2018 WORKERS' VOICE Weiterdenken. Mitgestalten. Mitbestimmung - Hans-Böckler-Stiftung
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2018 Jahresbericht WORKERS' VOICE Weiterdenken. Mitgestalten. Mitbestimmung. Seite 1 · Jahresbericht 2018
4 Vorwort 6 Elf Fragen an Andrea Kocsis 12 Unser Anliegen, unsere Themen, unsere Arbeit 14 Höhepunkte der Stiftungsarbeit 2018 18 Was uns bewegt 26 Mitbestimmung 32 Forschung 34 WSI – Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut 40 IMK– Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung 46 HSI – Hugo Sinzheimer Institut 50 Abteilung Forschungsförderung 54 Stipendien 62 Öffentlichkeitsarbeit und Transfer 64 Die Stiftung in Zahlen 66 Der Vorstand 68 Der Wissenschaftliche Beirat 70 Das Kuratorium 72 Die Auswahlausschüsse der Studienförderung 74 Die Vertrauensdozentinnen und Vertrauensdozenten 88 Organigramm der Stiftung 89 Impressum Unseren Jahresbericht können Sie als interaktive Anwendung lesen. Achten Sie auf die folgenden Symbole: QR-Codes verweisen auf Videos, Archive und interessante Geschichten. www.boeckler.de Klicken Sie einfach auf die unterstrichenen Textstellen und schon werden Sie zu Studien, Datenbanken oder Überblickseiten weitergeleitet. Unsere Grafiken sind mit Lupen versehen – so können Sie einen genauen Blick auf die Daten werfen. Jahresbericht 2018 · Seite 3
Vorwort VORWORT Michael Guggemos Geschäftsführer LIEBE LESERIN, LIEBER LESER, verbriefte demokratische Beteiligung in Betrieb und Unternehmen, kollektive Verträge für ordentliche Arbeitsbedingungen, Sozialpartnerschaft – sie sind bei allen nationalen Differenzen und realen Defiziten in weiten Teilen der Europäischen Union (EU) deutlich stärker verwurzelt als in anderen Weltgegenden und Wirtschaftsmodellen. Das zeigen die Ergebnisse der Expertinnen und Experten unserer Kommission „Workers’ Voice“, die Sie im vorliegenden Jahresbericht nachlesen können. Europa ist natürlich keine Insel der Seligen. Doch im Vergleich zu anderen Kontinenten zeigt die Karte sozialer Rechte hier häufiger „Grün“. Und zugleich sind die EU-Länder wirtschaftlich erfolgreich – nicht trotz, sondern wegen hoher Standards. Sie fördern sozialen Frieden und geben dem Engagement und der Kreativität von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Raum.
Vorwort Die europäische Politik hat über Jahrzehnte dazu beigetragen, diese Vorteile grenzüberschreitend auszubauen. Doch in den vergangenen Jahren war sie allzu oft von Verzagtheit geprägt, die zu Stagnation oder gar Rückschritten geführt hat. Und dafür sind längst nicht immer nur die Institutionen in Brüssel und Straßburg verantwortlich. Ein Beispiel dafür ist das aktuelle „Company Law Package“, das grenzüberschreitende rechtliche Verlagerungen, Verschmelzungen oder Aufspaltungen von Unternehmen regeln soll. Eine breite Mehrheit im Europäischen Parlament hat dafür gestimmt, den eher mäßigen Schutz von Mitbestimmungsrechten, den die EU-Kommission vorgeschlagen hatte, deutlich zu verbessern. Hätte sich das Votum der Parlamentarier durchgesetzt, hätten Unternehmen künftig deutlich weniger Möglichkeiten, die Beteiligung von Beschäftigten auszuhebeln. Doch in den weiteren Verhandlungen haben viele nationale Regierungen dafür gesorgt, dass der gute Vorschlag aus dem Parlament verwässert wurde. Der europäischen Idee haben sie damit natürlich einen Bärendienst erwiesen. Und das in einer Zeit, in der viele Menschen nicht mehr die europäische Hoffnung sehen, sondern eine Bedrohung ihrer Lebenschancen. Wir sind überzeugt: Europa ist mehr, Europa kann mehr. Deshalb ist es so wichtig und immer lohnend, sich für demokratischen und sozialen Fortschritt einzusetzen. Insbesondere in den kommenden Monaten, wenn das europäische Arbeitsprogramm für die nächsten Jahre verhandelt wird. Mitbestimmung, Gute Arbeit, Gerechtigkeit – das ist unsere Übersetzung dafür – und die Ziele, die wir als Hans-Böckler-Stiftung verfolgen. Wir laden Sie herzlich ein, unsere Arbeit auf den nächsten Seiten kennenzulernen. Sie wurde auch 2018 wieder maßgeblich ermöglicht durch die Zuwendungen der Förderinnen und Förderer, das (ehrenamtliche) Engagement unserer Unterstützerinnen und Unterstützer, etwa in Beiräten, Unternehmen oder an Hochschulen, sowie durch den Einsatz unserer Beschäftigten. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken. Michael Guggemos Geschäftsführer der Hans-Böckler-Stiftung Jahresbericht 2018 · Seite 5
Elf Fragen an Andrea Kocsis ELF FRAGEN AN ANDREA KOCSIS Andrea Kocsis, stellvertretende Vorsitzende von ver.di und Mitglied im Vorstand der Hans-Böckler-Stiftung Aus ihrem Büro im Berliner ver.di-Haus hat Andrea Kocsis einen weiten Blick über die Spree. Doch es ist derzeit nicht leicht, die Gewerkschafterin hier zu erwischen. Die ver.di- Vizin ist angesichts der laufenden Organisationswahlen in den Fachbereichen und Landesbezirken viel unterwegs. Und die Tarifverhandlungen bei der Deutschen Post AG, wo sie stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende ist, waren schwierig und hart, der Abschluss war dafür ein großer Erfolg. Im Interview lässt sich Andrea Kocsis den Stress aber nicht anmerken. Ein Gespräch über die Arbeitsbedingungen im Dienstleistungssektor, über die mitbestimmte Gestaltung der Digitalisierung und über Beschäftigte, die zunehmend einen fairen Gegenwert für ihre Arbeit einfordern. Seite 6 · Jahresbericht 2018
