FORENSISCH-PSYCHIATRISCHE GUTACHTEN ZU DEN VORAUSSETZUNGEN DES MASSNAHMENVOLLZUGS NACH ART. 43 STGB

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Originalarbeit

Forensisch-psychiatrische Gutachten
zu den Voraussetzungen des Massnahmenvollzugs
nach Art. 43 StGB
Zweiter Teil: Die Verwahrung
n    A. Möller 1, F. Urbaniok2, M. Kiesewetter 1, D. Hell 1
1   Psychiatrische Universitätsklinik Zürich;
2   Psychiatrisch-Psychologischer Dienst der Justizdirektion des Kantons Zürich

                 Summary                                                  Zusammenfassung

                 Möller A, Urbaniok F, Kiesewetter M, Hell D.             Es wurden forensisch-psychiatrische Gutachten
                 [Forensic-psychiatric testimonials according to Art.     über 21 gegenwärtig im Raum des Kantons Zürich
                 43, 1, 2 of the Swiss penal code. Part 2: custody.]      nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 durchgeführte Verwah-
                 Schweiz Arch Neurol Psychiatr 1999; 150:136–41.          rungen im Psychiatrisch-Psychologischen Dienst
                                                                          der Justizdirektion Zürich ausgewertet. Die Ver-
                 Data from retrospective analysis of 21 forensic          wahrung dieser durch den Art. 43 als «geistig
                 testimonials are presented here. All probands            abnorm» angesprochenen Tätergruppe ist in Be-
                 (age 33.2 years median) had been prior subject to        tracht zu ziehen, wenn bessernde Massnahmen
                 correctional treatment and were found to have a          nach anderen Rechtsvorschriften (100bis, Art. 43,
                 misadventageous legal prognosis, so they were            1, 1 und 44 StGB) nicht mehr hinreichend erfolg-
                 now condemned to be placed in custodial condi-           versprechend sind und eine schwerwiegende Ge-
                 tions (according to Art. 43, 1, 2 of the Switzerian      fährdung der öffentlichen Sicherheit angenommen
                 penal code). The leading axis-1 diagnosis was that       wird. Es handelt sich danach erwartungsgemäss
                 of alcohol and/or drug-related dependency or             um eher ältere Probanden (Altersmedian 37 Jah-
                 misuse. Personality diagnosis seems to be of major       re), die regelhaft früheren Massnahmen nach
                 importance; all except two persons were found to         Art. 44 oder 43, Ziff. 1, Abs. 1 unterzogen wurden
                 exhibit abnormal personality traits in conjunction       und in einem meist erheblichen Umfang durch
                 with their delinquent behavior. Diagnosis of axis-       Vorstrafen belastet sind. Eine Minderung der Zu-
                 2 disorder could be characterized by a great diver-      rechnungsfähigkeit – keine Voraussetzung der
                 sity of methods and implicite reference to different     Anwendung dieser Rechtsbestimmung des Art.
                 personality typologies. Criteria-based diagnosis         43, 1, 2 – wurde durchgehend angenommen und
                 according to the DSM (III-R or -IV) or ICD-10            häufig als mittelgradig bis schwer im Sinne des
                 algorithmus was seldom used. Forensic judgement          Art. 11 StGB beurteilt. Psychiatrisch-diagnostisch
                 on person’s legal prognosis was mainly influenced        überwiegen im Achse-1-Bereich substanzbezogene
                 by the historical aspects of antecendent delinquent      Abhängigkeiten und Missbrauchsverhalten, im
                 behavior and lack of therapeutic efficacy. Only a        Achse-2-Bereich fast durchwegs – bei 17 der 21
                 smaller part of the testimonials had referred to         Probanden festgestellte – Persönlichkeitsstörun-
                 a more complex criteriology of prognostic judge-         gen oder Persönlichkeitsakzentuierungen. Die
                 ment, integrating historical as well as actual, static   Ergebnisse der Persönlichkeitsdiagnostik stellen
                 as well as dynamic aspects of delinquents social         sich heterogen dar, sie zeigen keine eindeutige
                 behavior, their psychic reactions to and further         Bevorzugung eines bestimmten Diagnosenclusters.
