Fragen zur Struktur und Ausgestaltung der Alphabetisierung und Grundbildung im Kontext der beruflichen und betrieblichen Weiterbildung
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Fragen zur Struktur und Ausgestaltung der Alphabetisierung und Grundbildung im Kontext der beruflichen und betrieblichen Weiterbildung Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg)
Von der Grundbildung (ABE) über berufliche Bildung (AVE) zur Weiterbildung (ASE) und höheren Bildung (AHE) 1. Begriffe 2. Matthäus-Effekt auch bei intensiver Weiterbildung? 3. Grundbildung: Was ist das in anderen Ländern? 4. ESL > ABE > ASE > AVE > AHE: Bildungspfade Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg) 1
1. Begriffe aus Richard Desjardins‘ Buch „Adult Education Systems“ • Adult Basic Education (Erwachsenengrundbildung, z.B. Sprachangebote für Neuzugewanderte, Alphabetisierung, nachholende Schulabschlüsse) • Adult Secondary Education (Erwachsenensekundarbildung, z.B. High School/ nachholende Hochschulreife, aber auch non-formale Fortbildung) • Adult Vocational Education (nachholende und weiterqualifizierende berufliche Bildung) • Adult Higher Education (Höhere Erwachsenenbildung, z.B. weiterbildende Studiengänge) • Adult Liberal Education (Politische Erwachsenenbildung, darunter citizenship education für Neuzugewanderte) Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg) 2
Warum ist ein Erwachsenen- und Weiterbildungssystem so wichtig? • Teilnahme gering Qualifizierter/Literalisierter liegt seit Jahrzehnten bei ca. 28% (AES), während die Teilnahme höher Qualifizierter langsam, aber stetig steigt (auf über 50%). • Wenn gering Qualifizierte/ Literalisierte an Weiterbildung teilnehmen, dann oft auf Basis von Vorgaben (Arbeitssicherheit, Staplerlizenzen, Gefahrgutführerscheine, siehe Bilger 2012 auf Basis von LEO 2010) oder externen Anstößen (Vorgesetzte, ibid.) • Wir konstatieren einen Matthäus-Effekt, allerdings unterschlägt der die systematischen und längerfristigen, teilweise verpflichtenden Weiterbildungen, z.B. Umschulungen (SGB III), Integrationskurse (ZuwG) sowie den zweiten Bildungsweg bis hin zu weiterbildenden oder späten Studiengängen. Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg) 3
2. Matthäus-Effekt auch bei intensiver Weiterbildung? • Auf Basis von PIAAC-Daten sind Ländervergleiche hinsichtlich der Stundenzahl von Weiterbildung möglich. • Diese Werte lassen sich nach Literalitätsstufe unterteilen (1 = niedrigste Stufe, 4/5 = höchste Stufe) • Dann zeigt sich, auf welchem Literalitätslevel am meisten Unterrichtsstunden erhalten oder genommen werden. Das ist nach Ländern unterschiedlich. • Erster Befund: Level 1 (150h) erhält bzw. nimmt im OECD-Durchschnitt mehr Stunden als Level 2 (129h), Level 3 (132h) und Level 4/5 139h), Standard Errors bei 2,9 bis 6,3 Stunden. Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg) 4
0 50 100 150 200 250 300 350 400 National entities Australia L1 erhält Australia L2 Australia L3 Australia L4/5 Austria L1 Austria L2 Länder, in denen L2 Austria L3 Austria L4/5 Canada L1 Canada L2 Canada L3 die meisten Unterrichtsstunden Canada L4/5 Czech Republic L1 Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg) Czech Republic L2 Czech Republic L3 Czech Republic L4/5 Denmark L1 Denmark L2 Denmark L3 Denmark L4/5 Estonia L1 Estonia L2 Estonia L3 Estonia L4/5 Finland L1 Finland L2 Finland L3 Finland L4/5 France L1 France L2 France L3 Länder, in denen L1… France L4/5 Germany L1 Germany L2 Germany L3 Germany L4/5 Ireland L1 Ireland L2 Ireland L3 Ireland L4/5 Italy L1 Italy L2 Quelle: PIAAC R1, 2012 Italy L3 Italy L4/5 Japan L1 Japan L2 nach Literalitätslevel (L1-L4/5) und Land Japan L3 Japan L4/5 Unterrichtsstunden in den letzten 12 Monaten Korea L1 Korea L2 Länder, in denen L4/5… Korea L3 Korea L4/5 5 Netherlands L1 Netherlands L2 Netherlands L3 Netherlands L4/5
Training Hours by Level Training Hours by Level Germany Italy (PIAAC 2012) (PIAAC 2012) 180 160 160 140 140 120 120 100 100 80 80 60 60 40 40 20 20 0 0 level 1 or below level 2 level 3 level 4 or 5 Germany L1 Germany L2 Germany L3 Germany L4/5 Italy L1 Italy L2 Italy L3 Italy L4/5 Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg) 6
Zwanzig Jahre Weiterbildungsförderung (IALS 1995 > PIAAC 2012): WB-Quoten bis Level 2 (von 5) Land IALS 1995 PIAAC 2012 Deutschland 20% 39% Dänemark 40% 53% UK 27% 42% … In allen Ländern sind die Werte um mehr als 10%-Punkte gestiegen. Die Abstände haben sich verringert. Hoch Literalisierte hatten in den 1990ern zweimal so hohe Weiterbildungsquoten wie gering literalisierte Menschen. Heute sind es „nur“ noch eineinhalb mal so hohe Weiterbildungsquoten. Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg) 7
3. Grundbildung: Was ist das in anderen Ländern? • Kurzbefragung der OECD 2013: teilnehmende Länder der PIAAC Runde 1 (2012), 17 Länder haben geantwortet, gefragt wurde nach „Programmen“ • 111 Programme, bestehend aus – Bildungsangeboten (72), – Forschung (21), – Aufmerksamkeitskampagnen (14) – Förderung für Organisationen (4) Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg) 8