Elf Fragen an Andrea Kocsis Die Beschäftigtenzahlen in Deutschland erreichen In tarifgebundenen Unternehmen herrschen in aller Rekordhöhen. Besonders stark wachsen Dienstleis- Regel bessere Arbeitsbedingungen als in Unterneh- tungsbereiche wie die Pflege oder die Postdienst-, men, für die kein Tarifvertrag gilt. Das zeigt nicht Speditions- und Logistikbranche. Mittlerweile man- nur die alltägliche Erfahrung, das hat die Hans- gelt es an Arbeitskräften. Trotzdem sind die Böckler-Stiftung in zahlreichen Studien auch wis- Arbeitsbedingungen hier oftmals alles andere als senschaftlich nachgewiesen. Dennoch geht die gut. Wie passt das zusammen? Tarifbindung in Deutschland seit Jahren zurück. Wie lässt sich der problematische Trend drehen? Ich sehe das ein bisschen differenzierter. Bei der Deutschen Post AG ist es uns gerade gelungen, die Die Entwicklung ist nicht neu, aber sie beschleu- im Jahr 2015 gegen unseren erbitterten Wider- nigt sich. In Thüringen haben wir zum Beispiel mitt- stand durchgedrückte Spaltung der Belegschaft zu lerweile nur noch eine Tarifbindung von 17 Prozent beenden. 13.000 Beschäftigte aus 46 GmbHs wer- in der Privatwirtschaft – was wirklich dramatisch den ingesourct. Künftig gilt wieder für alle Beschäf- ist. Allein durch unsere eigene Organisation wer- tigten ein Haustarifvertrag. Das ist ein riesiger den wir das nicht ändern können, oft fehlt uns auf gewerkschaftlicher Erfolg. In der Tarifrunde der Arbeitgeberseite auch der zentrale Verhandlungs- Länder haben wir eine Extrazahlung für Pflege- partner, so dass es extrem aufwendig wäre, mit kräfte vereinbart. Und auch in der Logistikbranche lauter relativ kleinen Unternehmen Haustarifver- können wir höhere Entgeltsteigerungen aushan- träge abzuschließen. Da brauchen wir auch gesetz- deln und anders über Arbeitszeitfragen diskutieren liche Unterstützung. und verhandeln als zuvor. Die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber beginnen anzuerkennen, dass Was fordern Sie konkret? Beschäftigte eigene Anforderungen haben an die Gestaltung ihrer Arbeitszeit. Also: Es geht bergauf, Zum einen muss die Allgemeinverbindlicherklärung wenn auch mühselig. In der Pflegebranche werden von Tarifverträgen erleichtert werden: Wir wollen, mittlerweile sogar Abwerbeprämien von mehreren dass ein von den Tarifvertragsparteien gemeinsam tausend Euro gezahlt. Ärgerlich ist aber, dass die eingebrachter Tarifvertrag nur noch mit Mehrheit Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zusätzliche Leis- abgelehnt werden kann. Bislang hat in den paritä- tungen oft nicht tarifvertraglich vereinbaren wollen. tisch von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden Die werden dann individuell gewährt – und sind besetzten Tarifausschüssen die Bundesvereinigung leicht wieder entzogen. der Arbeitgeberverbände (BDA) eine Vetoposition. Seite 8 · Jahresbericht 2018
Elf Fragen an Andrea Kocsis Derzeit kann die BDA deshalb alle Versuche, einen Wir begrüßen es, dass das Bundesarbeitsministe- Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären zu rium eine Nachunternehmerhaftung wie im Bauge- lassen, mit ihrem Nein scheitern lassen. Die han- werbe auch für die Paketbranche einführen will. deln da sehr dogmatisch. Zuletzt haben sie eine flä- Zwar sind mit der Deutschen Post DHL-Group, chendeckende Mindestausbildungsvergütung im UPS, DPD und Hermes vier der fünf großen Paket- bayerischen Friseurhandwerk verhindert, die wir dienstleister in Deutschland tarifgebunden – GLS zusammen mit der Friseurinnung erreichen wollten. ist das nicht. Aber in der Zustellung wird zum Teil, Zum anderen muss dafür gesorgt werden, dass bei DPD, Hermes und GLS praktisch ausschließlich öffentliche Aufträge nur noch an tarifgebundene mit Subunternehmen gearbeitet. Um Kosten zu Unternehmen vergeben werden. Dazu braucht es sparen und Verantwortung für die Arbeitsverhält- nicht nur ein Bundesvergabegesetz, sondern auch nisse loszuwerden. Mit der erweiterten Nachunter- entsprechende Regelungen auf Landesebene und nehmerhaftung wären die Auftraggeber nicht nur auf kommunaler Ebene. Zusätzlich müssen Tarif- für die Zahlung des Mindestlohns, sondern auch verträge bei Outsourcing so lange weitergelten, bis für die Abführung von Sozialversicherungsbeiträ- sie durch neue Tarifverträge abgelöst werden. gen haftbar zu machen. Dann könnten sich die Auf- traggeberinnen und Auftraggeber nicht mehr einen Das HSI der Hans-Böckler-Stiftung hat den Vor- schlanken Fuß machen, indem sie ihre Subunter- schlag in die Debatte gebracht, Tarifbezahlung nehmerinnen und Subunternehmer bloß vertraglich steuerlich besserzustellen und auf diese Weise zur Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften ver- Tarifverträge wieder attraktiver zu machen … pflichten, sondern sie müssten selbst darauf ach- ten, wie die Arbeitsbedingungen sind. Natürlich Ja, der Ansatz ist interessant, darüber sollten wir kann uns das aber nicht reichen. Wir wollen, dass auf jeden Fall weiter nachdenken. die Unternehmen am Ende zu dem Schluss kom- men, die Menschen doch lieber direkt anzustellen Tarife, und selbst der Mindestlohn, werden aber und nach Tarif zu bezahlen. Die Paketdienstbran- auch unterlaufen. Für Kurierdienste arbeiten bei- che wird dank Online-Handel auch künftig weiter- spielsweise Fahrer, die offiziell selbstständig sind, wachsen, deshalb werden die Unternehmen mehr Speditionen setzen zu Billiglöhnen osteuropäische als den Mindestlohn anbieten müssen, um die Trucker ein, die ihre Lastwagen oft nicht mal zum Arbeitsplätze attraktiv zu gestalten. Daran werden Schlafen verlassen: Was lässt sich dem entgegen- wir als Gewerkschaft weiterarbeiten. setzen? Jahresbericht 2018 · Seite 9