                 processing of criminal behavior and the institu-         Allerdings sind die verwendeten Typenbegriffe
                 tional aspects of therapeutic interaction.               wegen uneinheitlicher Referenzsysteme unter-
                     Keywords: forensic testimony; forensic progno-       einander kaum vergleichbar. Häufiger als bei den
                 sis; personality disorders                               früher ausgewerteten Gutachten über ambulante
                                                                          strafbegleitende Massnahmen wurden persön-
                                                                          lichkeitsdiagnostische Testverfahren einbezogen;
                 Korrespondenz:                                           meist fanden projektive Verfahren Verwendung,
                 Dr. Dr. Arnulf Möller,
                                                                          deren Auswertungskriterien bzw. Deutungspro-
                 Psychiatrische Universitätsklinik,
                 Lenggstrasse 31,                                         portionen – mit einer Ausnahme – nicht angegeben
                 CH-8029 Zürich                                           wurden. Die Prognosebildung zeigt sich über-

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wiegend von den historischen Aspekten früherer        – die prädeliktische Persönlichkeit mit ihren
      Delinquenz und Behandelbarkeit bestimmt.                möglichen Defiziten der Konfliktlösung, sozia-
          Schlüsselwörter: Verwahrung; Gutachten, foren-      len Integration und Verhaltensdispositionen;
      sisches; Prognose, forensische; Persönlichkeitsdia-   – die postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung
      gnostik                                                 in ihrer Beziehung zu bisheriger Delinquenz,
                                                              ihrer möglichen «Nachreifung», der Entwick-
                                                              lung von Hemmungsfaktoren usw.;
      Einleitung                                            – den sozialen Empfangsraum, also das Ausmass
                                                              der Eingebundenheit in Arbeitsstrukturen,
      Die Verwahrung ist Bestandteil des strafgesetzlich      Partnerschaft usw.
      vorgesehenen Katalogs sichernder und bessernder
      Massnahmen (Übersicht: [1, 2]). Die Verwahrung
      sogenannter geistig abnormer Rechtsbrecher wird       Methodik
      im Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 geregelt. Voraussetzung
      der Anwendung dieser Rechtsbestimmung ist der         Die Untersuchung bezieht sich auf retrospektiv
      Umstand einer schwerwiegenden Gefährdung der          ausgewertete forensisch-psychiatrische Gutachten
      öffentlichen Sicherheit als Folge des Geisteszu-      über gegenwärtig im Kanton Zürich nach Art. 43,
      standes des Rechtsbrechers, über den aufgrund         1, 2 durchgeführte Verwahrungen. Das Aktenma-
      eines Gutachtens zu befinden ist. Hingegen wird       terial über diese Verwahrungen liegt im Psychia-
      die Verwahrung sogenannter Gewohnheitsverbre-         trisch-Psychologischen Dienst der Justizdirektion
      cher im Art. 42 geregelt, ist Ausdruck der rich-      des Kantons Zürich vor und wurde dort einge-
      terlichen Auffassung, es könne durch die Schuld-      sehen. Gegenwärtig werden laut persönlicher
      strafe keine Resozialisierung erreicht werden,        Mitteilung des Amtes für Straf- und Massnah-
      und richtet sich im wesentlichen aufgrund der         menvollzug des Kantons Zürich insgesamt 26
      Deliktanamnese, die einen «Hang» zu Verbrechen        Massnahmen auf der genannten Rechtsgrundlage
      oder Vergehen bekunden muss. Der Geisteszu-           vollzogen1. Es werden also nicht alle derzeit voll-
      stand des Täters kann Gegenstand einer Begut-         zogenen Verwahrungen erfasst. Grundsätzlich ist
      achtung sein, zumal die Anordnung einer die           der Ort einer nach Art. 43, 1, 2 durchzuführenden
      Legalprognose verbessernden Behandlungsmass-          Verwahrung nicht vorgegeben; die Massnahme
      nahme der «resignativen» Anordnung einer Ver-         kann in Haftanstalten, Kliniken oder in seltenen
      wahrung vorzuziehen ist.                              Fällen auch in Pflegeheimen oder anderen Ein-
          Gegenstand dieser Arbeit sind Verwahrungen        richtungen vollzogen werden. Diese Beschränkung
      nach Art. 43, 1, 2, also von sogenannten geistig      des vorgestellten Materials ist bei der Interpreta-
      abnormen Personen. In Anknüpfung an eine vor-         tion der Ergebnisse, insbesondere der Diagnosen-
      ausgehende Arbeit über Massnahmen nach Art.           verteilung, zu berücksichtigen. Es ist anzuneh-
      43, 1, 1 sollen die der Massnahmenanordnung zu-       men, dass gerade die in Kliniken vollzogenen
      grundeliegenden forensisch-psychiatrischen Gut-       Massnahmen mit ihrem mutmasslich höheren
      achten gesichtet und danach die Gruppe der Ver-       Anteil psychotisch gestörter oder erheblich
      wahrten beschrieben werden. Durch die in der          schwachsinniger Patienten hier nicht erscheinen.
