Lehren des Brexit für eine Reform von Art. 50 EUV
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ÖGfE Policy Brief 17’2018 Lehren des Brexit für eine Reform von Art. 50 EUV Von Thomas Jaeger Wien, 30. August 2018 ISSN 2305-2635 Handlungsempfehlungen 1. Art. 50 EUV sollte reformiert werden, um Unklarheiten betreffend die Austrittsvoraussetzungen und das Austrittsverfahren zu beseitigen. Diese Reform sollte einerseits die gelebte Praxis der Austrittsverhandlungen abbilden sowie andererseits bzw. darüber hinaus auch eigene unionsrechtliche Mindest- anforderungen für die Gültigkeit einer Austrittsentscheidung formulieren. 2. Ein neuer Art. 50a EUV sollte die Grundzüge der einem austretenden Staat nach Austritt offenstehenden Optionen vorgeben, beispielsweise entlang der jetzt im Zuge des Brexit formulierten „roten Linien“. 3. Bei der Bewältigung der Polykrise der EU führt kein Weg an einer Stärkung der europapolitischen Beteiligung der Zivilgesellschaft vorbei. Die diesbezüglich von den Mitgliedstaaten und Institutionen erarbeiteten Vorschläge zu einer tiefgreifenden Reform der Institutionen und Verfahren müssen ernst genommen werden. Zusammenfassung Der Anlassfall des Brexit zeigt Unzulänglichkeiten der und soll klare Antworten geben, um europapolitische Austrittsklausel des Art. 50 EUV auf, die es zu besei- Debatten, z.B. Austrittsdebatten, in den Mitgliedstaa- tigen gilt. Dabei geht es nur zum geringeren Teil um ten möglichst sachlich zu halten. Das Anliegen einer eine Präzisierung juristischer Details: Der Brexit ist Versachlichung der demokratischen Meinungsbildung ein Lehrbeispiel für den Missbrauch direkter Demo- könnte zunächst eine Reform der Austrittsklausel an- kratie und europapolitischer Fragen im sogenannten leiten, darüber hinaus aber auch eine anstehende, postfaktischen, also von Fakten losgelösten bzw. von tiefgreifende Reform der europäischen Institutionen „fake news“ und „fake promises“ dominierten, zivilge- und Verfahren. sellschaftlichen Diskurs. Das europäische Recht kann Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 1
ÖGfE Policy Brief 17’2018 Lehren des Brexit für eine Reform von Art. 50 EUV Ungewiss ist, wie der am 29. 3. 2019 erfolgende in Großbritannien: Unter der Parole „taking back Austritt Großbritanniens aus der EU letztlich verlaufen control“ wurden allerlei Unzufriedenheiten des bri- wird, v.a. mit oder ohne Austrittsabkommen, Über- tischen Wahlvolks mit dem Status Quo bedient und gangsphase und Folgeabkommen. Gewiss sind dage- die Vorstellungen und Versprechungen einer schö- gen bereits erste Lehren aus der Brexit-Erfahrung für nen neuen Zukunft des Landes nach der propagier- die Handhabe der nicht ganz vor zehn Jahren über Art. ten Wiedererlangung voller Souveränität waren ent- 50 EUV erstmals eröffneten Austrittsmöglichkeit. sprechend diffus. Im rechtswissenschaftlichen wie im politikwissen- „Unter der Parole „taking back control“ wur- schaftlichen Schrifttum1 ist etwa die Ansicht verbrei- den allerlei Unzufriedenheiten des britischen tet, dass die Austrittsdynamik sowohl auf politischer Wahlvolks mit dem Status Quo bedient.