FORSCHUNGSAGENDA POLARREGIONEN IM WANDEL - Konzeptpapier des Mare:N-Begleitkreises
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KÜSTE POLARREGIONEN IM WANDEL INHALT 1 EINLEITUNG 4 2 FORSCHUNGSTHEMEN 6 2.1 Die polare Verstärkung des Klimawandels 6 2.2 Die Eisschilde: Kipppunkte für den Meeresspiegel 12 2.3 Das Südpolarmeer als Speicher für Wärme und Kohlenstoff 16 2.4 Die Zukunft von Permafrost-Ökosystemen 20 2.5 Ökosysteme in den Polarmeeren unter Klimastress 24 2.6 Schutzkonzepte für die Antarktis 28 2.7 Wissenschaft für nachhaltige Entwicklung in der Arktis 32 2.8 Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf die Ökosysteme in der Arktis 38 3 QUERSCHNITTSTHEMEN 44 3.1 Modellentwicklung 44 3.2 Zukunftsprojektionen und Vorhersagen 50 4 FORSCHUNGSUMFELD 54 4.1 Infrastruktur 54 4.2 Instrumente und Beobachtungssysteme 62 4.3 Nachwuchsförderung 66 4.4 Internationale Organisation und Zusammenarbeit 68 4.5 Wissenstransfer und Kommunikation 70 BETEILIGTE AUTORINNEN UND AUTOREN 74 QUELLEN UND LITERATUR 76 3
EINLEITUNG 1 Einleitung Der Klimawandel macht auch vor den Polargebieten nicht dazugehörige Umweltschutzprotokoll, das 1998 in Kraft halt. Im Gegenteil: In den letzten Jahrzehnten hat sich die trat, schützt zudem die antarktische Umwelt und verbietet Arktis zwei- bis dreimal so stark erwärmt wie die restliche den Abbau von Rohstoffen, um die Antarktis als ein dem Welt, mit möglicherweise größeren Auswirkungen auf Frieden und der Wissenschaft gewidmetes Naturreservat das Klima in Europa, als man noch vor einigen Jahren zu bewahren. Die einzigartigen und sensiblen Ökosysteme angenommen hat. Sichtbare Anzeichen des Klimawandels konnten somit bis jetzt weitgehend erhalten werden, obwohl sind zum Beispiel der starke Rückgang des Meereises in sie in jüngster Zeit auch anthropogenen Veränderungen der Arktis und das Abtauen der Permafrostböden. Obwohl durch Umweltverschmutzung und Tourismus ausgesetzt die Antarktis bis jetzt am wenigsten vom Menschen be- sind. Für die Arktis existiert ein vergleichbares inter einflusst wurde, wurde durch das unerwartet schnelle nationales Übereinkommen nicht; es gelten die nationalen Abschmelzen von Teilen des antarktischen Eisschilds in Regeln in den jeweiligen Hoheitsgebieten. Der Arktische Rat den vergangenen Jahrzehnten möglicherweise ein Kipp- ist das führende zwischenstaatliche Forum für die Arktis. punkt überschritten, und die Obergrenze des globalen Er fördert die Zusammenarbeit zwischen den Anrainer- Meeresspiegelanstiegs bis zum Jahr 2100 musste im Ver- staaten, der indigenen Bevölkerung und anderen Bewohnern gleich zu früheren IPCC-Berichten nach oben verschoben und Bewohnerinnen der Arktis, insbesondere im Hinblick werden. Der Klimawandel beeinflusst immer stärker auf die nachhaltige Entwicklung und den Umweltschutz die Lebensbedingungen in den Polargebieten – von den in der Region. Deutschland hat seit der Gründung des Kleinstlebewesen bis hin zu Pinguinen, Walen und Eis- Rats im Jahr 1996 einen Beobachterstatus und bringt bären. Der Klimastress auf die Ökosysteme wird noch seine wissenschaftliche Expertise in den Rat aktiv ein. durch die zunehmende Umweltverschmutzung verstärkt. Beispiele für die Arktis sind erhöhter Schiffsverkehr, Die deutsche Polarforschung ist international hervorragend intensivierte Fischerei sowie verstärkter Abbau und vernetzt, was sich auch an den zahlreichen deutschen Transport von Rohstoffen. Dieser tiefgreifende Wandel Delegierten im Scientific Committee on Antarctic Research stellt besonders die etwa vier Millionen dauerhaft in (SCAR), im International Arctic Science Committee (IASC) der Arktis lebenden Menschen (davon etwa zehn Prozent sowie in Gremien der Weltmeteorologischen Organisation Angehörige indigener Völker) vor große Herausforderungen. (WMO) mit polarem Fokus zeigt. SCAR entwickelt und koordiniert Wissenschaftsprogramme in der Antarktis und Eine leistungsstarke, international vernetzte deutsche dem Südpolarmeer und berät als regierungsunabhängige Polarforschung ist eine unabdingbare Voraussetzung, um Organisation die Antarktis-Vertragsstaaten und andere die dem Wandel in den Polarregionen zugrunde liegenden Organisationen, wie den Weltklimarat (IPCC). Die Haupt- Prozesse besser zu verstehen und die lokalen, regionalen aufgaben des IASC sind die Förderung von internationaler und globalen Konsequenzen zu evaluieren. Ein wesentlicher Zusammenarbeit in der Arktisforschung mit dem Ziel Aspekt dabei ist die Verbesserung der polaren Kompo- eines größeren Verständnisses der Arktis und ihrer Rolle nenten von Klima- und Erdsystemmodellen, um zeitnah im Erdsystem. Die WMO spielt insbesondere bei der zu präziseren Projektionen bis zum Ende des 21. Jahr- Koordination von Forschungsaktivitäten im Bereich der hunderts und darüber hinaus zu gelangen. Dieses Wissen Modellentwicklung, Vorhersagen und Klimaprojektionen muss genutzt und kommuniziert werden, um zusammen eine zentrale Rolle. mit Akteuren und Akteurinnen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Handlungsoptionen für eine nachhaltige Entwicklung der Polargebiete zu erarbeiten und fakten- Agendaprozess basierte Entscheidungsfindungen zu unterstützen. In der Das Forschungsprogramm der Bundesregierung „Mare:N – Arktisforschung sind die Zusammenarbeit und der Dialog Küsten-, Meeres- und Polarforschung für Nachhaltigkeit“ mit der lokalen und indigenen Bevölkerung von essen- zielt auf eine enge Verzahnung unterschiedlicher Förder- zieller Bedeutung. Gleichzeitig muss das Bewusstsein instrumente und eine Beteiligung aus Wissenschaft, Gesell- in unserer Gesellschaft gestärkt werden, um die Einzig- schaft, Politik und Wirtschaft ab. Die entstehenden Synergie- artigkeit und Schönheit der Polarregionen für zukünftige effekte werden genutzt, um den Erfordernissen einer Generationen zu erhalten. zukunftsweisenden Küsten-, Meeres- und Polarforschung gerecht zu werden. Die Forschungsaktivitäten innerhalb von Die Antarktis ist seit 1961 durch den Antarktisvertrag Mare:N sind eingebunden in die internationalen Pro- geschützt. Militärische Aktivitäten sowie die Beseitigung gramme der UN und der EU. Sie tragen zur Erarbeitung und Einfuhr radioaktiver Abfälle sind verboten. Das internationaler Strategien für den Schutz und die 4