      Verwahrungsanordnung notwendig enthalteneAn-          Gleichwohl wird mit 21 von 26 gegenwärtig voll-
      nahme einer schwerwiegenden Gefährdung der            zogenen Massnahmen ein erheblicher Anteil in
      öffentlichen Sicherheit ergibt sich ein Schwerpunkt   dieser Auswertung berücksichtigt (81%), so dass
      prognostischer Aspekte in diesen Gutachten.           angenommen werden darf, dass – mit Einschrän-
          Dieser Bereich der Prognosenbildung ist seit      kungen am ehesten im Bereich der Achse-1-
      Jahren Gegenstand einer Diskussion, die sich um       Diagnosen – gewisse Rückschlüsse auf Merkmale
      eine Verbesserung der Reliabilität anhand be-         der Gesamtgruppe möglich sind.
      stimmter Kriterienkataloge und eine wissenschaft-
      liche Absicherung ihrer Validität bemüht. Vorge-
      schlagene Kriterien sollten nicht im Sinne einer      Ergebnisse und Diskussion
      Summenbildung, sondern in persönlichkeitsbe-
      zogen unterschiedlicher Gewichtung das Progno-        Beschreibung der Untersuchungsgruppe
      seurteil bestimmen (Übersicht: [3]). Sie betreffen
      – das Ausgangsdelikt unter Gesichtspunkten sei-       Die Zusammensetzung des in den Gutachten be-
          ner statistischen Rückfallwahrscheinlichkeit,     schriebenen Kollektivs zeigt Besonderheiten der
          seiner Einbindung in eine bestimmte psychi-       1   persönliche Mitteilung des Amtes für Straf- und Mass-
          sche Störung bzw. Persönlichkeitsstruktur;            nahmenvollzug des Kantons Zürich vom 25. August 1997

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Tabelle 1   Beschreibung der Untersuchungsgruppe.                      delt sich also offensichtlich um eine in erheblichem
                                                    Untersuchungs-     Umfang durch Delinquenz vorbelastete, durch
                                                    gruppe (n = 21)    Therapiebemühungen zumindest des Massnah-
            Altersverteilung (Jahre)                                   menvollzugs bisher kaum in ihrem Legalverhalten
            15–20                                   0
                                                                       beeinflussbare Gruppe (Tab. 1).
            21–25                                   2
            26–30                                   4
                                                                       Psychiatrische Diagnosen
            31–35                                   4
            36–40                                   6 (29%)            Ähnlich den Ergebnissen der Auswertung von
            41–45                                   3                  Gutachten zu ambulanten strafbegleitenden Mass-
            46–50                                   0                  nahmenvollzügen werden auch in diesem Material
                                                                       explizit ICD- oder DSM-bezogene Diagnosen nur
            Älter                                   2
                                                                       ausnahmsweise gestellt. Drei der Gutachten geben
            Anlassdelikte
                                                                       ICD-10-bezogene Diagnosen wieder, ein Gutach-
            Tötungsdelikte                          9 (43%)            ten bezieht die Diagnose einer narzisstischen
            Sexualdelikte                           5 (24%)            Persönlichkeitsstörung auf DSM-III-R-Kriterien.
            Eigentumsdelikte                        3                  Strukturierte Verfahren der Befunderhebung (et-
            Versuchte Tötung                        1                  wa SCID-I oder -II) sind nicht zur Anwendung
            Verstoss gegen das                      1
                                                                       gekommen.