Elf Fragen an Andrea Kocsis Was kann oder muss auf europäischer Ebene gere- Bürgerbüro umgesetzt werden soll. Was ich dabei gelt werden? auffällig finde, ist die Ungleichzeitigkeit. In der Logistik zum Beispiel haben wir Betriebe, da arbei- In der Logistik werden fast überall mobile Beschäf- ten schon seit Jahren fast gar keine Menschen tigte eingesetzt, die ununterbrochen zwischen den mehr, weil alles automatisiert wurde. Andere Logis- EU-Mitgliedsstaaten pendeln. Gemeinsam mit tikbetriebe machen die gleiche Arbeit noch hän- unseren europäischen Partnergewerkschaften disch. Die digitale Transformation ist für mich kein rackern wir hier unermüdlich. Wir wollen, dass die einheitliches Gesamtbild, sondern man muss Verbesserung der Entsenderichtlinie auch für diese genau hinschauen: Was verändert sich denn? Und Beschäftigten gilt. Das Europäische Parlament hat welche Antworten braucht es da? Ich war ja Mit- jetzt im April quasi in letzter Minute einen zwar glied der von der Hans-Böckler-Stiftung eingesetz- nicht optimalen, aber tragfähigen Kompromiss ten Kommission „Arbeit der Zukunft“, in der wir gefunden. Das ist schon mal gut. Ob der Schritt in das ganz ähnlich diskutiert haben. Aber wir haben Richtung sozialerer Arbeitsbedingungen nach den da auch ein paar große Themen identifiziert. Der Wahlen weitergegangen wird, wird ein Lackmus- Arbeitnehmerbegriff muss so erweitert werden, test, wie ernst es der EU mit der propagierten dass er auch soloselbstständige Internet-Clickwor- „sozialen Säule“ tatsächlich ist. ker erfasst. Und ganz entscheidend wird es auf Weiterbildung ankommen. Arbeitgeber müssen Verantwortlich für die Arbeitsbedingungen ist der stärker in die Pflicht genommen werden, Beschäf- Arbeitgeber. Doch oft hat es den Anschein, dass da tigten Qualifizierungsangebote zu machen. Damit gerne jedes Unternehmen auf andere zeigt. Am dabei auch kleine und mittelständische Betriebe Ende können sich alle darauf einigen, dass sie nur mithalten können, halte ich staatliche Förderung den Preisdruck aufnehmen, der von Kundinnen und allerdings für unabdingbar. Kunden ausgeht. Müssen wir uns alle eine Mitver- antwortung zuschreiben? Welche Rolle spielen Betriebsräte bei der Gestal- tung der Transformationsprozesse? Das Argument, die Kundin/der Kunde wolle das ja, lasse ich an dieser Stelle nicht gelten. Es gibt eine Immer mehr Betriebsräte erkennen, dass die Digi- Geiz-ist-geil-Mentalität in Deutschland, das stimmt talisierung auch die Chance bietet, Dinge zuguns- und das finde ich auch nicht gut. Aber es gibt auch ten der Beschäftigten zu verändern. Wenn zum Bei- ein zunehmendes Bewusstsein in der Gesellschaft, spiel in der Paketzustellung eine Gangfolge digital dass Niedriglöhne ein Problem sind. Ich bin davon vorgegeben wird, dann kann man auch ein digita- überzeugt, dass die Unternehmen Preiserhöhungen les Ende der Arbeit einleiten, indem der Handscan- durchsetzen müssen und dass viele Kundinnen und ner einfach irgendwann abgeschaltet wird – das ist Kunden auch mehr zahlen würden für Dienstleis- etwas, das Betriebsräte fordern. Oder man kann tungen. Ein Arbeitgeberverbandsvertreter hat uns die körperlich belastende Arbeit der Zusteller mal gebeten, mit dazu aufzurufen, Paketzustellern erleichtern, indem Sendungen vorher gewogen ein höheres Trinkgeld zu geben. Da habe ich werden, so dass derjenige, der sie anheben muss, gesagt: Geht’s noch? Natürlich kann man als Kun- vorgewarnt ist: Achtung, jetzt kommt ein schweres din oder Kunde ein Trinkgeld geben, aber das Paket. Zusammen mit den Betriebsräten müssen ersetzt keine ordentlichen Arbeitsbedingungen. wir das nach vorne treiben und schauen, was dank Dafür zu sorgen ist und bleibt Aufgabe der Arbeit- des technologischen Fortschritts jetzt möglich ist, geber – und sie sind da auch zunehmend unter was vorher nicht möglich war. Druck. Ob in der Pflege, bei den Paketdiensten, in Kitas, im Wachgewerbe oder beim Bodenpersonal Das heißt, Digitalisierung läuft konkret anders und an Flughäfen: Überall wissen oder lernen die besser, wenn ein Unternehmen oder ein Betrieb Beschäftigten gerade, dass ihre Arbeitskraft mehr mitbestimmt ist? wert ist, und setzen sich zur Wehr gegen schlechte Arbeitsbedingungen. Ganz bestimmt. Wir haben beim Hafenlogistiker Eurogate auf Initiative des Konzernbetriebsrates Viele Dienstleistungsbranchen – Handel und Logis- gerade einen hervorragenden Tarifvertrag zum tik, aber auch Banken – sind auch so etwas wie Umgang mit Digitalisierungs- und Automatisie- Vorreiterbranchen bei der Digitalisierung, Stichwort rungsvorhaben abgeschlossen. Bei jedem solchen E-Commerce. Wie kann man dazu beitragen, dass Vorhaben tritt dort jetzt eine Kommission zusam- der technische Fortschritt zu besseren Arbeitsbe- men, die paritätisch mit Vertreterinnen und Vertre- dingungen und nicht zum Stellenabbau führt? tern von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite besetzt ist. Sie analysiert die Auswirkungen für die Digitalisierung gibt es für uns schon lange. Und Beschäftigten und stellt aus den Instrumenten, die das betrifft nicht nur bestimmte Branchen – das der Tarifvertrag vorgibt, ein bindendes Personal- geht bis in den öffentlichen Dienst, wo das digitale Seite 10 · Jahresbericht 2018