KÜSTE POLARREGIONEN IM WANDEL nachhaltige Entwicklung der Küsten-, Meeres- und Polar- Umweltwissenschaften MARUM, Universität Bremen, gebiete bei, die die Umsetzung sowohl der europäischen Vorsitzende NK SCAR/IASC) und Prof. Dr. Thomas Richtlinien als auch der „Agenda 2030 für nachhaltige Jung (Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Entwicklung“ der UN unterstützen. Das Forschungs- Polar- und Meeresforschung – AWI) die hier vorgelegte programm Mare:N ist als offener, lernender Handlungs- Forschungsagenda. Der wissenschaftliche Begleitkreis, rahmen angelegt. Zukunftsrelevante Forschungsthemen bestehend aus Expertinnen und Experten der Polar- werden gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus forschung sowie der Sozial- und Politikwissenschaften, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft in zielgerichteten entwickelte unter Mitarbeit von über 80 weiteren Exper- Agendaprozessen entwickelt. Der Agendaprozess „Polar- tinnen und Experten das vorliegende Konzeptpapier, das regionen im Wandel“ begann mit der Konsultation von den künftigen Forschungsbedarf in acht gesellschaftlich zwei Expertenkreisen, zum einen des Arktisdialogs und relevante Forschungsthemen gliedert, ergänzt durch zum anderen des deutschen Nationalkomitees der Polar- zwei Querschnittsthemen und das benötigte Forschungs- forschung (SCAR/IASC). Die Konsultationsprozesse in den umfeld (siehe Abbildung). Das Konzeptpapier des Mare:N- Fachgremien führten zur ersten disziplinübergreifenden Begleitkreises „Polarregionen im Wandel“ ermöglicht es der Themenfindung sowie zur Berufung der Vorsitzenden Bundesregierung, die von der Wissenschaft formulierten und Mitglieder des Begleitkreises durch das BMBF. Für die Forschungsbedarfe für die anstehenden politischen Pro- Umsetzung des Mare:N-Agendaprozesses „Polarregionen zesse im nationalen, europäischen und internationalen im Wandel“ wurden 24 Expertinnen und Experten in den Rahmen umzusetzen. Das vorliegende Konzeptpapier des wissenschaftlichen Begleitkreis berufen. Der Begleitkreis Mare:N-Begleitkreises wird im Mai 2021 dem BMBF entwickelte unter der Leitung von Prof. Dr. Monika Rhein übergeben und bildet die Grundlage für zukünftige nationale (Institut für Umweltphysik IUP und Zentrum für Marine Förderbekanntmachungen. Die polare Verstärkung des Klimawandels Modellentwicklung 2.1 3.1 Die Eisschilde: Kipppunkte für den Meeresspiegel Zukunftsprojektionen und Vorhersagen 2.2 3.2 Das Südpolarmeer als Speicher für Wärme und Kohlenstoff 3 Quer- schnitts- themen Infrastruktur 2.3 4.1 Die Zukunft von Permafrost-Ökosystemen Instrumente und Beobachtungssysteme 2.4 4.2 Ökosysteme in den Polarmeeren 2 Forschungs- themen 4 Forschungs- umfeld unter Klimastress Nachwuchsförderung 2.5 4.3 Internationale Organisation Schutzkonzepte für die Antarktis und Zusammenarbeit 2.6 4.4 Wissenschaft für nachhaltige Entwicklung in der Arktis Wissenstransfer und Kommunikation 2.7 4.5 2.8 Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf die Ökosysteme in der Arktis 5
FORSCHUNGSTHEMEN Das deutsche Forschungsflugzeug Polar 6 hebt an der britischen Antarktis-Forschungsstation Rothera zu einem Messflug ab 2 Forschungsthemen 2.1 DIE POLARE VERSTÄRKUNG DES KLIMAWANDELS Leitfragen: Gesellschaftliche Relevanz Als Folge der durch den CO2-Anstieg verursachten globalen • Was sind die für die polare Verstärkung wesent Erwärmung werden derzeit in der Arktis dramatische Klima lichen Prozesse (lokal ↔ ferngetrieben, dynamisch änderungen beobachtet: Die bodennahe Lufttemperatur ↔ thermodynamisch, Atmosphäre ↔ Ozean, hat sich in den vergangenen 30 Jahren um 1,4 °C erhöht. Meereis und Land, Arktis ↔ Antarktis)? Damit wurde die globale Erwärmung in der Arktis in • Wie gut können Wettervorhersage-, Klima- und diesem Zeitraum um einen Faktor von 2,3 verstärkt. Die Erdsystemmodelle die in den Polarregionen sommerliche Meereisbedeckung des Arktischen Ozeans zentralen Prozesse und Phänomene abbilden? ist zwischen 1970 und 2020 um nahezu die Hälfte zurück- • Welche Entwicklungspfade sind für die polare gegangen. Der Eisschild Grönlands schmilzt drastisch ab Verstärkung im 21. Jahrhundert und darüber und forciert somit einen weiteren Anstieg des Meeres- hinaus möglich? spiegels. • Welche Auswirkungen hat der polare Klimawandel auf Klimavariabilität und Extremereignisse in den In der Antarktis wird bisher eine verstärkte Erwärmung Polarregionen und in mittleren Breiten – heute nur für die Antarktische Halbinsel beobachtet. Prinzipiell und in der Zukunft? wirken im polaren Südozean ähnliche Verstärkungs • Was können wir aus der Klimavariabilität heute und mechanismen wie in der Arktis. Man geht heute aber in der Vergangenheit über aktuelle und künftige davon aus, dass sich die Verstärkung klimarelevanter Entwicklungen in den Polarregionen lernen? Prozesse in der Antarktis aufgrund der Wärmeaufnahme des Ozeans erst zeitlich verzögert als Erwärmung der unteren Luftschichten manifestieren wird. Dieser Tem peraturanstieg des Ozeans zusammen mit möglichen Umstellungen der Ozeanzirkulation kann dazu führen, 6
KÜSTE POLARREGIONEN IM WANDEL dass sich das Wasser unterhalb der Eisschelfe stark Als wesentliche lokale Treiber der arktischen Verstärkung erwärmt und somit zu einem deutlichen Anstieg des sind der Boden-Albedo-Effekt, die vertikale Temperatur- Meeresspiegels beiträgt. Gradienten-Rückkopplung, die Wasserdampf- und Aerosol- Wolken-Wechselwirkungen und der Planck-Effekt bekannt. Die derzeit beobachteten Klimaänderungen in den Polar- Die relative Stärke dieser Prozesse, ihre gegenseitigen regionen zeigen schon jetzt umfassende und gravierende Wechselwirkungen sowie ihre möglichen Änderungen in Auswirkungen auf Ökosysteme und die Lebensweise der einer zukünftig wärmeren Welt sind bisher noch nicht dort lebenden Bevölkerung. Aufgrund der polaren Klima- umfassend evaluiert. Wichtige, wenn auch nicht voll- änderungen ergeben sich zudem neue Möglichkeiten für ständige Beobachtungen zur Erforschung dieser lokalen die wirtschaftliche Nutzung der Polarregionen (beispiels- Treiber sind während der MOSAiC-Expedition und im weise für die Schifffahrt und den Tourismus) und damit Rahmen des (AC)³-Projekts zur arktischen Verstärkung einhergehende Risiken (zum Beispiel Ölkatastrophen). gewonnen worden. So ist zwischen 2013 und 2019 die Arktis-Schifffahrt um 75 Prozent gestiegen. Entlang der Nordostpassage wird An den Rändern des Arktischen Ozeans wird ein erheblicher zwischen 2020 und 2030 ein erheblicher Anstieg der Teil des Meereisrückgangs der sogenannten Atlantifizierung Schifffahrt durch die Förderung von Ressourcen erwartet. zugeschrieben, wobei aufgrund der verringerten ozeanischen Aus diesem Grund wollen die fünf arktischen Anrainer- Schichtung vermehrt Wärme durch tiefreichende ozeanische staaten die Umweltauswirkungen der Schifffahrt auf die Vermischung im Winter an die Meeresoberfläche trans- empfindlichen Ökosysteme des Nordens minimieren und portiert wird. Gleichzeitig verringert in den eurasischen gleichzeitig die Sicherheit der