FORSCHUNGSAGENDA POLARREGIONEN IM WANDEL - Konzeptpapier des Mare:N-Begleitkreises

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FORSCHUNGSAGENDA POLARREGIONEN IM WANDEL - Konzeptpapier des Mare:N-Begleitkreises
FORSCHUNGSAGENDA
POLARREGIONEN IM WANDEL
Konzeptpapier des Mare:N-Begleitkreises
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KÜSTE
                                                                 POLARREGIONEN
                                                                      IM WANDEL

INHALT

1     EINLEITUNG                                                                4

2     FORSCHUNGSTHEMEN                                                          6
2.1   Die polare Verstärkung des Klimawandels                                   6
2.2   Die Eisschilde: Kipppunkte für den Meeresspiegel                         12
2.3   Das Südpolarmeer als Speicher für Wärme und Kohlenstoff                  16
2.4   Die Zukunft von Permafrost-Ökosystemen                                   20
2.5   Ökosysteme in den Polarmeeren unter Klimastress                          24
2.6   Schutzkonzepte für die Antarktis                                         28
2.7   Wissenschaft für nachhaltige Entwicklung in der Arktis                   32
2.8   Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf die Ökosysteme in der Arktis   38

3     QUERSCHNITTSTHEMEN                                                       44
3.1   Modellentwicklung                                                        44
3.2   Zukunftsprojektionen und Vorhersagen                                     50

4     FORSCHUNGSUMFELD                                                         54
4.1   Infrastruktur                                                            54
4.2   Instrumente und Beobachtungssysteme                                      62
4.3   Nachwuchsförderung                                                       66
4.4   Internationale Organisation und Zusammenarbeit                           68
4.5   Wissenstransfer und Kommunikation                                        70

BETEILIGTE AUTORINNEN UND AUTOREN                                              74

QUELLEN UND LITERATUR                                                          76

                                                                                 3
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EINLEITUNG

1 Einleitung
Der Klimawandel macht auch vor den Polargebieten nicht        dazugehörige Umweltschutzprotokoll, das 1998 in Kraft
halt. Im Gegenteil: In den letzten Jahrzehnten hat sich die   trat, schützt zudem die antarktische Umwelt und verbietet
Arktis zwei- bis dreimal so stark erwärmt wie die restliche   den Abbau von Rohstoffen, um die Antarktis als ein dem
Welt, mit möglicherweise größeren Auswirkungen auf            Frieden und der Wissenschaft gewidmetes Naturreservat
das Klima in Europa, als man noch vor einigen Jahren          zu bewahren. Die einzigartigen und sensiblen Ökosysteme
angenommen hat. Sichtbare Anzeichen des Klimawandels          konnten somit bis jetzt weitgehend erhalten werden, obwohl
sind zum Beispiel der starke Rückgang des Meereises in        sie in jüngster Zeit auch anthropogenen Veränderungen
der Arktis und das Abtauen der Permafrostböden. Obwohl        durch Umweltverschmutzung und Tourismus ausgesetzt
die Antarktis bis jetzt am wenigsten vom Menschen be-         sind. Für die Arktis existiert ein vergleichbares inter­
einflusst wurde, wurde durch das unerwartet schnelle          nationales Übereinkommen nicht; es gelten die nationalen
Abschmelzen von Teilen des antarktischen Eisschilds in        Regeln in den jeweiligen Hoheitsgebieten. Der Arktische Rat
den vergangenen Jahrzehnten möglicherweise ein Kipp-          ist das führende zwischenstaatliche Forum für die Arktis.
punkt überschritten, und die Obergrenze des globalen          Er fördert die Zusammenarbeit zwischen den Anrainer-
Meeresspiegelanstiegs bis zum Jahr 2100 musste im Ver-        staaten, der indigenen Bevölkerung und anderen Bewohnern
gleich zu früheren IPCC-Berichten nach oben verschoben        und Bewohnerinnen der Arktis, insbesondere im Hinblick
werden. Der Klimawandel beeinflusst immer stärker             auf die nachhaltige Entwicklung und den Umweltschutz
die Lebensbedingungen in den Polargebieten – von den          in der Region. Deutschland hat seit der Gründung des
Kleinstlebewesen bis hin zu Pinguinen, Walen und Eis-         Rats im Jahr 1996 einen Beobachterstatus und bringt
bären. Der Klimastress auf die Ökosysteme wird noch           seine wissenschaftliche Expertise in den Rat aktiv ein.
durch die zunehmende Umweltverschmutzung verstärkt.
Beispiele für die Arktis sind erhöhter Schiffsverkehr,        Die deutsche Polarforschung ist international hervorragend
intensivierte Fischerei sowie verstärkter Abbau und           vernetzt, was sich auch an den zahlreichen deutschen
Transport von Rohstoffen. Dieser tiefgreifende Wandel         Delegierten im Scientific Committee on Antarctic Research
stellt besonders die etwa vier Millionen dauerhaft in         (SCAR), im International Arctic Science Committee (IASC)
der Arktis lebenden Menschen (davon etwa zehn Prozent         sowie in Gremien der Weltmeteorologischen Organisation
Angehörige indigener Völker) vor große Herausforderungen.     (WMO) mit polarem Fokus zeigt. SCAR entwickelt und
                                                              koordiniert Wissenschaftsprogramme in der Antarktis und
Eine leistungsstarke, international vernetzte deutsche        dem Südpolarmeer und berät als regierungsunabhängige
Polarforschung ist eine unabdingbare Voraussetzung, um        Organisation die Antarktis-Vertragsstaaten und andere
die dem Wandel in den Polarregionen zugrunde liegenden        Organisationen, wie den Weltklimarat (IPCC). Die Haupt-
Prozesse besser zu verstehen und die lokalen, regionalen      aufgaben des IASC sind die Förderung von internationaler
und globalen Konsequenzen zu evaluieren. Ein wesentlicher     Zusammenarbeit in der Arktisforschung mit dem Ziel
Aspekt dabei ist die Verbesserung der polaren Kompo-          eines größeren Verständnisses der Arktis und ihrer Rolle
nenten von Klima- und Erdsystemmodellen, um zeitnah           im Erdsystem. Die WMO spielt insbesondere bei der
zu präziseren Projektionen bis zum Ende des 21. Jahr-         Koordination von Forschungsaktivitäten im Bereich der
hunderts und darüber hinaus zu gelangen. Dieses Wissen        Modellentwicklung, Vorhersagen und Klimaprojektionen
muss genutzt und kommuniziert werden, um zusammen             eine zentrale Rolle.
mit Akteuren und Akteurinnen aus Politik, Wirtschaft
und Gesellschaft Handlungsoptionen für eine nachhaltige
Entwicklung der Polargebiete zu erarbeiten und fakten-        Agendaprozess
basierte Entscheidungsfindungen zu unterstützen. In der       Das Forschungsprogramm der Bundesregierung „Mare:N –
Arktisforschung sind die Zusammenarbeit und der Dialog        Küsten-, Meeres- und Polarforschung für Nachhaltigkeit“
mit der lokalen und indigenen Bevölkerung von essen-          zielt auf eine enge Verzahnung unterschiedlicher Förder-
zieller Bedeutung. Gleichzeitig muss das Bewusstsein          instrumente und eine Beteiligung aus Wissenschaft, Gesell-
in unserer Gesellschaft gestärkt werden, um die Einzig-       schaft, Politik und Wirtschaft ab. Die entstehenden Synergie-
artigkeit und Schönheit der Polarregionen für zukünftige      effekte werden genutzt, um den Erfordernissen einer
Generationen zu erhalten.                                     zukunftsweisenden Küsten-, Meeres- und Polarforschung
                                                              gerecht zu werden. Die Forschungsaktivitäten innerhalb von
Die Antarktis ist seit 1961 durch den Antarktisvertrag        Mare:N sind eingebunden in die internationalen Pro-
geschützt. Militärische Aktivitäten sowie die Beseitigung     gramme der UN und der EU. Sie tragen zur Erarbeitung
und Einfuhr radioaktiver Abfälle sind verboten. Das           internationaler Strategien für den Schutz und die