Elf Fragen an Andrea Kocsis konzept zusammen. So darf die Wochenarbeitszeit Ich glaube, dass die Mitbestimmungsgesetze ange- nur bei vollem Lohnausgleich gekürzt werden. Es passt werden müssen – aber nicht so, wie sich das gibt einen Rechtsanspruch auf Weiterqualifizie- manche Arbeitgeber wünschen, die die Mitbestim- rung, auf Bildungsteilzeit, auf Jobsharing. Verset- mung von Betriebsräten bei der Einführung von IT- zungen sind nur freiwillig möglich und werden mit Anwendungen als fortschrittshemmend geißeln Mobilitätsprämien honoriert. Wer eine eigentlich und gerne abgeschafft sähen. Wir brauchen viel- geringer bezahlte Tätigkeit annimmt, bleibt trotz- mehr beim Persönlichkeits- und Datenschutz eine dem noch fünf Jahre lang in seiner bisherigen Ent- noch bessere Mitbestimmung der Betriebsräte. Wir geltgruppe. Outsourcing ist untersagt und betriebs- brauchen eine Verstärkung des Arbeitsschutzes, bedingte Kündigungen sind bis 2025 ausgeschlos- weil Arbeitsabläufe durch die Digitalisierung ja sen. Und das alles in einem privatwirtschaftlichen, nicht nur erleichtert, sondern im Gegenteil auch nicht in einem öffentlichen Unternehmen – das ist gesundheitlich belastender werden können. Wenn wegweisend. Starke Betriebsräte und ein guter die Produktivität gesteigert werden soll, führt das Organisationsgrad haben das möglich gemacht. zu Arbeitsverdichtung und Stress. Auch bei der Personalbemessung ist deshalb eine stärkere Mit- Wo es einen solchen Tarifvertrag nicht gibt, müs- bestimmung nötig. sen Betriebsräte mit dem arbeiten, was ihnen das Betriebsverfassungsgesetz an die Hand gibt. Aber sind diese Mitbestimmungsrechte den technologi- schen Veränderungen noch gewachsen? Jahresbericht 2018 · Seite 11
Unser Anliegen, Unsere Themen, Unsere Arbeit UNSER ANLIEGEN, UNSERE THEMEN, UNSERE ARBEIT Seite 12 · Jahresbericht 2018
Unser Anliegen, Unsere Themen, Unsere Arbeit DIE HANS-BÖCKLER-STIFTUNG Wofür steht die Hans-Böckler-Stiftung? Forschungsförderung Die Hans-Böckler-Stiftung tritt ein für eine demokra- Die Abteilung Forschungsförderung unterstützt tische und solidarische Gesellschaft, in der Gute jedes Jahr zahlreiche wissenschaftliche Forschungs- Arbeit die zentrale Wohlstandsquelle, Mitbestim- vorhaben an Hochschulen und externen For- mung das zentrale demokratische Gestaltungsprin- schungseinrichtungen. Ziel ist es, mit den daraus zip der sozialen Marktwirtschaft und Gerechtigkeit resultierenden Forschungsergebnissen innovative das wesentliche gesellschaftliche Fundament ist. Gestaltungsimpulse zu setzen und Orientierungswis- sen schnell und kompakt zur Verfügung zu stellen. Wer steht hinter der Hans-Böckler-Stiftung? Die Arbeit der Forschungsförderung trägt ferner Die Hans-Böckler-Stiftung ist das Mitbestimmungs-, dazu bei, eine neue Generation von Wissenschaftle- Forschungs- und Studienförderwerk des Deutschen rinnen und Wissenschaftlern zu fördern, die sich Gewerkschaftsbundes (DGB). Das Fundament der einer qualitativ hochwertigen Forschung und einer Hans-Böckler-Stiftung bilden die Förderinnen und arbeitnehmerorientierten Perspektive gleichermaßen Förderer. Mit ihren regelmäßigen Zuwendungen verpflichtet fühlen. ermöglichen sie unsere Arbeit. Fast 7.000 Menschen gehören zu unserem Fördererkreis: Aufsichtsräte, Studienförderung die den Großteil ihrer Vergütungen an uns abführen, Als eines der großen Studienförderungswerke der aber auch Einzelpersonen und Institutionen. Bundesrepublik Deutschland trägt die Stiftung dazu bei, soziale Ungleichheit im Bildungswesen zu über- Was macht die Hans-Böckler-Stiftung? winden. Sie fördert gewerkschaftlich und gesell- Die Hans-Böckler-Stiftung unterstützt junge Men- schaftspolitisch engagierte Studierende und Promo- schen mit Stipendien bei Studium und Promotion vierende mit Stipendien, Bildungsangeboten und der und schafft mit ihren Instituten und Förderabteilun- Vermittlung von Praktika. Insbesondere unterstützt gen Wissen in Form von Publikationen, Expertisen sie Absolventinnen und Absolventen des Zweiten und Veranstaltungen. Sie überführt daraus resultie- und Dritten Bildungsweges. rende Erkenntnisse in Handlungs- und Orientie- rungshilfen für gesellschaftliche und wissenschaftli- Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches che Diskurse. Mit der Publikationsreihe Report ver- Institut (WSI) öffentlichen die Institute der Hans-Böckler-Stiftung Das WSI der Hans-Böckler-Stiftung forscht zu Arbeit ihre Forschungsergebnisse, in der Reihe Study wer- und Lebenswelt, Transformation der Arbeit, sozialer den die Ergebnisse der geförderten Forschungspro- Ungleichheit und sozialen Risiken sowie dem Euro- jekte vorgestellt. Das Magazin „Mitbestimmung“, päischen Sozialmodell. Das WSI-Tarifarchiv bietet das alle zwei Monate als gedrucktes Heft erscheint, umfangreiche Dokumentationen und fundierte Aus- und die „WSI-Mitteilungen“ informieren über The- wertungen zu allen Aspekten der Tarifpolitik. men aus Arbeitswelt und Wissenschaft. Mit diesen Medien, der Website www.boeckler.de und ihren Institut für Makroökonomie und Social-Media-Kanälen bietet die Stiftung einen Konjunkturforschung (IMK) schnellen Zugang zu ihren Publikationen, Veranstal- Das IMK der Hans-Böckler-Stiftung erforscht tungen, Themenexpertinnen und -experten, Bera- gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge und berät tungsangeboten und Forschungsergebnissen. Mit zu wirtschaftspolitischen Fragen. Daneben stellt das dem 14-täglich erscheinenden „Böckler Impuls“ IMK auf der Basis seiner Forschungs- und Bera- begleitet die Stiftung aktuelle Debatten zu den The- tungsarbeiten regelmäßig Konjunkturprognosen vor. men Arbeit, Mitbestimmung, Soziales und Wirt- Ein besonderer Schwerpunkt des IMK ist die Zusam- schaft. menarbeit mit dem Netzwerk Plurale Ökonomik. Institut für Mitbestimmung und Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht (HSI) Unternehmensführung (I.M.U.) Das HSI widmet sich der nationalen und internatio- Um Praktikerinnen und Praktiker der Mitbestim- nalen Forschung zum Arbeits- und Sozialrecht. Zu mung bei ihrer Arbeit zu unterstützen, beraten die seinen Themen gehören unter anderem Fragen des Expertinnen und Experten des Instituts für Mitbe- IT-Arbeitsrechts, des Tarif- und Arbeitskampfrechts stimmung und Unternehmensführung der Hans- sowie der Mitbestimmung und des europäischen Böckler-Stiftung. Dazu geben wir Veröffentlichun- Arbeitsrechts in Form der Rechtsprechung des Euro- gen (z. B. Praxiswissen Betriebsvereinbarungen) päischen Gerichtshofs. An seinen Studien sind Juris- heraus und organisieren Veranstaltungen, Arbeits- tinnen und Juristen, Sozialwissenschaftlerinnen und kreise und Beiräte zum Erfahrungsaustausch und -wissenschaftler wie auch Mitbestimmungspraktike- Erkenntnisgewinn. Speziell für diese Zielgruppe rinnen und -praktiker beteiligt. aufbereitete Informationen bietet das Portal www.mitbestimmung.de an. Stand: März 2019 Jahresbericht 2018 · Seite 13