“ als auch auf konstitutioneller Ebene deutliche inte- grationsfördernde Effekte hatte. Abgebildet ist dies Mittlerweile zeigt sich, dass wohl zahlreiche Ver- etwa in der völlig geschlossenen Verhandlungsposi- sprechungen haltlos waren. Doch trotz der durch- tion der EU-27, in der in den meisten Mitgliedstaaten sickernden Ernüchterung scheinen jene, die ein gestiegenen Zustimmung zur EU oder in der starken zweites Referendum bzw. eine neuerliche Volksab- Stellung der Kommission und des Unionsinteresses stimmung über das Verhandlungsergebnis fordern, im Austrittsverfahren. weiterhin in der Minderheit zu bleiben. EU-Exit als Spektakel des Irrationalen All dies, der gesamte Verlauf des britischen Aus- trittswunsches und seine Durchführung, lässt sich Eine weitere Lehre ist aber auch, dass der Aus- also nicht vollends rational erklären und entspre- trittsprozess merklich von irrationalen Elementen chend schwer mit rationalen Mitteln vorhersagen geprägt ist. Ausdruck dessen sind einerseits die oder steuern. Zusammenfassen lässt sich der Brexit sehr heterogenen und teils realitätsfern anmuten- als groß angelegtes Spektakel des Irrationalen un- den Ansichten innerhalb des Brexit-Lagers in Groß- ter dem Schlagwort Populismus, der geradezu ty- britannien, der daraus resultierende Streit zwischen pischerweise von der Ablehnung von Machteliten, Fundamentalisten und Realisten innerhalb der briti- Institutionen und Anti-Intellektualismus geprägt ist schen Regierung und eine entsprechend mühevoll – hier eben gerichtet gegen die EU und wofür sie festgelegte, sowie nach wie vor nur teilkonsistente steht. Eine EU-kritische Rhetorik und einen auf ei- Positionierung der Briten in den Verhandlungen. nen Austritt gerichteten Populismus gibt es auch in anderen Mitgliedstaaten. Zudem ist der Brexit, wenn Andererseits prägten das Irrationale oder, etwas wir uns heute in Europa, Nord- und Südamerika geschönter, ein markanter Utopismus bereits die oder Asien umblicken, auch keineswegs die skur- Voraustrittsdebatte und den Abstimmungsprozess rilste oder folgenschwerste Erscheinungsform des Populismus. Frankreichs Präsident Macron sprach dieses breitere Phänomen zuletzt zutreffend als (Eu- 1) Vgl. etwa Hillion, Withdrawal under article 50 TEU: An in- ropas) „Faszination für das Illiberale“2 an. tegration-friendly process, CML Rev. 2108 (vol. 55), 29, 29ff.; Umland, Why Brexit May Be Good for European Integration, Harvard Int. Rev. Online-Ausgabe v. 24. 6. 2016, am 15. 8. 2018 abrufbar unter http://hir.harvard.edu/article/?a=13641; ähnlich 2) S. Discours du Président de la République au Parlement eu- de Witte, An Undivided Union? Differentiated Integration in Post- ropéen, 17. 4. 2018, am 15. 8. 2018 abrufbar unter http://www. Brexit Times, CML Rev. 2018, 227, 229ff.; Schimmelfennig, Bre- elysee.fr/declarations/article/discours-du-president-de-la-repu- xit: differentiated disintegration in the European Union, J of Eur blique-au-parlement-europeen/: „[L’Europe] … où la fascination, Policy 2018 (vol. 25), 1154, 1154ff. … illibérale grandit chaque jour”. 2 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 17’2018 Antworten des Unionsrechts: illiberale Bewegungen nicht (wie vom ungarischen Reformbedarf des Art. 50 EUV Premierminister Orban 2014 vorgeschlagen)3 die illi- berale oder autoritäre Demokratie sein, sondern die Die Erkenntnisse, dass der Mensch als animal ra- Autorität der Demokratie.4 tionale bis auf weiteres für populistische Spektakel empfänglich ist und die bislang formierten EU-Aus- „Art. 50 EUV unterstreicht in grundsätzlich trittsbewegungen geradezu Lehrbuchbeispiele des richtiger und wichtiger Weise den Respekt Populismus sind, werfen ein etwas anderes Licht der Union vor dem demokratisch legitimierten als bislang auf Art. 50 EUV: Die Austrittsklausel ist Willen ihrer Völker.“ keineswegs nur ein vorbehaltlos zu begrüßender Imperativ in einer demokratiepolitisch reifen und auf Art. 50 EUV unterstreicht in grundsätzlich richtiger dem Grundsatz der Demokratie fußenden Union. und wichtiger Weise den Respekt der Union vor Vielmehr hat Art. 50 EUV eine deutliche Schatten- dem demokratisch legitimierten Willen ihrer Völker. und Schlagseite, als die Missbrauchsanfälligkeit der Er stellt klar, dass die Integration sowohl gestoppt Bestimmung im politischen Prozess deutlich wird. als auch umgekehrt werden kann und dass Integ- Die Bestimmung bildet ein Einfallstor für schlecht ration keine Einbahnstraße, sondern im Prinzip leis- fundierte Entscheidungen ad hoc betreffend die Zu- tungsorientiert ist. Ein mögliches Versagen des In- kunft der Integration. tegrationsprozesses am Maßstab der einzelstaatlich gewünschten Ergebnisse oder ein dauerhaftes Aus- „Der Austritt wird damit nicht nur zum wirt- einanderklaffen der Vorstellungen über Wesen und schaftlichen Problem, sondern zum Problem Ziele der Integration darf und soll zu einer zivilge- für die Integration insgesamt.“ sellschaftlichen Austrittsdebatte führen. Das Prob- lem liegt nämlich nicht in der Integrationsdebatte als Der Austritt wird damit nicht nur zum wirtschaft- solcher, sondern darin, wie sie geführt wird. lichen Problem, sondern zum Problem für die Inte- gration insgesamt, durch eine damit einhergehende Es kann nicht angehen, dass das Unionsrecht Beschädigung der diplomatischen und zivilgesell- die Verantwortung für die Qualität der Integrati- schaftlichen Gesprächskultur sowie der histori- onsdebatte bislang vollständig den Mitgliedstaaten schen Funktionen und der Legitimität des Integrati- selbst überlässt, ohne darauf mit Einfluss zu neh- onsprozesses. Welche Mittel kann die EU bzw. das men: Demokratie ist nicht nur Recht, sondern auch Unionsrecht dem entgegensetzen? Wie können das Verantwortung. Diese Verantwortung unterwirft in der Austrittsklausel gelegene, populistische Miss- das Unionsrecht auch in anderen Bereichen mit- brauchspotenzial gemildert und Austrittsdebatten gliedstaatlicher Zuständigkeiten einer Grobkontrol- sowie ein allfälliger Austrittsprozess stärker rational le (etwa mit dem Effektivitätsprinzip beim Unions- determiniert werden? rechtsvollzug). Unionsrechtsbasierte Verfahrensanforderungen in Art. 50 EUV Keine Lösung liegt in der Beseitigung der Aus- 3) Vgl. Charim, “Orbáns Mogelpackung heißt illiberale Demo- trittsklausel als solcher: Das politische Signal, das kratie”, Wiener Zeitung Online-Ausgabe v. 13. 4. 2018, zum 15. 8. 2018 abrufbar unter https://www.wienerzeitung.at/meinun- mit einem solchen Schritt verbunden wäre, wäre gen/glossen/958667_Orbans-Mogelpackung-heisst-illiberale- katastrophal. Wie auch der zuvor angesprochene Demokratie.html. Präsident Macron hervorhob, muss die Antwort auf 4) S. Discours du Président (Fn. 2): „Face à l’autoritarisme qui partout nous entoure, la réponse n’est pas la démocratie autori- taire mais l’autorité de la démocratie.” Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 3
ÖGfE Policy Brief 17’2018 „Anstatt Art. 50 EUV zurückzunehmen, soll- tenden Staat und der EU grundsätzlich erstrecken ten daher die Hürden für seine Aktivierung er- kann (z.B. Binnenmarkt, Zollpolitik, Bildung, Raum höht bzw. dort formulierten Qualitätsanforde- der Freiheit usw.), welche Rechte unter welchen Vo- rungen unterworfen werden.“ raussetzungen bestehen bleiben können (z.B. er- worbene Aufenthaltsrechte, finanzielle Ansprüche Anstatt Art. 50 EUV zurückzunehmen, sollten usw.) und welche Rechte zwingend wegfallen. daher die Hürden für seine Aktivierung erhöht bzw. dort formulierten Qualitätsanforderungen unterwor- „Klargestellt werden sollte […], auf welche fen werden. Zu denken ist v.a. an Mindestverfah- Politiken sich eine Kooperation zwischen dem rensanforderungen in Bezug auf das Zustandekom- austretenden Staat und der EU grundsätzlich men der Austrittsentscheidung, etwa betreffend erstrecken kann.“ eine Bereitstellung neutraler Informationen im Vor- feld der Abstimmung (orientiert z.B. am Schweizer Ungeachtet dessen, dass für das Austritts- und Modell des sog. Abstimmungsbüchleins). Zu den- das Folgeabkommen ausreichend Regelungsflexi- ken wäre aber z.B. auch an unionsrechtlich fest- bilität gewahrt bleiben muss, scheint es doch mög- gelegte Quoren einer Mindestbeteiligung an der lich, zumindest jene „roten Linien“, die die EU im Abstimmung oder der Zustimmung sowie etwa an Brexit-Prozess formuliert hat, auch primärrechtlich eine Ausdehnung des Teilnahmerechts auf im Mit- klarzustellen. Zu nennen sind etwa die vielpropa- gliedstaat ansässige EU-BürgerInnen (orientiert an gierte Unteilbarkeit der Grundfreiheiten des Binnen- Art. 22 AEUV). Maßnahmen dieser Art versprechen markts bzw. der Grundsatz „kein Rosinenpicken“, eine Verbesserung der Gesamtqualität des Austritt- die rechtlichen Grundvoraussetzungen einer Zollko- prozesses und eine Verringerung der Prävalenz des operation, das Entsprechen von Rechten und (ins- irrationalen Abstimmungsverhaltens. besondere) finanziellen Pflichten oder etwa auch der für eine Kooperation geltende, zwingende ins- Eine entsprechende Reform des Art. 50 EUV liegt titutionelle Rahmen (d.h. v.a. die Grundsätze einer umso näher, als die Norm ohnedies einer Überar- EuGH-Zuständigkeit in Bezug auf die Auslegung der beitung bedarf, um darin gelegene Unklarheiten zu Abkommen sowie die Direktwirkung der darin ver- beseitigen, die im Zuge des Brexit offenbar wurden. bürgten Rechte). Zu nennen sind etwa die (von der politischen Pra- xis wohl ganz einhellig angenommene, im Schrift- Das primärrechtliche Vorzeichnen der groben tum aber strittige) Möglichkeit einer Rücknahme der Züge einer Kooperation würde von Anbeginn einer Austrittsmitteilung oder eine Kodifikation der schon Austrittsdebatte an klarstellen, welche politischen jetzt geübten Grundsätze transparenter Verhand- Hoffnungen und Versprechungen im Zuge eines lungen und der Information und Konsultation der Austritts realistisch sind und welche nicht. Im Grun- Mitgliedstaaten im Verhandlungsprozess. de stünden Staaten damit drei Optionen offen: Die Vollmitgliedschaft in der EU, die Option eines fest Klarstellung der vorgezeichneten Assoziierungsstatus oder der voll- Differenzierungsoptionen nach Austritt ständige Austritt mit der Folge einer Rückstufung al- ler Beziehungen auf den allgemein für Drittstaaten Ein weiterer Steuerungsmechanismus für die geltenden Rahmen (sog. WTO-Status). Austrittsdebatte kann darin bestehen, die tendenzi- ell nur diffusen Vorstellungen vom durch bzw. nach Dieser Vorschlag liegt auf Linie jenes „associate Austritt Erreichbaren durch grobe Vorgaben der Dif- status“, den der Verfassungsausschuss des Europä- ferenzierungsoptionen zu kanalisieren. Klargestellt ischen Parlaments zuletzt ganz allgemein als Ersatz werden sollte mit anderen Worten, auf welche Po- für den gegenwärtigen Differenzierungswildwuchs litiken sich eine Kooperation zwischen dem austre- vorgeschlagen hat: „Das Europäische Parlament […] 4 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 17’2018 schlägt vor, dass das derzeitige Durcheinander bei tun. Klar ist aber, dass die EU zur Überwindung der der Differenzierung im Rahmen der nächsten Über- Ursachen der aktuellen Polykrise eine ambitionierte arbeitung der Verträge abgebaut wird, indem die institutionelle Reform braucht, wenn sie eine Zukunft Praktiken der einzelnen Mitgliedstaaten gewährten haben will. Nicht zuletzt war eine latente „Euroskle- Nichtbeteiligungsklauseln, Beteiligungsmöglichkei- rose“, also die Unfähigkeit der EU zu tiefgreifenden ten und Ausnahmeregelungen im Primärrecht der Reformen, neben allen Irrationalitäten des Brexit ein EU abgeschafft oder zumindest deutlich reduziert von den Briten über viele Jahre zurecht beklagter werden[. Stattdessen] empfiehlt [es], eine Partner- Missstand.6 schaft zu konzipieren und einzurichten, um auf die- se Weise einen Ring von Partnerländern um die EU Schlussbemerkungen und aufzubauen, dem sich Staaten anschließen können, Empfehlungen die der Union nicht beitreten können oder werden, aber trotzdem eine enge Beziehung zu ihr wün- Der Brexit-Prozess liefert konkrete Erkenntnisse schen; … dass diese Beziehung mit den jeweiligen zur Funktionsweise und den Fehlstellungen des Art. Rechten entsprechenden Pflichten […] einhergehen 50 EUV. In ihrer gegenwärtigen Form ist die Aus- sollte;”.5 trittsklausel ein Katalysator einer negativen Integra- tionsdebatte und Türöffner für Anti-EU-Populismus. Weitere loyalitätsstärkende Es gilt daher, im Unionsrecht Instrumente zu entwi- Maßnahmen ckeln, um 1) das Aufkommen und die Ausbreitung von Austrittsbewegungen und die Aktivierung der Lediglich kurz erwähnt sei hier noch, dass eine Austrittsklausel zu begrenzen und 2), wenn solche kommende Primärrechtsreform in Sachen Stärkung Bewegungen auftreten, die Debatte zu lenken, um des Integrationsprozesses, seiner Legitimität und sie und allfällige Referenden informiert und rational der Loyalität der BürgerInnen und Regierungen zur zu halten. Dies bedeutet auch, dass sich solche Ins- EU nicht bei Art. 50 EUV Halt machen muss. Die trumente stärker auf die BürgerInnen bzw. die Qua- Vorschläge liegen auch bereits auf dem Tisch. Der lität der zivilgesellschaftlichen Debatte über Europa eben genannte Verfassungsausschuss des Euro- als auf Regierungs- oder Parteiakteure konzentrie- päischen Parlaments etwa erwägt gesamteuropäi- ren müssen. sche Parteilisten, die Schaffung eines Initiativrechts zur EU-Gesetzgebung für europäische und nationa- Vor diesem Hintergrund werden hier zusammen- le ParlamentarierInnen, EU-weite Referenden für Pri- fassend vier Empfehlungen für konkrete politische märrechtsänderungen oder eine Öffnung der Zusam- Maßnahmen formuliert: mensetzung des Rates für nationale Abgeordnete. 1. Art. 50 EUV sollte reformiert werden, um be- Maßnahmen dieser Art würden dazu beitragen, stehende Unklarheiten zum Austrittsverfahren zu eine grenzüberschreitende politische Debatte über beseitigen. Abgebildet werden sollte etwa die ge- europäische Fragen zu stimulieren und den poten- lebte Praxis in Bezug auf die Transparenz der Ver- ziellen Missbrauch europäischer Themen auf der handlungen, die Information und Konsultation der nationalen politischen Ebene entsprechend zu er- Mitgliedstaaten oder die Möglichkeit einer Rücknah- schweren. Im gegenwärtigen politischen Klima sind me der Austrittserklärung. sie auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht oppor- 5) EP Dok. Nr. 2014/2248(INI), Rz. 10 und 11: http:// 6) Vgl. Krumrey, Eurosklerose 2.0 - Wir alle sind Brexit !, Beitrag www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP// für die Friedrich-Ebert-Stiftung, zum 15. 8. 2018 abrufbar unter TEXT+REPORT+A8-2016-0390+0+DOC+XML+V0//DE. https://www.fes.de/e/eurosklerose-20-wir-alle-sind-brexit/. Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 5
ÖGfE Policy Brief 17’2018 2. Art. 50 EUV sollte neben der Bezugnahme auf - die Zusammensetzung des Rates für nationale die „verfassungsrechtlichen Vorschriften“ des aus- ParlamentarierInnen zu öffnen; tretenden Staats selbst auch unionsrechtliche Min- destverfahrensanforderungen für die Gültigkeit einer - europaweite Parteienlisten für die Wahlen zum Austrittsentscheidung aufstellen. Solche Anforde- Europäischen Parlament zuzulassen; rungen könnten von der Zurverfügungstellung neut- raler Informationen vor einem Referendum bis hin zu - das Wahlrecht zum Europäischen Parlament zu Quora für eine Mindestbeteiligung oder die Zustim- harmonisieren; mung oder einer Ausweitung des Abstimmungs- rechts auf ansässige EU-BürgerInnen reichen. - EU-weite Referenden mit harmonisiertem Ver- fahrensrecht für Änderungen des Primärrechts vor- 3. Die (von den Mitgliedstaaten und) Institutionen zusehen. mit dem Ziel einer Stärkung der Beteiligung der Zivil- gesellschaft erarbeiteten Vorschläge zur Reform der 4. Ein neuer Art. 50a EUV sollte die Grundzüge Institutionen und Verfahren sollten ernst genommen der einem austretenden Staat nach Austritt offen- werden: Die Legitimitätskrise der EU kann nur über- stehenden Optionen vorgeben. Dies würde insbe- wunden werden, wenn die Zivilgesellschaft effektive sondere auf eine Präzisierung und Konkretisierung Anreize zur Beteiligung an einer europäischen po- der im Zuge des Brexit formulierten „roten Linien“ litischen Debatte erhält. Zu empfehlen ist insoweit, und der grundlegenden unionsrechtlichen Anforde- rungen für das Austritts- und das Folgeabkommen - dem Europäischen Parlament und den natio- hinauslaufen. Klargestellt werden sollte dabei auch, nalen Parlamenten das Recht einzuräumen EU-Ge- dass Staaten neben Vollmitgliedschaft, Vollaustritt setzgebung anzustoßen, und dem in Art. 50a EUV grundgelegten Assoziie- rungsverhältnis keine weitere Option offensteht. 6 Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
ÖGfE Policy Brief 17’2018 Über den Autor Univ.-Prof. Mag. Dr. Thomas Jaeger, LL.M, ist Professor für Europarecht an der Universität Wien. Kontakt: thomas.jaeger@univie.ac.at Über die ÖGfE Die Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) ist ein parteipolitisch unabhän- giger Verein auf sozialpartnerschaftlicher Basis. Sie informiert über die europäische In- tegration und steht für einen offenen Dialog über aktuelle europapolitische Fragen und deren Relevanz für Österreich. Sie verfügt über langjährige Erfahrung im Bezug auf die Förderung einer europäischen Debatte und agiert als Katalysator zur Verbreitung von eu- ropapolitischen Informationen. ISSN 2305-2635 Impressum Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck Österreichische Gesellschaft für Europapolitik kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE Rotenhausgasse 6/8-9 oder jenen, der Organisation, für die der Autor arbeitet, A-1090 Wien, Österreich überein. Generalsekretär: Mag. Paul Schmidt Schlagworte Verantwortlich: Christoph Breinschmid, M.A. Brexit, Art. 50 EUV, Austrittsverhandlungen, Polykrise Tel.: +43 1 533 4999 Zitation Fax: +43 1 533 4999 – 40 Jaeger, T. (2018). Lehren des Brexit für eine Reform von E-Mail: policybriefs@oegfe.at Art. 50 EUV. Wien. ÖGfE Policy Brief, 17’2018 Web: http://oegfe.at/policybriefs Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999 7
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