Schifffahrtsaktivitäten Schelfmeeren, die besonders hohe Eisbildungsraten auf- gewährleisten (siehe auch Kapitel 2.8). weisen, die erhöhte sommerliche Speicherung von Wärme und ihre Abgabe im Winter das Meereiswachstum. Die Es ist davon auszugehen, dass der Klimawandel in den Sensitivitäten dieser ozeanischen Prozesse sind mangels Polarregionen über sogenannte atmosphärische und kritischer Messdaten im Winter kaum erforscht und in ozeanische Telekonnektionen das Wetter und Klima sowie Klimamodellen unzureichend aufgelöst. damit einhergehende Extremereignisse wie beispiels- weise besonders warme oder kalte Winter oder Hitze Es wird zunehmend wahrscheinlicher, dass die arktische und Trockenperioden im Sommer in Deutschland, Europa Verstärkung auch durch Änderungen in niederen Breiten und anderen Teilen der Welt beeinflusst. Auch aus diesem angetrieben wird. Für die Atmosphäre spielen hierbei Grund stellen die Polarregionen einen zentralen Schwer- Einbrüche relativ warmer und feuchter Luftmassen aus punkt der globalen Klimaforschung von herausragender den mittleren Breiten in die zentrale Arktis eine wichtige gesellschaftlicher Relevanz dar. Rolle. Das Verständnis der dazugehörigen Transformations prozesse in den Luftmassen während ihres Transports Zuverlässige Vorhersagen und Projektion auf Zeitskalen rückt zunehmend in das Zentrum der Forschungsaktivitäten. von Tagen bis hin zu Jahrhunderten mit Wetter-, Klima- und Erdsystemmodellen werden dringend benötigt, Die möglichen atmosphärischen Fernwirkungen der ark- um wichtige gesellschaftliche Entscheidungsprozesse tischen Verstärkung auf das Wetter und Klima in mittleren evidenzbasiert zu unterstützen. Entscheidend für die Breiten werden in der Wissenschaft sehr kontrovers Verlässlichkeit von Projektionen der zukünftigen Ent diskutiert (SROCC). Die Beobachtungen zeigen hohe wicklung des polaren Klimas ist eine realitätsnahe Korrelationen; ob dies aber auch Kausalität bedeutet, ist quantitative Abbildung der relevanten Prozesse der derzeit ungeklärt. Noch unsicherer sind Schlussfolgerungen polaren Verstärkung in Modellen, die eine wesentliche bezüglich der damit verbundenen Verstärkung der Klima- Basis für die Entwicklung wirksamer und nachhaltiger variabilität und vermehrt auftretender Extremwetter- Anpassungs- und Handlungsstrategien zur zukünftigen ereignisse in mittleren Breiten. Modell-Studien zeigen Entwicklung von Ökonomie und Gesellschaft bilden. deutlich schwächere atmosphärische Telekonnektionen, deuten aber ebenfalls auf einen Einfluss der Arktis auf den Jetstream in mittleren Breiten hin (eher im Sinne Stand der Forschung einer Südwärts-Verschiebung als einer Verstärkung Arktis des Mäandrierens). Es ist nicht auszuschließen, dass Die Ursachen und Mechanismen der rasanten Klima existierende Modelle die tatsächlichen Telekonnektionen änderungen in der Arktis sind nur teilweise geklärt. unterschätzen. Eine mögliche Ursache könnten zu schwache Somit sind auch Projektionen zukünftiger Entwicklungen Rückkopplungen der Stürme auf den Jetstream (soge- mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. nannte eddy feedbacks) sein. 7
FORSCHUNGSTHEMEN Auch die Zunahme des ozeanischen Wärmetransports in Die beobachteten Änderungen der Meereisausdehnung die Arktis ist Gegenstand der aktuellen Forschung. Lang- sind durchaus beträchtlich – aber eher von regionaler zeitbeobachtungen ergeben, dass sich die Temperatur Bedeutung (zum Beispiel entlang der Antarktischen der in den Arktischen Ozean einströmenden atlantischen Halbinsel). In diesem Zusammenhang spielt auch das Wassermassen in den vergangenen Jahrzenten um unge- episodische Auftreten der Weddell-Polynja eine Rolle. fähr 1 °C erhöht hat. Diese Erwärmung liegt deutlich über Weiterhin deuten Satellitendaten der Meereisausdehnung dem globalen Temperaturanstieg in den oberflächennahen auf eine erhebliche Zunahme der zwischenjährlichen Ozeanen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere Variabilität der Meereisausdehnung in den vergangenen unklar, inwieweit die Erwärmung des tieferen Arktischen Jahren hin. In der Forschung wird das als Anzeichen für Ozeans durch Änderungen im Nordatlantik (Atlantische eine imminente umgreifende Veränderung betrachtet. Meridionale Umwältzzirkulation) im Vergleich zu solchen im Europäischen Nordmeer bedingt ist. Arktis und Antarktis Für beide Polarregionen weisen Wetter- und Klima Insgesamt hat sich die Forschung bisher hauptsächlich auf vorhersagen teilweise signifikante Unsicherheiten auf die Änderungen des mittleren Zustands des Arktischen (zum Beispiel das Antarktische Meereis-Paradox). Die Klimasystems fokussiert. Es wird aber zunehmend klarer, realistische Darstellung der Boden-Albedo, der Energie-, dass sich Klimavariabilität und Extremereignisse in einer Impuls- und Feuchteflüsse, der Ozeanwirbel, der Grenz- wärmeren Arktis erheblich verändern werden. Diese schicht-Entwicklung sowie des Lebenszyklus von Misch- Änderungen sind weitestgehend unerforscht und stellen phasenwolken und ihrer Kopplung an die Atmosphären- eine wesentliche Wissenslücke dar. dynamik stellen beispielhaft aktuelle Herausforderungen für die Modellierung dar. Außerdem gibt es wesentliche Antarktis Lücken bei der adäquaten Berücksichtigung der dynami- In der Antarktis wurde bisher noch keine großflächige schen und thermodynamischen Wechselwirkungsprozesse Verstärkung der bodennahen Lufttemperaturen beobachtet, zwischen Ozean, Meereis, Landeis und Atmosphäre. die mit derjenigen in der Arktis vergleichbar ist. Die Verbesserungspotenzial zeichnet sich dabei insbesondere bisherige Verstärkung in der Antarktis ist eher regional durch besseres Prozessverständnis sowie die adäquate begrenzt und hauptsächlich dynamischer Natur, das heißt, Darstellung zentraler Prozesse in Modellen ab. sie ist auf eine Änderung der atmosphärischen Zirkulation zurückzuführen. Man geht heute davon aus, dass sich Klima-Archive aus beiden Polargebieten zeigen, dass schnelle die Verstärkung in der Antarktis erst deutlich später als Klimaänderungen in polaren Breiten mit ausgeprägten in der Arktis zeigen wird (wie stark und wann genau ist Wechseln in Temperatur und Niederschlag auf Zeitskalen bisher noch nicht präzise quantifiziert). Die Aufnahme von Jahren, Dekaden und Jahrhunderten nicht ungewöhnlich der zusätzlichen „anthropogenen Wärme“ durch den sind. Ein prominentes Beispiel ist das letzte warmzeitliche Südozean spielt dabei eine entscheidende Rolle. In der Maximum vor circa 125 000 Jahren, als die Temperatur in Tat wurden in den vergangenen Jahrzehnten deutliche hohen Breiten deutlich über der heutigen lag. Zu dieser Zeit Erwärmungstrends