Programme & Angebote: Kurzbefragung der OECD 2013, an PIAAC R1, 17 Antworten Zielgruppe Anzahl Programme Gering qualifizierte bzw. gering literalisierte Erwachsene 71 Zugewanderte 36 Gesamte Bevölkerung 18 Arbeitssuchende 17 Junge Erwachsene 9 Erwachsene Lernende (ggfs. auch Zweiter Bildungsweg) 4 Erwachsene im Strafvollzug 4 Frauen 2 Schüler*innen 2 Senior*innen 1 [1] Es gibt zum Teil Überschneidungen in der Anzahl der angebotenen Programme, beispielsweise Programme, die sich an gering qualifizierte Zugewanderte richten. [2] Unter ‚general‘ werden Programme verstanden, die sich an eine nicht weiter spezifizierte Bevölkerung richten. [3] Der Begriff ‚adult learners‘ ist international sehr missverständlich, es kann sich um Lernende in Alphabetisierungskursen handeln oder um Erwachsene im zweiten Bildungsweg. Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg) 9
Grundbildung (ABE): Was ist das in anderen Ländern? (Desjardins 2017) Adult Basic Lese- Zweiter (Nachholende) Eltern- Education (ABE) Sprachkurse und Bildungs- Berufs(aus)bildung bildung/ Betrachtete für Schreib- weg & Arbeitsmarkt- Family Länder Migrant*innen kurse (ZBW) programme Literacy Dänemark ja Ja (ja) (ja) k. A. Deutschland k. A. k. A. k. A Ja (ja) AG: ja AG: ja AG: ja Finnland k. A. Ja (ja) k. A. k. A. Großbritannien ja Ja Ja Ja Ja Niederlande k. A. Ja Ja Ja k. A. Norwegen k. A. k. A. Ja Ja k. A. AG: (ja) Südkorea Ja Ja k. A. k. A. k. A. USA ja Ja (ja) ja Ja D.h., Grundbildung enthält SGB III, ZuwG, Schulgesetze, ergo sehr voluminöse Programme. Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg) 10
Weitere Ergebnisse • Die deutsche Grundbildung ist wenig systematisch mit vorauslaufenden Kursen für Migrant*innen verbunden. • Ein Übergang aus der Grundbildung zur Berufs- oder Hochschulbildung ist ebenso wenig erkennbar. • Im deutschen System scheint es weiterhin keinen “pathway back“, also keinen Weg aus der Berufstätigkeit zurück in die formale Bildung zu geben: Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg) 11
No pathway back: Zweiter Bildungsweg im Verbleich (PIAAC 2012), Anteil der ZBW-Teilnehmenden an den Altersgruppen Land 16-25jährige 26-50jährige 50-65jährige Dänemark 15% 12% 4% Norwegen 8% 16% 5% Niederlande 10% 15% 5% Deutschland 11% 7% 1% UK 10% 12% 6% USA 5% 14% 5% Korea 0,4% 5% 1% Gewichtete Hochrechnung: ZBW in Deutschland sind rund 3 Millionen Menschen Anm.: Nur in DE gibt es AVE mit 1% der 21+jährigen, rund 450.000 Menschen Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg) 12
Zusammenfassend lässt sich festhalten: • Die Literalitätskampagnen oder Kurse zum Schriftspracherwerb stehen nicht im Vordergrund der Erwachsenen-Grundbildung. In Dänemark richten sich die Angebote an Menschen mit ‚reading disabilities‘, in anderen Ländern sind sie entweder stark auf den zweiten Bildungsweg (USA) oder den Spracherwerb (Großbritannien) ausgerichtet. • Der zweite Bildungsweg gilt überall als Erwachsenen-Grundbildung und wird auch durch Programme und deren Finanzierung abgedeckt. • Sprachprogramme gehören teilweise zur Grundbildung, sofern sie von Desjardins zur Kenntnis genommen werden. Ausgewiesen und breiter erklärt sind sie für die anglophonen Länder. Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg) 13
… • Berufliche Grundbildung – ob als Workforce Literacy (berufsbezogene Grundbildung), als Arbeitsmarktprogramm oder als nachholende Berufsbildung – wird häufiger der Adult Vocational Education (nachholende Berufsausbildung) zugerechnet als der Grundbildung. • Eltern- und Familienbildung ist in einigen Ländern explizit Teil der Grundbildung, in Deutschland wird sie eher im Bereich der Sozialen Arbeit angesiedelt. • Die anglophonen Länder halten ihre Grundbildungsangebote in Form einer Strategie mit Übergängen zusammen. Desjardins verwendet hier den Begriff der „pathways“ (Pfade). Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg) 14
Bildungspfade (pathways): ABE > ASE > AVE > ALE > AHE Bildungspfade innerhalb des Grundbildungssegments (ABE): • DAZ > Schriftspracherwerb/Vertiefung > Zweiter Bildungsweg • Grade bei BAMF-Alphabetisierungskursen (1200h, Kursziel A2) kann Erwachsenengrundbildung gut anschließen Bildungspfade zwischen den Segmenten (ABE > AVE/AHE/ALE) • In vielen Fällen wäre ein Übergang in die berufliche Bildung sinnvoll (Teilqualifizierung), also DAZ > Schriftspracherwerb/Vertiefung > AVE • Es muss ein Angebot der politisch-kulturellen Bildung bestehen (ALE) • Es muss ein Weg offen bleiben zur höheren Bildung (AHE) Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg) 15
Anke Grotlüschen Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg) 16 Prof. Dr. Anke Grotlüschen (Universität Hamburg)
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