            Betäubungsmittelgesetz                                         Wenn im folgenden zwischen Achse-1- und
            Andere                                  2                  Achse-2-Diagnosen unterschieden wird, entspricht
                                                                       dies einer durch die Untersucher auf das Material
            Frühere Massnahmen*
                                                                       angewendeten, nicht der diesem Gutachtenma-
            Nach Ar t. 44 StGB                      4
                                                                       terial selbst eigenen Diagnosensystematik. Im
            Nach Ar t. 43, 1, 1 StGB             16 (78%)              Achse-2-Bereich wurden Auffälligkeiten beinahe
            Nach Ar t. 100bis StGB                  4                  ausnahmslos vermerkt; lediglich vier Gutachten
            Vorverurteilungen                                          weisen keine diagnostisch bewertete Persönlich-
            Ohne Vorstrafen                         –                  keitsabnormität aus. Diese Häufigkeit aufgezeigter
            Eine Vorstrafe                          –
                                                                       Persönlichkeitsstörungen oder -akzentuierungen
                                                                       entspricht der Beobachtung an dem Kollektiv der
            Zwei Vorstrafen                         5
                                                                       nach Art. 43 strafbegleitend behandelten Proban-
            Drei Vorstrafen                         7
                                                                       den; dort wurden bei 45 von 51 Probanden ent-
            Vier Vorstrafen                         4                  sprechende Auffälligkeiten gutachterlich vermerkt
            Fünf und mehr Vorstrafen                5                  [4]. Die kategoriale Zuordnung ist aufgrund feh-
            * Durch Kombination verschiedener früher ver fügter        lender gemeinsamer diagnostischer Referenz-
            Massnahmen ergibt sich in der Summe eine grössere Zahl     systeme schwer vergleichbar; eine ohne explizite
            als n = 21.
                                                                       Bezugnahme auf Diagnosekriterien gestellte Per-
                                                                       sönlichkeitsdiagnose ist nicht unbedingt mit einer
                                                                       gleichlautenden, aber kriterienbezogenen Dia-
            Altersverteilung und Deliktanamnese, die sich aus          gnose eines anderen Untersuchers vergleichbar.
            den Voraussetzungen einer Verwahrung ergeben.              Soweit die Persönlichkeit in einer bestimmten
            Es handelt sich um durchwegs bereits vorbestraf-           zusammenfassenden Weise – über die Auflistung
            te, früher nach anderen Rechtsbestimmungen                 von Einzelmerkmalen hinaus – beschrieben wurde,
            des Massnahmenvollzugs behandelte Männer2,                 ergibt sich die in der Tabelle 2 dargestellte Vertei-
            die ein signifikant höheres Lebensalter (Median            lung der mehr als einmal gestellten Diagnosen.
            37 Jahre) als die vorausgehend untersuchten                    Es verteilen sich also lediglich 7 von 17 katego-
            Probanden im strafbegleitenden ambulanten                  rialen Zuordnungen einer Persönlichkeitsstörung
            Massnahmenvollzug nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1              oder -akzentuierung auf diese drei Gruppen, was
            aufweisen [4] (U-Test, p
Tabelle 2   Ver teilung der Achse-2-Diagnosen auf bestimmte Störungs-   Dauer befristet – erfasst wird. Hingegen kann bei
            kategorien (siehe Text).
                                                                        nicht therapiefähigen Abhängigkeitssyndromen
            Borderline-Persönlichkeitsstörung            3              oder solchen, die in Verbindung zu einer anderen
            Dissoziale Persönlichkeitsstörung            2              psychischen Störung stehen, unter Beachtung der
            Schizoide Persönlichkeitsstörung             2              einleitend dargestellten Anwendungsvorausset-
                                                                        zungen eine Verwahrung nach Rechtsgrundlage
                                                                        des Art. 43, 1, 2 in Betracht kommen. Andere
Tabelle 3   Ver teilung der Achse-1-Diagnosen (Mehr fachdiagnosen
            möglich).                                                   Diagnosen mit geringer absoluter Häufigkeit
            Alkoholismus                                 5 (24%)
                                                                        lassen sich nicht sinnvoll vergleichen. Bemer-
                                                                        kenswert ist für beide Kollektive, dass im engeren
            Alkoholmissbrauch                            3
                                                                        Sinne psychotische Störungen nur eine relativ
            Andere substanzbezogene Abhängigkeiten       4
                                                                        kleine Untergruppe bilden. Es ist allerdings an-
            oder Missbrauchsverhalten
                                                                        zunehmen, dass sich dieser Befund aus der oben
            Geistige Behinderung                         4
                                                                        beschriebenen Selektion des Materials ergibt.