Höhepunkte der Stiftungsarbeit 2018 HÖHEPUNKTE DER STIFTUNGS ARBEIT 2018 Projekte, Analysen und Einschätzungen, Beratung für die betriebliche Praxis, materielle und ideelle Förderung: Das Leistungs- und Tätigkeitsspektrum der Hans-Böckler-Stiftung ist vielseitig. Handlungs- und Orientierungswissen auf der Grundlage wissenschaftlicher Forschung zu erarbeiten, ist nur die eine Seite der Medaille. Wir sprechen auch über die gewonnenen Erkenntnisse, diskutieren sie mit anderen Akteu- rinnen und Akteuren und tragen sie in den politischen Raum, das ist die andere Seite der Medaille. Die Hans-Böckler-Stiftung organisiert dafür Fachtagungen, Seminare und Workshops, Konferenzen und Foren. Ihnen alle Veranstaltungen vorzustellen, würde den Rahmen unseres Jahresberichts sprengen. Auf den folgenden Seiten wollen wir Ihnen daher einen ersten Eindruck geben. Seite 14 · Jahresbericht 2018
Höhepunkte der Stiftungsarbeit 2018 Hier können Sie einen Blick auf die zahlreichen anderen Veranstaltungen der Hans-Böckler-Stiftung werfen. Neujahrsempfang 2018 Campus Arbeitsrecht „Volksparteien: Sind sie noch zu retten?“ 04.03.2018, Frankfurt am Main 06.02.2018, Berlin IMK Forum 2018 „Die Krise der Globalisierung” 21.03.2018, Berlin Jahresbericht 2018 · Seite 15
Höhepunkte der Stiftungsarbeit 2018 European Dialogue 2018 „Social Europe Strengthening Workers’ Voice“ 26.–27.04.2018, Brüssel Böckler Konferenz für Aufsichtsräte 2018 „Mitbestimmung für gute Unternehmensführung in Europa“ 28.–29.06.2018, Berlin Seite 16 · Jahresbericht 2018
Höhepunkte der Stiftungsarbeit 2018 LABOR.A 2018 Plattform „Arbeit der Zukunft“ 13.09.2018, Berlin Engineering- und IT-Tagung „Wir erschaffen Das! – Künstliche Intelligenz zwischen Science-Fiction und Realität“ 17.–19.09.2018, Köln WSI-Herbstforum 2018 „Interessenvertretung der Zukunft“ 20.–21.11.2018, Berlin Jahresbericht 2018 · Seite 17
01. Was uns bewegt 01. WAS UNS BEWEGT – Meilenstein Mitbestimmung – ein soziales Europa braucht Mindeststandards für die Mitbestimmung – Meilenstein Gute Arbeit – Pflegenotstand und Plattformökonomie: Wege zu besseren Arbeitsbedingungen – Meilenstein Gerechtigkeit – Wohnungsnot, Gender Pay Gap und polarisierte Einkommen verschärfen die Ungleichheit Seite 18 · Jahresbericht 2018
01. Was uns bewegt MEILENSTEIN MITBESTIMMUNG Ein soziales Europa braucht Mindeststandards Bislang ist das europäische Gesellschaftsrecht für die Mitbestimmung indes vor allem für das Verhältnis zwischen Top- Mitbestimmung wirkt – und das keineswegs nur in Management und Aktionären konstruiert, und das Deutschland. Arbeitnehmerbeteiligung in den Auf- mehr und mehr nach angelsächsischem Vorbild. sichts- und Verwaltungsräten von Unternehmen Mitbestimmung kommt darin nur vor, weil sie zum sei mittlerweile ein „Schlüsselelement des europäi- Beispiel in Deutschland zum Kanon des nationalen schen Wirtschaftsmodells“, heißt es im Abschluss- Gesellschaftsrechts gehört. Es verwundert daher bericht der internationalen Expertengruppe „Wor- nicht, dass auch im jüngsten Gesetzesvorschlag kers‘ Voice and Good Corporate Governance in zur grenzüberschreitenden Unternehmensmobilität Transnational Companies in Europe“. Die von der durch Sitzverlegung und zur Online-Registrierung Hans-Böckler-Stiftung eingesetzte und von von Unternehmen keine positiven Zeichen für eine Prof. Dr. Anke Hassel geleitete internationale Öffnung hin zu einer breiteren Stakeholder-Orien- Expertengruppe, der 19 Wissenschaftlerinnen und tierung zu erkennen sind. Das Vorhaben wird von Wissenschaftler sowie Praktikerinnen und Prakti- den Expertinnen und Experten des I.M.U. aufmerk- ker aus mehreren europäischen Ländern angehör- sam und kritisch begleitet. Denn es gilt zu verhin- ten, hatte sich drei Jahre lang mit der Frage dern, dass die Gründung von Briefkastenfirmen beschäftigt, wie „Workers’ Voice“ an der Entschei- und das Umgehen von Mitbestimmung oder Steu- dungsspitze von Unternehmen unter den jeweils erpflichten erleichtert werden, indem Unterneh- unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingun- men ihren Verwaltungssitz in das Mitgliedsland gen in den Mitgliedsstaaten der EU praktiziert mit den laxesten Vorschriften verlegen können. wird. Daraus werden Schlussfolgerungen gezogen, Auf Drängen der europäischen Gewerkschaften wie Arbeitnehmerbeteiligung auf dieser Ebene wurde ein gewisser Schutz für die Beteiligungs- gesichert und weiter ausgebaut werden kann. rechte der Beschäftigten immerhin bereits in den Entwurf aufgenommen. Auf dieser Grundlage soll Dem Bericht zufolge gibt es in Europa zwar kein nun während des Gesetzgebungsverfahrens für einheitliches Modell, dafür jedoch zahlreiche Vari- weitere Verbesserungen gestritten werden. „Es anten und Konstellationen, die Vergleichbares wie besteht dringender Bedarf der Nachbesserung das deutsche System der Mitbestimmung bewir- durch das EU-Parlament und den Europäischen ken. Eine starke „Workers’ Voice“ mit Einfluss auf Rat, wenn Mitbestimmungsrechte effektiv Weichenstellungen für die Zukunft von Unterneh- geschützt werden sollen“, sagt I.M.U.