in den tieferen Wassermassen des erreichten die atmosphärischen Treibhausgaskonzentrationen Südozeans beobachtet. Diese übertreffen den globalen typische interglaziale Höchstwerte, die für CO2 deutlich Erwärmungstrend im tiefen Ozean um das Fünffache. (circa 25 Prozent) unter der heutigen Konzentration von Weiterhin wird eine Abnahme und Südwärts-Verlagerung 415 Parts per Million lagen. Der damalige signifikante Anstieg der großräumigen Westwindsysteme über dem Antarktischen der atmosphärischen CO2-Konzentration wird unter anderem Zirkumpolarstrom festgestellt. Insgesamt mehren sich in mit einem Rückzug des Meereises erklärt. Im Pliozän vor den letzten Jahren die Hinweise, dass das Meereis-Ozean- drei bis fünf Millionen Jahren war es mehrere Grad wärmer Atmosphäre-System in der für die Eisbildung und die als heute, mit einer ausgeprägten polaren Verstärkung. Dies Stabilität der Schelfeise so kritischen Region der Kon- ist somit vergleichbar mit Klimaszenarien für die nächsten tinentalschelfe auf überregionale atmosphärische und hundert Jahre. Noch wärmer war es während des mittleren ozeanische Antriebe reagiert (Forschungsthema 2). Miozäns vor circa 15 Millionen Jahren. Auffällig sind hierbei die ausgeprägte polare Verstärkung und die Sensitivität Die Meereisbedeckung im Südozean, der den antarktischen gegenüber externen Störungen. Diese Warmzeiten sind aller- Kontinent umgibt, hat sich in den vergangenen vier dings noch unzureichend dokumentiert und in ihren Ursachen Dekaden kaum verändert. Im starken Gegensatz dazu und Rückkopplungen in hohen Breiten nicht verstanden. simulieren Klimamodelle im gleichen Zeitraum einen Ihre Rekonstruktion und modellgestützte Interpretation signifikanten Rückgang (SROCC). In diesem Zusammen- liefert gleichwohl einen wichtigen Beitrag, um die natür- hang spricht man von dem Antarktischen Meereis-Paradox. liche Klimadynamik in ihrer Gesamtheit zu verstehen. 8
KÜSTE POLARREGIONEN IM WANDEL Forschungsbedarf Durchführung von Beobachtungen für Prozessverständnis, Quantifizierung der Treiber für die polare Verstärkung Dokumentation langzeitlicher und regionaler Änderungen Es besteht dringender Forschungsbedarf bei der Quanti- Für geeignete Vergleiche der Modellergebnisse mit der fizierung lokaler und ferngetriebener Verstärkungseffekte Realität sind kombinierte Messaktivitäten mit gekoppelter des gekoppelten Atmosphäre-Ozean-Eis-Land-Systems Nutzung von Daten aus dezidierten Messkampagnen in den Polarregionen. Dazu gehören insbesondere die (Prozessverständnis), bodengebundene Langzeitmessungen physikalischen und auch (biogeo)chemischen Prozesse, (zur Verfolgung der zeitlichen Entwicklung und der welche die Wärme-, Impuls-, Feuchte- und Stoff-Flüsse an saisonalen Abhängigkeit der polaren Verstärkung) sowie den Grenzflächen zwischen Atmosphäre und Oberfläche Satellitendaten (regionale Abdeckung) erforderlich. Hier- bestimmen. Das schließt auch horizontale Transporte in bei ist es notwendig, die große Bandbreite räumlicher und Atmosphäre und Ozean ein. Tiefe Grenzschichtwolken zeitlicher Skalen abzudecken und heterogene Datensätze sind ebenfalls als ein wesentlicher Faktor identifiziert, ins- bestmöglich zu kombinieren. Ganzjährige Messungen besondere deren regionale Wirkung auf das Strahlungsfeld vor Ort sind nötig, um den polaren Klimawandel zu doku- über intensiv reflektierenden Eis- und Schneeflächen und mentieren und die Prozesse im Jahresverlauf zu beobachten, unter Temperaturinversionen in verschiedenen Jahres- aber auch um den besonderen Herausforderungen der zeiten. Der Einfluss hoher Eiswolken auf den bodennahen Satellitenfernerkundung in den Polarregionen zu begegnen Strahlungsenergiehaushalt in der Arktis muss erforscht sowie Fernerkundungsalgorithmen zu evaluieren und werden. Die Rolle von Aerosolpartikeln in einer veränderten weiterzuentwickeln. Arktis (mehr anthropogene Quellen durch die zunehmende wirtschaftliche Nutzung der Arktis, mehr marine Aerosol Evaluation von Modellen quellen durch den Rückgang der Meereisbedeckung) sowie Wettervorhersage-, Klima- und Erdsystemmodelle müssen deren Wechselwirkungen mit Wolken- und atmosphären- für die Polarregionen systematisch mit kontinuierlichen chemischen Prozessen muss geklärt werden. Messungen von Bodenstationen (autonom und bemannt), Radiosonden, Satelliten und anderen Komponenten des Bestimmung der Energiebilanz des Meereises Beobachtungssystems evaluiert werden. Besonderes Um die Rolle der verschiedenen Mechanismen für Augenmerk liegt hierbei auf kleinräumigen Prozessen, Bildung und Abschmelzen von Meereis quantifizieren die für zuverlässige Vorhersagen und Klimaprojektionen zu können, müssen die einzelnen Beiträge zur Energie realitätsnäher dargestellt werden müssen. Die vielfältigen bilanz bestimmt werden. Dazu müssen langjährige Wechselwirkungen der Atmosphäre mit Meereis, Ozean Messungen der Grenzflüsse von Energie und Impuls und Land müssen untersucht und realistisch in Modellen durchgeführt und Fortschritte in der Modellierung dargestellt werden. Dazu zählen beispielsweise verbesserte der kleinskaligen Dynamik des gekoppelten Systems Darstellung von Grenzschichtprozessen an den Grenz- (atmosphärische Grenzschicht, Meereis und Schnee- flächen zwischen Atmosphäre, Ozean und Meereis aber auflage sowie ozeanische Deckschicht und Schicht des auch zwischen Schelfeisen in dem Ozean in Klima- und warmen, atlantischen Wassers unterhalb der Deckschicht) Erdsystemmodellen. vorgenommen werden. Besonderes Augenmerk sollte auf die kritischen Eisbildungsgebiete wie die Schelf Fernwirkungen regionen und die Eisrandzone gelegt werden. In der Die (wechselseitigen) Zusammenhänge zwischen der Antarktis beziehungsweise dem Südozean muss die arktischen Verstärkung und den Windsystemen der Resilienz der Meeresbedeckung gegenüber der globalen mittleren Breiten (Jetstream) sowie den damit verbundenen Erwärmung erklärt werden, die so von Klimamodellen Extremereignissen müssen mithilfe von Beobachtungs nicht simuliert wird (Antarktisches Meereis-Paradox). daten und Modellexperimenten (zum Beispiel unter Ver- Insbesondere gilt es dabei, die Frage zu beantworten, wendung des „Polar Amplification Model Intercomparison welche ozeanischen und atmosphärischen Prozesse sowie Project“-Protokolls) auf Kausalität hin überprüft werden. deren Sensitivitäten und Rückkopplungen es sind, die – Dazu muss unter anderem verstanden werden, wie lokale im Gegensatz zur Arktis – dieses System so robust Prozesse und Wechselwirkungen im Vergleich zu Effekten erscheinen lassen. In diesem Zusammenhang besteht wirken, die durch meridionale Transporte bedingt sind wichtiger Forschungsbedarf, die Wirkung der groß (zum Beispiel Warmlufteinschübe und Kaltluftausbrüche, räumigen Antriebe auf die zirkumpolare Reaktion von ozeanische Transporte). Die im Verlauf von Luftmassetrans- Meereis-Ozean-Prozessen im Bereich der Kontinental- porten in die Arktis ablaufenden Transformationsprozesse schelfregionen zu verstehen, die so kritisch für die (einschließlich Aerosol-, Wolken- und Niederschlagsbildung) Meereisbildung und das basale Schmelzen in den Schelf- sind in Modellen immer noch mit erheblichen Unsicher- eiskavernen sind (Forschungsthema 2). heiten behaftet. Diese Prozesse müssen deshalb detailliert 9