            Panikstörung                                 1              Psychosekranke wie auch Personen mit schweren
            Pyromanie                                    2              Formen geistiger Behinderung dürften häufig in
            Paraphilie                                   2              Kliniken verwahrt werden; möglicherweise trifft
            Schizophrenie                                2              dies auch für andere aufgeführte Diagnosen
                                                                        (Paraphilien) zu und erklärt die hohe Gewichtung
                                                                        der Achse-2-Störungen.
Tabelle 4   Gutachterliche Beur teilung der Zurechnungsfähigkeit.
                                                                            Im Achse-3-Bereich wurde in zwei Fällen die
            Keine Einschränkung der Zurechnungs-         0
                                                                        Diagnose eines Klinefelter-Syndroms, bei drei
            fähigkeit
                                                                        Probanden die eines frühkindlichen Hirnschadens
            Minderung der Zurechnungsfähigkeit          14
            nach Ar t. 11
                                                                        gestellt.
                leichtgradig                             1
                leicht- bis mittelgradig                 2
                                                                        Gutachterliche Beurteilung der Zurechnungs-
                mittelgradig                             5              fähigkeit
                mittelgradig bis schwer                  2
                schwer                                   4              Die Bezüge zwischen den gutachterlich beschrie-
            Unzurechnungsfähigkeit nach Ar t. 10         4              benen psychischen Störungen und der Delinquenz
                                                                        werden bei Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit
            Keine Stellungnahme                          3
                                                                        deutlich. Hier findet sich, dass als mittelgradig bis
                                                                        schwer graduierte Einschränkungen der Zurech-
            Vergleichbarkeit ist nicht gegeben. So kann die             nungsfähigkeit im Sinne des Art. 11 StGB über-
            «explosive», «haltlose» oder «milieugeschädigte»            wiegen, allerdings nur in Einzelfällen von Unzu-
            Persönlichkeit im Sinne kriterieller Diagnostik             rechnungsfähigkeit ausgegangen wurde. Insgesamt
            möglicherweise auch als dissozial (ICD-10: F60.2)           gibt die Verteilung der Minderungsstufen der Zu-
            oder emotional instabil (F60.3) zu charakterisieren         rechnungsfähigkeit den diagnostischen Schwer-
            sein.                                                       punkt im Bereich schwerer ausgeprägter Persön-
                Die Verteilung der Achse-1-Diagnosen ist in             lichkeitsstörungen wieder, da Störungsmerkmale
            der Tabelle 3 dargestellt. Es stellt sich somit keine       des Art. 10 (Geisteskrankheiten oder schwere
            grundsätzlich andere Diagnosenverteilung als in             Schwachsinnsformen) hier nicht oder nur selten
            dem vorausgehend beschriebenen Kollektiv dar                vertreten sind (siehe Achse-1-Diagnosen).Tatsäch-
            [4]. Substanzbezogene Abhängigkeiten oder Miss-             lich wurde in den beiden Fällen gutachterlich
            brauchsverhalten wurden bei 12 von 21 (57%)                 zugeschriebener Unzurechnungsfähigkeit das Stö-
            festgestellt (in dem Kollektiv der nach Art. 43, 1, 1       rungsmerkmal einer Geisteskrankheit (bei der
            strafbegleitend ambulant behandelten Probanden              Diagnose einer Schizophrenie bzw. einer Border-
            bei 23 von 51 [45%]; Chi-Quadrat-Test nicht                 line-Störung mit kurzen psychotischen Episoden)
            signifikant). Bei dem Vergleich dieser Werte ist            angenommen (Tab. 4).