-Direktor men entsteht aus dem Zusammenwirken der ver- Kluge. Die Hans-Böckler-Stiftung wird ihre Exper- schiedenen Ebenen von Interessenvertretung der tise dabei weiter einbringen. Beschäftigten – gewerkschaftlich, betrieblich, im Aufsichts- oder Verwaltungsrat. Sie kommt nicht Bereits erfolgreich getan hat sie das bei der anste- nur dem Unternehmen zugute, sondern leistet henden Umsetzung der zweiten EU-Aktionärsrech- gleichzeitig einen Beitrag zur Stabilisierung von terichtlinie in deutsches Recht. Die Richtlinie Demokratie und ökonomischem Erfolg der jeweili- ermöglicht es dem Gesetzgeber, die Entscheidung gen Staaten insgesamt. über die zentrale Frage der Vorstandsvergütung vom mitbestimmten Aufsichtsrat auf die Hauptver- „Es gibt daher gute und realistische Gründe, Mit- sammlung zu verschieben – von einem Gremium, bestimmung als Teil guter Unternehmensführung das die Interessen aller Stakeholder berücksichti- zu begreifen und sie standardmäßig ins europäi- gen soll, hin zu renditeorientierten Investoren. sche Gesellschaftsrecht einzufügen“, sagte I.M.U.- Hans-Böckler-Stiftung und Gewerkschaften sehen Direktor Dr. Norbert Kluge beim „Europäischen durch diese Machtverschiebung die Balance im Gespräch 2018“, das die Hans-Böckler-Stiftung in deutschen Corporate-Governance-System in Kooperation mit dem Europäischen Gewerk- Gefahr. In einem gemeinsamen Papier forderten schaftsinstitut (ETUI) am 26. und 27. April 2018 in sie deshalb, Spielräume bei der nationalen Umset- Brüssel veranstaltete. Bei der Tagung diskutierten zung der Richtlinie so auszunutzen, dass die Mit- Fachleute aus ganz Europa darüber, wie die bestimmung im Aufsichtsrat nicht weiter einge- Rechte der Beschäftigten auf Unterrichtung, Anhö- schränkt wird – etwa indem das Votum der Haupt- rung und Mitbestimmung in der EU gestärkt wer- versammlung zur Vorstandsvergütung nicht für den können. Nationale Unterschiede in den indust- rechtlich bindend für den Aufsichtsrat erklärt wer- riellen Beziehungen müssten nicht zu einem euro- den sollte. päischen Einheitsmodell transformiert werden, um „Workers’ Voice“ stark zu halten, erklärte Kluge in Der im Herbst 2018 vorgelegte Referentenentwurf Anknüpfung an die Ergebnisse der Experten- aus dem Bundesjustizministerium griff diese gruppe, die auf der Konferenz vorgestellt wurden. gewerkschaftlichen Kernforderungen auf. „Bei den Aber es müsse europäische „Mindeststandards“ dem nationalen Gesetzgeber in der Richtlinie ein- geben. Jahresbericht 2018 · Seite 19
01. Was uns bewegt geräumten Wahlmöglichkeiten wird unseren For- Wie der Weg in eine mitbestimmte Arbeitswelt 4.0 derungen entsprochen“, sagt Dr. Sebastian Sick, bereits heute ganz konkret beschritten wird, zeigte Referatsleiter Wirtschaftsrecht im I.M.U. „Insofern eine Auswertung von Betriebsvereinbarungen wird, soweit bei einer 1:1-Umsetzung möglich, der durch Dr. Manuela Maschke, Sandra Mierich und drohenden Kompetenzverschiebung vom Auf- Nils Werner vom Referat Arbeit und Mitbestim- sichtsrat auf die Hauptversammlung in unserem mung des I.M.U. „Digitalisierung und Arbeiten 4.0 Sinne begegnet.“ Hans-Böckler-Stiftung und kann für Unternehmen, Beschäftigte und erwerbs- Gewerkschaften kritisieren jedoch, dass der fähige Menschen ein erfolgreiches Zukunftspro- Gesetzgeber die Gelegenheit nicht nutzt, wichtige gramm werden, wenn Beteiligung und Chancen- qualitative Reformen beispielsweise bei der Vor- gleichheit gefördert werden“, schreiben sie in standsvergütung anzugehen. ihrem Report, „nicht jedoch, wenn nur wenige Per- sonengruppen davon profitieren und Mitbestim- Wege in eine mitbestimmte und menschenge- mung als nachgelagerte soziale Angelegenheit rechte Arbeitswelt 4.0 begriffen wird.“ Die Digitalisierung ist eine der derzeit größten Her- ausforderungen für die Mitbestimmung: Im selben In einem juristischen Working Paper identifizierte Maß, wie der technologische Fortschritt die HSI-Leiter Dr. Thomas Klebe sechs Haupthand- Arbeitswelt verändert, verändern sich auch die lungsfelder: Beschäftigung und Qualifizierung, Anforderungen an Betriebs- und Aufsichtsräte. Um Arbeitszeit und Arbeitsweise, Arbeits- und Gesund- Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter bei der heitsschutz, Datenschutz, Globalisierung sowie die schwierigen Aufgabe einer menschengerechten Mitbestimmung in der Plattformökonomie. Der Gestaltung der Digitalisierung zu unterstützen, Arbeitsrechtler analysierte, wie die rechtlichen stellt die Hans-Böckler-Stiftung auf verschiedenen Möglichkeiten und Grenzen der Mitbestimmung in Ebenen Handlungs- und Orientierungswissen zur diesen Feldern derzeit aussehen, und machte Vor- Verfügung. 2018 widmeten sich Publikationen schläge für eine Weiterentwicklung. „Es ist unver- unter anderem den Fragen, wie Digitalisierung zichtbar, dass Gewerkschaften und Betriebsräte auch jenseits industrieller Produktion im Dienst- den Wandel sozial mitgestalten und die Arbeits- leistungsbereich zum Tragen kommt oder wie sie welt 4.0 mitdefinieren“, bilanzierte Klebe. „Hierfür sich speziell auf weibliche Beschäftigte auswirkt. bestehen Rechte, die aber dringend erweitert wer- Der von der Stiftung gegründete Fachausschuss den müssen.“ „Personal 4.0“ der Arbeitsgemeinschaft Engere Mitarbeiter der Arbeitsdirektoren Stahl formulierte acht Thesen zur Zukunft der mitbestimmten Perso- nalarbeit und stellte sie auf dem Mitbestimmungs- portal der Stiftung im Internet zur Diskussion. Arbeitnehmerbeteiligung in Europa Die 100 größten börsennotierten Unternehmen in der EU hatten 2014 ... Arbeitnehmervertreter in 43 % Leitungsgremien Tarifverträge 90 % Europäische Betriebsräte 74 % Europäische Unter- nehmensvereinbarungen 51 % Internationale Rahmenvereinbarungen 22 % Quelle: I.M.U. 2018 Seite 20 · Jahresbericht 2018
