5 nach Art. 43 strafbegleitend behandelten Proban- Drei Vorstrafen 7 den; dort wurden bei 45 von 51 Probanden ent- Vier Vorstrafen 4 sprechende Auffälligkeiten gutachterlich vermerkt Fünf und mehr Vorstrafen 5 [4]. Die kategoriale Zuordnung ist aufgrund feh- * Durch Kombination verschiedener früher ver fügter lender gemeinsamer diagnostischer Referenz- Massnahmen ergibt sich in der Summe eine grössere Zahl systeme schwer vergleichbar; eine ohne explizite als n = 21. Bezugnahme auf Diagnosekriterien gestellte Per- sönlichkeitsdiagnose ist nicht unbedingt mit einer gleichlautenden, aber kriterienbezogenen Dia- Altersverteilung und Deliktanamnese, die sich aus gnose eines anderen Untersuchers vergleichbar. den Voraussetzungen einer Verwahrung ergeben. Soweit die Persönlichkeit in einer bestimmten Es handelt sich um durchwegs bereits vorbestraf- zusammenfassenden Weise – über die Auflistung te, früher nach anderen Rechtsbestimmungen von Einzelmerkmalen hinaus – beschrieben wurde, des Massnahmenvollzugs behandelte Männer2, ergibt sich die in der Tabelle 2 dargestellte Vertei- die ein signifikant höheres Lebensalter (Median lung der mehr als einmal gestellten Diagnosen. 37 Jahre) als die vorausgehend untersuchten Es verteilen sich also lediglich 7 von 17 katego- Probanden im strafbegleitenden ambulanten rialen Zuordnungen einer Persönlichkeitsstörung Massnahmenvollzug nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 oder -akzentuierung auf diese drei Gruppen, was aufweisen [4] (U-Test, p
Tabelle 2 Ver teilung der Achse-2-Diagnosen auf bestimmte Störungs- Dauer befristet – erfasst wird. Hingegen kann bei kategorien (siehe Text). nicht therapiefähigen Abhängigkeitssyndromen Borderline-Persönlichkeitsstörung 3 oder solchen, die in Verbindung zu einer anderen Dissoziale Persönlichkeitsstörung 2 psychischen Störung stehen, unter Beachtung der Schizoide Persönlichkeitsstörung 2 einleitend dargestellten Anwendungsvorausset- zungen eine Verwahrung nach Rechtsgrundlage des Art. 43, 1, 2 in Betracht kommen. Andere Tabelle 3 Ver teilung der Achse-1-Diagnosen (Mehr fachdiagnosen möglich). Diagnosen mit geringer absoluter Häufigkeit Alkoholismus 5 (24%) lassen sich nicht sinnvoll vergleichen. Bemer- kenswert ist für beide Kollektive, dass im engeren Alkoholmissbrauch 3 Sinne psychotische Störungen nur eine relativ Andere substanzbezogene Abhängigkeiten 4 kleine Untergruppe bilden. Es ist allerdings an- oder Missbrauchsverhalten zunehmen, dass sich dieser Befund aus der oben Geistige Behinderung 4 beschriebenen Selektion des Materials ergibt. Panikstörung 1 Psychosekranke wie auch Personen mit schweren Pyromanie 2 Formen geistiger Behinderung dürften häufig in Paraphilie 2 Kliniken verwahrt werden; möglicherweise trifft Schizophrenie 2 dies auch für andere aufgeführte Diagnosen (Paraphilien) zu und erklärt die hohe Gewichtung der Achse-2-Störungen. Tabelle 4 Gutachterliche Beur teilung der Zurechnungsfähigkeit. Im Achse-3-Bereich wurde in zwei Fällen die Keine Einschränkung der Zurechnungs- 0 Diagnose eines Klinefelter-Syndroms, bei drei fähigkeit Probanden die eines frühkindlichen Hirnschadens Minderung der Zurechnungsfähigkeit 14 nach Ar t. 11 gestellt. leichtgradig 1 leicht- bis mittelgradig 2 Gutachterliche Beurteilung der Zurechnungs- mittelgradig 5 fähigkeit mittelgradig bis schwer 2 schwer 4 Die Bezüge zwischen den gutachterlich beschrie- Unzurechnungsfähigkeit nach Ar t. 10 4 benen psychischen Störungen und der Delinquenz werden bei Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit Keine Stellungnahme 3 deutlich. Hier findet sich, dass als mittelgradig bis schwer graduierte Einschränkungen der Zurech- Vergleichbarkeit ist nicht gegeben. So kann die nungsfähigkeit im Sinne des Art. 11 StGB über- «explosive», «haltlose» oder «milieugeschädigte» wiegen, allerdings nur in Einzelfällen von Unzu- Persönlichkeit im Sinne kriterieller Diagnostik rechnungsfähigkeit ausgegangen wurde. Insgesamt möglicherweise auch als dissozial (ICD-10: F60.2) gibt die Verteilung der Minderungsstufen der Zu- oder emotional instabil (F60.3) zu charakterisieren rechnungsfähigkeit den diagnostischen Schwer- sein. punkt im Bereich schwerer ausgeprägter Persön- Die Verteilung der Achse-1-Diagnosen ist in lichkeitsstörungen wieder, da Störungsmerkmale der Tabelle 3 dargestellt. Es stellt sich somit keine des Art. 10 (Geisteskrankheiten oder schwere grundsätzlich andere Diagnosenverteilung als in Schwachsinnsformen) hier nicht oder nur selten dem vorausgehend beschriebenen Kollektiv dar vertreten sind (siehe Achse-1-Diagnosen).Tatsäch- [4]. Substanzbezogene Abhängigkeiten oder Miss- lich wurde in den beiden Fällen gutachterlich brauchsverhalten wurden bei 12 von 21 (57%) zugeschriebener Unzurechnungsfähigkeit das Stö- festgestellt (in dem Kollektiv der nach Art. 43, 1, 1 rungsmerkmal einer Geisteskrankheit (bei der strafbegleitend ambulant behandelten Probanden Diagnose einer Schizophrenie bzw. einer Border- bei 23 von 51 [45%]; Chi-Quadrat-Test nicht line-Störung mit kurzen psychotischen Episoden) signifikant). Bei dem Vergleich dieser Werte ist angenommen (Tab. 4). allerdings zu berücksichtigen, dass bei ambulant Die Extremverteilungen der Zurechnungs- nach Art. 43 behandelten Personen ein geringerer fähigkeitsbeurteilung (zurechnungsfähig/zurech- Anteil von Abhängigkeits- und Missbrauchspro- nungsunfähig) zeigen gewisse Unterschiede zwi- blemen zu erwarten ist, da die mit «Trunksucht» in schen den Kollektiven der nach Art.43 Verwahrten Zusammenhang stehende Delinquenz durch Mass- und der strafbegleitend ambulant Behandelten. nahmen nach Art.44 StGB – auf zwei Jahre in ihrer Eine Unzurechnungsfähigkeit wurde hier (in der 139 SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE 150 n 3/1999
Tabelle 5 Ver wendung psychometrischer Ver fahren. Die Daten zur Präferenz einzelner Testverfah- Persönlichkeitspsychologische Zahl der ren entsprechen im wesentlichen also den schon Verfahren Anwendungen bei der Analyse von Gutachten zu ambulanten Rorschach-Test 10 strafbegleitenden Massnahmen nach Art. 43 Ziff. 1. Baum-Test 4 Abs. 1 vorgestellten [4]. Im Rahmen dieser Arbeit können testmethodische Gütekriterien bzw. Pro- Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI) 4 bleme der wissenschaftlichen Validität dieser pro- Minnesota Multiphasic Personality Inventor y 2 jektiven Testverfahren nicht diskutiert werden (MMPI) (Überblick: [5, 6]). Ungeachtet dieser Frage ist Giessen-Test 2 die grundsätzlich an ein Gutachten zu richtende Intelligenz- und andere leistungs- Anforderung der Nachvollziehbarkeit auch für psychologische Teste den Testbereich gültig. Eine bestimmte persön- Hamburg-Wechsler-lntelligenztest (HAWIE) 5 lichkeitspsychologie Charakterisierung der Test- Benton-Test 4 person ergibt sich aus Befunden, die als solche Reduzier ter Wechsler-lntelligenztest (WIP) 3 vorgängig zu nennen sind [7]. Bei normierten Test- Andere 2 verfahren besteht die Möglichkeit, das Ausmass der Abweichung oder Übereinstimmung mit Nor- malbereichen exakt – als t- oder Staninewert – Tabelle 6 Struktur gutachterlicher Prognosenbildung wiederzugeben. Für projektive Verfahren wie den Argumentationsstruktur im Prognoseteil forensischer Rorschach-Test stehen zwar teilweise Signierungs- Gutachten und Verrechnungssysteme zur Verfügung; in kei- 1. fehlende Begründung des Prognoseurteils 2 nem der vorliegend ausgewerteten Gutachten finden sich Bezugnahmen auf derartige Testbefun- 2. Begründung durch ein Kriterium de als Grundlage