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                                                                                                     IM WANDEL

nachhaltige Entwicklung der Küsten-, Meeres- und Polar-                          Umweltwissenschaften MARUM, Universität Bremen,
gebiete bei, die die Umsetzung sowohl der europäischen                           Vorsitzende NK SCAR/IASC) und Prof. Dr. Thomas
Richtlinien als auch der „Agenda 2030 für nachhaltige                            Jung (Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für
Entwicklung“ der UN unterstützen. Das Forschungs-                                Polar- und Meeresforschung – AWI) die hier vorgelegte
programm Mare:N ist als offener, lernender Handlungs-                            Forschungsagenda. Der wissenschaftliche Begleitkreis,
rahmen angelegt. Zukunftsrelevante Forschungsthemen                              bestehend aus Expertinnen und Experten der Polar-
werden gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus                                forschung sowie der Sozial- und Politikwissenschaften,
Wissenschaft, Politik und Gesellschaft in zielgerichteten                        entwickelte unter Mitarbeit von über 80 weiteren Exper-
Agendaprozessen entwickelt. Der Agendaprozess „Polar-                            tinnen und Experten das vorliegende Konzeptpapier, das
regionen im Wandel“ begann mit der Konsultation von                              den künftigen Forschungsbedarf in acht gesellschaftlich
zwei Expertenkreisen, zum einen des Arktisdialogs und                            relevante Forschungsthemen gliedert, ergänzt durch
zum anderen des deutschen Nationalkomitees der Polar-                            zwei Querschnittsthemen und das benötigte Forschungs-
forschung (SCAR/IASC). Die Konsultationsprozesse in den                          umfeld (siehe Abbildung). Das Konzeptpapier des Mare:N-
Fachgremien führten zur ersten disziplinübergreifenden                           Begleitkreises „Polarregionen im Wandel“ ermöglicht es der
Themenfindung sowie zur Berufung der Vorsitzenden                                Bundesregierung, die von der Wissenschaft formulierten
und Mitglieder des Begleitkreises durch das BMBF. Für die                        Forschungsbedarfe für die anstehenden politischen Pro-
Umsetzung des Mare:N-Agendaprozesses „Polarregionen                              zesse im nationalen, europäischen und internationalen
im Wandel“ wurden 24 Expertinnen und Experten in den                             Rahmen umzusetzen. Das vorliegende Konzeptpapier des
wissenschaftlichen Begleitkreis berufen. Der Begleitkreis                        Mare:N-Begleitkreises wird im Mai 2021 dem BMBF
entwickelte unter der Leitung von Prof. Dr. Monika Rhein                         übergeben und bildet die Grundlage für zukünftige nationale
(Institut für Umweltphysik IUP und Zentrum für Marine                            Förderbekanntmachungen.

Die polare Verstärkung des Klimawandels                                                                                             Modellentwicklung
                                                                     2.1         3.1
Die Eisschilde: Kipppunkte für den Meeresspiegel                                                                  Zukunftsprojektionen und Vorhersagen
                                                         2.2                                  3.2

Das Südpolarmeer als Speicher für Wärme
und Kohlenstoff
                                                                             3     Quer-
                                                                                   schnitts-
                                                                                   themen                                                 Infrastruktur
                                                 2.3                                                      4.1

Die Zukunft von
Permafrost-Ökosystemen                                                                                            Instrumente und Beobachtungssysteme
                                           2.4                                                              4.2

Ökosysteme in den Polarmeeren
                                                   2     Forschungs-
                                                         themen                  4     Forschungs-
                                                                                       umfeld
unter Klimastress                                                                                                                 Nachwuchsförderung
                                            2.5                                                             4.3

                                                                                                                            Internationale Organisation
Schutzkonzepte für die Antarktis                                                                                                   und Zusammenarbeit
                                                   2.6                                              4.4

Wissenschaft für nachhaltige Entwicklung in der Arktis                                                              Wissenstransfer und Kommunikation
                                                               2.7                      4.5
                                                                           2.8
Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf die Ökosysteme in der Arktis

                                                                                                                                                     5
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FORSCHUNGSTHEMEN

Das deutsche Forschungsflugzeug Polar 6 hebt an der britischen
Antarktis-Forschungsstation Rothera zu einem Messflug ab

2 Forschungsthemen
2.1 DIE POLARE VERSTÄRKUNG DES KLIMAWANDELS

    Leitfragen:                                                  Gesellschaftliche Relevanz
                                                                 Als Folge der durch den CO2-Anstieg verursachten globalen
    • Was sind die für die polare Verstärkung wesent­
                                                                 Erwärmung werden derzeit in der Arktis dramatische Klima­
      lichen Prozesse (lokal ↔ ferngetrieben, dynamisch
                                                                 änderungen beobachtet: Die bodennahe Lufttemperatur
      ↔ thermo­dynamisch, Atmosphäre ↔ Ozean,
                                                                 hat sich in den vergangenen 30 Jahren um 1,4 °C erhöht.
      Meereis und Land, Arktis ↔ Antarktis)?
                                                                 Damit wurde die globale Erwärmung in der Arktis in
    • Wie gut können Wettervorhersage-, Klima- und
                                                                 diesem Zeitraum um einen Faktor von 2,3 verstärkt. Die
      Erdsystemmodelle die in den Polarregionen
                                                                 sommerliche Meereisbedeckung des Arktischen Ozeans
      zentralen Prozesse und Phänomene abbilden?
                                                                 ist zwischen 1970 und 2020 um nahezu die Hälfte zurück-
    • Welche Entwicklungspfade sind für die polare               gegangen. Der Eisschild Grönlands schmilzt drastisch ab
      Verstärkung im 21. Jahrhundert und darüber                 und forciert somit einen weiteren Anstieg des Meeres-
      hinaus möglich?                                            spiegels.
    • Welche Auswirkungen hat der polare Klimawandel
      auf Klimavariabilität und Extremereignisse in den          In der Antarktis wird bisher eine verstärkte Erwärmung
      Polarregionen und in mittleren Breiten – heute             nur für die Antarktische Halbinsel beobachtet. Prinzipiell
      und in der Zukunft?                                        wirken im polaren Südozean ähnliche Verstärkungs­
    • Was können wir aus der Klimavariabilität heute und         mechanismen wie in der Arktis. Man geht heute aber
      in der Vergangenheit über aktuelle und künftige            davon aus, dass sich die Verstärkung klimarelevanter
      Entwicklungen in den Polarregionen lernen?                 Prozesse in der Antarktis aufgrund der Wärmeaufnahme
                                                                 des Ozeans erst zeitlich verzögert als Erwärmung der
                                                                 unteren Luftschichten manifestieren wird. Dieser Tem­
                                                                 peraturanstieg des Ozeans zusammen mit möglichen
                                                                 Umstellungen der Ozeanzirkulation kann dazu führen,

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FORSCHUNGSAGENDA POLARREGIONEN IM WANDEL - Konzeptpapier des Mare:N-Begleitkreises
KÜSTE
                                                                        POLARREGIONEN
                                                                             IM WANDEL