            allerdings zu berücksichtigen, dass bei ambulant                Die Extremverteilungen der Zurechnungs-
            nach Art. 43 behandelten Personen ein geringerer            fähigkeitsbeurteilung (zurechnungsfähig/zurech-
            Anteil von Abhängigkeits- und Missbrauchspro-               nungsunfähig) zeigen gewisse Unterschiede zwi-
            blemen zu erwarten ist, da die mit «Trunksucht» in          schen den Kollektiven der nach Art.43 Verwahrten
            Zusammenhang stehende Delinquenz durch Mass-                und der strafbegleitend ambulant Behandelten.
            nahmen nach Art.44 StGB – auf zwei Jahre in ihrer           Eine Unzurechnungsfähigkeit wurde hier (in der

     139        SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE                                              150 n 3/1999
Tabelle 5   Ver wendung psychometrischer Ver fahren.                         Die Daten zur Präferenz einzelner Testverfah-
            Persönlichkeitspsychologische                  Zahl der      ren entsprechen im wesentlichen also den schon
            Verfahren                                      Anwendungen   bei der Analyse von Gutachten zu ambulanten
            Rorschach-Test                                   10          strafbegleitenden Massnahmen nach Art. 43 Ziff. 1.
            Baum-Test                                         4
                                                                         Abs. 1 vorgestellten [4]. Im Rahmen dieser Arbeit
                                                                         können testmethodische Gütekriterien bzw. Pro-
            Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI)          4
                                                                         bleme der wissenschaftlichen Validität dieser pro-
            Minnesota Multiphasic Personality Inventor y      2
                                                                         jektiven Testverfahren nicht diskutiert werden
            (MMPI)
                                                                         (Überblick: [5, 6]). Ungeachtet dieser Frage ist
            Giessen-Test                                      2
                                                                         die grundsätzlich an ein Gutachten zu richtende
            Intelligenz- und andere leistungs-                           Anforderung der Nachvollziehbarkeit auch für
            psychologische Teste
                                                                         den Testbereich gültig. Eine bestimmte persön-
            Hamburg-Wechsler-lntelligenztest (HAWIE)          5          lichkeitspsychologie Charakterisierung der Test-
            Benton-Test                                       4          person ergibt sich aus Befunden, die als solche
            Reduzier ter Wechsler-lntelligenztest (WIP)       3          vorgängig zu nennen sind [7]. Bei normierten Test-
            Andere                                            2          verfahren besteht die Möglichkeit, das Ausmass
                                                                         der Abweichung oder Übereinstimmung mit Nor-
                                                                         malbereichen exakt – als t- oder Staninewert –
Tabelle 6   Struktur gutachterlicher Prognosenbildung                    wiederzugeben. Für projektive Verfahren wie den
            Argumentationsstruktur im Prognoseteil forensischer          Rorschach-Test stehen zwar teilweise Signierungs-
            Gutachten                                                    und Verrechnungssysteme zur Verfügung; in kei-
            1. fehlende Begründung des Prognoseurteils        2          nem der vorliegend ausgewerteten Gutachten
                                                                         finden sich Bezugnahmen auf derartige Testbefun-
            2. Begründung durch ein Kriterium
                                                                         de als Grundlage einer sich daraus ergebenden
                bisherige Deliktanamnese                      5
                                                                         persönlichkeitspsychologischen Charakterisierung
                Behandlungsverlauf                            3          der Testperson als gehemmt, aggressiv usw.
                gegenwär tig erkennbare Persönlichkeits-
                bzw. Störungsmerkmale                         2
            3. Begründung durch Bildung                                  Gutachterliche Prognosenbildung
               eines Merkmalskomplexes
                von zwei Merkmalen                            6          Die Handhabung der Fragestellung nach einer
                von drei und mehr Merkmalen                   3          schwerwiegenden Gefährdung der öffentlichen Si-
                                                                         cherheit zeigt deutliche Unterschiede. Es nehmen
                                                                         neun der 18 Gutachten nicht explizit – im Sinne
            Gruppe der Verwahrten) bei 4 von 18, dort (in                einer Bejahung oder Verneinung dieser Frage – zu
            der Gruppe strafbegleitend Behandelter) bei 3                konkret diesem vorgegebenen Gefährdungsgrad
            von 44 angenommen und mithin in der hier prä-                Stellung; sechs greifen diese Fragestellung in der
            sentierten Gruppe signifikant häufiger (Chi-                 Beantwortung unmittelbar – mehr oder weniger
            Quadrat-Test p = 0,01; df = 1); eine uneingeschränkt         deutlich befürwortend – unter Verwendung der
            bestehende Zurechnungsfähigkeit hier bei keinem              im Gesetzestext genannten Formulierung der
            Probanden, dort bei 1 von 44 [4].                            schwerwiegenden Gefährdung auf oder empfeh-
                                                                         len ausdrücklich die Verwahrung; drei Gutachten
                                                                         schlagen schwerpunktmässig andere Massnahmen
            Psychometrische Ver fahren                                   vor, nämlich eine stationäre Entwöhnung nach
                                                                         Art. 44 StGB oder Massnahmen nach Art. 43
            Psychologische Testverfahren wurden bei 12 von               Ziff. 1 Abs. 1.