01. Was uns bewegt MEILENSTEIN GUTE ARBEIT Deutschland liegen, müssten steigen, etwa durch Pflegenotstand und Plattformökonomie: Wege eine höhere Tarifbindung. Es brauche eine gesetz- zu besseren Arbeitsbedingungen lich vorgeschriebene Mindest-Personalausstat- Personalmangel, unterbesetzte Stationen, Arbeits- tung, die tatsächlich den Bedarf auf den Stationen überlastung: Die Diskussion, was gegen den deckt. Außerdem müsse dafür gesorgt werden, zunehmenden Pflegenotstand in Deutschland zu dass Länge und Verteilung der Arbeitszeit den tun ist, ist im politischen Raum gerade erst ange- Bedürfnissen der Beschäftigten entsprechen und kommen. Die Hans-Böckler-Stiftung widmet der dass es bessere berufliche Einstiegs- und Entwick- wachsenden Kluft zwischen den Erwartungen an lungsmöglichkeiten gibt. „Soziale Dienstleistungen professionelle Dienstleistungen und den tatsächli- sind Teil der gesellschaftlichen Infrastruktur“, chen Arbeitsbedingungen in der Pflege schon län- erklären die Expertinnen. Unter den gegenwärti- ger besondere Aufmerksamkeit: Mit dem For- gen Arbeitsbedingungen werde ihr allseits gefor- schungsverbund „Soziale und gesundheitsbezo- derter Ausbau jedoch kaum gelingen. gene Dienstleistungen“ werden Forschungsprojekte gefördert, die Ansatzpunkte Dass es sich lohnt, trotz aller Widerstände und für Gute Arbeit und Beschäftigung und eine gute postulierter Sparzwänge für bessere Arbeitsbedin- Versorgung in der Sozial- und Gesundheitswirt- gungen zu kämpfen, zeigte eine WSI-Studie zum schaft herausarbeiten. Mehr als 20 Publikationen öffentlichen Dienst. Prof. Dr. Thorsten Schulten sind aus diesem Verbund seit 2016 bereits hervor- und Dr. Daniel Seikel untersuchten die Situation in gegangen – im vergangenen Jahr unter anderem Krankenhäusern, Grundschulen und Kindertages- zu Fragen der Weiterbildung, des Quereinstiegs stätten – und stellten fest, dass die langjährige und der Nutzung des technologischen Fortschritts Abwärtsspirale des Kürzens, Schrumpfens und Pri- in der Pflege. vatisierens gestoppt werden konnte. Der Trend gehe, wenn auch nur in kleinen Schritten und noch Eine zusammenfassende Analyse von Status quo längst nicht überall, zu mehr Beschäftigung, höhe- und Reformansätzen lieferte ein Report von rer Qualität und besseren Arbeitsbedingungen, Dr. Dorothea Voss, Leiterin der Abteilung For- bilanzierten die WSI-Forscher. Neben der günsti- schungsförderung, und Christina Schildmann. Für gen makroökonomischen Entwicklung sei das ins- die – auch volkswirtschaftlich gebotene – Aufwer- besondere dem Einsatz von Gewerkschaften und tung sozialer Dienstleistungen bestehe vor allem in Beschäftigten zu verdanken. vier Bereichen dringender Handlungsbedarf, heißt es in der Studie. Die Löhne, die selbst für Fach- kräfte unter dem Mittelwert aller Beschäftigten in Pflege wird schlecht bezahlt So hoch lag 2014 der durchschnittliche Stundenlohn für … Gesundheits- und 16,23 € Krankenpflegerinnen Helferinnen in der 11,09 € Krankenpflege Stationsleiterinnen in der 19,25 € Krankenpflege Altenpflegerinnen 14,24 € Altenpflegehelferinnen 11,49 € alle Beschäftigten 16,97 € Quelle: Schildmann, Voss 2018 Jahresbericht 2018 · Seite 21
01. Was uns bewegt Gute Arbeit ist das Ziel aber natürlich nicht nur in zuzüglich eines Sozialversicherungszuschlags von traditionellen Berufsfeldern. Eine besondere Her- 25 Prozent, weil sie sich ja selbst versichern müs- ausforderung stellt das noch junge Geschäftsmo- sen. Die Rechtswissenschaftler betonen jedoch, dell der Plattformökonomie dar, bei der Aufträge dass diese „existenzielle Grundsicherung“ nur der über das Internet einzeln an sogenannte Crowd- erste Schritt sein soll: „Um ein über die Mindestab- worker vergeben werden. In die Debatte um die sicherung hinausgehendes, branchenspezifisch soziale Absicherung dieser Online-Tagelöhner und auskömmliches Einkommen sicherzustellen, sind anderer prekär beschäftigter Solo-Selbstständiger kollektivvertragliche Regelungen anzustreben.“ hat sich im vergangenen Jahr auch die Hans-Böck- ler-Stiftung eingeschaltet. Stärkung der Tarifautonomie durch Steuervor- teile für Gewerkschaftsmitglieder In der Schriftenreihe des HSI wurde ein Gutachten Der direkteste Weg zu Guter Arbeit führt über veröffentlicht, das der Arbeitsrechtler Prof. Dr. Tarifverträge. In tarifgebundenen Unternehmen Frank Bayreuther (Universität Passau) für das Bun- sind die Löhne im Durchschnitt höher, die Arbeits- desarbeitsministerium erstellt hatte. Sein Fazit: bedingungen besser. Doch in den vergangenen Auch wenn ein Schutz von Solo-Selbstständigen Jahren ist die Tarifbindung stark gesunken. Um nicht einfach umzusetzen ist, stehen einer gesetz- Anreize für mehr Tarifverträge zu setzen, sollte die geberischen Intervention keine grundlegenden Politik deshalb die Mitgliedschaft in Arbeitgeber- rechtlichen Bedenken im Weg. Einen ganz konkre- verbänden und Gewerkschaften fördern, schreibt ten Regelungsvorschlag machten die HSI-Juristen der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Martin Franzen Dr. Johannes Heuschmid und Dr. Daniel Hlava: Sie (Ludwig-Maximilians-Universität München) in legten einen Gesetzentwurf vor, nach dem Solo- einem 2018 erschienenen Gutachten für das HSI. Selbstständige Anspruch auf