dass sich das Wasser unterhalb der Eisschelfe stark         Als wesentliche lokale Treiber der arktischen Verstärkung
erwärmt und somit zu einem deutlichen Anstieg des           sind der Boden-Albedo-Effekt, die vertikale Temperatur-
Meeresspiegels beiträgt.                                    Gradienten-Rückkopplung, die Wasserdampf- und Aerosol-
                                                            Wolken-Wechselwirkungen und der Planck-Effekt bekannt.
Die derzeit beobachteten Klimaänderungen in den Polar-      Die relative Stärke dieser Prozesse, ihre gegenseitigen
regionen zeigen schon jetzt umfassende und gravierende      Wechselwirkungen sowie ihre möglichen Änderungen in
Auswirkungen auf Ökosysteme und die Lebensweise der         einer zukünftig wärmeren Welt sind bisher noch nicht
dort lebenden Bevölkerung. Aufgrund der polaren Klima-      umfassend evaluiert. Wichtige, wenn auch nicht voll-
änderungen ergeben sich zudem neue Möglichkeiten für        ständige Beobachtungen zur Erforschung dieser lokalen
die wirtschaftliche Nutzung der Polarregionen (beispiels-   Treiber sind während der MOSAiC-Expedition und im
weise für die Schifffahrt und den Tourismus) und damit      Rahmen des (AC)³-Projekts zur arktischen Verstärkung
einhergehende Risiken (zum Beispiel Ölkatastrophen).        gewonnen worden.
So ist zwischen 2013 und 2019 die Arktis-Schifffahrt um
75 Prozent gestiegen. Entlang der Nordostpassage wird       An den Rändern des Arktischen Ozeans wird ein erheblicher
zwischen 2020 und 2030 ein erheblicher Anstieg der          Teil des Meereisrückgangs der sogenannten Atlantifizierung
Schifffahrt durch die Förderung von Ressourcen erwartet.    zugeschrieben, wobei aufgrund der verringerten ozeanischen
Aus diesem Grund wollen die fünf arktischen Anrainer-       Schichtung vermehrt Wärme durch tiefreichende ozeanische
staaten die Umweltauswirkungen der Schifffahrt auf die      Vermischung im Winter an die Meeresoberfläche trans-
empfindlichen Ökosysteme des Nordens minimieren und         portiert wird. Gleichzeitig verringert in den eurasischen
gleichzeitig die Sicherheit der Schifffahrtsaktivitäten     Schelfmeeren, die besonders hohe Eisbildungsraten auf-
gewährleisten (siehe auch Kapitel 2.8).                     weisen, die erhöhte sommerliche Speicherung von Wärme
                                                            und ihre Abgabe im Winter das Meereiswachstum. Die
Es ist davon auszugehen, dass der Klimawandel in den        Sensitivitäten dieser ozeanischen Prozesse sind mangels
Polarregionen über sogenannte atmosphärische und            kritischer Messdaten im Winter kaum erforscht und in
ozeanische Telekonnektionen das Wetter und Klima sowie      Klimamodellen unzureichend aufgelöst.
damit einhergehende Extremereignisse wie beispiels-
weise besonders warme oder kalte Winter oder Hitze          Es wird zunehmend wahrscheinlicher, dass die arktische
und Trockenperioden im Sommer in Deutschland, Europa        Verstärkung auch durch Änderungen in niederen Breiten
und anderen Teilen der Welt beeinflusst. Auch aus diesem    angetrieben wird. Für die Atmosphäre spielen hierbei
Grund stellen die Polarregionen einen zentralen Schwer-     Einbrüche relativ warmer und feuchter Luftmassen aus
punkt der globalen Klimaforschung von herausragender        den mittleren Breiten in die zentrale Arktis eine wichtige
gesellschaftlicher Relevanz dar.                            Rolle. Das Verständnis der dazugehörigen Transformations­
                                                            prozesse in den Luftmassen während ihres Transports
Zuverlässige Vorhersagen und Projektion auf Zeitskalen      rückt zunehmend in das Zentrum der Forschungsaktivitäten.
von Tagen bis hin zu Jahrhunderten mit Wetter-, Klima-
und Erdsystemmodellen werden dringend benötigt,             Die möglichen atmosphärischen Fernwirkungen der ark-
um wichtige gesellschaftliche Entscheidungsprozesse         tischen Verstärkung auf das Wetter und Klima in mittleren
evidenzbasiert zu unterstützen. Entscheidend für die        Breiten werden in der Wissenschaft sehr kontrovers
Verlässlichkeit von Projektionen der zukünftigen Ent­       diskutiert (SROCC). Die Beobachtungen zeigen hohe
wicklung des polaren Klimas ist eine realitätsnahe          Korrelationen; ob dies aber auch Kausalität bedeutet, ist
quantitative Abbildung der relevanten Prozesse der          derzeit ungeklärt. Noch unsicherer sind Schlussfolgerungen
polaren Verstärkung in Modellen, die eine wesentliche       bezüglich der damit verbundenen Verstärkung der Klima-
Basis für die Entwicklung wirksamer und nachhaltiger        variabilität und vermehrt auftretender Extremwetter-
Anpassungs- und Handlungsstrategien zur zukünftigen         ereignisse in mittleren Breiten. Modell-Studien zeigen
Entwicklung von Ökonomie und Gesellschaft bilden.           deutlich schwächere atmosphärische Telekonnektionen,
                                                            deuten aber ebenfalls auf einen Einfluss der Arktis auf
                                                            den Jetstream in mittleren Breiten hin (eher im Sinne
Stand der Forschung                                         einer Südwärts-Verschiebung als einer Verstärkung
Arktis                                                      des Mäandrierens). Es ist nicht auszuschließen, dass
Die Ursachen und Mechanismen der rasanten Klima­            exis­tierende Modelle die tatsächlichen Telekonnektionen
änderungen in der Arktis sind nur teilweise geklärt.        unterschätzen. Eine mögliche Ursache könnten zu schwache
Somit sind auch Projektionen zukünftiger Entwicklungen      Rückkopplungen der Stürme auf den Jetstream (soge-
mit erheblichen Unsicherheiten behaftet.                    nannte eddy feedbacks) sein.

                                                                                                                     7
FORSCHUNGSAGENDA POLARREGIONEN IM WANDEL - Konzeptpapier des Mare:N-Begleitkreises
FORSCHUNGSTHEMEN

Auch die Zunahme des ozeanischen Wärmetransports in         Die beobachteten Änderungen der Meereisausdehnung
die Arktis ist Gegenstand der aktuellen Forschung. Lang-    sind durchaus beträchtlich – aber eher von regionaler
zeitbeobachtungen ergeben, dass sich die Temperatur         Bedeutung (zum Beispiel entlang der Antarktischen
der in den Arktischen Ozean einströmenden atlantischen      Halbinsel). In diesem Zusammenhang spielt auch das
Wassermassen in den vergangenen Jahrzenten um unge-         episodische Auftreten der Weddell-Polynja eine Rolle.
fähr 1 °C erhöht hat. Diese Erwärmung liegt deutlich über   Weiterhin deuten Satellitendaten der Meereisausdehnung
dem globalen Temperaturanstieg in den oberflächennahen      auf eine erhebliche Zunahme der zwischenjährlichen
Ozeanen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere            Variabilität der Meereisausdehnung in den vergangenen
unklar, inwieweit die Erwärmung des tieferen Arktischen     Jahren hin. In der Forschung wird das als Anzeichen für
Ozeans durch Änderungen im Nordatlantik (Atlantische        eine imminente umgreifende Veränderung betrachtet.
Meridionale Umwältzzirkulation) im Vergleich zu solchen
im Europäischen Nordmeer bedingt ist.                       Arktis und Antarktis
                                                            Für beide Polarregionen weisen Wetter- und Klima­
Insgesamt hat sich die Forschung bisher hauptsächlich auf   vorhersagen teilweise signifikante Unsicherheiten auf
die Änderungen des mittleren Zustands des Arktischen        (zum Beispiel das Antarktische Meereis-Paradox). Die
Klimasystems fokussiert. Es wird aber zunehmend klarer,     realistische Darstellung der Boden-Albedo, der Energie-,
dass sich Klimavariabilität und Extremereignisse in einer   Impuls- und Feuchteflüsse, der Ozeanwirbel, der Grenz-
wärmeren Arktis erheblich verändern werden. Diese           schicht-Entwicklung sowie des Lebenszyklus von Misch-
Änderungen sind weitestgehend unerforscht und stellen       phasenwolken und ihrer Kopplung an die Atmosphären-
eine wesentliche Wissenslücke dar.                          dynamik stellen beispielhaft aktuelle Herausforderungen
                                                            für die Modellierung dar. Außerdem gibt es wesentliche
Antarktis                                                   Lücken bei der adäquaten Berücksichtigung der dynami-
In der Antarktis wurde bisher noch keine großflächige       schen und thermodynamischen Wechselwirkungsprozesse
Verstärkung der bodennahen Lufttemperaturen beobachtet,     zwischen Ozean, Meereis, Landeis und Atmosphäre.
die mit derjenigen in der Arktis vergleichbar ist. Die      Verbesserungspotenzial zeichnet sich dabei insbesondere
bisherige Verstärkung in der Antarktis ist eher regional    durch besseres Prozessverständnis sowie die adäquate
begrenzt und hauptsächlich dynamischer Natur, das heißt,    Darstellung zentraler Prozesse in Modellen ab.
sie ist auf eine Änderung der atmosphärischen Zirkulation
zurückzuführen. Man geht heute davon aus, dass sich         Klima-Archive aus beiden Polargebieten zeigen, dass schnelle
die Verstärkung in der Antarktis erst deutlich später als   Klimaänderungen in polaren Breiten mit ausgeprägten
in der Arktis zeigen wird (wie stark und wann genau ist     Wechseln in Temperatur und Niederschlag auf Zeitskalen
bisher noch nicht präzise quantifiziert). Die Aufnahme      von Jahren, Dekaden und Jahrhunderten nicht ungewöhnlich
der zusätzlichen „anthropogenen Wärme“ durch den            sind. Ein prominentes Beispiel ist das letzte warmzeitliche
Südozean spielt dabei eine entscheidende Rolle. In der      Maximum vor circa 125 000 Jahren, als die Temperatur in
Tat wurden in den vergangenen Jahrzehnten deutliche         hohen Breiten deutlich über der heutigen lag. Zu dieser Zeit
Erwärmungstrends in den tieferen Wassermassen des           erreichten die atmosphärischen Treibhausgaskonzentrationen
Südozeans beobachtet. Diese übertreffen den globalen        typische interglaziale Höchstwerte, die für CO2 deutlich
Erwärmungstrend im tiefen Ozean um das Fünffache.           (circa 25 Prozent) unter der heutigen Konzen­tration von
Weiterhin wird eine Abnahme und Südwärts-Verlagerung        415 Parts per Million lagen. Der damalige signifikante Anstieg
der großräumigen Westwindsysteme über dem Antarktischen     der atmosphärischen CO2-Konzentration wird unter anderem
Zirkumpolarstrom festgestellt. Insgesamt mehren sich in     mit einem Rückzug des Meereises erklärt. Im Pliozän vor
den letzten Jahren die Hinweise, dass das Meereis-Ozean-    drei bis fünf Millionen Jahren war es mehrere Grad wärmer
Atmosphäre-System in der für die Eisbildung und die         als heute, mit einer ausgeprägten polaren Verstärkung. Dies
Stabilität der Schelfeise so kritischen Region der Kon-     ist somit vergleichbar mit Klimaszenarien für die nächsten
tinentalschelfe auf überregionale atmosphärische und        hundert Jahre. Noch wärmer war es während des mittleren
ozeanische Antriebe reagiert (Forschungsthema 2).           Miozäns vor circa 15 Millionen Jahren. Auffällig sind hierbei
                                                            die ausgeprägte polare Verstärkung und die Sensitivität
Die Meereisbedeckung im Südozean, der den antarktischen     gegenüber externen Störungen. Diese Warmzeiten sind aller-
Kontinent umgibt, hat sich in den vergangenen vier          dings noch unzureichend dokumentiert und in ihren Ursachen
Dekaden kaum verändert. Im starken Gegensatz dazu           und Rückkopplungen in hohen Breiten nicht verstanden.
simulieren Klimamodelle im gleichen Zeitraum einen          Ihre Rekonstruktion und modellgestützte Interpretation
signifikanten Rückgang (SROCC). In diesem Zusammen-         liefert gleichwohl einen wichtigen Beitrag, um die natür-
hang spricht man von dem Antarktischen Meereis-Paradox.     liche Klimadynamik in ihrer Gesamtheit zu verstehen.

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KÜSTE
                                                                             POLARREGIONEN
                                                                                  IM WANDEL

Forschungsbedarf                                                 Durchführung von Beobachtungen für Prozessverständnis,
Quantifizierung der Treiber für die polare Verstärkung           Dokumentation langzeitlicher und regionaler Änderungen
Es besteht dringender Forschungsbedarf bei der Quanti-           Für geeignete Vergleiche der Modellergebnisse mit der
fizierung lokaler und ferngetriebener Verstärkungseffekte        Realität sind kombinierte Messaktivitäten mit gekoppelter
des gekoppelten Atmosphäre-Ozean-Eis-Land-Systems                Nutzung von Daten aus dezidierten Messkampagnen
in den Polarregionen. Dazu gehören insbesondere die              (Prozessverständnis), bodengebundene Langzeitmessungen
physikalischen und auch (biogeo)chemischen Prozesse,             (zur Verfolgung der zeitlichen Entwicklung und der
welche die Wärme-, Impuls-, Feuchte- und Stoff-Flüsse an         saisonalen Abhängigkeit der polaren Verstärkung) sowie
den Grenzflächen zwischen Atmosphäre und Oberfläche              Satellitendaten (regionale Abdeckung) erforderlich. Hier-
bestimmen. Das schließt auch horizontale Transporte in           bei ist es notwendig, die große Bandbreite räumlicher und
Atmosphäre und Ozean ein. Tiefe Grenzschichtwolken               zeitlicher Skalen abzudecken und heterogene Datensätze
sind ebenfalls als ein wesentlicher Faktor identifiziert, ins-   bestmöglich zu kombinieren. Ganzjährige Messungen
besondere deren regionale Wirkung auf das Strahlungs­feld        vor Ort sind nötig, um den polaren Klimawandel zu doku-
über intensiv reflektierenden Eis- und Schneeflächen und         mentieren und die Prozesse im Jahresverlauf zu beobachten,
unter Temperaturinversionen in verschiedenen Jahres-             aber auch um den besonderen Herausforderungen der
zeiten. Der Einfluss hoher Eiswolken auf den bodennahen          Satellitenfernerkundung in den Polarregionen zu begegnen
Strahlungsenergiehaushalt in der Arktis muss erforscht           sowie Fernerkundungsalgorithmen zu evaluieren und
werden. Die Rolle von Aerosolpartikeln in einer veränderten      weiterzuentwickeln.
Arktis (mehr anthropogene Quellen durch die zunehmende
wirtschaftliche Nutzung der Arktis, mehr marine Aerosol­         Evaluation von Modellen
quellen durch den Rückgang der Meereisbedeckung) sowie           Wettervorhersage-, Klima- und Erdsystemmodelle müssen
deren Wechselwirkungen mit Wolken- und atmosphären-              für die Polarregionen systematisch mit kontinuierlichen
chemischen Prozessen muss geklärt werden.                        Messungen von Bodenstationen (autonom und bemannt),
                                                                 Radiosonden, Satelliten und anderen Komponenten des
Bestimmung der Energiebilanz des Meereises                       Beobachtungssystems evaluiert werden. Besonderes
Um die Rolle der verschiedenen Mechanismen für                   Augenmerk liegt hierbei auf kleinräumigen Prozessen,
Bildung und Abschmelzen von Meereis quantifizieren               die für zuverlässige Vorhersagen und Klimaprojektionen
zu können, müssen die einzelnen Beiträge zur Energie­            realitätsnäher dargestellt werden müssen. Die vielfältigen
bilanz bestimmt werden. Dazu müssen langjährige                  Wechselwirkungen der Atmosphäre mit Meereis, Ozean
Messungen der Grenzflüsse von Energie und Impuls                 und Land müssen untersucht und realistisch in Modellen
durch­geführt und Fortschritte in der Modellierung               dargestellt werden. Dazu zählen beispielsweise verbesserte
der kleinskaligen Dynamik des gekoppelten Systems                Darstellung von Grenzschichtprozessen an den Grenz-
(atmosphärische Grenzschicht, Meereis und Schnee-                flächen zwischen Atmosphäre, Ozean und Meereis aber
auflage sowie ozeanische Deckschicht und Schicht des             auch zwischen Schelfeisen in dem Ozean in Klima- und
warmen, atlantischen Wassers unterhalb der Deckschicht)          Erdsystemmodellen.
vorgenommen werden. Besonderes Augenmerk sollte
auf die kritischen Eisbildungsgebiete wie die Schelf­            Fernwirkungen
regionen und die Eisrandzone gelegt werden. In der               Die (wechselseitigen) Zusammenhänge zwischen der
Antarktis beziehungsweise dem Südozean muss die                  arktischen Verstärkung und den Windsystemen der
Resilienz der Meeresbedeckung gegenüber der globalen             mittleren Breiten (Jetstream) sowie den damit verbundenen
Erwärmung erklärt werden, die so von Klimamodellen               Extremereignissen müssen mithilfe von Beobachtungs­
nicht simuliert wird (Antarktisches Meereis-Paradox).            daten und Modellexperimenten (zum Beispiel unter Ver-
Insbesondere gilt es dabei, die Frage zu beantworten,            wendung des „Polar Amplification Model Intercomparison
welche ozeanischen und atmosphärischen Prozesse sowie            Project“-Protokolls) auf Kausalität hin überprüft werden.
deren Sensitivitäten und Rückkopplungen es sind, die –           Dazu muss unter anderem verstanden werden, wie lokale
im Gegensatz zur Arktis – dieses System so robust                Prozesse und Wechselwirkungen im Vergleich zu Effekten
erscheinen lassen. In diesem Zusammenhang besteht                wirken, die durch meridionale Transporte bedingt sind
wichtiger Forschungsbedarf, die Wirkung der groß­                (zum Beispiel Warmlufteinschübe und Kaltluftaus­brüche,
räumigen Antriebe auf die zirkumpolare Reaktion von              ozeanische Transporte). Die im Verlauf von Luftmassetrans-
Meereis-Ozean-Prozessen im Bereich der Kontinental-              porten in die Arktis ablaufenden Transformationsprozesse
schelfregionen zu verstehen, die so kritisch für die             (einschließlich Aerosol-, Wolken- und Niederschlagsbildung)
Meereisbildung und das basale Schmelzen in den Schelf-           sind in Modellen immer noch mit erheblichen Unsicher-
eiskavernen sind (Forschungsthema 2).                            heiten behaftet. Diese Prozesse müssen deshalb detailliert

                                                                                                                          9
FORSCHUNGSAGENDA POLARREGIONEN IM WANDEL - Konzeptpapier des Mare:N-Begleitkreises
FORSCHUNGSTHEMEN

beobachtet und deren Darstellung in Modellen verbessert       Daraus leitet sich folgender Forschungs- und
werden. Die Fernwirkungen können auch ozeanischen             Entwicklungsbedarf ab:
Ursprungs sein. So führt verstärktes Abschmelzen zu-
                                                              • Verbesserung des Prozessverständnisses für die
mindest zeitweise zu Salzgehaltanomalien, die in den
                                                                Ursachen und Auswirkungen des Klimawandels in den
Nordatlantik wandern und dort die Tiefwasserbildung
                                                                Polarregionen auf unterschiedlichen Zeitskalen. Dazu
abschwächen könnten – mit erheblichen Auswirkungen
                                                                gehört die Quantifizierung arktischer ↔ antarktischer,
für die AMOC (Atlantic Meridional Overturning Circulation).
                                                                regionaler ↔ großskaliger, lokaler ↔ ferngetriebener,
Salzgehaltanomalien könnten auch durch verstärkten
                                                                atmosphärischer ↔ ozeanischer/kryosphärischer und
Niederschlag, zunehmende Flusseinträge und das Ab-
                                                                dynamischer ↔ thermodynamischer Treiber der pola-
schmelzen des Grönländischen Eischilds bedingt sein.
                                                                ren Verstärkung. Dies umfasst auch Untersuchungen
Dass die arktische Verstärkung zu einer Abschwächung
                                                                zu möglichen Änderungen von Klimavariabilität
der AMOC beiträgt, ist mittlerweile klar – zu untersuchen
                                                                und Extremereignissen in den Polarregionen.
ist hingegen, wie stark diese Abschwächung sein wird.
                                                              • Untersuchung der Ursachen der stark unterschied-
                                                                lichen Änderungen der Meereisausdehnung in der
Entwicklungspfade der arktischen Verstärkung
                                                                Arktis im Vergleich zur Antarktis (Antarktisches
Es muss untersucht werden, welche Entwicklungspfade
                                                                Meereis-Paradox) und Beantwortung der Frage, ob
der arktischen Verstärkung im 21. Jahrhundert möglich sind
                                                                das antarktische Meereis kurz vor einem starken
und inwiefern und insbesondere wann für die Zukunft
                                                                Rückgang steht.
eine ähnlich starke Erwärmung der Antarktis zu erwarten
ist. Insbesondere wird es in diesem Zusammenhang nicht        • Etablierung skalenauflösender, ganzjähriger Mess-
nur darum gehen, mittlere Änderungen zu beschreiben und         systeme zur Bestimmung von Energieflüssen und
zu verstehen. Es muss vielmehr ein besseres Verständnis         Energiebudgets in Schlüsselregionen der polaren
möglicher Änderungen der Klimavariabilität auf Zeit-            Verstärkung (Eisrandzone, Schelfregionen, Rand-
skalen von Monaten bis hin zu Jahrzehnten sowie der             ströme).
Änderungen von Extremereignissen in Polarregionen             • Durchführung dezidierter Messkampagnen und
erreicht werden.                                                Langzeitbeobachtungen zur prozess- und klima-
                                                                orientierten Modellevaluierung, zur Entwicklung
Tempo der heutigen polaren Verstärkung im Vergleich             neuer beziehungsweise Verbesserung vorhandener
zu anderen Warmzeiten                                           Parametrisierungen, zur Evaluierung einer neuen
Die Rekonstruktionen polarer Temperaturen und Meer­             Generation hochauflösender Modelle („Digitale
eisbedingungen sowie komplexer biogeochemischer                 Zwillinge“) sowie zur Evaluierung von Satelliten-
Proxies in verschiedenen Ablagerungsräumen müssen               Fernerkundungsdaten.
weiterentwickelt werden. Eine Verbesserung der strati-        • Untersuchung des Einflusses der polaren Verstärkung
grafischen Auflösung und die Verknüpfung mit terrestrisch-      über atmosphärische und ozeanische Prozesse auf
marinen Daten sind notwendig, ebenso wie die Erforschung        das Wetter, Klima und Extremereignisse in mittleren
der klimabedingten Auswirkungen auf den Sediment-               Breiten. Dazu gehört auch die Beantwortung der
transport. Simulationen der treibenden Mechanismen              Frage, ob Kausalität aus Beobachtungsdaten fehl-
und Prozesse auf erdgeschichtlich längeren Zeitskalen als       interpretiert wird und ob Modelle die Fernwirkungen
der derzeitigen Erwärmung dienen dazu, Ausmaß und               unterschätzen.
Tempo der derzeitigen polaren Klimaänderungen in einen
                                                              • Abschätzung der möglichen zukünftigen Ent­
längerfristigen Zusammenhang zu stellen und wesentliche
                                                                wicklungs­pfade der polaren Verstärkung im 21.
Treiber der langfristigen Entwicklung aufzudecken. Dazu
                                                                Jahrhundert einschließlich einer Quantifizierung
gehört auch die Verknüpfung mit terrestrisch-marinen
                                                                der Unsicherheiten der regionalen und globalen
Datenreihen aus der Arktis und Antarktis, um die
                                                                Auswirkungen.
Amplituden und Geschwindigkeiten erdgeschichtlicher
Klimaänderungen zu erfassen.                                  • Einordnung der derzeitigen polaren Klima­
                                                                änderungen mithilfe von Daten und Modellen aus
                                                                der erd­geschichtlichen Vergangenheit unter Ein­
                                                                beziehung einer systematischen Nutzung mariner
                                                                und terrestrischer hochaufgelöster Zeitreihen ver-
                                                                gangener Warmzeiten. Von besonderem Interesse
                                                                sind hier Umweltdaten von Eiskernen.