            21 Untersuchungen angewandt, mehrheitlich (bei                   Im folgenden soll die in den Gutachten
            7 der 12 Testungen) als Kombination persönlich-              erkennbare Argumentationsstruktur untersucht
            keitspsychologischer und Leistungsprüfungsver-               werden, die der Begründung des abgegebenen –
            fahren. Die Auflistung der Testverfahren nach                hier notwendig durchweg negativen – Prognose-
            der Häufigkeit ihrer Verwendung lässt erkennen,              urteils dient. Dabei wird in Anlehnung an Nedopil
            dass im persönlichkeitsdiagnostischen Bereich vor            [3] zwischen den einleitend genannten Bereichen
            allem der Rorschach-Test eingesetzt wurde, die               von Ausgangsdelikt, prädeliktischer Persönlich-
            leistungspsychologische Testung sich im wesentli-            keit, postdeliktischer Persönlichkeitsentwicklung
            chen auf den Benton- und Wechsler-Intelligenztest            und des sozialen Empfangsraums unterschieden.
            konzentriert (Tab. 5).                                       Es kann im einzelnen nicht nachvollzogen werden,

     140        SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE                                            150 n 3/1999
welche im Gutachten enthaltenen Daten das                 scheinlichkeitsgrad des Auftretens bestimmter
      prognostische Urteil bestimmen; die Auswertung            deliktbezogener Verhaltensweisen sachbezo-
      kann sich lediglich auf die Gesichtspunkte bezie-         gen zu erläutern. Soweit die sachlichen Grund-
      hen, die vom Gutachter als prognostisch relevant          lagen der Prognosebeurteilung in den Gut-
      ausdrücklich diskutiert werden.                           achten dargelegt wurden, bezogen sich diese
          Diese Diskussion von Prognosemerkmalen ist            im allgemeinen auf historische Aspekte der
      unterschiedlich komplex. Zwei der Gutachten stel-         Deliktanamnese und vorausgehender Thera-
      len lediglich die negative Prognoseaussage ohne           pieerfahrungen. Der Begutachtungskomplexi-
      ausdrückliche Begründung in den Raum. Ein                 tät am ehesten nahe kommende Argumenta-
      anderer Teil der Gutachten rekurriert auf lediglich       tionsstrukturen, die verschiedene Aspekte von
      einen Beurteilungsaspekt, dann meist den der bis-         Deliktanamnese, Persönlichkeitsentwicklung,
      herigen Deliktanamnese – also der Annahme,                situativen Bedingungen und statistischer Rück-
      künftiges Verhalten lasse sich aus dem bisherigen         fallwahrscheinlichkeit kritisch zusammenfas-
      erschliessen – oder fehlenden Behandlungserfol-           sen, lassen sich nur in wenigen Begutachtungs-
      ges (Argumentationsmuster 1). Eine Diskussion             fällen erkennen.
      zweier Prognosekriterien bezieht sich meist auf die   Allgemein kann der in diesen Gutachten erkenn-
      Verbindung von Deliktanamnese und offensicht-         bare Stand forensisch-psychiatrischer Diagnostik
      lich fehlender Behandelbarkeit (Argumentations-       nicht befriedigen. In der klinischen Psychiatrie
      muster 2). Eine Minderzahl der Gutachten bezieht      beginnen sich zunehmend qualitätssichernde
      ausdrücklich einen Merkmalskomplex ein, der sich      Massnahmen zu etablieren [8], für die grundsätz-
      aus drei oder mehr prognoserelevanten Kriterien       lich auch in der forensischen Psychiatrie Bedarf
      zusammensetzt (Argumentationsmuster 3) (Tab.          offensichtlich anzunehmen ist [9]. Als Grundvor-
      6). Deliktanamnese und Behandlungsverlauf wer-        aussetzung qualitätssichernder Massnahmen ist
      den also besonders stark gewichtet.                   dabei eine gewisse Standardisierung im diagnosti-
          Insgesamt können die vorausgehend vorgestell-     schen Vorgehen anzusehen.
