Lehren des Brexit für eine Reform von Art. 50 EUV

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ÖGfE Policy Brief 17’2018
Lehren des Brexit für eine Reform von Art. 50 EUV
Von Thomas Jaeger
Wien, 30. August 2018
ISSN 2305-2635

Handlungsempfehlungen
   1. Art. 50 EUV sollte reformiert werden, um Unklarheiten betreffend die
      Austrittsvoraussetzungen und das Austrittsverfahren zu beseitigen. Diese Reform
      sollte einerseits die gelebte Praxis der Austrittsverhandlungen abbilden sowie
      andererseits bzw. darüber hinaus auch eigene unionsrechtliche Mindest-
      anforderungen für die Gültigkeit einer Austrittsentscheidung formulieren.

   2. Ein neuer Art. 50a EUV sollte die Grundzüge der einem austretenden Staat nach
      Austritt offenstehenden Optionen vorgeben, beispielsweise entlang der jetzt im
      Zuge des Brexit formulierten „roten Linien“.

   3. Bei der Bewältigung der Polykrise der EU führt kein Weg an einer Stärkung der
      europapolitischen Beteiligung der Zivilgesellschaft vorbei. Die diesbezüglich von
      den Mitgliedstaaten und Institutionen erarbeiteten Vorschläge zu einer tiefgreifenden
      Reform der Institutionen und Verfahren müssen ernst genommen werden.

Zusammenfassung
Der Anlassfall des Brexit zeigt Unzulänglichkeiten der             und soll klare Antworten geben, um europapolitische
Austrittsklausel des Art. 50 EUV auf, die es zu besei-             Debatten, z.B. Austrittsdebatten, in den Mitgliedstaa-
tigen gilt. Dabei geht es nur zum geringeren Teil um               ten möglichst sachlich zu halten. Das Anliegen einer
eine Präzisierung juristischer Details: Der Brexit ist             Versachlichung der demokratischen Meinungsbildung
ein Lehrbeispiel für den Missbrauch direkter Demo-                 könnte zunächst eine Reform der Austrittsklausel an-
kratie und europapolitischer Fragen im sogenannten                 leiten, darüber hinaus aber auch eine anstehende,
postfaktischen, also von Fakten losgelösten bzw. von               tiefgreifende Reform der europäischen Institutionen
„fake news“ und „fake promises“ dominierten, zivilge-              und Verfahren.
sellschaftlichen Diskurs. Das europäische Recht kann

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ÖGfE Policy Brief 17’2018

                                        Lehren des Brexit für eine Reform von Art. 50 EUV
                                           Ungewiss ist, wie der am 29. 3. 2019 erfolgende                   in Großbritannien: Unter der Parole „taking back
                                        Austritt Großbritanniens aus der EU letztlich verlaufen              control“ wurden allerlei Unzufriedenheiten des bri-
                                        wird, v.a. mit oder ohne Austrittsabkommen, Über-                    tischen Wahlvolks mit dem Status Quo bedient und
                                        gangsphase und Folgeabkommen. Gewiss sind dage-                      die Vorstellungen und Versprechungen einer schö-
                                        gen bereits erste Lehren aus der Brexit-Erfahrung für                nen neuen Zukunft des Landes nach der propagier-
                                        die Handhabe der nicht ganz vor zehn Jahren über Art.                ten Wiedererlangung voller Souveränität waren ent-
                                        50 EUV erstmals eröffneten Austrittsmöglichkeit.                     sprechend diffus.

                                           Im rechtswissenschaftlichen wie im politikwissen-                        „Unter der Parole „taking back control“ wur-
                                        schaftlichen Schrifttum1 ist etwa die Ansicht verbrei-                    den allerlei Unzufriedenheiten des britischen
                                        tet, dass die Austrittsdynamik sowohl auf politischer                     Wahlvolks mit dem Status Quo bedient.“
                                        als auch auf konstitutioneller Ebene deutliche inte-
                                        grationsfördernde Effekte hatte. Abgebildet ist dies                    Mittlerweile zeigt sich, dass wohl zahlreiche Ver-
                                        etwa in der völlig geschlossenen Verhandlungsposi-                   sprechungen haltlos waren. Doch trotz der durch-
                                        tion der EU-27, in der in den meisten Mitgliedstaaten                sickernden Ernüchterung scheinen jene, die ein
                                        gestiegenen Zustimmung zur EU oder in der starken                    zweites Referendum bzw. eine neuerliche Volksab-
                                        Stellung der Kommission und des Unionsinteresses                     stimmung über das Verhandlungsergebnis fordern,
                                        im Austrittsverfahren.                                               weiterhin in der Minderheit zu bleiben.

                                        EU-Exit als Spektakel des Irrationalen                                   All dies, der gesamte Verlauf des britischen Aus-
                                                                                                             trittswunsches und seine Durchführung, lässt sich
                                            Eine weitere Lehre ist aber auch, dass der Aus-                  also nicht vollends rational erklären und entspre-
                                        trittsprozess merklich von irrationalen Elementen                    chend schwer mit rationalen Mitteln vorhersagen
                                        geprägt ist. Ausdruck dessen sind einerseits die                     oder steuern. Zusammenfassen lässt sich der Brexit
                                        sehr heterogenen und teils realitätsfern anmuten-                    als groß angelegtes Spektakel des Irrationalen un-
                                        den Ansichten innerhalb des Brexit-Lagers in Groß-                   ter dem Schlagwort Populismus, der geradezu ty-
                                        britannien, der daraus resultierende Streit zwischen                 pischerweise von der Ablehnung von Machteliten,
                                        Fundamentalisten und Realisten innerhalb der briti-                  Institutionen und Anti-Intellektualismus geprägt ist
                                        schen Regierung und eine entsprechend mühevoll                       – hier eben gerichtet gegen die EU und wofür sie
                                        festgelegte, sowie nach wie vor nur teilkonsistente                  steht. Eine EU-kritische Rhetorik und einen auf ei-
                                        Positionierung der Briten in den Verhandlungen.                      nen Austritt gerichteten Populismus gibt es auch in
                                                                                                             anderen Mitgliedstaaten. Zudem ist der Brexit, wenn
                                          Andererseits prägten das Irrationale oder, etwas                   wir uns heute in Europa, Nord- und Südamerika
                                        geschönter, ein markanter Utopismus bereits die                      oder Asien umblicken, auch keineswegs die skur-
                                        Voraustrittsdebatte und den Abstimmungsprozess                       rilste oder folgenschwerste Erscheinungsform des
                                                                                                             Populismus. Frankreichs Präsident Macron sprach
                                                                                                             dieses breitere Phänomen zuletzt zutreffend als (Eu-
                                        1) Vgl. etwa Hillion, Withdrawal under article 50 TEU: An in-        ropas) „Faszination für das Illiberale“2 an.
                                        tegration-friendly process, CML Rev. 2108 (vol. 55), 29, 29ff.;
                                        Umland, Why Brexit May Be Good for European Integration,
                                        Harvard Int. Rev. Online-Ausgabe v. 24. 6. 2016, am 15. 8. 2018
                                        abrufbar unter http://hir.harvard.edu/article/?a=13641; ähnlich      2) S. Discours du Président de la République au Parlement eu-
                                        de Witte, An Undivided Union? Differentiated Integration in Post-    ropéen, 17. 4. 2018, am 15. 8. 2018 abrufbar unter http://www.
                                        Brexit Times, CML Rev. 2018, 227, 229ff.; Schimmelfennig, Bre-       elysee.fr/declarations/article/discours-du-president-de-la-repu-
                                        xit: differentiated disintegration in the European Union, J of Eur   blique-au-parlement-europeen/: „[L’Europe] … où la fascination,
                                        Policy 2018 (vol. 25), 1154, 1154ff.                                 … illibérale grandit chaque jour”.