10
KÜSTE
 POLARREGIONEN
      IM WANDEL

              11
FORSCHUNGSTHEMEN

Ein Eisberg vor der Antarktischen Halbinsel

2.2 DIE EISSCHILDE: KIPPPUNKTE FÜR DEN MEERESSPIEGEL

  Leitfragen:                                               verstärkten Extremereignissen (zum Beispiel Sturmfluten)
                                                            ausgesetzt. Anfangs war die Ausdehnung des immer
  • Wie hoch sind die Beiträge abschmelzender Eisschilde
                                                            wärmeren Ozean­wassers der wichtigste Grund, aber seit
    und Polargebiete zum globalen und regionalen
                                                            2006 steigt der glo­bale Meeresspiegel rund zweieinhalbmal
    Meeresspiegelanstieg – heute und in der Zukunft?
                                                            schneller als im Zeitraum 1900–1990. Hauptursache
  • Wie groß ist die Gefahr, dass Teile des antarktischen
                                                            ist das verstärkte Abschmelzen der Grönländischen und
    Eisschilds und der Eisschild von Grönland instabil
                                                            antarktischen Eisschilde sowie der Gletscher. Unerwartet
    werden oder extremen Masseverlust erfahren, und
                                                            schnell verlor der westantarktische Eisschild an Masse.
    sind solche Ereignisse in der Erdgeschichte schon
                                                            Der Sonderbericht über Ozean und Kryosphäre (SROCC,
    eingetreten?
                                                            2019) des Weltklimarats erhöhte daraufhin die Ober-
  • Wie beeinflusst das Abschmelzen des Grönländischen      grenze des globalen Meeresspiegelanstiegs bis zum Jahr
    Eisschilds die Ozeanzirkulation und damit regionale     2100 auf 1,10 Meter und bewertete den Eisschild als
    Änderungen des Meeresspiegels?                          weniger stabil als in früheren Berichten. Bis zum Jahr
  • Wie können die Wechselwirkungen von Eisschilden         2050 werden extreme Wasserstände, die historisch be-
    mit Ozean und Atmosphäre besser verstanden, quanti-     trachtet Jahr­hundertereignisse waren, an vielen Küsten-
    fiziert und modelliert werden, um die Prognosen         orten min­destens einmal pro Jahr eintreten. Dies alles hat
    für den regionalen und globalen Meeresspiegel für       Folgen für die Lebensumstände an den Küsten und für
    die nächsten 100 bis 300 Jahre zu verbessern?           die Schutzmaßnahmen, die durchgeführt werden müssen,
                                                            damit Menschen und deren Lebensgrundlagen geschützt
                                                            werden. In den kommenden Jahrhunderten könnte bei einem
Gesellschaftliche Relevanz                                  weiteren durch den Klimawandel bedingten Temperatur­
Im Jahr 2050 werden etwa eine Milliarde Menschen nahe       anstieg der Kipppunkt von Teilen des antarktischen
der Küste wohnen, heute sind es 680 Millionen. Viele von    Eis­schilds erreicht werden – das heißt, das Abschmelzen
ihnen sind dem Anstieg des Meeresspiegels – global um       wäre nicht mehr aufzuhalten – und der Meeresspiegel
23 Zentimeter seit Anfang des 20. Jahrhunderts – und        global um mehrere Meter ansteigen.

12
KÜSTE
                                                                               POLARREGIONEN
                                                                                    IM WANDEL

Stand der Forschung                                               Die Einbindung dieser verbesserten Simulationen in Klima-
Die Inlandeismassen der Antarktis und Grönlands binden            modelle ist der letzte Schritt. Für die Evaluierung der Mo-
den bei Weitem größten Teil des Süßwassers der Erde. Würde        delle spielen internationale Vergleiche in transparenten
der mehrere 1000 Meter dicke antarktische Eisschild komplett      Verfahren eine besondere Rolle.
desintegrieren, dann stiege der globale Meeresspiegel um
etwa 58 Meter, und ein Verlust des Grönland-Eisschilds würde      Wechselwirkung Ozean–Eisschilde
zusätzliche 7,40 Meter beitragen. Bis vor Kurzem dominierte       Eisströme von den antarktischen Eisschilden fließen langsam
die Ausdehnung des Ozeans durch dessen Erwärmung den              Richtung Küste und bilden dort verbreitet Schelfeise, die auf
Anstieg des globalen Meeresspiegels, in den letzten drei Jahr­-   dem Ozeanwasser aufschwimmen. Trifft warmes Ozeanwasser
zehnten wurde jedoch der Beitrag durch den Massenverlust          auf die Unterseite der Schelfeise, wird dort Eis geschmolzen
der polaren Eisschilde und der Gletscher stärker. Die beob­       (basales Schmelzen). Verstärkt sich dieses basale Schmelzen,
achtete Beschleunigung des Masseverlusts des antarktischen        dünnen sich Schelfeise aus und die Übergangszone zum Inland-
Eisschilds hat im Sonderbericht des Weltklimarats über Ozean      eis zieht sich zurück. In extremen Fällen, wie bisher an der
und Kryosphäre (SROCC) aus dem Jahr 2019 zu einer Er-             Antarktischen Halbinsel mehrfach eingetreten, können Schelf
höhung der geschätzten Obergrenze des Meeresspiegel­              eise instabil werden. Verringert sich die Mächtigkeit der Schelf-
anstiegs bis zum Jahr 2100 geführt. Der westliche Teil des        eise oder droht gar der Verlust, dann beschleunigen sich die
antarktischen Eisschilds könnte laut SROCC-Bericht einen          Bewegungen der Gletscher des Inlandeises, der Masseverlust
Kipppunkt erreicht haben, sodass die Desintegration nicht         wird erhöht und der Meeresspiegel steigt schneller. Entschei-
mehr rückgängig gemacht werden kann. Dies würde bedeuten,         dend für die Intensität des Schmelzens der Schelfeise und
dass der Meeresspiegel in den kommenden Jahrhunderten             damit für den Anstieg des Meeresspiegels sind die Prozesse,
noch schneller steigen wird, als bisher vermutet. Diese           die warme Wassermassen aus den Tiefen des Ozeans über
Prognosen sind jedoch mit einer großen Unsicherheit be-           den antarktischen Kontinentalabhang auf die Schelfregionen
haftet. Das liegt an den wenigen Beobachtungen und dem            bringen. Das warme Wasser strömt dann unter die mehrere
noch unzureichenden Verständnis der Wechselwirkungen              Hundert Meter dicken Schelfeise und liefert die Wärme für das
zwischen Atmosphäre, Ozean, Meereis, Eisschilden und              basale Schmelzen. Die Vorgänge sind komplex und erfordern
der festen Erde, dem begrenzten Verständnis des Gleitens          ein Zusammenwirken von Prozessen im Ozean, auf dem Konti-
des Eisschilds über den Untergrund und der mangelnden             nentalschelf und in der Atmosphäre. Winde treiben das warme
Kenntnis des geothermalen Wärmestroms. Das Grönlän­               Wasser auf die Schelfe, sorgen aber auch dafür, dass sich
dische Eisschild sowie die arktischen Gletscher und Eis-          Barrieren salzreichen, kalten Wassers auf den Kontinental-
kappen außerhalb Grönlands haben im Zeitraum 2006–                schelfen aufbauen, die das warme Wasser verdrängen können.
2015 gleiche Beiträge zum globalen Meeresspiegel geleistet        Die Polynjen, die durch katabatische Winde auf den Schelf-
und werden auch zukünftig eine bedeutende Rolle spielen.          regionen erzeugt werden, sind ein entscheiden der Antrieb
                                                                  für die Ozeanströmung insbesondere unter dem Filchner-
                                                                  Ronne-Schelfeis, und sie sorgen unter heutigen Bedingungen
Forschungsbedarf                                                  für dessen Stabilisierung. Im Gegensatz dazu begünstigen ein
Das Ziel der Forschung ist es, zuverlässige Projektionen der      Rückzug des Meereises und der damit verbundene erhöhte
polaren Anteile zum globalen und regionalen Meeresspiegel         Salzeintrag ins Ozeanwasser das basale Schmelzen der Schelf-
in den nächsten 100 bis 300 Jahren zu gewinnen. Auf diesem        eise. Da die kleinskaligen komplexen Prozesse in heutigen
Zeithorizont erwarten wir deutliche Beiträge der Gletscher        Modellen nicht ausreichend präzise simuliert werden können,
und Eisschilde zum globalen Meeresspiegelanstieg bis zu           ist nicht klar, wie schnell sich das Abschmelzen bei einem
mehreren Metern, sodass auch das Management der Aus-              weiteren Temperaturanstieg beschleunigen wird. Um hier wei-
wirkungen für die Menschheit eines derart langen Zeitraums        terzukommen, sind zum einen Beobachtungen aller Kompo-
bedarf. Von entscheidender Bedeutung für verbesserte Pro          nenten und Prozesse zum quantifizierten Verständnis und
gnosen des globalen und regionalen Meeresspiegelanstiegs          zur Erfassung von Langzeittrends nötig, und zum anderen
ist es, alle Eismassen und die Prozesse, die ihr Abschmelzen      Anstrengungen in der Modellierung des Ozeans, der Atmos-
beeinflussen, realitätsnäher in die Klimamodelle einzubinden,     phäre und der Eisschilde mitsamt den Schelfeisen. Es
als es heute möglich ist. Mehrere Schritte sind nötig, um die-    müssen alle relevanten Prozesse realitätsnah modelliert
ses Ziel zu erreichen: Unser Wissen muss auf allen Zeitskalen     werden, die Auswirkungen auf das Abschmelzen haben.
durch Beobachtungen und Prozessstudien substanziell er-
weitert werden, um die Entwicklung einer realitätsnahen           Masseverlust des Grönländischen Eisschilds und der
physikalisch motivierten Modellierung der Kalbungsprozesse,       arktischen Gletscher
des Gleitens von Gletschern über den Untergrund sowie der         Anders als die Antarktis besitzt Grönland keine großflächigen
Hydrologie der Eisschilde und Gletscher zu ermöglichen.           Schelfeise. Es gibt aber schwimmende Gletscherzungen in

                                                                                                                                13
FORSCHUNGSTHEMEN

den Fjorden, für deren Stabilität ebenfalls basales Schmelzen   Zirkulation und der Tiefenwasserbildung an mehreren Schlüs-
den essenziellen Faktor darstellt. Heute existieren nur noch    selstellen. Wichtig in diesem Zusammenhang sind auch die
drei schwimmende Gletscherzungen im Norden Grönlands.           erwartete Zunahme der Süßwassertransporte aus dem Ark-
Im Süden sind sie bereits abgeschmolzen, mit entsprechender     tischen Ozean und die Frage, wie und ob sie diese Bildungs-
Beschleunigung der Gletscher-Fließgeschwindigkeiten Rich-       regionen erreichen. Für die Evaluation muss auch berück-
tung Küste. Inzwischen ist auch der Norden Grönlands von        sichtigt werden, dass sich die Bildungsregionen in den
deutlichem Masseverlust betroffen.                              Modellen nicht immer mit denen im realen Ozean decken.

Für das gesamte Grönland-Eisschild sind das Schmelzen an        Erfassung von Grundlagendaten und verbessertes
der Oberfläche inklusive der Bildung von Schmelzwasser-         Prozessverständnis für die Massenbilanzen der
seen und die Drainage von Schmelzwasser zur Gletscher-          Eisschilde und polaren Gletscher
basis wesentliche Prozesse, da Schmelzprozesse an der Ober-     Zum Verständnis der Mechanismen, die zum Eisverlust und
fläche und die Beschleunigung der Auslassgletscher jeweils      zum (regionalen wie globalen) Anstieg des Meeresspiegels
etwa 50 Prozent beitragen. Gezeitengletscher ohne schwim-       führen, müssen Grundlagendaten kontinuierlich erhoben
mende Eiszungen verhalten sich extrem sensitiv gegenüber        werden, um überhaupt Änderungen der Komponenten in der
dem Kalben der Eisberge, jedoch ist deren Kalbungsverhalten     Gesamtbilanz der Eismassen erkennen zu können. Hierunter
nicht ansatzweise gut genug verstanden, um es prognostisch      fallen zum Beispiel die Beobachtung der Eisdynamik, der
in numerischen Modellen zu simulieren – eine bedeutende         Höhen- und Massenänderungen von Inlandeis und Schelfeis
Voraussetzung für die Vorhersage des zukünftigen Massen-        sowie die Quantifizierung des Oberflächen- und des basalen
verlusts des Grönländischen Eisschilds und der Auswirkungen     Schmelzens. Ebenso essenziell sind eine verbesserte Erfassung
auf den Meeresspiegel. Folgende Mechanismen müssen              des geothermalen Wärmeflusses und das dringende Besei-
besser verstanden werden: das Zusammenspiel von Drainage        tigen von Wissenslücken hinsichtlich der Topografie des Fels-
und Gleitverhalten der Gletscher, der subglaziale Ausstrom      bodens unter den eisbedeckten Gebieten, der Geometrie der
und das Aushöhlen der Kalbungsfront von unten, das durch        Schelfeis-Kavernen und der Bathymetrie in Fjorden. Diese
die Bildung von Schmelzwasserfahnen unter Einmischung           Informationen werden benötigt, um die Interaktion zwischen
von Fjordwasser stattfindet. Ähnlich gilt dies für die          Ozean und Eis sowie die Strömungsbedingungen besser zu
ark­tischen Gletscher und Eiskappen, die andere Reaktions-      verstehen und in Modellen abzubilden. Basale Schmelzraten
zeiten auf Ozean- und Klimasignale aufweisen können.            an den Schelfeisen wurden bisher nur an wenigen Stellen ge-
Auch um eine bessere Differenzierung der gravimetrischen        messen, sind aber sehr bedeutsam, um aus Fernerkundung
Massen­änderungen des grönländischen Inlandeises von            und Modellen abgeleitete Raten zu evaluieren und deren Para-
den umliegenden Eismassen zu erzielen, müssen diese             metrisierung in Klimamodelle zu ermöglichen. Die Lage der
Prozesse separat betrachtet werden. Letztendlich führt          Aufsetzlinie (Übergang von gegründetem zu aufschwimmen-
eine Kombination von innovativen In-situ-Beobachtungen          dem Eis) ist ein wesentlicher Indikator für Änderungen. Für
und Fernerkundung mit Prozessmodellierung und ihrer             verbesserte Bilanzierungen sind exakte Kenntnisse der Firn-
Implementierung in Klimamodelle zu einer verbesserten           kompaktion (Firn: Schnee, der mindestens ein Jahr alt ist),
Prognose der polaren Beiträge zum Meeresspiegelanstieg.         der Mächtigkeits- und Dichteverteilung sowie der Eindring-
                                                                tiefe von Messsignalen in den Firnschneekörper von Be-
Änderung der regionalen Meeresspiegel durch                     deutung, um von Satelliten gemessene Höhenänderungen
Masseverlust Grönlands                                          korrekt in Massenänderungen überführen zu können. Hier-
Die Masseverluste des Grönlandeises liefern mehr Süßwasser      für sind auch verbesserte physikalische Firnschneemodelle
in den nördlichen Nordatlantik. Wenn dieses Süßwasser in        für Verdichtung und Hydrologie notwendig.
die Schlüsselregionen der klimarelevanten atlantikweiten
Zirkulation transportiert wird, dann könnte dies das Absinken   Kipppunkte und klimawandelinduzierter Temperatur-
von Oberflächen- in Tiefenwasser erschweren und zu einer        anstieg: Erkenntnisse aus geologischen Warmzeiten
weiteren Verlangsamung der Atlantikzirkulation führen, als      Für Untersuchungen, ob die Eisschilde teilweise oder ganz am
dies schon durch die globale Erwärmung geschieht. Eine abge-    Kipppunkt sind, sind geologische Zeiten, in denen die regio­-
schwächte Zirkulation lässt den regionalen Meeresspiegel        nalen Temperaturen höher als heute waren, von erheblicher
auch in Europa noch mehr ansteigen, als durch Abschmelzen       Relevanz. Diese Perioden reichen von der Eem-Warmzeit (vor
und Erwärmung zu erwarten ist. Es ist noch unklar, welche       circa 125.000 Jahren) bis zu den Warmzeiten des mittleren
Rolle das Süßwasser aus Grönland für die Zirkulation spielen    Pliozäns (vor circa 3–3,5 Millionen Jahren) und mittleren
wird, und noch sind nicht alle relevanten Prozesse gut in den   Miozäns (vor circa 14–16 Millionen Jahren). Aus diesen
Klimamodellen repräsentiert. Es besteht ein Bedarf an ver-      Epochen gibt es erste Hinweise, die einen partiellen oder voll-
besserten Modellen und an Langzeitbeobachtungen der             ständigen Kollaps der marin basierten Eisschilde vermuten

14
KÜSTE
                                                                              POLARREGIONEN
                                                                                   IM WANDEL

lassen. Ein Kollaps des westantarktischen Eisschilds könnte       Techniken aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz
während der letzten Interglazial-Periode stattgefunden haben,     (KI) oder der angewandten Mathematik, die Rohdaten
einer Periode, in der die polare Oberflächentemperatur etwa       automatisch analysieren und nützliche Sekundärprodukte
zwei bis drei Grad Celsius höher war als heute und die damit      effizient ableiten, wie zum Beispiel die Kartierung des Rück-
vergleichbar ist mit den Temperaturen, die im Jahr 2100           zugs der Kalbungsfront oder von Seen an der Eisoberfläche.
Realität sein könnten. Der Meeresspiegel würde dabei um           Um große Datenmengen einbeziehen zu können, werden
drei bis fünf Meter ansteigen. Um die Unsicherheiten in den       neueste systematische Methoden zur Datenassimilierung
Aussagen zu verringern, werden Sediment- und Eisbohrkerne         benötigt. Relevante Techniken nutzen maschinelles Lernen
aus Schlüsselregionen sowie eine auf den Beobachtungen            sowie Optimierung, Mustererkennung und Signalverarbeitung.
basierende Modellierung benötigt. Das Verhalten der Eis-          Die neuen, zuverlässigen Simulationen verringern die
schilde in anderen Warmzeiten kann dann genutzt werden, um        Unsicherheiten in den Zukunftsprojektionen. Als zentraler
die kritischen Temperaturgrenzen zu identifizieren, an denen      Aspekt in der Modellierung verbleibt die systematische
Eismassen irreversibel verloren gehen. Sie liefern damit          Abschätzung der verbleibenden Unsicherheiten.
einen wichtigen Beitrag zur Evaluation der Klimamodelle.

Realitätsnahe Simulation der Schmelzprozesse                        Daraus leitet sich folgender Forschungs- und
Modellrechnungen zufolge schrumpfen die Eismassen in zwei           Entwicklungsbedarf ab:
Schritten. Der erste Schritt führt zu einem Rückzug des Schelf-
                                                                    Die Gesellschaft benötigt dringend zuverlässige
eises. Gehen Schelfeismassen in der Antarktis verloren, be
                                                                    Projektionen der polaren Beiträge zum globalen und
schleunigen sich die Eismassen des dahinterliegenden Inland-
                                                                    regionalen Meeresspiegel in den nächsten 100 bis 300
eises, der Eistransport in den Ozeanen nimmt zu und der
                                                                    Jahren. Dies ergibt den folgenden Forschungsbedarf:
Meeresspiegel steigt. Berücksichtigt werden müssen auch
                                                                    • Beobachtung und Simulation der komplexen
die Änderungen in den Niederschlägen über den Eismassen,
                                                                      Prozesse zwischen Atmosphäre, Ozean, Meereis,
das Schmelzen an der Eisoberfläche durch wärmere Luft und
                                                                      Gletschern und Eisschilden sowie fester Erde.
eine veränderte Strahlungsbilanz durch mehr Schmelzwasser-
                                                                      Beispiele sind die Wechselwirkung zwischen
seen an der Eisoberfläche (sogenannte supraglaziale Seen)
                                                                      Hydrologie von Schmelzwasser und Gletscher-
und nassen Firn. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der
                                                                      dynamik, die Rolle der Auslassgletscher und der
Temperaturanstieg in der Arktis etwa zwei- bis dreimal höher
                                                                      Kalbung zusammen mit dem subglazialen Gleiten
ausfällt als der globale Mittelwert (siehe 2.1). Die gesamte
                                                                      und den Eigenschaften des Eisuntergrunds. Für
Folge von Abläufen im gekoppelten Klimasystem sind für den
                                                                      den regionalen Meeresspiegel werden zudem
Meeresspiegelanstieg extrem relevant, da beide Eisschilde
                                                                      vertikale Landbewegungen benötigt und auf
potenzielle Kipppunkte darstellen. Viele der Prozesse sind
                                                                      längeren Zeitskalen ist die Verteilung des geo­-
auch für die arktischen Gletscher und Eiskappen außerhalb
                                                                      thermalen Wärmeflusses von großem Interesse.
Grönlands bedeutsam, und diese polaren Eismassen müssen
ebenfalls in die Simulationen einbezogen werden. Zur Simu-          • Erfassen aller Komponenten der Gletscher- bezie-
lation dieser komplexen Abläufe müssen hochauflösende                 hungsweise Eisschild-Massebilanzen: Eisdynamik,
Prozessstudien in globale Klimamodelle der nächsten Gene-             Höhen- und Massenänderungen von Schelfeisen,
ration eingebettet werden. Dazu bedarf es effizienter hoch-           Gletschern und Eisschilden, Schließen von Wissens-
auflösender eisdynamischer Modelle und angepasster                    lücken bei der Eisgeometrie (Schelfeis-Kavernen,
Kopplungsstrategien. Die Ozeankomponenten müssen das                  Fjorde), Bewegungen der Aufsetzlinie, Kalbung,
basale Schmelzen und die Atmosphärenkomponenten das                   Mächtigkeits- und Dichteverteilung des Firns sowie
Oberflächenschmelzen realistisch simulieren können. Neue              die Hydrologie der Gletscher und Eisschilde.
Herausforderungen bestehen sowohl auf modellierender                • Quantifizierung der basalen Schmelzraten an den
als auch beobachtender Seite, um zum einen eine hochwertige           Schelfeisen, Verteilung von Schmelzwasser im Ozean,
Datenbasis zu schaffen und zum anderen die Prozesse auf               Einfluss auf lokale, regionale und atlantikweite
unterschiedlichen Zeitskalen zu erfassen.                             Ozeanzirkulation und die Auswirkungen auf den
                                                                      regionalen Meeresspiegel.
Nutzbarmachung von Beobachtungen                                    • Untersuchung der Schlüsselregionen für eine
Eine weitere Herausforderung ist eine verbesserte effiziente          schnelle Reaktion der Eisschilde in vergangenen
und systematische Nutzbarmachung von Erdbeobachtungen                 Warmzeiten durch geologische und geophysikalische
(zum Beispiel Fernerkundung) durch eine Steigerung des                Beobachtungen sowie durch Modellierung der
Informationsgewinns aus den Rohdaten und des Informations-            relevanten geologischen Zeitabschnitte.
flusses in die Modellierung. Für beide Bereiche eignen sich

                                                                                                                            15
FORSCHUNGSTHEMEN

Fluke eines südlichen Glattwals in der Scotia Sea

2.3 DAS SÜDPOLARMEER ALS SPEICHER FÜR WÄRME UND
    KOHLENSTOFF

  Leitfragen:                                               Gesellschaft und Wirtschaft. Der Ozean dämpft die Erwär-
                                                            mung der Atmosphäre erheblich. Er hat insgesamt mehr als
  • Wie beeinflussen Klimawandel und die zunehmende
                                                            90 Prozent der zusätzlichen Wärme aufgenommen, die durch
    atmosphärische CO2-Konzentration die Aufnahme
                                                            die Treibhausgase ins Klimasystem gebracht wurde, sowie
    und Verteilung von Wärme und Kohlenstoff im
                                                            mehr als 25 Prozent der anthropogenen CO2-Emissionen.
    Südpolarmeer?
                                                            Das Südpolarmeer erstreckt sich um den Antarktischen
  • Welche Auswirkungen hat eine veränderte Ozean-
                                                            Kontinent und nimmt etwa 25 Prozent der Ozeanoberfläche
    dynamik auf biogeochemische Prozesse und Stoff-
                                                            ein, hat aber seit 2005 überproportional viel, nämlich etwa
    kreisläufe und damit auf Versauerung, biologische
                                                            50 Prozent, der überschüssigen Wärme aufgenommen –
    Produktivität und Kohlenstoffspeicherung?
                                                            für den Zeitraum 1970–2017 waren es circa 40 Prozent.
  • Wie sehr beeinflussen erwartete Veränderungen           Auch bei der Aufnahme des anthropogenen Kohlenstoffs
    der biologischen Produktivität und Artenzusammen­       aus der Atmosphäre (40 Prozent) leistet das Südpolarmeer
    setzung die Kohlenstoffaufnahme im Südpolarmeer?        mehr, als sein Flächenanteil erwarten lassen würde.
  • Welche globalen Folgen haben Änderungen im
    Südpolarmeer?                                           Die Aufnahme und Speicherung von Wärme und anthro-
                                                            pogenem CO2 ist eng mit der Ozeanzirkulation verflochten.
                                                            Ein Großteil des Wärme- und CO2-Austauschs findet im
Gesellschaftliche Relevanz                                  Bereich des Antarktischen Zirkumpolarstroms (ACC) statt –
Der fortdauernde Ausstoß von CO2 durch den Gebrauch         der Hauptmotor der globalen Ozeanzirkulation, der Klima­-
fossiler Brennstoffe und die Änderung der Landnutzung hat   änderungen integriert, dämpft oder verstärkt und damit das
zu einer starken Erhöhung des atmosphärischen CO2-Gehalts   globale Klima signifikant beeinflusst. Diese physikalische
geführt. Diese anthropogenen Emissionen ändern das Klima    Pumpe wird angesichts höherer Temperaturen Effizienz
unseres Planeten rasch und mit vielfältigen Risiken für     verlieren.

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