ein Mindestentgelt in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns hätten – Voraussetzung für das erfolgreiche Aushandeln eines Tarifvertrags ist, dass sich beide Seiten auf Augenhöhe begegnen. Gewerkschaften sind dafür auf eine breite Mitgliederbasis im Unternehmen Tarif bleibt vielen vorenthalten angewiesen. Bislang profitieren von einem Tarif- Der Anteil der Beschäftigten mit Branchen- oder Firmentarifvertrag betrug in ... vertrag in der Regel jedoch alle Beschäftigten eines tarifgebundenen Arbeitgebers – auch diejeni- 60 % 59 % 57 % gen, die nicht Gewerkschaftsmitglied sind, da in 47 % 49 % 44 % den Arbeitsverträgen meist auf die tarifvertragli- Westdeutschland chen Regelungen Bezug genommen wird. „Als Anreizinstrument für den Beitritt von Arbeitneh- Ostdeutschland merinnen und Arbeitnehmern in eine Gewerk- schaft fällt der Tarifvertrag vollständig aus“, kons- 2013 2015 2017 tatiert der Arbeitsrechtler. Er schlägt daher vor, Der Anteil der Beschäftigten mit Branchen- oder Firmentarifvertrag betrug 2017 einen Teil des tarifgebundenen Lohns bei Gewerk- je nach Wirtschaftszweig ... schaftsmitgliedern steuerfrei zu stellen. Die höhe- ren Nettoeinkommen, die sich daraus ergeben, könnten tarifgebundenen Unternehmen dann auch Westdeutschland 98 % beim Werben um begehrte Fachkräfte helfen. Öffentliche Verwaltung Ostdeutschland 98 % 83 % „Die Steuerprivilegierung rechtfertigt sich aus der Finanzen, Versicherungen 66 % überragenden Bedeutung der Tarifautonomie für 63 % die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung Industrie 35 % Deutschlands“, erklärt Franzen. Die Mindereinnah- men in Höhe von jährlich 1,2 bis 1,6 Milliarden Baugewerbe 63 % 54 % Euro wären für den Staat vor diesem Hintergrund verkraftbar. Gesundheit, Erziehung 60 % 45 % Einzelhandel 40 % 28 % Gastgewerbe 39 % 26 % Information, 19 % Kommunikation 18 % Quelle: IAB 2018 Seite 22 · Jahresbericht 2018
01. Was uns bewegt MEILENSTEIN GERECHTIGKEIT Wohnungsnot, Gender Pay Gap und polari- Detaillierte Daten zum Wohnungsproblem in den sierte Einkommen verschärfen die Ungleichheit 77 deutschen Großstädten lieferte eine von der Sozialer Aufstieg durch Arbeit: Das ist das Grün- Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie von Stadt- dungsversprechen der deutschen Demokratie. soziologen der Humboldt-Universität zu Berlin und Unterstützt von sozial- und bildungspolitischen der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Maßnahmen, sollen sich alle Bürgerinnen und Bür- Dr. Henrik Lebuhn, Dr. Andrej Holm, Stephan ger aus eigener Kraft und Leistung einen Platz in Junker und Kevin Neitzel glichen Haushaltsein- der Mitte der Gesellschaft sichern können. Dieses kommen und Mietwohnungsangebot in den Städ- Versprechen ist das Fundament der deutschen ten miteinander ab und kamen zu dem Befund, Gesellschaft, doch es wird immer weniger einge- dass insgesamt gut 1,9 Millionen bezahlbare Woh- löst. Das bestätigen die Untersuchungen, die die nungen fehlen. Am größten ist der Mangel in Ber- Hans-Böckler-Stiftung im vergangenen Jahr zu lin (310.000 Wohnungen), gefolgt von Hamburg einem ihrer zentralen Forschungsthemen vorgelegt (150.000), Köln (86.000) und München (78.000). hat: der Auseinandersetzung mit Fragen der Die Versorgungslücke dürfte trotz stärkerer Neu- Gerechtigkeit und der Verteilung. bautätigkeit wegen der stark steigenden Miet- preise weiter wachsen, warnen die Wissenschaft- So zeigte der WSI-Verteilungsbericht 2018, dass ler und empfehlen deshalb eine „deutliche Stär- die Einkommen in Deutschland immer weiter aus- kung des sozialen Wohnungsbaus“. einanderklaffen. Der Anteil der Haushalte unter der Armutsgrenze hat in den letzten Jahrzehnten deut- Das unterstrich eine weitere Untersuchung, in der lich und der über der statistischen Reichtums- das Forscherteam den Nutzen wohnungspoliti- grenze etwas zugenommen. Außerdem haben sich scher Maßnahmen analysierte. Demnach ist der Einkommensarmut und Einkommensreichtum ver- soziale Wohnungsbau grundsätzlich das wirkungs- festigt. Trotz guter wirtschaftlicher Entwicklung vollste Instrument, muss aber dringend erheblich kamen 5,4 Prozent der Haushalte binnen fünf Jah- ausgeweitet werden: Beim derzeitigen Förderum- ren nicht aus der Armut heraus, deutlich mehr als fang würde es 185 Jahre dauern, um in den zehn noch zu Beginn der 1990er-Jahre. Umgekehrt größten deutschen Städten den Mangel an günsti- nahm auch der Anteil der Haushalte, denen dauer- gem Wohnraum auszugleichen. Für Mittelschicht- haft mehr als das Doppelte des mittleren Einkom- haushalte könnte eine konsequenter angewendete mens zur Verfügung stand, weiter zu. „Nicht nur und kontrollierte Mietpreisbremse eine spürbare geht die Einkommensschere auf, auch die Lebens- Entlastung bringen. Wohngeld hingegen dämpft welten von Armen, Mittelschicht und Reichen fal- die Mietentwicklung nicht und erreicht zudem nur len immer weiter auseinander“, erklärt WSI-Vertei- wenige Haushalte. lungsexpertin Dr. Dorothee Spannagel. Dieser Pro- zess beschleunige sich, wenn die soziale Mobilität weiter sinke, weil auf die Dauer beispielsweise die soziale Mischung von Wohnvierteln abnehme. Zu wenig Sozialwohnungen Fertig wurden in den zehn bevölkerungsreichsten Städten 2014 so viele ... Wohnungen 7 069 davon Sozialwohnungen 6 086 6 204 3 435 3 556 2 331 2 182 1 599 1 050 948 1 079 609 657 197 189 246 99 0 0 0 Berlin Hamburg München Köln Frankfurt/M. Stuttgart Düsseldorf Dortmund Essen Bremen Quelle: Holm u. a. 2018 Jahresbericht 2018 · Seite 23
01. Was uns bewegt Nach dem WSI-Verteilungsbericht entscheidet schreiben die Sozialwissenschaftlerinnen. