2018 WORKERS' VOICE Weiterdenken. Mitgestalten. Mitbestimmung - Hans-Böckler-Stiftung

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     2018
      Jahresbericht

      WORKERS' VOICE
      Weiterdenken. Mitgestalten. Mitbestimmung.

Seite 1 · Jahresbericht 2018
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    INHALT
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 4       Vorwort
 6       Elf Fragen an Andrea Kocsis
12       Unser Anliegen, unsere Themen, unsere Arbeit
14       Höhepunkte der Stiftungs­arbeit 2018
18		     Was uns bewegt
26       Mitbestimmung
32		     Forschung
34		     WSI – Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut
40		     IMK­– Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung
46		     HSI – Hugo Sinzheimer Institut
50		     Abteilung Forschungs­förderung
54		     Stipendien

62		     Öffentlichkeits­arbeit und Transfer
64       Die Stiftung in Zahlen

66		     Der Vorstand
68       Der Wissen­schaftliche Beirat
70       Das Kuratorium
72       Die Auswahlausschüsse der Studienförderung
74       Die Vertrauensdozentinnen und Vertrauensdozenten

88       Organigramm der Stiftung
89       Impressum

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Vorwort

          VORWORT

          Michael Guggemos
          Geschäftsführer

          LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

          verbriefte demokratische Beteiligung in Betrieb und Unternehmen,
          kollektive Verträge für ordentliche Arbeitsbedingungen, Sozialpartnerschaft –
          sie sind bei allen nationalen Differenzen und realen Defiziten in weiten
          Teilen der Europäischen Union (EU) deutlich stärker verwurzelt als in
          anderen Weltgegenden und Wirtschaftsmodellen. Das zeigen die
          Ergebnisse der Expertinnen und Experten unserer Kommission „Workers’
          Voice“, die Sie im vorliegenden Jahresbericht nachlesen können. Europa ist
          natürlich keine Insel der Seligen. Doch im Vergleich zu anderen Kontinenten
          zeigt die Karte sozialer Rechte hier häufiger „Grün“. Und zugleich sind die
          EU-Länder wirtschaftlich erfolgreich – nicht trotz, sondern wegen hoher
          Standards. Sie fördern sozialen Frieden und geben dem Engagement und
          der Kreativität von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Raum.
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Vorwort

Die europäische Politik hat über Jahrzehnte dazu beigetragen, diese Vorteile
grenzüberschreitend auszubauen. Doch in den vergangenen Jahren war sie allzu oft
von Verzagtheit geprägt, die zu Stagnation oder gar Rückschritten geführt hat. Und
dafür sind längst nicht immer nur die Institutionen in Brüssel und Straßburg
verantwortlich. Ein Beispiel dafür ist das aktuelle „Company Law Package“, das
grenzüberschreitende rechtliche Verlagerungen, Verschmelzungen oder Aufspaltungen
von Unternehmen regeln soll. Eine breite Mehrheit im Europäischen Parlament hat
dafür gestimmt, den eher mäßigen Schutz von Mitbestimmungsrechten, den die
EU-Kommission vorgeschlagen hatte, deutlich zu verbessern. Hätte sich das Votum
der Parlamentarier durchgesetzt, hätten Unternehmen künftig deutlich weniger
Möglichkeiten, die Beteiligung von Beschäftigten auszuhebeln. Doch in den weiteren
Verhandlungen haben viele nationale Regierungen dafür gesorgt, dass der gute
Vorschlag aus dem Parlament verwässert wurde. Der europäischen Idee haben sie
damit natürlich einen Bärendienst erwiesen. Und das in einer Zeit, in der viele
Menschen nicht mehr die europäische Hoffnung sehen, sondern eine Bedrohung ihrer
Lebenschancen.

Wir sind überzeugt: Europa ist mehr, Europa kann mehr. Deshalb ist es so wichtig und
immer lohnend, sich für demokratischen und sozialen Fortschritt einzusetzen.
Insbesondere in den kommenden Monaten, wenn das europäische Arbeitsprogramm
für die nächsten Jahre verhandelt wird. Mitbestimmung, Gute Arbeit, Gerechtigkeit –
das ist unsere Übersetzung dafür – und die Ziele, die wir als Hans-Böckler-Stiftung
verfolgen. Wir laden Sie herzlich ein, unsere Arbeit auf den nächsten Seiten
kennenzulernen. Sie wurde auch 2018 wieder maßgeblich ermöglicht durch die
Zuwendungen der Förderinnen und Förderer, das (ehrenamtliche) Engagement unserer
Unterstützerinnen und Unterstützer, etwa in Beiräten, Unternehmen oder an
Hochschulen, sowie durch den Einsatz unserer Beschäftigten. Dafür möchte ich mich
an dieser Stelle herzlich bedanken.

Michael Guggemos
Geschäftsführer der Hans-Böckler-Stiftung

                                                                                       Jahresbericht 2018 · Seite 5
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Elf Fragen an Andrea Kocsis

                         ELF FRAGEN AN
                         ANDREA KOCSIS

                         Andrea Kocsis, stellvertretende Vorsitzende von ver.di und
                         Mitglied im Vorstand der Hans-Böckler-Stiftung

                         Aus ihrem Büro im Berliner ver.di-Haus hat Andrea Kocsis
                         einen weiten Blick über die Spree. Doch es ist derzeit nicht
                         leicht, die Gewerkschafterin hier zu erwischen. Die ver.di-
                         Vizin ist angesichts der laufenden Organisationswahlen in
                         den Fachbereichen und Landesbezirken viel unterwegs.
                         Und die Tarifverhandlungen bei der Deutschen Post AG, wo
                         sie stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende ist, waren
                         schwierig und hart, der Abschluss war dafür ein großer
                         Erfolg. Im Interview lässt sich Andrea Kocsis den Stress
                         aber nicht anmerken. Ein Gespräch über die
                         Arbeitsbedingungen im Dienstleistungssektor, über die
                         mitbestimmte Gestaltung der Digitalisierung und über
                         Beschäftigte, die zunehmend einen fairen Gegenwert für
                         ihre Arbeit einfordern.

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Elf Fragen an Andrea Kocsis

        Jahresbericht 2018 · Seite 7
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Elf Fragen an Andrea Kocsis

                         Die Beschäftigtenzahlen in Deutschland erreichen        In tarifgebundenen Unternehmen herrschen in aller
                         Rekordhöhen. Besonders stark wachsen Dienstleis-        Regel bessere Arbeitsbedingungen als in Unterneh-
                         tungsbereiche wie die Pflege oder die Postdienst-,      men, für die kein Tarifvertrag gilt. Das zeigt nicht
                         Speditions- und Logistikbranche. Mittlerweile man-      nur die alltägliche Erfahrung, das hat die Hans-
                         gelt es an Arbeitskräften. Trotzdem sind die            Böckler-Stiftung in zahlreichen Studien auch wis-
                         Arbeitsbedingungen hier oftmals alles andere als        senschaftlich nachgewiesen. Dennoch geht die
                         gut. Wie passt das zusammen?                            Tarifbindung in Deutschland seit Jahren zurück.
                                                                                 Wie lässt sich der problematische Trend drehen?
                         Ich sehe das ein bisschen differenzierter. Bei der
                         Deutschen Post AG ist es uns gerade gelungen, die       Die Entwicklung ist nicht neu, aber sie beschleu-
                         im Jahr 2015 gegen unseren erbitterten Wider-           nigt sich. In Thüringen haben wir zum Beispiel mitt-
                         stand durchgedrückte Spaltung der Belegschaft zu        lerweile nur noch eine Tarifbindung von 17 Prozent
                         beenden. 13.000 Beschäftigte aus 46 GmbHs wer-          in der Privatwirtschaft – was wirklich dramatisch
                         den ingesourct. Künftig gilt wieder für alle Beschäf-   ist. Allein durch unsere eigene Organisation wer-
                         tigten ein Haustarifvertrag. Das ist ein riesiger       den wir das nicht ändern können, oft fehlt uns auf
                         gewerkschaftlicher Erfolg. In der Tarifrunde der        Arbeitgeberseite auch der zentrale Verhandlungs-
                         Länder haben wir eine Extrazahlung für Pflege-          partner, so dass es extrem aufwendig wäre, mit
                         kräfte vereinbart. Und auch in der Logistikbranche      lauter relativ kleinen Unternehmen Haustarifver-
                         können wir höhere Entgeltsteigerungen aushan-           träge abzuschließen. Da brauchen wir auch gesetz-
                         deln und anders über Arbeitszeitfragen diskutieren      liche Unterstützung.
                         und verhandeln als zuvor. Die Arbeitgeberinnen
                         und Arbeitgeber beginnen anzuerkennen, dass             Was fordern Sie konkret?
                         Beschäftigte eigene Anforderungen haben an die
                         Gestaltung ihrer Arbeitszeit. Also: Es geht bergauf,    Zum einen muss die Allgemeinverbindlicherklärung
                         wenn auch mühselig. In der Pflegebranche werden         von Tarifverträgen erleichtert werden: Wir wollen,
                         mittlerweile sogar Abwerbeprämien von mehreren          dass ein von den Tarifvertragsparteien gemeinsam
                         tausend Euro gezahlt. Ärgerlich ist aber, dass die      eingebrachter Tarifvertrag nur noch mit Mehrheit
                         Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zusätzliche Leis-      abgelehnt werden kann. Bislang hat in den paritä-
                         tungen oft nicht tarifvertraglich vereinbaren wollen.   tisch von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden
                         Die werden dann individuell gewährt – und sind          besetzten Tarifausschüssen die Bundesvereinigung
                         leicht wieder entzogen.                                 der Arbeitgeberverbände (BDA) eine Vetoposition.

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Derzeit kann die BDA deshalb alle Versuche, einen       Wir begrüßen es, dass das Bundesarbeitsministe-
Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären zu       rium eine Nachunternehmerhaftung wie im Bauge-
lassen, mit ihrem Nein scheitern lassen. Die han-       werbe auch für die Paketbranche einführen will.
deln da sehr dogmatisch. Zuletzt haben sie eine flä-    Zwar sind mit der Deutschen Post DHL-Group,
chendeckende Mindestausbildungsvergütung im             UPS, DPD und Hermes vier der fünf großen Paket-
bayerischen Friseurhandwerk verhindert, die wir         dienstleister in Deutschland tarifgebunden – GLS
zusammen mit der Friseurinnung erreichen wollten.       ist das nicht. Aber in der Zustellung wird zum Teil,
Zum anderen muss dafür gesorgt werden, dass             bei DPD, Hermes und GLS praktisch ausschließlich
öffentliche Aufträge nur noch an tarifgebundene         mit Subunternehmen gearbeitet. Um Kosten zu
Unternehmen vergeben werden. Dazu braucht es            sparen und Verantwortung für die Arbeitsverhält-
nicht nur ein Bundesvergabegesetz, sondern auch         nisse loszuwerden. Mit der erweiterten Nachunter-
entsprechende Regelungen auf Landesebene und            nehmerhaftung wären die Auftraggeber nicht nur
auf kommunaler Ebene. Zusätzlich müssen Tarif-          für die Zahlung des Mindestlohns, sondern auch
verträge bei Outsourcing so lange weitergelten, bis     für die Abführung von Sozialversicherungsbeiträ-
sie durch neue Tarifverträge abgelöst werden.           gen haftbar zu machen. Dann könnten sich die Auf-
                                                        traggeberinnen und Auftraggeber nicht mehr einen
Das HSI der Hans-Böckler-Stiftung hat den Vor-          schlanken Fuß machen, indem sie ihre Subunter-
schlag in die Debatte gebracht, Tarifbezahlung          nehmerinnen und Subunternehmer bloß vertraglich
steuerlich besserzustellen und auf diese Weise          zur Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften ver-
Tarifverträge wieder attraktiver zu machen …            pflichten, sondern sie müssten selbst darauf ach-
                                                        ten, wie die Arbeitsbedingungen sind. Natürlich
Ja, der Ansatz ist interessant, darüber sollten wir     kann uns das aber nicht reichen. Wir wollen, dass
auf jeden Fall weiter nachdenken.                       die Unternehmen am Ende zu dem Schluss kom-
                                                        men, die Menschen doch lieber direkt anzustellen
Tarife, und selbst der Mindestlohn, werden aber         und nach Tarif zu bezahlen. Die Paketdienstbran-
auch unterlaufen. Für Kurierdienste arbeiten bei-       che wird dank Online-Handel auch künftig weiter-
spielsweise Fahrer, die offiziell selbstständig sind,   wachsen, deshalb werden die Unternehmen mehr
Speditionen setzen zu Billiglöhnen osteuropäische       als den Mindestlohn anbieten müssen, um die
Trucker ein, die ihre Lastwagen oft nicht mal zum       Arbeitsplätze attraktiv zu gestalten. Daran werden
Schlafen verlassen: Was lässt sich dem entgegen-        wir als Gewerkschaft weiterarbeiten.
setzen?

                                                                                                          Jahresbericht 2018 · Seite 9
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Elf Fragen an Andrea Kocsis

                         Was kann oder muss auf europäischer Ebene gere-         Bürgerbüro umgesetzt werden soll. Was ich dabei
                         gelt werden?                                            auffällig finde, ist die Ungleichzeitigkeit. In der
                                                                                 Logistik zum Beispiel haben wir Betriebe, da arbei-
                         In der Logistik werden fast überall mobile Beschäf-     ten schon seit Jahren fast gar keine Menschen
                         tigte eingesetzt, die ununterbrochen zwischen den       mehr, weil alles automatisiert wurde. Andere Logis-
                         EU-Mitgliedsstaaten pendeln. Gemeinsam mit              tikbetriebe machen die gleiche Arbeit noch hän-
                         unseren europäischen Partnergewerkschaften              disch. Die digitale Transformation ist für mich kein
                         rackern wir hier unermüdlich. Wir wollen, dass die      einheitliches Gesamtbild, sondern man muss
                         Verbesserung der Entsenderichtlinie auch für diese      genau hinschauen: Was verändert sich denn? Und
                         Beschäftigten gilt. Das Europäische Parlament hat       welche Antworten braucht es da? Ich war ja Mit-
                         jetzt im April quasi in letzter Minute einen zwar       glied der von der Hans-Böckler-Stiftung eingesetz-
                         nicht optimalen, aber tragfähigen Kompromiss            ten Kommission „Arbeit der Zukunft“, in der wir
                         gefunden. Das ist schon mal gut. Ob der Schritt in      das ganz ähnlich diskutiert haben. Aber wir haben
                         Richtung sozialerer Arbeitsbedingungen nach den         da auch ein paar große Themen identifiziert. Der
                         Wahlen weitergegangen wird, wird ein Lackmus-           Arbeitnehmerbegriff muss so erweitert werden,
                         test, wie ernst es der EU mit der propagierten          dass er auch soloselbstständige Internet-Clickwor-
                         „sozialen Säule“ tatsächlich ist.                       ker erfasst. Und ganz entscheidend wird es auf
                                                                                 Weiterbildung ankommen. Arbeitgeber müssen
                         Verantwortlich für die Arbeitsbedingungen ist der       stärker in die Pflicht genommen werden, Beschäf-
                         Arbeitgeber. Doch oft hat es den Anschein, dass da      tigten Qualifizierungsangebote zu machen. Damit
                         gerne jedes Unternehmen auf andere zeigt. Am            dabei auch kleine und mittelständische Betriebe
                         Ende können sich alle darauf einigen, dass sie nur      mithalten können, halte ich staatliche Förderung
                         den Preisdruck aufnehmen, der von Kundinnen und         allerdings für unabdingbar.
                         Kunden ausgeht. Müssen wir uns alle eine Mitver-
                         antwortung zuschreiben?                                 Welche Rolle spielen Betriebsräte bei der Gestal-
                                                                                 tung der Transformationsprozesse?
                         Das Argument, die Kundin/der Kunde wolle das ja,
                         lasse ich an dieser Stelle nicht gelten. Es gibt eine   Immer mehr Betriebsräte erkennen, dass die Digi-
                         Geiz-ist-geil-Mentalität in Deutschland, das stimmt     talisierung auch die Chance bietet, Dinge zuguns-
                         und das finde ich auch nicht gut. Aber es gibt auch     ten der Beschäftigten zu verändern. Wenn zum Bei-
                         ein zunehmendes Bewusstsein in der Gesellschaft,        spiel in der Paketzustellung eine Gangfolge digital
                         dass Niedriglöhne ein Problem sind. Ich bin davon       vorgegeben wird, dann kann man auch ein digita-
                         überzeugt, dass die Unternehmen Preiserhöhungen         les Ende der Arbeit einleiten, indem der Handscan-
                         durchsetzen müssen und dass viele Kundinnen und         ner einfach irgendwann abgeschaltet wird – das ist
                         Kunden auch mehr zahlen würden für Dienstleis-          etwas, das Betriebsräte fordern. Oder man kann
                         tungen. Ein Arbeitgeberverbandsvertreter hat uns        die körperlich belastende Arbeit der Zusteller
                         mal gebeten, mit dazu aufzurufen, Paketzustellern       erleichtern, indem Sendungen vorher gewogen
                         ein höheres Trinkgeld zu geben. Da habe ich             werden, so dass derjenige, der sie anheben muss,
                         gesagt: Geht’s noch? Natürlich kann man als Kun-        vorgewarnt ist: Achtung, jetzt kommt ein schweres
                         din oder Kunde ein Trinkgeld geben, aber das            Paket. Zusammen mit den Betriebsräten müssen
                         ersetzt keine ordentlichen Arbeitsbedingungen.          wir das nach vorne treiben und schauen, was dank
                         Dafür zu sorgen ist und bleibt Aufgabe der Arbeit-      des technologischen Fortschritts jetzt möglich ist,
                         geber – und sie sind da auch zunehmend unter            was vorher nicht möglich war.
                         Druck. Ob in der Pflege, bei den Paketdiensten, in
                         Kitas, im Wachgewerbe oder beim Bodenpersonal           Das heißt, Digitalisierung läuft konkret anders und
                         an Flughäfen: Überall wissen oder lernen die            besser, wenn ein Unternehmen oder ein Betrieb
                         Beschäftigten gerade, dass ihre Arbeitskraft mehr       mitbestimmt ist?
                         wert ist, und setzen sich zur Wehr gegen schlechte
                         Arbeitsbedingungen.                                     Ganz bestimmt. Wir haben beim Hafenlogistiker
                                                                                 Eurogate auf Initiative des Konzernbetriebsrates
                         Viele Dienstleistungsbranchen – Handel und Logis-       gerade einen hervorragenden Tarifvertrag zum
                         tik, aber auch Banken – sind auch so etwas wie          Umgang mit Digitalisierungs- und Automatisie-
                         Vorreiterbranchen bei der Digitalisierung, Stichwort    rungsvorhaben abgeschlossen. Bei jedem solchen
                         E-Commerce. Wie kann man dazu beitragen, dass           Vorhaben tritt dort jetzt eine Kommission zusam-
                         der technische Fortschritt zu besseren Arbeitsbe-       men, die paritätisch mit Vertreterinnen und Vertre-
                         dingungen und nicht zum Stellenabbau führt?             tern von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite
                                                                                 besetzt ist. Sie analysiert die Auswirkungen für die
                         Digitalisierung gibt es für uns schon lange. Und        Beschäftigten und stellt aus den Instrumenten, die
                         das betrifft nicht nur bestimmte Branchen – das         der Tarifvertrag vorgibt, ein bindendes Personal-
                         geht bis in den öffentlichen Dienst, wo das digitale

Seite 10 · Jahresbericht 2018
Elf Fragen an Andrea Kocsis

konzept zusammen. So darf die Wochenarbeitszeit       Ich glaube, dass die Mitbestimmungsgesetze ange-
nur bei vollem Lohnausgleich gekürzt werden. Es       passt werden müssen – aber nicht so, wie sich das
gibt einen Rechtsanspruch auf Weiterqualifizie-       manche Arbeitgeber wünschen, die die Mitbestim-
rung, auf Bildungsteilzeit, auf Jobsharing. Verset-   mung von Betriebsräten bei der Einführung von IT-
zungen sind nur freiwillig möglich und werden mit     Anwendungen als fortschrittshemmend geißeln
Mobilitätsprämien honoriert. Wer eine eigentlich      und gerne abgeschafft sähen. Wir brauchen viel-
geringer bezahlte Tätigkeit annimmt, bleibt trotz-    mehr beim Persönlichkeits- und Datenschutz eine
dem noch fünf Jahre lang in seiner bisherigen Ent-    noch bessere Mitbestimmung der Betriebsräte. Wir
geltgruppe. Outsourcing ist untersagt und betriebs-   brauchen eine Verstärkung des Arbeitsschutzes,
bedingte Kündigungen sind bis 2025 ausgeschlos-       weil Arbeitsabläufe durch die Digitalisierung ja
sen. Und das alles in einem privatwirtschaftlichen,   nicht nur erleichtert, sondern im Gegenteil auch
nicht in einem öffentlichen Unternehmen – das ist     gesundheitlich belastender werden können. Wenn
wegweisend. Starke Betriebsräte und ein guter         die Produktivität gesteigert werden soll, führt das
Organisationsgrad haben das möglich gemacht.          zu Arbeitsverdichtung und Stress. Auch bei der
                                                      Personalbemessung ist deshalb eine stärkere Mit-
Wo es einen solchen Tarifvertrag nicht gibt, müs-     bestimmung nötig.
sen Betriebsräte mit dem arbeiten, was ihnen das
Betriebsverfassungsgesetz an die Hand gibt. Aber
sind diese Mitbestimmungsrechte den technologi-
schen Veränderungen noch gewachsen?

                                                                                                      Jahresbericht 2018 · Seite 11
Unser Anliegen, Unsere Themen, Unsere Arbeit

                         UNSER ANLIEGEN,
                         UNSERE THEMEN,
                         UNSERE ARBEIT

Seite 12 · Jahresbericht 2018
Unser Anliegen, Unsere Themen, Unsere Arbeit

DIE HANS-BÖCKLER-STIFTUNG
Wofür steht die Hans-Böckler-Stiftung?                  Forschungsförderung
Die Hans-Böckler-Stiftung tritt ein für eine demokra-   Die Abteilung Forschungsförderung unterstützt
tische und solidarische Gesellschaft, in der Gute       jedes Jahr zahlreiche wissenschaftliche Forschungs-
Arbeit die zentrale Wohlstandsquelle, Mitbestim-        vorhaben an Hochschulen und externen For-
mung das zentrale demokratische Gestaltungsprin-        schungseinrichtungen. Ziel ist es, mit den daraus
zip der sozialen Marktwirtschaft und Gerechtigkeit      resultierenden Forschungsergebnissen innovative
das wesentliche gesellschaftliche Fundament ist.        Gestaltungsimpulse zu setzen und Orientierungswis-
                                                        sen schnell und kompakt zur Verfügung zu stellen.
Wer steht hinter der Hans-Böckler-Stiftung?             Die Arbeit der Forschungsförderung trägt ferner
Die Hans-Böckler-Stiftung ist das Mitbestimmungs-,      dazu bei, eine neue Generation von Wissenschaftle-
Forschungs- und Studienförderwerk des Deutschen         rinnen und Wissenschaftlern zu fördern, die sich
Gewerkschaftsbundes (DGB). Das Fundament der            einer qualitativ hochwertigen Forschung und einer
Hans-Böckler-Stiftung bilden die Förderinnen und        arbeitnehmerorientierten Perspektive gleichermaßen
Förderer. Mit ihren regelmäßigen Zuwendungen            verpflichtet fühlen.
ermöglichen sie unsere Arbeit. Fast 7.000 Menschen
gehören zu unserem Fördererkreis: Aufsichtsräte,        Studienförderung
die den Großteil ihrer Vergütungen an uns abführen,     Als eines der großen Studienförderungswerke der
aber auch Einzelpersonen und Institutionen.             Bundesrepublik Deutschland trägt die Stiftung dazu
                                                        bei, soziale Ungleichheit im Bildungswesen zu über-
Was macht die Hans-Böckler-Stiftung?                    winden. Sie fördert gewerkschaftlich und gesell-
Die Hans-Böckler-Stiftung unterstützt junge Men-        schaftspolitisch engagierte Studierende und Promo-
schen mit Stipendien bei Studium und Promotion          vierende mit Stipendien, Bildungsangeboten und der
und schafft mit ihren Instituten und Förderabteilun-    Vermittlung von Praktika. Insbesondere unterstützt
gen Wissen in Form von Publikationen, Expertisen        sie Absolventinnen und Absolventen des Zweiten
und Veranstaltungen. Sie überführt daraus resultie-     und Dritten Bildungsweges.
rende Erkenntnisse in Handlungs- und Orientie-
rungshilfen für gesellschaftliche und wissenschaftli-   Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches
che Diskurse. Mit der Publikationsreihe Report ver-     Institut (WSI)
öffentlichen die Institute der Hans-Böckler-Stiftung    Das WSI der Hans-Böckler-Stiftung forscht zu Arbeit
ihre Forschungsergebnisse, in der Reihe Study wer-      und Lebenswelt, Transformation der Arbeit, sozialer
den die Ergebnisse der geförderten Forschungspro-       Ungleichheit und sozialen Risiken sowie dem Euro-
jekte vorgestellt. Das Magazin „Mitbestimmung“,         päischen Sozialmodell. Das WSI-Tarifarchiv bietet
das alle zwei Monate als gedrucktes Heft erscheint,     umfangreiche Dokumentationen und fundierte Aus-
und die „WSI-Mitteilungen“ informieren über The-        wertungen zu allen Aspekten der Tarifpolitik.
men aus Arbeitswelt und Wissenschaft. Mit diesen
Medien, der Website www.boeckler.de und ihren           Institut für Makroökonomie und
Social-Media-Kanälen bietet die Stiftung einen          Konjunkturforschung (IMK)
schnellen Zugang zu ihren Publikationen, Veranstal-     Das IMK der Hans-Böckler-Stiftung erforscht
tungen, Themenexpertinnen und -experten, Bera-          gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge und berät
tungsangeboten und Forschungsergebnissen. Mit           zu wirtschaftspolitischen Fragen. Daneben stellt das
dem 14-täglich erscheinenden „Böckler Impuls“           IMK auf der Basis seiner Forschungs- und Bera-
begleitet die Stiftung aktuelle Debatten zu den The-    tungsarbeiten regelmäßig Konjunkturprognosen vor.
men Arbeit, Mitbestimmung, Soziales und Wirt-           Ein besonderer Schwerpunkt des IMK ist die Zusam-
schaft.                                                 menarbeit mit dem Netzwerk Plurale Ökonomik.

Institut für Mitbestimmung und                          Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht (HSI)
Unternehmensführung (I.M.U.)                            Das HSI widmet sich der nationalen und internatio-
Um Praktikerinnen und Praktiker der Mitbestim-          nalen Forschung zum Arbeits- und Sozialrecht. Zu
mung bei ihrer Arbeit zu unterstützen, beraten die      seinen Themen gehören unter anderem Fragen des
Expertinnen und Experten des Instituts für Mitbe-       IT-Arbeitsrechts, des Tarif- und Arbeitskampfrechts
stimmung und Unternehmensführung der Hans-              sowie der Mitbestimmung und des europäischen
Böckler-Stiftung. Dazu geben wir Veröffentlichun-       Arbeitsrechts in Form der Rechtsprechung des Euro-
gen (z. B. Praxiswissen Betriebsvereinbarungen)         päischen Gerichtshofs. An seinen Studien sind Juris-
heraus und organisieren Veranstaltungen, Arbeits-       tinnen und Juristen, Sozialwissenschaftlerinnen und
kreise und Beiräte zum Erfahrungsaustausch und          -wissenschaftler wie auch Mitbestimmungspraktike-
Erkenntnisgewinn. Speziell für diese Zielgruppe         rinnen und -praktiker beteiligt.
aufbereitete Informationen bietet das Portal
www.mitbestimmung.de an.                                Stand: März 2019

                                                                                                         Jahresbericht 2018 · Seite 13
Höhepunkte der Stiftungs­arbeit 2018

                         HÖHEPUNKTE
                         DER STIFTUNGS­
                         ARBEIT 2018
                         Projekte, Analysen und Einschätzungen, Beratung für
                         die betriebliche Praxis, materielle und ideelle Förderung: Das
                         Leistungs- und Tätigkeitsspektrum der Hans-Böckler-Stiftung
                         ist vielseitig. Handlungs- und Orientierungswissen auf der
                         Grundlage wissenschaftlicher Forschung zu erarbeiten,
                         ist nur die eine Seite der Medaille. Wir sprechen auch über die
                         gewonnenen Erkenntnisse, diskutieren sie mit anderen Akteu-
                         rinnen und Akteuren und tragen sie in den politischen Raum,
                         das ist die andere Seite der Medaille.

                         Die Hans-Böckler-Stiftung organisiert dafür Fachtagungen,
                         Seminare und Workshops, Konferenzen und Foren. Ihnen alle
                         Veranstaltungen vorzu­stellen, würde den Rahmen unseres
                         Jahresberichts sprengen. Auf den folgenden Seiten wollen wir
                         Ihnen daher einen ersten Eindruck geben.

Seite 14 · Jahresbericht 2018
Höhepunkte der Stiftungs­arbeit 2018

                     Hier können Sie einen Blick auf die ­zahlreichen anderen
                     Veranstaltungen der Hans-Böckler-Stiftung werfen.

                                                                                                  Neujahrsempfang 2018
  Campus Arbeitsrecht                                                           „Volksparteien: Sind sie noch zu retten?“
  04.03.2018, Frankfurt am Main                                                                         06.02.2018, Berlin

IMK Forum 2018
   „Die Krise der
 Globalisierung”
21.03.2018, Berlin

                                                                                                      Jahresbericht 2018 · Seite 15
Höhepunkte der Stiftungs­arbeit 2018

                                                                        European Dialogue 2018
                                                   „Social Europe Strengthening Workers’ Voice“
                                                                          26.–27.04.2018, Brüssel

                                                       Böckler Konferenz für Aufsichtsräte 2018
                                       „Mitbestimmung für gute Unternehmensführung in Europa“
                                                                           28.–29.06.2018, Berlin

Seite 16 · Jahresbericht 2018
Höhepunkte der Stiftungs­arbeit 2018

    LABOR.A 2018
    Plattform
    „Arbeit der Zukunft“
    13.09.2018, Berlin

    Engineering- und IT-Tagung
    „Wir erschaffen Das! –
    Künstliche Intelligenz
    zwischen Science-Fiction
    und Realität“
    17.–19.09.2018, Köln

    WSI-Herbstforum 2018
    „Interessenvertretung
    der Zukunft“
    20.–21.11.2018, Berlin

                Jahresbericht 2018 · Seite 17
01. Was uns bewegt

                         01.
                         WAS UNS BEWEGT
                         – Meilenstein Mitbestimmung –
                           ein soziales Europa braucht Mindeststandards für die Mitbestimmung
                         – Meilenstein Gute Arbeit –
                           Pflegenotstand und Plattformökonomie: Wege zu besseren Arbeitsbedingungen
                         – Meilenstein Gerechtigkeit –
                           Wohnungsnot, Gender Pay Gap und polarisierte Einkommen verschärfen die Ungleichheit

Seite 18 · Jahresbericht 2018
01. Was uns bewegt

MEILENSTEIN MITBESTIMMUNG
Ein soziales Europa braucht Mindeststandards          Bislang ist das europäische Gesellschaftsrecht
für die Mitbestimmung                                 indes vor allem für das Verhältnis zwischen Top-
Mitbestimmung wirkt – und das keineswegs nur in       Management und Aktionären konstruiert, und das
Deutschland. Arbeitnehmerbeteiligung in den Auf-      mehr und mehr nach angelsächsischem Vorbild.
sichts- und Verwaltungsräten von Unternehmen          Mitbestimmung kommt darin nur vor, weil sie zum
sei mittlerweile ein „Schlüsselelement des europäi-   Beispiel in Deutschland zum Kanon des nationalen
schen Wirtschaftsmodells“, heißt es im Abschluss-     Gesellschaftsrechts gehört. Es verwundert daher
bericht der internationalen Expertengruppe „Wor-      nicht, dass auch im jüngsten Gesetzesvorschlag
kers‘ Voice and Good Corporate Governance in          zur grenzüberschreitenden Unternehmensmobilität
Transnational Companies in Europe“. Die von der       durch Sitzverlegung und zur Online-Registrierung
Hans-Böckler-Stiftung eingesetzte und von             von Unternehmen keine positiven Zeichen für eine
Prof. Dr. Anke Hassel geleitete internationale        Öffnung hin zu einer breiteren Stakeholder-Orien-
Expertengruppe, der 19 Wissenschaftlerinnen und       tierung zu erkennen sind. Das Vorhaben wird von
Wissenschaftler sowie Praktikerinnen und Prakti-      den Expertinnen und Experten des I.M.U. aufmerk-
ker aus mehreren europäischen Ländern angehör-        sam und kritisch begleitet. Denn es gilt zu verhin-
ten, hatte sich drei Jahre lang mit der Frage         dern, dass die Gründung von Briefkastenfirmen
beschäftigt, wie „Workers’ Voice“ an der Entschei-    und das Umgehen von Mitbestimmung oder Steu-
dungsspitze von Unternehmen unter den jeweils         erpflichten erleichtert werden, indem Unterneh-
unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingun-         men ihren Verwaltungssitz in das Mitgliedsland
gen in den Mitgliedsstaaten der EU praktiziert        mit den laxesten Vorschriften verlegen können.
wird. Daraus werden Schlussfolgerungen gezogen,       Auf Drängen der europäischen Gewerkschaften
wie Arbeitnehmerbeteiligung auf dieser Ebene          wurde ein gewisser Schutz für die Beteiligungs-
gesichert und weiter ausgebaut werden kann.           rechte der Beschäftigten immerhin bereits in den
                                                      Entwurf aufgenommen. Auf dieser Grundlage soll
Dem Bericht zufolge gibt es in Europa zwar kein       nun während des Gesetzgebungsverfahrens für
einheitliches Modell, dafür jedoch zahlreiche Vari-   weitere Verbesserungen gestritten werden. „Es
anten und Konstellationen, die Vergleichbares wie     besteht dringender Bedarf der Nachbesserung
das deutsche System der Mitbestimmung bewir-          durch das EU-Parlament und den Europäischen
ken. Eine starke „Workers’ Voice“ mit Einfluss auf    Rat, wenn Mitbestimmungsrechte effektiv
Weichenstellungen für die Zukunft von Unterneh-       geschützt werden sollen“, sagt I.M.U.-Direktor
men entsteht aus dem Zusammenwirken der ver-          Kluge. Die Hans-Böckler-Stiftung wird ihre Exper-
schiedenen Ebenen von Interessenvertretung der        tise dabei weiter einbringen.
Beschäftigten – gewerkschaftlich, betrieblich, im
Aufsichts- oder Verwaltungsrat. Sie kommt nicht       Bereits erfolgreich getan hat sie das bei der anste-
nur dem Unternehmen zugute, sondern leistet           henden Umsetzung der zweiten EU-Aktionärsrech-
gleichzeitig einen Beitrag zur Stabilisierung von     terichtlinie in deutsches Recht. Die Richtlinie
Demokratie und ökonomischem Erfolg der jeweili-       ermöglicht es dem Gesetzgeber, die Entscheidung
gen Staaten insgesamt.                                über die zentrale Frage der Vorstandsvergütung
                                                      vom mitbestimmten Aufsichtsrat auf die Hauptver-
„Es gibt daher gute und realistische Gründe, Mit-     sammlung zu verschieben – von einem Gremium,
bestimmung als Teil guter Unternehmensführung         das die Interessen aller Stakeholder berücksichti-
zu begreifen und sie standardmäßig ins europäi-       gen soll, hin zu renditeorientierten Investoren.
sche Gesellschaftsrecht einzufügen“, sagte I.M.U.-    Hans-Böckler-Stiftung und Gewerkschaften sehen
Direktor Dr. Norbert Kluge beim „Europäischen         durch diese Machtverschiebung die Balance im
Gespräch 2018“, das die Hans-Böckler-Stiftung in      deutschen Corporate-Governance-System in
Kooperation mit dem Europäischen Gewerk-              Gefahr. In einem gemeinsamen Papier forderten
schaftsinstitut (ETUI) am 26. und 27. April 2018 in   sie deshalb, Spielräume bei der nationalen Umset-
Brüssel veranstaltete. Bei der Tagung diskutierten    zung der Richtlinie so auszunutzen, dass die Mit-
Fachleute aus ganz Europa darüber, wie die            bestimmung im Aufsichtsrat nicht weiter einge-
Rechte der Beschäftigten auf Unterrichtung, Anhö-     schränkt wird – etwa indem das Votum der Haupt-
rung und Mitbestimmung in der EU gestärkt wer-        versammlung zur Vorstandsvergütung nicht für
den können. Nationale Unterschiede in den indust-     rechtlich bindend für den Aufsichtsrat erklärt wer-
riellen Beziehungen müssten nicht zu einem euro-      den sollte.
päischen Einheitsmodell transformiert werden, um
„Workers’ Voice“ stark zu halten, erklärte Kluge in   Der im Herbst 2018 vorgelegte Referentenentwurf
Anknüpfung an die Ergebnisse der Experten-            aus dem Bundesjustizministerium griff diese
gruppe, die auf der Konferenz vorgestellt wurden.     gewerkschaftlichen Kernforderungen auf. „Bei den
Aber es müsse europäische „Mindeststandards“          dem nationalen Gesetzgeber in der Richtlinie ein-
geben.

                                                                                                       Jahresbericht 2018 · Seite 19
01. Was uns bewegt

                         geräumten Wahlmöglichkeiten wird unseren For-                    Wie der Weg in eine mitbestimmte Arbeitswelt 4.0
                         derungen entsprochen“, sagt Dr. Sebastian Sick,                  bereits heute ganz konkret beschritten wird, zeigte
                         Referatsleiter Wirtschaftsrecht im I.M.U. „Insofern              eine Auswertung von Betriebsvereinbarungen
                         wird, soweit bei einer 1:1-Umsetzung möglich, der                durch Dr. Manuela Maschke, Sandra Mierich und
                         drohenden Kompetenzverschiebung vom Auf-                         Nils Werner vom Referat Arbeit und Mitbestim-
                         sichtsrat auf die Hauptversammlung in unserem                    mung des I.M.U. „Digitalisierung und Arbeiten 4.0
                         Sinne begegnet.“ Hans-Böckler-Stiftung und                       kann für Unternehmen, Beschäftigte und erwerbs-
                         Gewerkschaften kritisieren jedoch, dass der                      fähige Menschen ein erfolgreiches Zukunftspro-
                         Gesetzgeber die Gelegenheit nicht nutzt, wichtige                gramm werden, wenn Beteiligung und Chancen-
                         qualitative Reformen beispielsweise bei der Vor-                 gleichheit gefördert werden“, schreiben sie in
                         standsvergütung anzugehen.                                       ihrem Report, „nicht jedoch, wenn nur wenige Per-
                                                                                          sonengruppen davon profitieren und Mitbestim-
                         Wege in eine mitbestimmte und menschenge-                        mung als nachgelagerte soziale Angelegenheit
                         rechte Arbeitswelt 4.0                                           begriffen wird.“
                         Die Digitalisierung ist eine der derzeit größten Her-
                         ausforderungen für die Mitbestimmung: Im selben                  In einem juristischen Working Paper identifizierte
                         Maß, wie der technologische Fortschritt die                      HSI-Leiter Dr. Thomas Klebe sechs Haupthand-
                         Arbeitswelt verändert, verändern sich auch die                   lungsfelder: Beschäftigung und Qualifizierung,
                         Anforderungen an Betriebs- und Aufsichtsräte. Um                 Arbeitszeit und Arbeitsweise, Arbeits- und Gesund-
                         Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter bei der                heitsschutz, Datenschutz, Globalisierung sowie die
                         schwierigen Aufgabe einer menschengerechten                      Mitbestimmung in der Plattformökonomie. Der
                         Gestaltung der Digitalisierung zu unterstützen,                  Arbeitsrechtler analysierte, wie die rechtlichen
                         stellt die Hans-Böckler-Stiftung auf verschiedenen               Möglichkeiten und Grenzen der Mitbestimmung in
                         Ebenen Handlungs- und Orientierungswissen zur                    diesen Feldern derzeit aussehen, und machte Vor-
                         Verfügung. 2018 widmeten sich Publikationen                      schläge für eine Weiterentwicklung. „Es ist unver-
                         unter anderem den Fragen, wie Digitalisierung                    zichtbar, dass Gewerkschaften und Betriebsräte
                         auch jenseits industrieller Produktion im Dienst-                den Wandel sozial mitgestalten und die Arbeits-
                         leistungsbereich zum Tragen kommt oder wie sie                   welt 4.0 mitdefinieren“, bilanzierte Klebe. „Hierfür
                         sich speziell auf weibliche Beschäftigte auswirkt.               bestehen Rechte, die aber dringend erweitert wer-
                         Der von der Stiftung gegründete Fachausschuss                    den müssen.“
                         „Personal 4.0“ der Arbeitsgemeinschaft Engere
                         Mitarbeiter der Arbeitsdirektoren Stahl formulierte
                         acht Thesen zur Zukunft der mitbestimmten Perso-
                         nalarbeit und stellte sie auf dem Mitbestimmungs-
                         portal der Stiftung im Internet zur Diskussion.

                         Arbeitnehmerbeteiligung in Europa
                         Die 100 größten börsennotierten Unternehmen in der EU hatten 2014 ...

                           Arbeitnehmervertreter in
                                                                                                 43 %
                                   Leitungsgremien

                                         Tarifverträge
                                                                                                                                        90 %

                           Europäische Betriebsräte
                                                                                                                           74 %
                               Europäische Unter-
                           nehmensvereinbarungen                                                        51 %

                                   Internationale
                            Rahmenvereinbarungen                              22 %

                         Quelle: I.M.U. 2018

Seite 20 · Jahresbericht 2018
01. Was uns bewegt

MEILENSTEIN GUTE ARBEIT
                                                           Deutschland liegen, müssten steigen, etwa durch
Pflegenotstand und Plattformökonomie: Wege
                                                           eine höhere Tarifbindung. Es brauche eine gesetz-
zu besseren Arbeitsbedingungen
                                                           lich vorgeschriebene Mindest-Personalausstat-
Personalmangel, unterbesetzte Stationen, Arbeits-
                                                           tung, die tatsächlich den Bedarf auf den Stationen
überlastung: Die Diskussion, was gegen den
                                                           deckt. Außerdem müsse dafür gesorgt werden,
zunehmenden Pflegenotstand in Deutschland zu
                                                           dass Länge und Verteilung der Arbeitszeit den
tun ist, ist im politischen Raum gerade erst ange-
                                                           Bedürfnissen der Beschäftigten entsprechen und
kommen. Die Hans-Böckler-Stiftung widmet der
                                                           dass es bessere berufliche Einstiegs- und Entwick-
wachsenden Kluft zwischen den Erwartungen an
                                                           lungsmöglichkeiten gibt. „Soziale Dienstleistungen
professionelle Dienstleistungen und den tatsächli-
                                                           sind Teil der gesellschaftlichen Infrastruktur“,
chen Arbeitsbedingungen in der Pflege schon län-
                                                           erklären die Expertinnen. Unter den gegenwärti-
ger besondere Aufmerksamkeit: Mit dem For-
                                                           gen Arbeitsbedingungen werde ihr allseits gefor-
schungsverbund „Soziale und gesundheitsbezo-
                                                           derter Ausbau jedoch kaum gelingen.
gene Dienstleistungen“ werden
Forschungs­­projekte gefördert, die Ansatzpunkte
                                                           Dass es sich lohnt, trotz aller Widerstände und
für Gute Arbeit und Beschäftigung und eine gute
                                                           postulierter Sparzwänge für bessere Arbeitsbedin-
Versorgung in der Sozial- und Gesundheitswirt-
                                                           gungen zu kämpfen, zeigte eine WSI-Studie zum
schaft herausarbeiten. Mehr als 20 Publikationen
                                                           öffentlichen Dienst. Prof. Dr. Thorsten Schulten
sind aus diesem Verbund seit 2016 bereits hervor-
                                                           und Dr. Daniel Seikel untersuchten die Situation in
gegangen – im vergangenen Jahr unter anderem
                                                           Krankenhäusern, Grundschulen und Kindertages-
zu Fragen der Weiterbildung, des Quereinstiegs
                                                           stätten – und stellten fest, dass die langjährige
und der Nutzung des technologischen Fortschritts
                                                           Abwärtsspirale des Kürzens, Schrumpfens und Pri-
in der Pflege.
                                                           vatisierens gestoppt werden konnte. Der Trend
                                                           gehe, wenn auch nur in kleinen Schritten und noch
Eine zusammenfassende Analyse von Status quo
                                                           längst nicht überall, zu mehr Beschäftigung, höhe-
und Reformansätzen lieferte ein Report von
                                                           rer Qualität und besseren Arbeitsbedingungen,
Dr. Dorothea Voss, Leiterin der Abteilung For-
                                                           bilanzierten die WSI-Forscher. Neben der günsti-
schungsförderung, und Christina Schildmann. Für
                                                           gen makroökonomischen Entwicklung sei das ins-
die – auch volkswirtschaftlich gebotene – Aufwer-
                                                           besondere dem Einsatz von Gewerkschaften und
tung sozialer Dienstleistungen bestehe vor allem in
                                                           Beschäftigten zu verdanken.
vier Bereichen dringender Handlungsbedarf, heißt
es in der Studie. Die Löhne, die selbst für Fach-
kräfte unter dem Mittelwert aller Beschäftigten in

Pflege wird schlecht bezahlt
So hoch lag 2014 der durchschnittliche Stundenlohn für …

         Gesundheits- und                                                       16,23 €
      Krankenpflegerinnen

         Helferinnen in der
                                                               11,09 €
             Krankenpflege

 Stationsleiterinnen in der
                                                                                              19,25 €
             Krankenpflege

         Altenpflegerinnen                                                14,24 €

    Altenpflegehelferinnen                                      11,49 €

         alle Beschäftigten                                                         16,97 €

Quelle: Schildmann, Voss 2018

                                                                                                           Jahresbericht 2018 · Seite 21
01. Was uns bewegt

                          Gute Arbeit ist das Ziel aber natürlich nicht nur in             zuzüglich eines Sozialversicherungszuschlags von
                          traditionellen Berufsfeldern. Eine besondere Her-                25 Prozent, weil sie sich ja selbst versichern müs-
                          ausforderung stellt das noch junge Geschäftsmo-                  sen. Die Rechtswissenschaftler betonen jedoch,
                          dell der Plattformökonomie dar, bei der Aufträge                 dass diese „existenzielle Grundsicherung“ nur der
                          über das Internet einzeln an sogenannte Crowd-                   erste Schritt sein soll: „Um ein über die Mindestab-
                          worker vergeben werden. In die Debatte um die                    sicherung hinausgehendes, branchenspezifisch
                          soziale Absicherung dieser Online-Tagelöhner und                 auskömmliches Einkommen sicherzustellen, sind
                          anderer prekär beschäftigter Solo-Selbstständiger                kollektivvertragliche Regelungen anzustreben.“
                          hat sich im vergangenen Jahr auch die Hans-Böck-
                          ler-Stiftung eingeschaltet.                                      Stärkung der Tarifautonomie durch Steuervor-
                                                                                           teile für Gewerkschaftsmitglieder
                          In der Schriftenreihe des HSI wurde ein Gutachten                Der direkteste Weg zu Guter Arbeit führt über
                          veröffentlicht, das der Arbeitsrechtler Prof. Dr.                Tarifverträge. In tarifgebundenen Unternehmen
                          Frank Bayreuther (Universität Passau) für das Bun-               sind die Löhne im Durchschnitt höher, die Arbeits-
                          desarbeitsministerium erstellt hatte. Sein Fazit:                bedingungen besser. Doch in den vergangenen
                          Auch wenn ein Schutz von Solo-Selbstständigen                    Jahren ist die Tarifbindung stark gesunken. Um
                          nicht einfach umzusetzen ist, stehen einer gesetz-               Anreize für mehr Tarifverträge zu setzen, sollte die
                          geberischen Intervention keine grundlegenden                     Politik deshalb die Mitgliedschaft in Arbeitgeber-
                          rechtlichen Bedenken im Weg. Einen ganz konkre-                  verbänden und Gewerkschaften fördern, schreibt
                          ten Regelungsvorschlag machten die HSI-Juristen                  der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Martin Franzen
                          Dr. Johannes Heuschmid und Dr. Daniel Hlava: Sie                 (Ludwig-Maximilians-Universität München) in
                          legten einen Gesetzentwurf vor, nach dem Solo-                   einem 2018 erschienenen Gutachten für das HSI.
                          Selbstständige Anspruch auf ein Mindestentgelt in
                          Höhe des gesetzlichen Mindestlohns hätten –                      Voraussetzung für das erfolgreiche Aushandeln
                                                                                           eines Tarifvertrags ist, dass sich beide Seiten auf
                                                                                           Augenhöhe begegnen. Gewerkschaften sind dafür
                                                                                           auf eine breite Mitgliederbasis im Unternehmen
Tarif bleibt vielen vorenthalten                                                           angewiesen. Bislang profitieren von einem Tarif-
Der Anteil der Beschäftigten mit Branchen- oder Firmentarifvertrag betrug in ...          vertrag in der Regel jedoch alle Beschäftigten
                                                                                           eines tarifgebundenen Arbeitgebers – auch diejeni-
                                    60 %            59 %              57 %                 gen, die nicht Gewerkschaftsmitglied sind, da in
                                           47 %             49 %
                                                                             44 %          den Arbeitsverträgen meist auf die tarifvertragli-
           Westdeutschland                                                                 chen Regelungen Bezug genommen wird. „Als
                                                                                           Anreizinstrument für den Beitritt von Arbeitneh-
             Ostdeutschland                                                                merinnen und Arbeitnehmern in eine Gewerk-
                                                                                           schaft fällt der Tarifvertrag vollständig aus“, kons-
                                      2013               2015              2017            tatiert der Arbeitsrechtler. Er schlägt daher vor,
Der Anteil der Beschäftigten mit Branchen- oder Firmentarifvertrag betrug 2017            einen Teil des tarifgebundenen Lohns bei Gewerk-
je nach Wirtschaftszweig ...                                                               schaftsmitgliedern steuerfrei zu stellen. Die höhe-
                                                                                           ren Nettoeinkommen, die sich daraus ergeben,
                                                                                           könnten tarifgebundenen Unternehmen dann auch
                                    Westdeutschland                                 98 %   beim Werben um begehrte Fachkräfte helfen.
    Öffentliche Verwaltung
                                    Ostdeutschland                                  98 %
                                                                             83 %          „Die Steuerprivilegierung rechtfertigt sich aus der
 Finanzen, Versicherungen
                                                                     66 %                  überragenden Bedeutung der Tarifautonomie für
                                                                    63 %                   die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung
                      Industrie
                                                     35 %                                  Deutschlands“, erklärt Franzen. Die Mindereinnah-
                                                                                           men in Höhe von jährlich 1,2 bis 1,6 Milliarden
                   Baugewerbe                                       63 %
                                                                54 %                       Euro wären für den Staat vor diesem Hintergrund
                                                                                           verkraftbar.
     Gesundheit, Erziehung                                         60 %
                                                           45 %
                   Einzelhandel                          40 %
                                                  28 %
                Gastgewerbe                              39 %
                                                  26 %
               Information,                  19 %
             Kommunikation                   18 %

Quelle: IAB 2018

Seite 22 · Jahresbericht 2018
01. Was uns bewegt

MEILENSTEIN GERECHTIGKEIT
Wohnungsnot, Gender Pay Gap und polari-                             Detaillierte Daten zum Wohnungsproblem in den
sierte Einkommen verschärfen die Ungleichheit                       77 deutschen Großstädten lieferte eine von der
Sozialer Aufstieg durch Arbeit: Das ist das Grün-                   Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie von Stadt-
dungsversprechen der deutschen Demokratie.                          soziologen der Humboldt-Universität zu Berlin und
Unterstützt von sozial- und bildungspolitischen                     der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Maßnahmen, sollen sich alle Bürgerinnen und Bür-                    Dr. Henrik Lebuhn, Dr. Andrej Holm, Stephan
ger aus eigener Kraft und Leistung einen Platz in                   Junker und Kevin Neitzel glichen Haushaltsein-
der Mitte der Gesellschaft sichern können. Dieses                   kommen und Mietwohnungsangebot in den Städ-
Versprechen ist das Fundament der deutschen                         ten miteinander ab und kamen zu dem Befund,
Gesellschaft, doch es wird immer weniger einge-                     dass insgesamt gut 1,9 Millionen bezahlbare Woh-
löst. Das bestätigen die Untersuchungen, die die                    nungen fehlen. Am größten ist der Mangel in Ber-
Hans-Böckler-Stiftung im vergangenen Jahr zu                        lin (310.000 Wohnungen), gefolgt von Hamburg
einem ihrer zentralen Forschungsthemen vorgelegt                    (150.000), Köln (86.000) und München (78.000).
hat: der Auseinandersetzung mit Fragen der                          Die Versorgungslücke dürfte trotz stärkerer Neu-
Gerechtigkeit und der Verteilung.                                   bautätigkeit wegen der stark steigenden Miet-
                                                                    preise weiter wachsen, warnen die Wissenschaft-
So zeigte der WSI-Verteilungsbericht 2018, dass                     ler und empfehlen deshalb eine „deutliche Stär-
die Einkommen in Deutschland immer weiter aus-                      kung des sozialen Wohnungsbaus“.
einanderklaffen. Der Anteil der Haushalte unter der
Armutsgrenze hat in den letzten Jahrzehnten deut-                   Das unterstrich eine weitere Untersuchung, in der
lich und der über der statistischen Reichtums-                      das Forscherteam den Nutzen wohnungspoliti-
grenze etwas zugenommen. Außerdem haben sich                        scher Maßnahmen analysierte. Demnach ist der
Einkommensarmut und Einkommensreichtum ver-                         soziale Wohnungsbau grundsätzlich das wirkungs-
festigt. Trotz guter wirtschaftlicher Entwicklung                   vollste Instrument, muss aber dringend erheblich
kamen 5,4 Prozent der Haushalte binnen fünf Jah-                    ausgeweitet werden: Beim derzeitigen Förderum-
ren nicht aus der Armut heraus, deutlich mehr als                   fang würde es 185 Jahre dauern, um in den zehn
noch zu Beginn der 1990er-Jahre. Umgekehrt                          größten deutschen Städten den Mangel an günsti-
nahm auch der Anteil der Haushalte, denen dauer-                    gem Wohnraum auszugleichen. Für Mittelschicht-
haft mehr als das Doppelte des mittleren Einkom-                    haushalte könnte eine konsequenter angewendete
mens zur Verfügung stand, weiter zu. „Nicht nur                     und kontrollierte Mietpreisbremse eine spürbare
geht die Einkommensschere auf, auch die Lebens-                     Entlastung bringen. Wohngeld hingegen dämpft
welten von Armen, Mittelschicht und Reichen fal-                    die Mietentwicklung nicht und erreicht zudem nur
len immer weiter auseinander“, erklärt WSI-Vertei-                  wenige Haushalte.
lungsexpertin Dr. Dorothee Spannagel. Dieser Pro-
zess beschleunige sich, wenn die soziale Mobilität
weiter sinke, weil auf die Dauer beispielsweise die
soziale Mischung von Wohnvierteln abnehme.

Zu wenig Sozialwohnungen
Fertig wurden in den zehn bevölkerungsreichsten Städten 2014 so viele ...
                                                                                                                                    Wohnungen
7 069                                                                                                                    davon Sozialwohnungen
                  6 086           6 204

                                                   3 435           3 556

                          2 331                                                                2 182
                                                                                  1 599
                                           1 050                                                             948                         1 079
                                                             609                                                         657
            197                                                             189                        246          99
                                                                                           0                                        0               0
   Berlin          Hamburg        München             Köln         Frankfurt/M.    Stuttgart   Düsseldorf    Dortmund       Essen         Bremen

Quelle: Holm u. a. 2018

                                                                                                                         Jahresbericht 2018 · Seite 23
01. Was uns bewegt

                         Nach dem WSI-Verteilungsbericht entscheidet                     schreiben die Sozialwissenschaftlerinnen. Der Rest
                         über hohe oder geringe Einkommen in Deutsch-                    aber sei darauf zurückzuführen, dass dieselben
                         land nach wie vor auch das Geschlecht: Etwa drei                Merkmale bei Frauen schlechter entlohnt werden.
                         Viertel der dauerhaft Einkommensreichen sind                    Für einen großen Teil des Gender Pay Gaps ist also
                         Männer, während bei den dauerhaft Armen Frauen                  die ungleiche Bezahlung gleicher und gleichwerti-
                         mit 54 Prozent in der Mehrheit sind. Dass weibli-               ger Arbeit verantwortlich. Um zumindest auf ein-
                         che Beschäftigte im Schnitt 21 Prozent weniger                  zelbetrieblicher Ebene für mehr Gerechtigkeit zu
                         verdienen als männliche, liegt auch am geringeren               sorgen, trat Mitte 2017 das Entgelttransparenzge-
                         sozialen Status weiblicher Erwerbsarbeit. Um das                setz in Kraft. Doch nach einer Auswertung der
                         zu belegen, hat WSI-Forscherin Dr. Christina Klen-              WSI-Betriebsrätebefragung 2018 hatte dieses
                         ner zusammen mit Prof. Dr. Ute Klammer und                      Gesetz bislang „keine spürbaren Effekte“. „Offen-
                         Sarah Lillemeier vom Institut Arbeit und Qualifika-             bar fühlte sich nur ein kleiner Teil der Betriebe von
                         tion (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen den                der Aufforderung angesprochen, im Betrieb für
                         „Comparable-Worth-Index“ entwickelt. Der CW-                    Entgeltgleichheit zu sorgen“, heißt es in der Stu-
                         Index fasst die Anforderungen an Wissen und Kön-                die, die das WSI in Kooperation mit dem Institut
                         nen, psychosoziale und physische Belastungen                    für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung
                         sowie die Verantwortung in den einzelnen Berufen                (INES) in Berlin vorlegte. Die Forscherinnen und
                         in einem Punktwert zusammen. Mit dem so                         Forscher raten dazu, das Gesetz verbindlicher aus-
                         gemessenen beruflichen Anforderungsniveau stei-                 zugestalten, die Hürden für den individuellen Aus-
                         gen zwar auch die Verdienste – bei Frauen sowie                 kunftsanspruch zu verkleinern und wirksame
                         in Berufen mit hohem Frauenanteil allerdings                    Sanktionen bei Verstößen einzuführen.
                         geringer. Gut die Hälfte des Gender Pay Gaps lasse
                         sich mit Unterschieden etwa bei der Berufserfah-
                         rung oder der Branchenzugehörigkeit erklären,

                         Engagement zahlt sich nicht für alle aus
                         So steigen mit wachsenden Herausforderungen die Stundenlöhne in ...

                         30 €
                                                                                                                     Männerberufen

                                                                                                                                            ?!
                         15 €
                                                                                                     Frauenberufen

                         5€

                                       niedrig                              Anforderungen und Belastungen                            hoch

                         Quelle: Lillemeier u. a. 2018

Seite 24 · Jahresbericht 2018
01. Was uns bewegt

Höhere Einkommen, stärkeres Wachstum:                             nicht nur auf Exporterfolgen, sondern auch auf
Mindestlohn hat sich bewährt                                      einem stabilen Wachstum der Binnennachfrage
Mit dem seit 2015 geltenden allgemeinen Mindest-                  beruht.“ Das werde in Zukunft so bleiben, erklären
lohn gibt es in Deutschland erstmals eine gesetzli-               die Ökonomen – vor allem, wenn der Staat die
che Regelung, die den Absturz der Löhne ins                       zusätzlichen Einnahmen durch das Wachstum
Bodenlose verhindern und für mehr Gerechtigkeit                   auch zeitnah wieder ausgebe.
bei Niedriglohnjobs sorgen soll. In mehreren Stu-
dien zogen die Forschungsinstitute der Hans-Böck-                 Dass bei der Höhe der Lohnuntergrenze in
ler-Stiftung im vergangenen Jahr Bilanz – auch im                 Deutschland aber noch Luft nach oben ist, zeigte
Auftrag der Mindestlohnkommission, in der Vertre-                 der WSI-Mindestlohnbericht 2018. Demnach war
terinnen und Vertreter aus Gewerkschaften,                        der Mindestlohn im vergangenen Jahr in allen
Arbeitgeberverbänden und Wissenschaft die                         westeuropäischen Euroländern deutlich höher als
Anhebung der Lohnuntergrenze auf 9,19 Euro zum                    in der Bundesrepublik und lag zwischen 9,47 Euro
1. Januar 2019 beschlossen.                                       in Belgien und 11,55 Euro in Luxemburg. Hinzu
                                                                  kommt, dass die Lohnuntergrenze von etlichen
„Der Mindestlohn hat zu einem deutlichen Anstieg                  Unternehmen in Deutschland nicht eingehalten
der Löhne im Niedriglohnsektor geführt, ohne dass                 wird. Nach einer Studie von WSI-Forscher
es dabei in nennenswertem Ausmaß zu negativen                     Dr. Toralf Pusch wurden Beschäftigten und Sozial-
wirtschaftlichen Konsequenzen für Wachstum und                    kassen durch Verstöße gegen den allgemeinen
Beschäftigung gekommen wäre“, schreiben For-                      gesetzlichen Mindestlohn im Jahr 2016 – neuere
scher von WSI und IMK in einer gemeinsamen                        Daten liegen noch nicht vor – rund 7,6 Milliarden
Analyse. Allerdings sei der Mindestlohn noch nicht                Euro vorenthalten. „Durch die weit verbreiteten
existenzsichernd und sollte deshalb temporär stär-                Mindestlohn-Umgehungen werden nicht nur die
ker steigen als die Tariflöhne, empfehlen die Wis-                betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
senschaftler. Nach Untersuchungen des IMK wirkt                   geschädigt, sondern auch die Allgemeinheit“, sagt
der Mindestlohn, weil er den privaten Konsum                      der Arbeitsmarktexperte. „Endlich die Kontrollen
stärkt, zudem als Wachstumsverstärker: „Er hat                    zu verbessern, ist also von höchstem öffentlichen
mit dazu beigetragen, dass Deutschland auf einen                  Interesse.“
stabileren Wachstumskurs eingeschwenkt ist, der

Mindestlohn gibt Impulse
So steigert die Lohnuntergrenze ...

                                      2. Jahr                5. Jahr                   10. Jahr

      das Bruttoinlandsprodukt            +0,27 %               +0,25 %                    +0,27 %

          den privaten Konsum               +0,46 %                +0,48 %                        +0,69 %

                   die Lohnsumme                   +1,06 %                   +1.51 %                        +1.81 %

                       die Preise        +0,21 %                  +0,38 %                    +0,49 %

Quelle: IMK 2018

                                                                                                                      Jahresbericht 2018 · Seite 25
02. Mitbestimmung

                           02.
                           MITBESTIMMUNG

                          WEITERDENKEN. MITGESTALTEN.
                          MITBESTIMMEN.

Seite 26 · Jahresbericht 2018
02. Mitbestimmung

                                                                                                     283

                                         VEREINBARUNGEN
               BETRIEBS- UND
                                                             283 THEMENRADAR-MELDUNGEN
                                                             Aktuelle Entwicklungen, Trends und Forschung unter
                               DIENST-
                                                             www.mitbestimmung.de im Mitbestimmungsportal
     17.000

  Die Stiftung dokumentiert über 17.000
                                                                   HHHHHHHHHH
  Betriebs- und Dienstvereinbarungen.
  Unter www.boeckler.de/betriebsvereinbarungen
                                                                   HHHHHHHH
  stellt der Arbeitsbereich Praxiswissen Betriebs-
  vereinbarungen Auswertungen, Beispiele aus der
                                                                   HHHHHHHHHH
  Praxis (Original-Textauszüge) sowie Gestaltungs-
  hilfen für Vereinbarungen zur Verfügung.                         In 18 VON 28 EU-LÄNDERN gibt es Gesetze zur Arbeit-
                                                                   nehmerbeteiligung an der Spitze von Unternehmen.
                                                                   Unter den zehn wettbewerbsfähigsten europäischen
                                                                   Ländern haben sieben Mitbestimmungssysteme.

                                BESSER MIT MITBESTIMMUNG

    20                          Europa 2020 ist ein auf zehn Jahre
                                angelegtes Wachstums- und

    20
                                Beschäftigungsprogramm der EU.
                                Länder mit starker Mitbestimmung sind
                                bei der Umsetzung der Ziele weiter
                                vorangekommen.

                                                                 24 KARTENSTAPEL „WISSEN KOMPAKT“
                                                                 Hintergrundinformationen – kurz und bündig
                                                                                                                     24
                                                                 zu aktuellen Themen wie Private Equity,
                                                                 Geschlechterquote und Industrie 4.0 im Mitbestimmungsportal

      Weit mehr als 800.000 Beschäftigte in
      Deutschland werden durch juristische Tricks
      ihrer Arbeitgeber um Mitbestimmung im Auf-
      sichtsrat gebracht.

                                                                          Deutschlandweit setzen sich mehr als 180.000
                                                                          Frauen und Männer als gewählte Interessenvertre-
                                                                          terinnen und Interessenvertreter in Betriebsräten
                                                                          für mehr Mitbestimmung im Arbeitsalltag ein.
635 Unternehmen sind mitbestimmt nach dem
Mitbestimmungsgesetz von 1976, 363 davon sind
GmbHs, 218 sind Aktiengesellschaften.

                                                                                                           Jahresbericht 2018 · Seite 27
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