2                               Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) | Rotenhausgasse 6/8-9 | A-1090 Wien | europa@oegfe.at | oegfe.at | +43 1 533 4999
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       Antworten des Unionsrechts:                               illiberale Bewegungen nicht (wie vom ungarischen
       Reformbedarf des Art. 50 EUV                              Premierminister Orban 2014 vorgeschlagen)3 die illi-
                                                                 berale oder autoritäre Demokratie sein, sondern die
     Die Erkenntnisse, dass der Mensch als animal ra-            Autorität der Demokratie.4
 tionale bis auf weiteres für populistische Spektakel
 empfänglich ist und die bislang formierten EU-Aus-                      „Art. 50 EUV unterstreicht in grundsätzlich
 trittsbewegungen geradezu Lehrbuchbeispiele des                      richtiger und wichtiger Weise den Respekt
 Populismus sind, werfen ein etwas anderes Licht                      der Union vor dem demokratisch legitimierten
 als bislang auf Art. 50 EUV: Die Austrittsklausel ist                Willen ihrer Völker.“
 keineswegs nur ein vorbehaltlos zu begrüßender
 Imperativ in einer demokratiepolitisch reifen und auf           Art. 50 EUV unterstreicht in grundsätzlich richtiger
 dem Grundsatz der Demokratie fußenden Union.                    und wichtiger Weise den Respekt der Union vor
 Vielmehr hat Art. 50 EUV eine deutliche Schatten-               dem demokratisch legitimierten Willen ihrer Völker.
 und Schlagseite, als die Missbrauchsanfälligkeit der            Er stellt klar, dass die Integration sowohl gestoppt
 Bestimmung im politischen Prozess deutlich wird.                als auch umgekehrt werden kann und dass Integ-
 Die Bestimmung bildet ein Einfallstor für schlecht              ration keine Einbahnstraße, sondern im Prinzip leis-
 fundierte Entscheidungen ad hoc betreffend die Zu-              tungsorientiert ist. Ein mögliches Versagen des In-
 kunft der Integration.                                          tegrationsprozesses am Maßstab der einzelstaatlich
                                                                 gewünschten Ergebnisse oder ein dauerhaftes Aus-
   „Der Austritt wird damit nicht nur zum wirt-                  einanderklaffen der Vorstellungen über Wesen und
schaftlichen Problem, sondern zum Problem                        Ziele der Integration darf und soll zu einer zivilge-
für die Integration insgesamt.“                                  sellschaftlichen Austrittsdebatte führen. Das Prob-
                                                                 lem liegt nämlich nicht in der Integrationsdebatte als
     Der Austritt wird damit nicht nur zum wirtschaft-           solcher, sondern darin, wie sie geführt wird.
 lichen Problem, sondern zum Problem für die Inte-
 gration insgesamt, durch eine damit einhergehende                  Es kann nicht angehen, dass das Unionsrecht
 Beschädigung der diplomatischen und zivilgesell-                die Verantwortung für die Qualität der Integrati-
 schaftlichen Gesprächskultur sowie der histori-                 onsdebatte bislang vollständig den Mitgliedstaaten
 schen Funktionen und der Legitimität des Integrati-             selbst überlässt, ohne darauf mit Einfluss zu neh-
 onsprozesses. Welche Mittel kann die EU bzw. das                men: Demokratie ist nicht nur Recht, sondern auch
 Unionsrecht dem entgegensetzen? Wie können das                  Verantwortung. Diese Verantwortung unterwirft
 in der Austrittsklausel gelegene, populistische Miss-           das Unionsrecht auch in anderen Bereichen mit-
 brauchspotenzial gemildert und Austrittsdebatten                gliedstaatlicher Zuständigkeiten einer Grobkontrol-
 sowie ein allfälliger Austrittsprozess stärker rational         le (etwa mit dem Effektivitätsprinzip beim Unions-
 determiniert werden?                                            rechtsvollzug).

          Unionsrechtsbasierte
 Verfahrensanforderungen in Art. 50 EUV

     Keine Lösung liegt in der Beseitigung der Aus-              3) Vgl. Charim, “Orbáns Mogelpackung heißt illiberale Demo-
 trittsklausel als solcher: Das politische Signal, das           kratie”, Wiener Zeitung Online-Ausgabe v. 13. 4. 2018, zum 15.
                                                                 8. 2018 abrufbar unter https://www.wienerzeitung.at/meinun-
 mit einem solchen Schritt verbunden wäre, wäre
                                                                 gen/glossen/958667_Orbans-Mogelpackung-heisst-illiberale-
 katastrophal. Wie auch der zuvor angesprochene                  Demokratie.html.
 Präsident Macron hervorhob, muss die Antwort auf
                                                                 4) S. Discours du Président (Fn. 2): „Face à l’autoritarisme qui
                                                                 partout nous entoure, la réponse n’est pas la démocratie autori-
                                                                 taire mais l’autorité de la démocratie.”

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                                        „Anstatt Art. 50 EUV zurückzunehmen, soll-                       tenden Staat und der EU grundsätzlich erstrecken
                                      ten daher die Hürden für seine Aktivierung er-                     kann (z.B. Binnenmarkt, Zollpolitik, Bildung, Raum
                                      höht bzw. dort formulierten Qualitätsanforde-                      der Freiheit usw.), welche Rechte unter welchen Vo-
                                      rungen unterworfen werden.“                                        raussetzungen bestehen bleiben können (z.B. er-
                                                                                                         worbene Aufenthaltsrechte, finanzielle Ansprüche
                                             Anstatt Art. 50 EUV zurückzunehmen, sollten                 usw.) und welche Rechte zwingend wegfallen.
                                         daher die Hürden für seine Aktivierung erhöht bzw.
                                         dort formulierten Qualitätsanforderungen unterwor-                     „Klargestellt werden sollte […], auf welche
                                         fen werden. Zu denken ist v.a. an Mindestverfah-                     Politiken sich eine Kooperation zwischen dem
                                         rensanforderungen in Bezug auf das Zustandekom-                      austretenden Staat und der EU grundsätzlich
                                         men der Austrittsentscheidung, etwa betreffend                       erstrecken kann.“
                                         eine Bereitstellung neutraler Informationen im Vor-
                                         feld der Abstimmung (orientiert z.B. am Schweizer                   Ungeachtet dessen, dass für das Austritts- und
                                         Modell des sog. Abstimmungsbüchleins). Zu den-                  das Folgeabkommen ausreichend Regelungsflexi-
                                         ken wäre aber z.B. auch an unionsrechtlich fest-                bilität gewahrt bleiben muss, scheint es doch mög-
                                         gelegte Quoren einer Mindestbeteiligung an der                  lich, zumindest jene „roten Linien“, die die EU im
                                         Abstimmung oder der Zustimmung sowie etwa an                    Brexit-Prozess formuliert hat, auch primärrechtlich
                                         eine Ausdehnung des Teilnahmerechts auf im Mit-                 klarzustellen. Zu nennen sind etwa die vielpropa-
                                         gliedstaat ansässige EU-BürgerInnen (orientiert an              gierte Unteilbarkeit der Grundfreiheiten des Binnen-
                                         Art. 22 AEUV). Maßnahmen dieser Art versprechen                 markts bzw. der Grundsatz „kein Rosinenpicken“,
                                         eine Verbesserung der Gesamtqualität des Austritt-              die rechtlichen Grundvoraussetzungen einer Zollko-
                                         prozesses und eine Verringerung der Prävalenz des               operation, das Entsprechen von Rechten und (ins-
                                         irrationalen Abstimmungsverhaltens.                             besondere) finanziellen Pflichten oder etwa auch
                                                                                                         der für eine Kooperation geltende, zwingende ins-
                                            Eine entsprechende Reform des Art. 50 EUV liegt              titutionelle Rahmen (d.h. v.a. die Grundsätze einer
                                         umso näher, als die Norm ohnedies einer Überar-                 EuGH-Zuständigkeit in Bezug auf die Auslegung der
                                         beitung bedarf, um darin gelegene Unklarheiten zu               Abkommen sowie die Direktwirkung der darin ver-
                                         beseitigen, die im Zuge des Brexit offenbar wurden.             bürgten Rechte).
                                         Zu nennen sind etwa die (von der politischen Pra-
                                         xis wohl ganz einhellig angenommene, im Schrift-                   Das primärrechtliche Vorzeichnen der groben
                                         tum aber strittige) Möglichkeit einer Rücknahme der             Züge einer Kooperation würde von Anbeginn einer
                                         Austrittsmitteilung oder eine Kodifikation der schon            Austrittsdebatte an klarstellen, welche politischen
                                         jetzt geübten Grundsätze transparenter Verhand-                 Hoffnungen und Versprechungen im Zuge eines
                                         lungen und der Information und Konsultation der                 Austritts realistisch sind und welche nicht. Im Grun-
                                         Mitgliedstaaten im Verhandlungsprozess.                         de stünden Staaten damit drei Optionen offen: Die
                                                                                                         Vollmitgliedschaft in der EU, die Option eines fest
                                                     Klarstellung der                                    vorgezeichneten Assoziierungsstatus oder der voll-
                                         Differenzierungsoptionen nach Austritt                          ständige Austritt mit der Folge einer Rückstufung al-
                                                                                                         ler Beziehungen auf den allgemein für Drittstaaten
                                              Ein weiterer Steuerungsmechanismus für die                 geltenden Rahmen (sog. WTO-Status).
                                         Austrittsdebatte kann darin bestehen, die tendenzi-
                                         ell nur diffusen Vorstellungen vom durch bzw. nach                 Dieser Vorschlag liegt auf Linie jenes „associate
                                         Austritt Erreichbaren durch grobe Vorgaben der Dif-             status“, den der Verfassungsausschuss des Europä-
                                         ferenzierungsoptionen zu kanalisieren. Klargestellt             ischen Parlaments zuletzt ganz allgemein als Ersatz
                                         werden sollte mit anderen Worten, auf welche Po-                für den gegenwärtigen Differenzierungswildwuchs
                                         litiken sich eine Kooperation zwischen dem austre-              vorgeschlagen hat: „Das Europäische Parlament […]

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schlägt vor, dass das derzeitige Durcheinander bei              tun. Klar ist aber, dass die EU zur Überwindung der
der Differenzierung im Rahmen der nächsten Über-                Ursachen der aktuellen Polykrise eine ambitionierte
arbeitung der Verträge abgebaut wird, indem die                 institutionelle Reform braucht, wenn sie eine Zukunft
Praktiken der einzelnen Mitgliedstaaten gewährten               haben will. Nicht zuletzt war eine latente „Euroskle-
Nichtbeteiligungsklauseln, Beteiligungsmöglichkei-              rose“, also die Unfähigkeit der EU zu tiefgreifenden
ten und Ausnahmeregelungen im Primärrecht der                   Reformen, neben allen Irrationalitäten des Brexit ein
EU abgeschafft oder zumindest deutlich reduziert                von den Briten über viele Jahre zurecht beklagter
werden[. Stattdessen] empfiehlt [es], eine Partner-             Missstand.6
schaft zu konzipieren und einzurichten, um auf die-
se Weise einen Ring von Partnerländern um die EU                          Schlussbemerkungen und
aufzubauen, dem sich Staaten anschließen können,                               Empfehlungen
die der Union nicht beitreten können oder werden,
aber trotzdem eine enge Beziehung zu ihr wün-                       Der Brexit-Prozess liefert konkrete Erkenntnisse
schen; … dass diese Beziehung mit den jeweiligen                zur Funktionsweise und den Fehlstellungen des Art.
Rechten entsprechenden Pflichten […] einhergehen                50 EUV. In ihrer gegenwärtigen Form ist die Aus-
sollte;”.5                                                      trittsklausel ein Katalysator einer negativen Integra-
                                                                tionsdebatte und Türöffner für Anti-EU-Populismus.
         Weitere loyalitätsstärkende                            Es gilt daher, im Unionsrecht Instrumente zu entwi-
                Maßnahmen                                       ckeln, um 1) das Aufkommen und die Ausbreitung
                                                                von Austrittsbewegungen und die Aktivierung der
   Lediglich kurz erwähnt sei hier noch, dass eine              Austrittsklausel zu begrenzen und 2), wenn solche
kommende Primärrechtsreform in Sachen Stärkung                  Bewegungen auftreten, die Debatte zu lenken, um
des Integrationsprozesses, seiner Legitimität und               sie und allfällige Referenden informiert und rational
der Loyalität der BürgerInnen und Regierungen zur               zu halten. Dies bedeutet auch, dass sich solche Ins-
EU nicht bei Art. 50 EUV Halt machen muss. Die                  trumente stärker auf die BürgerInnen bzw. die Qua-
Vorschläge liegen auch bereits auf dem Tisch. Der               lität der zivilgesellschaftlichen Debatte über Europa
eben genannte Verfassungsausschuss des Euro-                    als auf Regierungs- oder Parteiakteure konzentrie-
päischen Parlaments etwa erwägt gesamteuropäi-                  ren müssen.
sche Parteilisten, die Schaffung eines Initiativrechts
zur EU-Gesetzgebung für europäische und nationa-                   Vor diesem Hintergrund werden hier zusammen-
le ParlamentarierInnen, EU-weite Referenden für Pri-            fassend vier Empfehlungen für konkrete politische
märrechtsänderungen oder eine Öffnung der Zusam-                Maßnahmen formuliert:
mensetzung des Rates für nationale Abgeordnete.
                                                                   1. Art. 50 EUV sollte reformiert werden, um be-
   Maßnahmen dieser Art würden dazu beitragen,                  stehende Unklarheiten zum Austrittsverfahren zu
eine grenzüberschreitende politische Debatte über               beseitigen. Abgebildet werden sollte etwa die ge-
europäische Fragen zu stimulieren und den poten-                lebte Praxis in Bezug auf die Transparenz der Ver-
ziellen Missbrauch europäischer Themen auf der                  handlungen, die Information und Konsultation der
nationalen politischen Ebene entsprechend zu er-                Mitgliedstaaten oder die Möglichkeit einer Rücknah-
schweren. Im gegenwärtigen politischen Klima sind               me der Austrittserklärung.
sie auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht oppor-

5) EP Dok. Nr. 2014/2248(INI), Rz. 10 und 11: http://           6) Vgl. Krumrey, Eurosklerose 2.0 - Wir alle sind Brexit !, Beitrag
www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//           für die Friedrich-Ebert-Stiftung, zum 15. 8. 2018 abrufbar unter
TEXT+REPORT+A8-2016-0390+0+DOC+XML+V0//DE.                      https://www.fes.de/e/eurosklerose-20-wir-alle-sind-brexit/.

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                                             2. Art. 50 EUV sollte neben der Bezugnahme auf                 - die Zusammensetzung des Rates für nationale
                                          die „verfassungsrechtlichen Vorschriften“ des aus-              ParlamentarierInnen zu öffnen;
                                          tretenden Staats selbst auch unionsrechtliche Min-
                                          destverfahrensanforderungen für die Gültigkeit einer              - europaweite Parteienlisten für die Wahlen zum
                                          Austrittsentscheidung aufstellen. Solche Anforde-               Europäischen Parlament zuzulassen;
                                          rungen könnten von der Zurverfügungstellung neut-
                                          raler Informationen vor einem Referendum bis hin zu               - das Wahlrecht zum Europäischen Parlament zu
                                          Quora für eine Mindestbeteiligung oder die Zustim-              harmonisieren;
                                          mung oder einer Ausweitung des Abstimmungs-
                                          rechts auf ansässige EU-BürgerInnen reichen.                       - EU-weite Referenden mit harmonisiertem Ver-
                                                                                                          fahrensrecht für Änderungen des Primärrechts vor-
                                               3. Die (von den Mitgliedstaaten und) Institutionen         zusehen.
                                          mit dem Ziel einer Stärkung der Beteiligung der Zivil-
                                          gesellschaft erarbeiteten Vorschläge zur Reform der                4. Ein neuer Art. 50a EUV sollte die Grundzüge
                                          Institutionen und Verfahren sollten ernst genommen              der einem austretenden Staat nach Austritt offen-
                                          werden: Die Legitimitätskrise der EU kann nur über-             stehenden Optionen vorgeben. Dies würde insbe-
                                          wunden werden, wenn die Zivilgesellschaft effektive             sondere auf eine Präzisierung und Konkretisierung
                                          Anreize zur Beteiligung an einer europäischen po-               der im Zuge des Brexit formulierten „roten Linien“
                                          litischen Debatte erhält. Zu empfehlen ist insoweit,            und der grundlegenden unionsrechtlichen Anforde-
                                                                                                          rungen für das Austritts- und das Folgeabkommen
                                             - dem Europäischen Parlament und den natio-                  hinauslaufen. Klargestellt werden sollte dabei auch,
                                          nalen Parlamenten das Recht einzuräumen EU-Ge-                  dass Staaten neben Vollmitgliedschaft, Vollaustritt
                                          setzgebung anzustoßen,                                          und dem in Art. 50a EUV grundgelegten Assoziie-
                                                                                                          rungsverhältnis keine weitere Option offensteht.

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ÖGfE Policy Brief 17’2018
Über den Autor
Univ.-Prof. Mag. Dr. Thomas Jaeger, LL.M, ist Professor für Europarecht an der Universität Wien.

Kontakt: thomas.jaeger@univie.ac.at

Über die ÖGfE
Die Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) ist ein parteipolitisch unabhän-
giger Verein auf sozialpartnerschaftlicher Basis. Sie informiert über die europäische In-
tegration und steht für einen offenen Dialog über aktuelle europapolitische Fragen und
deren Relevanz für Österreich. Sie verfügt über langjährige Erfahrung im Bezug auf die
Förderung einer europäischen Debatte und agiert als Katalysator zur Verbreitung von eu-
ropapolitischen Informationen.

ISSN 2305-2635                                                          Impressum

Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck                   Österreichische Gesellschaft für Europapolitik
kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE                      Rotenhausgasse 6/8-9
oder jenen, der Organisation, für die der Autor arbeitet,               A-1090 Wien, Österreich
überein.
                                                                        Generalsekretär: Mag. Paul Schmidt
Schlagworte                                                             Verantwortlich: Christoph Breinschmid, M.A.
Brexit, Art. 50 EUV, Austrittsverhandlungen, Polykrise
                                                                        Tel.: +43 1 533 4999
Zitation                                                                Fax: +43 1 533 4999 – 40
Jaeger, T. (2018). Lehren des Brexit für eine Reform von                E-Mail: policybriefs@oegfe.at
Art. 50 EUV. Wien. ÖGfE Policy Brief, 17’2018                           Web: http://oegfe.at/policybriefs

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