einer sich daraus ergebenden bisherige Deliktanamnese 5 persönlichkeitspsychologischen Charakterisierung Behandlungsverlauf 3 der Testperson als gehemmt, aggressiv usw. gegenwär tig erkennbare Persönlichkeits- bzw. Störungsmerkmale 2 3. Begründung durch Bildung Gutachterliche Prognosenbildung eines Merkmalskomplexes von zwei Merkmalen 6 Die Handhabung der Fragestellung nach einer von drei und mehr Merkmalen 3 schwerwiegenden Gefährdung der öffentlichen Si- cherheit zeigt deutliche Unterschiede. Es nehmen neun der 18 Gutachten nicht explizit – im Sinne Gruppe der Verwahrten) bei 4 von 18, dort (in einer Bejahung oder Verneinung dieser Frage – zu der Gruppe strafbegleitend Behandelter) bei 3 konkret diesem vorgegebenen Gefährdungsgrad von 44 angenommen und mithin in der hier prä- Stellung; sechs greifen diese Fragestellung in der sentierten Gruppe signifikant häufiger (Chi- Beantwortung unmittelbar – mehr oder weniger Quadrat-Test p = 0,01; df = 1); eine uneingeschränkt deutlich befürwortend – unter Verwendung der bestehende Zurechnungsfähigkeit hier bei keinem im Gesetzestext genannten Formulierung der Probanden, dort bei 1 von 44 [4]. schwerwiegenden Gefährdung auf oder empfeh- len ausdrücklich die Verwahrung; drei Gutachten schlagen schwerpunktmässig andere Massnahmen Psychometrische Ver fahren vor, nämlich eine stationäre Entwöhnung nach Art. 44 StGB oder Massnahmen nach Art. 43 Psychologische Testverfahren wurden bei 12 von Ziff. 1 Abs. 1. 21 Untersuchungen angewandt, mehrheitlich (bei Im folgenden soll die in den Gutachten 7 der 12 Testungen) als Kombination persönlich- erkennbare Argumentationsstruktur untersucht keitspsychologischer und Leistungsprüfungsver- werden, die der Begründung des abgegebenen – fahren. Die Auflistung der Testverfahren nach hier notwendig durchweg negativen – Prognose- der Häufigkeit ihrer Verwendung lässt erkennen, urteils dient. Dabei wird in Anlehnung an Nedopil dass im persönlichkeitsdiagnostischen Bereich vor [3] zwischen den einleitend genannten Bereichen allem der Rorschach-Test eingesetzt wurde, die von Ausgangsdelikt, prädeliktischer Persönlich- leistungspsychologische Testung sich im wesentli- keit, postdeliktischer Persönlichkeitsentwicklung chen auf den Benton- und Wechsler-Intelligenztest und des sozialen Empfangsraums unterschieden. konzentriert (Tab. 5). Es kann im einzelnen nicht nachvollzogen werden, 140 SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE 150 n 3/1999
welche im Gutachten enthaltenen Daten das scheinlichkeitsgrad des Auftretens bestimmter prognostische Urteil bestimmen; die Auswertung deliktbezogener Verhaltensweisen sachbezo- kann sich lediglich auf die Gesichtspunkte bezie- gen zu erläutern. Soweit die sachlichen Grund- hen, die vom Gutachter als prognostisch relevant lagen der Prognosebeurteilung in den Gut- ausdrücklich diskutiert werden. achten dargelegt wurden, bezogen sich diese Diese Diskussion von Prognosemerkmalen ist im allgemeinen auf historische Aspekte der unterschiedlich komplex. Zwei der Gutachten stel- Deliktanamnese und vorausgehender Thera- len lediglich die negative Prognoseaussage ohne pieerfahrungen. Der Begutachtungskomplexi- ausdrückliche Begründung in den Raum. Ein tät am ehesten nahe kommende Argumenta- anderer Teil der Gutachten rekurriert auf lediglich tionsstrukturen, die verschiedene Aspekte von einen Beurteilungsaspekt, dann meist den der bis- Deliktanamnese, Persönlichkeitsentwicklung, herigen Deliktanamnese – also der Annahme, situativen Bedingungen und statistischer Rück- künftiges Verhalten lasse sich aus dem bisherigen fallwahrscheinlichkeit kritisch zusammenfas- erschliessen – oder fehlenden Behandlungserfol- sen, lassen sich nur in wenigen Begutachtungs- ges (Argumentationsmuster 1). Eine Diskussion fällen erkennen. zweier Prognosekriterien bezieht sich meist auf die Allgemein kann der in diesen Gutachten erkenn- Verbindung von Deliktanamnese und offensicht- bare Stand forensisch-psychiatrischer Diagnostik lich fehlender Behandelbarkeit (Argumentations- nicht befriedigen. In der klinischen Psychiatrie muster 2). Eine Minderzahl der Gutachten bezieht beginnen sich zunehmend qualitätssichernde ausdrücklich einen Merkmalskomplex ein, der sich Massnahmen zu etablieren [8], für die grundsätz- aus drei oder mehr prognoserelevanten Kriterien lich auch in der forensischen Psychiatrie Bedarf zusammensetzt (Argumentationsmuster 3) (Tab. offensichtlich anzunehmen ist [9]. Als Grundvor- 6). Deliktanamnese und Behandlungsverlauf wer- aussetzung qualitätssichernder Massnahmen ist den also besonders stark gewichtet. dabei eine gewisse Standardisierung im diagnosti- Insgesamt können die vorausgehend vorgestell- schen Vorgehen anzusehen. ten Daten unter bestimmten, für die forensische Danksagung: Wir danken Herrn H. R. Gerber als dem Begutachtungspraxis relevanten Gesichtspunkten zuständigen Abteilungschef des Amtes für Straf- und zusammengefasst werden: Massnahmenvollzug des Kantons Zürich und Herrn Dr. – Die in diesen Gutachten erkennbare psychia- O. Horber als Chefarzt der Kantonalen Psychiatrischen Klinik Rheinau, Abteilung Forensik und Drogensucht- trische Diagnosenstellung entbehrt eines ein- behandlung. heitlichen Referenzsystems. Vor allem im Bereich der Persönlichkeitsbeschreibung im- poniert eine weitgehend unverbundene Auf- Literatur zählung der als bestimmend erlebten Persön- lichkeitsmerkmale mit unterschiedlicher Ter- 1 Dittmann V. Forensische Psychiatrie in der Schweiz. minologie. Durch diesen Umstand wird die In: Nedopil N, Hrsg. Forensische Psychiatrie. Verständlichkeit und Überprüfbarkeit der Stuttgar t: Thieme; 1996. S. 250–9. Gutachten erschwert. 2 Maier P, Urbaniok F. Die Anordnung und praktische – Die vorausgehend angesprochene Heteroge- Durchführung von Freiheitsstrafen und Massnahmen. Zürich: Schulthess; 1998. nität der in den Gutachten erkennbaren psych- 3 Nedopil N. Forensische Psychiatrie. iatrischen Diagnostik widerspiegelt sich auch Stuttgar t: Thieme; 1996. S. 185 ff. in den psychometrischen Verfahren. Häufig 4 Möller AF, Urbaniok M, Kiesewetter M. Forensisch- werden nicht validierte psychodiagnostische psychiatrische Gutachten zu den Voraussetzungen des Verfahren eingesetzt, die sich der Überprüfung Massnahmenvollzugs nach Ar t. 43 StGB. Erster Teil: ihrer Resultate entziehen, zumal die verwen- Ambulante strafbegleitende Massnahmen. Schweiz Arch Neurol Psychiatr 1999;150:4–10. deten Auswertekriterien projektiver Verfahren wie des Rorschach-Tests regelmässig nicht 5 Jäger S, Petermann F, Hrsg. Psychologische Diagnostik. Weinheim: Psychologie Verlags Union; 1992. dargelegt werden. – Grenzen der gutachterlichen Zuständigkeit 6 Brickenkamp R. Handbuch psychologischer und pädago- gischer Tests. Göttingen: Hogrefe; 1996. sind zu beachten. Im Bereich der Kriminal- 7 Fisseni H-J. Persönlichkeitsbeur teilung. prognose ist insbesondere zu berücksichtigen, Zürich: Hogrefe; 1992. dass die Entscheidung über eine etwaige 8 Hell D, Bengel J, Kisten-Krüger M, Hrsg. Qualitäts- schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen sicherung der psychiatrischen Versorgung. Sicherheit als rechtlich-normativer Schritt an- Basel: Karger; 1998. zusehen ist. Die psychiatrische Prognosestel- 9 Maier P, Möller A. Das gerichtspsychiatrische Gutachten lung hat sich darauf zu beschränken, den Wahr- gemäss Ar t. 13 StGB. Zürich: Schulthess; 1999. 141 SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE 150 n 3/1999
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