FORSCHUNGSTHEMEN beobachtet und deren Darstellung in Modellen verbessert Daraus leitet sich folgender Forschungs- und werden. Die Fernwirkungen können auch ozeanischen Entwicklungsbedarf ab: Ursprungs sein. So führt verstärktes Abschmelzen zu- • Verbesserung des Prozessverständnisses für die mindest zeitweise zu Salzgehaltanomalien, die in den Ursachen und Auswirkungen des Klimawandels in den Nordatlantik wandern und dort die Tiefwasserbildung Polarregionen auf unterschiedlichen Zeitskalen. Dazu abschwächen könnten – mit erheblichen Auswirkungen gehört die Quantifizierung arktischer ↔ antarktischer, für die AMOC (Atlantic Meridional Overturning Circulation). regionaler ↔ großskaliger, lokaler ↔ ferngetriebener, Salzgehaltanomalien könnten auch durch verstärkten atmosphärischer ↔ ozeanischer/kryosphärischer und Niederschlag, zunehmende Flusseinträge und das Ab- dynamischer ↔ thermodynamischer Treiber der pola- schmelzen des Grönländischen Eischilds bedingt sein. ren Verstärkung. Dies umfasst auch Untersuchungen Dass die arktische Verstärkung zu einer Abschwächung zu möglichen Änderungen von Klimavariabilität der AMOC beiträgt, ist mittlerweile klar – zu untersuchen und Extremereignissen in den Polarregionen. ist hingegen, wie stark diese Abschwächung sein wird. • Untersuchung der Ursachen der stark unterschied- lichen Änderungen der Meereisausdehnung in der Entwicklungspfade der arktischen Verstärkung Arktis im Vergleich zur Antarktis (Antarktisches Es muss untersucht werden, welche Entwicklungspfade Meereis-Paradox) und Beantwortung der Frage, ob der arktischen Verstärkung im 21. Jahrhundert möglich sind das antarktische Meereis kurz vor einem starken und inwiefern und insbesondere wann für die Zukunft Rückgang steht. eine ähnlich starke Erwärmung der Antarktis zu erwarten ist. Insbesondere wird es in diesem Zusammenhang nicht • Etablierung skalenauflösender, ganzjähriger Mess- nur darum gehen, mittlere Änderungen zu beschreiben und systeme zur Bestimmung von Energieflüssen und zu verstehen. Es muss vielmehr ein besseres Verständnis Energiebudgets in Schlüsselregionen der polaren möglicher Änderungen der Klimavariabilität auf Zeit- Verstärkung (Eisrandzone, Schelfregionen, Rand- skalen von Monaten bis hin zu Jahrzehnten sowie der ströme). Änderungen von Extremereignissen in Polarregionen • Durchführung dezidierter Messkampagnen und erreicht werden. Langzeitbeobachtungen zur prozess- und klima- orientierten Modellevaluierung, zur Entwicklung Tempo der heutigen polaren Verstärkung im Vergleich neuer beziehungsweise Verbesserung vorhandener zu anderen Warmzeiten Parametrisierungen, zur Evaluierung einer neuen Die Rekonstruktionen polarer Temperaturen und Meer Generation hochauflösender Modelle („Digitale eisbedingungen sowie komplexer biogeochemischer Zwillinge“) sowie zur Evaluierung von Satelliten- Proxies in verschiedenen Ablagerungsräumen müssen Fernerkundungsdaten. weiterentwickelt werden. Eine Verbesserung der strati- • Untersuchung des Einflusses der polaren Verstärkung grafischen Auflösung und die Verknüpfung mit terrestrisch- über atmosphärische und ozeanische Prozesse auf marinen Daten sind notwendig, ebenso wie die Erforschung das Wetter, Klima und Extremereignisse in mittleren der klimabedingten Auswirkungen auf den Sediment- Breiten. Dazu gehört auch die Beantwortung der transport. Simulationen der treibenden Mechanismen Frage, ob Kausalität aus Beobachtungsdaten fehl- und Prozesse auf erdgeschichtlich längeren Zeitskalen als interpretiert wird und ob Modelle die Fernwirkungen der derzeitigen Erwärmung dienen dazu, Ausmaß und unterschätzen. Tempo der derzeitigen polaren Klimaänderungen in einen • Abschätzung der möglichen zukünftigen Ent längerfristigen Zusammenhang zu stellen und wesentliche wicklungspfade der polaren Verstärkung im 21. Treiber der langfristigen Entwicklung aufzudecken. Dazu Jahrhundert einschließlich einer Quantifizierung gehört auch die Verknüpfung mit terrestrisch-marinen der Unsicherheiten der regionalen und globalen Datenreihen aus der Arktis und Antarktis, um die Auswirkungen. Amplituden und Geschwindigkeiten erdgeschichtlicher Klimaänderungen zu erfassen. • Einordnung der derzeitigen polaren Klima änderungen mithilfe von Daten und Modellen aus der erdgeschichtlichen Vergangenheit unter Ein beziehung einer systematischen Nutzung mariner und terrestrischer hochaufgelöster Zeitreihen ver- gangener Warmzeiten. Von besonderem Interesse sind hier Umweltdaten von Eiskernen. 10
KÜSTE POLARREGIONEN IM WANDEL 11
FORSCHUNGSTHEMEN Ein Eisberg vor der Antarktischen Halbinsel 2.2 DIE EISSCHILDE: KIPPPUNKTE FÜR DEN MEERESSPIEGEL Leitfragen: verstärkten Extremereignissen (zum Beispiel Sturmfluten) ausgesetzt. Anfangs war die Ausdehnung des immer • Wie hoch sind die Beiträge abschmelzender Eisschilde wärmeren Ozeanwassers der wichtigste Grund, aber seit und Polargebiete zum globalen und regionalen 2006 steigt der globale Meeresspiegel rund zweieinhalbmal Meeresspiegelanstieg – heute und in der Zukunft? schneller als im Zeitraum 1900–1990. Hauptursache • Wie groß ist die Gefahr, dass Teile des antarktischen ist das verstärkte Abschmelzen der Grönländischen und Eisschilds und der Eisschild von Grönland instabil antarktischen Eisschilde sowie der Gletscher. Unerwartet werden oder extremen Masseverlust erfahren, und schnell verlor der westantarktische Eisschild an Masse. sind solche Ereignisse in der Erdgeschichte schon Der Sonderbericht über Ozean und Kryosphäre (SROCC, eingetreten? 2019) des Weltklimarats erhöhte daraufhin die Ober- • Wie beeinflusst das Abschmelzen des Grönländischen grenze des globalen Meeresspiegelanstiegs bis zum Jahr Eisschilds die Ozeanzirkulation und damit regionale 2100 auf 1,10 Meter und bewertete den Eisschild als Änderungen des Meeresspiegels? weniger stabil als in früheren Berichten. Bis zum Jahr • Wie können die Wechselwirkungen von Eisschilden 2050 werden extreme Wasserstände, die historisch be- mit Ozean und Atmosphäre besser verstanden, quanti- trachtet Jahrhundertereignisse waren, an vielen Küsten- fiziert und modelliert werden, um die Prognosen orten mindestens einmal pro Jahr eintreten. Dies alles hat für den regionalen und globalen Meeresspiegel für Folgen für die Lebensumstände an den Küsten und für die nächsten 100 bis 300 Jahre zu verbessern? die Schutzmaßnahmen, die durchgeführt werden müssen, damit Menschen und deren Lebensgrundlagen geschützt werden. In den kommenden Jahrhunderten könnte bei einem Gesellschaftliche Relevanz weiteren durch den Klimawandel bedingten Temperatur Im Jahr 2050 werden etwa eine Milliarde Menschen nahe anstieg der Kipppunkt von Teilen des antarktischen der Küste wohnen, heute sind es 680 Millionen. Viele von Eisschilds erreicht werden – das heißt, das Abschmelzen ihnen sind dem Anstieg des Meeresspiegels – global um wäre nicht mehr aufzuhalten – und der Meeresspiegel 23 Zentimeter seit Anfang des 20. Jahrhunderts – und global um mehrere Meter ansteigen. 12