      ten Daten unter bestimmten, für die forensische
                                                            Danksagung: Wir danken Herrn H. R. Gerber als dem
      Begutachtungspraxis relevanten Gesichtspunkten        zuständigen Abteilungschef des Amtes für Straf- und
      zusammengefasst werden:                               Massnahmenvollzug des Kantons Zürich und Herrn Dr.
      – Die in diesen Gutachten erkennbare psychia-         O. Horber als Chefarzt der Kantonalen Psychiatrischen
                                                            Klinik Rheinau, Abteilung Forensik und Drogensucht-
          trische Diagnosenstellung entbehrt eines ein-
                                                            behandlung.
          heitlichen Referenzsystems. Vor allem im
          Bereich der Persönlichkeitsbeschreibung im-
          poniert eine weitgehend unverbundene Auf-
                                                            Literatur
          zählung der als bestimmend erlebten Persön-
          lichkeitsmerkmale mit unterschiedlicher Ter-      1   Dittmann V. Forensische Psychiatrie in der Schweiz.
          minologie. Durch diesen Umstand wird die              In: Nedopil N, Hrsg. Forensische Psychiatrie.
          Verständlichkeit und Überprüfbarkeit der              Stuttgar t: Thieme; 1996. S. 250–9.
          Gutachten erschwert.                              2   Maier P, Urbaniok F. Die Anordnung und praktische
      – Die vorausgehend angesprochene Heteroge-                Durchführung von Freiheitsstrafen und Massnahmen.
                                                                Zürich: Schulthess; 1998.
          nität der in den Gutachten erkennbaren psych-
                                                            3   Nedopil N. Forensische Psychiatrie.
          iatrischen Diagnostik widerspiegelt sich auch
                                                                Stuttgar t: Thieme; 1996. S. 185 ff.
          in den psychometrischen Verfahren. Häufig
                                                            4   Möller AF, Urbaniok M, Kiesewetter M. Forensisch-
          werden nicht validierte psychodiagnostische           psychiatrische Gutachten zu den Voraussetzungen des
          Verfahren eingesetzt, die sich der Überprüfung        Massnahmenvollzugs nach Ar t. 43 StGB. Erster Teil:
          ihrer Resultate entziehen, zumal die verwen-          Ambulante strafbegleitende Massnahmen.
                                                                Schweiz Arch Neurol Psychiatr 1999;150:4–10.
          deten Auswertekriterien projektiver Verfahren
          wie des Rorschach-Tests regelmässig nicht         5   Jäger S, Petermann F, Hrsg. Psychologische Diagnostik.
                                                                Weinheim: Psychologie Verlags Union; 1992.
          dargelegt werden.
      – Grenzen der gutachterlichen Zuständigkeit           6   Brickenkamp R. Handbuch psychologischer und pädago-
                                                                gischer Tests. Göttingen: Hogrefe; 1996.
          sind zu beachten. Im Bereich der Kriminal-
                                                            7   Fisseni H-J. Persönlichkeitsbeur teilung.
          prognose ist insbesondere zu berücksichtigen,
                                                                Zürich: Hogrefe; 1992.
          dass die Entscheidung über eine etwaige
                                                            8   Hell D, Bengel J, Kisten-Krüger M, Hrsg. Qualitäts-
          schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen            sicherung der psychiatrischen Versorgung.
          Sicherheit als rechtlich-normativer Schritt an-       Basel: Karger; 1998.
          zusehen ist. Die psychiatrische Prognosestel-     9   Maier P, Möller A. Das gerichtspsychiatrische Gutachten
          lung hat sich darauf zu beschränken, den Wahr-        gemäss Ar t. 13 StGB. Zürich: Schulthess; 1999.

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