KÜSTE POLARREGIONEN IM WANDEL Stand der Forschung Die Einbindung dieser verbesserten Simulationen in Klima- Die Inlandeismassen der Antarktis und Grönlands binden modelle ist der letzte Schritt. Für die Evaluierung der Mo- den bei Weitem größten Teil des Süßwassers der Erde. Würde delle spielen internationale Vergleiche in transparenten der mehrere 1000 Meter dicke antarktische Eisschild komplett Verfahren eine besondere Rolle. desintegrieren, dann stiege der globale Meeresspiegel um etwa 58 Meter, und ein Verlust des Grönland-Eisschilds würde Wechselwirkung Ozean–Eisschilde zusätzliche 7,40 Meter beitragen. Bis vor Kurzem dominierte Eisströme von den antarktischen Eisschilden fließen langsam die Ausdehnung des Ozeans durch dessen Erwärmung den Richtung Küste und bilden dort verbreitet Schelfeise, die auf Anstieg des globalen Meeresspiegels, in den letzten drei Jahr- dem Ozeanwasser aufschwimmen. Trifft warmes Ozeanwasser zehnten wurde jedoch der Beitrag durch den Massenverlust auf die Unterseite der Schelfeise, wird dort Eis geschmolzen der polaren Eisschilde und der Gletscher stärker. Die beob (basales Schmelzen). Verstärkt sich dieses basale Schmelzen, achtete Beschleunigung des Masseverlusts des antarktischen dünnen sich Schelfeise aus und die Übergangszone zum Inland- Eisschilds hat im Sonderbericht des Weltklimarats über Ozean eis zieht sich zurück. In extremen Fällen, wie bisher an der und Kryosphäre (SROCC) aus dem Jahr 2019 zu einer Er- Antarktischen Halbinsel mehrfach eingetreten, können Schelf höhung der geschätzten Obergrenze des Meeresspiegel eise instabil werden. Verringert sich die Mächtigkeit der Schelf- anstiegs bis zum Jahr 2100 geführt. Der westliche Teil des eise oder droht gar der Verlust, dann beschleunigen sich die antarktischen Eisschilds könnte laut SROCC-Bericht einen Bewegungen der Gletscher des Inlandeises, der Masseverlust Kipppunkt erreicht haben, sodass die Desintegration nicht wird erhöht und der Meeresspiegel steigt schneller. Entschei- mehr rückgängig gemacht werden kann. Dies würde bedeuten, dend für die Intensität des Schmelzens der Schelfeise und dass der Meeresspiegel in den kommenden Jahrhunderten damit für den Anstieg des Meeresspiegels sind die Prozesse, noch schneller steigen wird, als bisher vermutet. Diese die warme Wassermassen aus den Tiefen des Ozeans über Prognosen sind jedoch mit einer großen Unsicherheit be- den antarktischen Kontinentalabhang auf die Schelfregionen haftet. Das liegt an den wenigen Beobachtungen und dem bringen. Das warme Wasser strömt dann unter die mehrere noch unzureichenden Verständnis der Wechselwirkungen Hundert Meter dicken Schelfeise und liefert die Wärme für das zwischen Atmosphäre, Ozean, Meereis, Eisschilden und basale Schmelzen. Die Vorgänge sind komplex und erfordern der festen Erde, dem begrenzten Verständnis des Gleitens ein Zusammenwirken von Prozessen im Ozean, auf dem Konti- des Eisschilds über den Untergrund und der mangelnden nentalschelf und in der Atmosphäre. Winde treiben das warme Kenntnis des geothermalen Wärmestroms. Das Grönlän Wasser auf die Schelfe, sorgen aber auch dafür, dass sich dische Eisschild sowie die arktischen Gletscher und Eis- Barrieren salzreichen, kalten Wassers auf den Kontinental- kappen außerhalb Grönlands haben im Zeitraum 2006– schelfen aufbauen, die das warme Wasser verdrängen können. 2015 gleiche Beiträge zum globalen Meeresspiegel geleistet Die Polynjen, die durch katabatische Winde auf den Schelf- und werden auch zukünftig eine bedeutende Rolle spielen. regionen erzeugt werden, sind ein entscheiden der Antrieb für die Ozeanströmung insbesondere unter dem Filchner- Ronne-Schelfeis, und sie sorgen unter heutigen Bedingungen Forschungsbedarf für dessen Stabilisierung. Im Gegensatz dazu begünstigen ein Das Ziel der Forschung ist es, zuverlässige Projektionen der Rückzug des Meereises und der damit verbundene erhöhte polaren Anteile zum globalen und regionalen Meeresspiegel Salzeintrag ins Ozeanwasser das basale Schmelzen der Schelf- in den nächsten 100 bis 300 Jahren zu gewinnen. Auf diesem eise. Da die kleinskaligen komplexen Prozesse in heutigen Zeithorizont erwarten wir deutliche Beiträge der Gletscher Modellen nicht ausreichend präzise simuliert werden können, und Eisschilde zum globalen Meeresspiegelanstieg bis zu ist nicht klar, wie schnell sich das Abschmelzen bei einem mehreren Metern, sodass auch das Management der Aus- weiteren Temperaturanstieg beschleunigen wird. Um hier wei- wirkungen für die Menschheit eines derart langen Zeitraums terzukommen, sind zum einen Beobachtungen aller Kompo- bedarf. Von entscheidender Bedeutung für verbesserte Pro nenten und Prozesse zum quantifizierten Verständnis und gnosen des globalen und regionalen Meeresspiegelanstiegs zur Erfassung von Langzeittrends nötig, und zum anderen ist es, alle Eismassen und die Prozesse, die ihr Abschmelzen Anstrengungen in der Modellierung des Ozeans, der Atmos- beeinflussen, realitätsnäher in die Klimamodelle einzubinden, phäre und der Eisschilde mitsamt den Schelfeisen. Es als es heute möglich ist. Mehrere Schritte sind nötig, um die- müssen alle relevanten Prozesse realitätsnah modelliert ses Ziel zu erreichen: Unser Wissen muss auf allen Zeitskalen werden, die Auswirkungen auf das Abschmelzen haben. durch Beobachtungen und Prozessstudien substanziell er- weitert werden, um die Entwicklung einer realitätsnahen Masseverlust des Grönländischen Eisschilds und der physikalisch motivierten Modellierung der Kalbungsprozesse, arktischen Gletscher des Gleitens von Gletschern über den Untergrund sowie der Anders als die Antarktis besitzt Grönland keine großflächigen Hydrologie der Eisschilde und Gletscher zu ermöglichen. Schelfeise. Es gibt aber schwimmende Gletscherzungen in 13
FORSCHUNGSTHEMEN den Fjorden, für deren Stabilität ebenfalls basales Schmelzen Zirkulation und der Tiefenwasserbildung an mehreren Schlüs- den essenziellen Faktor darstellt. Heute existieren nur noch selstellen. Wichtig in diesem Zusammenhang sind auch die drei schwimmende Gletscherzungen im Norden Grönlands. erwartete Zunahme der Süßwassertransporte aus dem Ark- Im Süden sind sie bereits abgeschmolzen, mit entsprechender tischen Ozean und die Frage, wie und ob sie diese Bildungs- Beschleunigung der Gletscher-Fließgeschwindigkeiten Rich- regionen erreichen. Für die Evaluation muss auch berück- tung Küste. Inzwischen ist auch der Norden Grönlands von sichtigt werden, dass sich die Bildungsregionen in den deutlichem Masseverlust betroffen. Modellen nicht immer mit denen im realen Ozean decken. Für das gesamte Grönland-Eisschild sind das Schmelzen an Erfassung von Grundlagendaten und verbessertes der Oberfläche inklusive der Bildung von Schmelzwasser- Prozessverständnis für die Massenbilanzen der seen und die Drainage von Schmelzwasser zur Gletscher- Eisschilde und polaren Gletscher basis wesentliche Prozesse, da Schmelzprozesse an der Ober- Zum Verständnis der Mechanismen, die zum Eisverlust und fläche und die Beschleunigung der Auslassgletscher jeweils zum (regionalen wie globalen) Anstieg des Meeresspiegels etwa 50 Prozent beitragen. Gezeitengletscher ohne schwim- führen, müssen Grundlagendaten kontinuierlich erhoben mende Eiszungen verhalten sich extrem sensitiv gegenüber werden, um überhaupt Änderungen der Komponenten in der dem Kalben der Eisberge, jedoch ist deren Kalbungsverhalten Gesamtbilanz der Eismassen erkennen zu können. Hierunter nicht ansatzweise gut genug verstanden, um es prognostisch fallen zum Beispiel die Beobachtung der Eisdynamik, der in numerischen Modellen zu simulieren – eine bedeutende Höhen- und Massenänderungen von Inlandeis und Schelfeis Voraussetzung für die Vorhersage des zukünftigen Massen- sowie die Quantifizierung des Oberflächen- und des basalen verlusts des Grönländischen Eisschilds und der Auswirkungen Schmelzens. Ebenso essenziell sind eine verbesserte Erfassung auf den Meeresspiegel. Folgende Mechanismen müssen des geothermalen Wärmeflusses und das dringende Besei- besser verstanden werden: das Zusammenspiel von Drainage tigen von Wissenslücken hinsichtlich der Topografie des Fels- und Gleitverhalten der Gletscher, der subglaziale Ausstrom bodens unter den eisbedeckten Gebieten, der Geometrie der und das Aushöhlen der Kalbungsfront von unten, das durch Schelfeis-Kavernen und der Bathymetrie in Fjorden. Diese die Bildung von Schmelzwasserfahnen unter Einmischung Informationen werden benötigt, um die Interaktion zwischen von Fjordwasser stattfindet. Ähnlich gilt dies für die Ozean und Eis sowie die Strömungsbedingungen besser zu arktischen Gletscher und Eiskappen, die andere Reaktions- verstehen und in Modellen abzubilden. Basale Schmelzraten zeiten auf Ozean- und Klimasignale aufweisen können. an den Schelfeisen wurden bisher nur an wenigen Stellen ge- Auch um eine bessere Differenzierung der gravimetrischen messen, sind aber sehr bedeutsam, um aus Fernerkundung Massenänderungen des grönländischen Inlandeises von und Modellen abgeleitete Raten zu evaluieren und deren Para- den umliegenden Eismassen zu erzielen, müssen diese metrisierung in Klimamodelle zu ermöglichen. Die Lage der Prozesse separat betrachtet werden. Letztendlich führt Aufsetzlinie (Übergang von gegründetem zu aufschwimmen- eine Kombination von innovativen In-situ-Beobachtungen dem Eis) ist ein wesentlicher Indikator für Änderungen. Für und Fernerkundung mit Prozessmodellierung und ihrer verbesserte Bilanzierungen sind exakte Kenntnisse der Firn- Implementierung in Klimamodelle zu einer verbesserten kompaktion (Firn: Schnee, der mindestens ein Jahr alt ist), Prognose der polaren Beiträge zum Meeresspiegelanstieg. der Mächtigkeits- und Dichteverteilung sowie der Eindring- tiefe von Messsignalen in den Firnschneekörper von Be- Änderung der regionalen Meeresspiegel durch deutung, um von Satelliten gemessene Höhenänderungen Masseverlust Grönlands korrekt in Massenänderungen überführen zu können. Hier- Die Masseverluste des Grönlandeises liefern mehr Süßwasser für sind auch verbesserte physikalische Firnschneemodelle in den nördlichen Nordatlantik. Wenn dieses Süßwasser in für Verdichtung und Hydrologie notwendig. die Schlüsselregionen der klimarelevanten atlantikweiten Zirkulation transportiert wird, dann könnte dies das Absinken Kipppunkte und klimawandelinduzierter Temperatur- von Oberflächen- in Tiefenwasser erschweren und zu einer anstieg: Erkenntnisse aus geologischen Warmzeiten weiteren Verlangsamung der Atlantikzirkulation führen, als Für Untersuchungen, ob die Eisschilde teilweise oder ganz am dies schon durch die globale Erwärmung geschieht. Eine abge- Kipppunkt sind, sind geologische Zeiten, in denen die regio- schwächte Zirkulation lässt den regionalen Meeresspiegel nalen Temperaturen höher als heute waren, von erheblicher auch in Europa noch mehr ansteigen, als durch Abschmelzen Relevanz. Diese Perioden reichen von der Eem-Warmzeit (vor und Erwärmung zu erwarten ist. Es ist noch unklar, welche circa 125.000 Jahren) bis zu den Warmzeiten des mittleren Rolle das Süßwasser aus Grönland für die Zirkulation spielen Pliozäns (vor circa 3–3,5 Millionen Jahren) und mittleren wird, und noch sind nicht alle relevanten Prozesse gut in den Miozäns (vor circa 14–16 Millionen Jahren). Aus diesen Klimamodellen repräsentiert. Es besteht ein Bedarf an ver- Epochen gibt es erste Hinweise, die einen partiellen oder voll- besserten Modellen und an Langzeitbeobachtungen der ständigen Kollaps der marin basierten Eisschilde vermuten 14
KÜSTE POLARREGIONEN IM WANDEL lassen. Ein Kollaps des westantarktischen Eisschilds könnte Techniken aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz während der letzten Interglazial-Periode stattgefunden haben, (KI) oder der angewandten Mathematik, die Rohdaten einer Periode, in der die polare Oberflächentemperatur etwa automatisch analysieren und nützliche Sekundärprodukte zwei bis drei Grad Celsius höher war als heute und die damit effizient ableiten, wie zum Beispiel die Kartierung des Rück- vergleichbar ist mit den Temperaturen, die im Jahr 2100 zugs der Kalbungsfront oder von Seen an der Eisoberfläche. Realität sein könnten. Der Meeresspiegel würde dabei um Um große Datenmengen einbeziehen zu können, werden drei bis fünf Meter ansteigen. Um die Unsicherheiten in den neueste systematische Methoden zur Datenassimilierung Aussagen zu verringern, werden Sediment- und Eisbohrkerne benötigt. Relevante Techniken nutzen maschinelles Lernen aus Schlüsselregionen sowie eine auf den Beobachtungen sowie Optimierung, Mustererkennung und Signalverarbeitung. basierende Modellierung benötigt. Das Verhalten der Eis- Die neuen, zuverlässigen Simulationen verringern die schilde in anderen Warmzeiten kann dann genutzt werden, um Unsicherheiten in den Zukunftsprojektionen. Als zentraler die kritischen Temperaturgrenzen zu identifizieren, an denen Aspekt in der Modellierung verbleibt die systematische Eismassen irreversibel verloren gehen. Sie liefern damit Abschätzung der verbleibenden Unsicherheiten. einen wichtigen Beitrag zur Evaluation der Klimamodelle. Realitätsnahe Simulation der Schmelzprozesse Daraus leitet sich folgender Forschungs- und Modellrechnungen zufolge schrumpfen die Eismassen in zwei Entwicklungsbedarf ab: Schritten. Der erste Schritt führt zu einem Rückzug des Schelf- Die Gesellschaft benötigt dringend zuverlässige eises. Gehen Schelfeismassen in der Antarktis verloren, be Projektionen der polaren Beiträge zum globalen und schleunigen sich die Eismassen des dahinterliegenden Inland- regionalen Meeresspiegel in den nächsten 100 bis 300 eises, der Eistransport in den Ozeanen nimmt zu und der Jahren. Dies ergibt den folgenden Forschungsbedarf: Meeresspiegel steigt. Berücksichtigt werden müssen auch • Beobachtung und Simulation der komplexen die Änderungen in den Niederschlägen über den Eismassen, Prozesse zwischen Atmosphäre, Ozean, Meereis, das Schmelzen an der Eisoberfläche durch wärmere Luft und Gletschern und Eisschilden sowie fester Erde. eine veränderte Strahlungsbilanz durch mehr Schmelzwasser- Beispiele sind die Wechselwirkung zwischen seen an der Eisoberfläche (sogenannte supraglaziale Seen) Hydrologie von Schmelzwasser und Gletscher- und nassen Firn. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der dynamik, die Rolle der Auslassgletscher und der Temperaturanstieg in der Arktis etwa zwei- bis dreimal höher Kalbung zusammen mit dem subglazialen Gleiten ausfällt als der globale Mittelwert (siehe 2.1). Die gesamte und den Eigenschaften des Eisuntergrunds. Für Folge von Abläufen im gekoppelten Klimasystem sind für den den regionalen Meeresspiegel werden zudem Meeresspiegelanstieg extrem relevant, da beide Eisschilde vertikale Landbewegungen benötigt und auf potenzielle Kipppunkte darstellen. Viele der Prozesse sind längeren Zeitskalen ist die Verteilung des geo- auch für die arktischen Gletscher und Eiskappen außerhalb thermalen Wärmeflusses von großem Interesse. Grönlands bedeutsam, und diese polaren Eismassen müssen ebenfalls in die Simulationen einbezogen werden. Zur Simu- • Erfassen aller Komponenten der Gletscher- bezie- lation dieser komplexen Abläufe müssen hochauflösende hungsweise Eisschild-Massebilanzen: Eisdynamik, Prozessstudien in globale Klimamodelle der nächsten Gene- Höhen- und Massenänderungen von Schelfeisen, ration eingebettet werden. Dazu bedarf es effizienter hoch- Gletschern und Eisschilden, Schließen von Wissens- auflösender eisdynamischer Modelle und angepasster lücken bei der Eisgeometrie (Schelfeis-Kavernen, Kopplungsstrategien. Die Ozeankomponenten müssen das Fjorde), Bewegungen der Aufsetzlinie, Kalbung, basale Schmelzen und die Atmosphärenkomponenten das Mächtigkeits- und Dichteverteilung des Firns sowie Oberflächenschmelzen realistisch simulieren können. Neue die Hydrologie der Gletscher und Eisschilde. Herausforderungen bestehen sowohl auf modellierender • Quantifizierung der basalen Schmelzraten an den als auch beobachtender Seite, um zum einen eine hochwertige Schelfeisen, Verteilung von Schmelzwasser im Ozean, Datenbasis zu schaffen und zum anderen die Prozesse auf Einfluss auf lokale, regionale und atlantikweite unterschiedlichen Zeitskalen zu erfassen. Ozeanzirkulation und die Auswirkungen auf den regionalen Meeresspiegel. Nutzbarmachung von Beobachtungen • Untersuchung der Schlüsselregionen für eine Eine weitere Herausforderung ist eine verbesserte effiziente schnelle Reaktion der Eisschilde in vergangenen und systematische Nutzbarmachung von Erdbeobachtungen Warmzeiten durch geologische und geophysikalische (zum Beispiel Fernerkundung) durch eine Steigerung des Beobachtungen sowie durch Modellierung der Informationsgewinns aus den Rohdaten und des Informations- relevanten geologischen Zeitabschnitte. flusses in die Modellierung. Für beide Bereiche eignen sich 15
FORSCHUNGSTHEMEN Fluke eines südlichen Glattwals in der Scotia Sea 2.3 DAS SÜDPOLARMEER ALS SPEICHER FÜR WÄRME UND KOHLENSTOFF Leitfragen: Gesellschaft und Wirtschaft. Der Ozean dämpft die Erwär- mung der Atmosphäre erheblich. Er hat insgesamt mehr als • Wie beeinflussen Klimawandel und die zunehmende 90 Prozent der zusätzlichen Wärme aufgenommen, die durch atmosphärische CO2-Konzentration die Aufnahme die Treibhausgase ins Klimasystem gebracht wurde, sowie und Verteilung von Wärme und Kohlenstoff im mehr als 25 Prozent der anthropogenen CO2-Emissionen. Südpolarmeer? Das Südpolarmeer erstreckt sich um den Antarktischen • Welche Auswirkungen hat eine veränderte Ozean- Kontinent und nimmt etwa 25 Prozent der Ozeanoberfläche dynamik auf biogeochemische Prozesse und Stoff- ein, hat aber seit 2005 überproportional viel, nämlich etwa kreisläufe und damit auf Versauerung, biologische 50 Prozent, der überschüssigen Wärme aufgenommen – Produktivität und Kohlenstoffspeicherung? für den Zeitraum 1970–2017 waren es circa 40 Prozent. • Wie sehr beeinflussen erwartete Veränderungen Auch bei der Aufnahme des anthropogenen Kohlenstoffs der biologischen Produktivität und Artenzusammen aus der Atmosphäre (40 Prozent) leistet das Südpolarmeer setzung die Kohlenstoffaufnahme im Südpolarmeer? mehr, als sein Flächenanteil erwarten lassen würde. • Welche globalen Folgen haben Änderungen im Südpolarmeer? Die Aufnahme und Speicherung von Wärme und anthro- pogenem CO2 ist eng mit der Ozeanzirkulation verflochten. Ein Großteil des Wärme- und CO2-Austauschs findet im Gesellschaftliche Relevanz Bereich des Antarktischen Zirkumpolarstroms (ACC) statt – Der fortdauernde Ausstoß von CO2 durch den Gebrauch der Hauptmotor der globalen Ozeanzirkulation, der Klima- fossiler Brennstoffe und die Änderung der Landnutzung hat änderungen integriert, dämpft oder verstärkt und damit das zu einer starken Erhöhung des atmosphärischen CO2-Gehalts globale Klima signifikant beeinflusst. Diese physikalische geführt. Diese anthropogenen Emissionen ändern das Klima Pumpe wird angesichts höherer Temperaturen Effizienz unseres Planeten rasch und mit vielfältigen Risiken für verlieren. 16
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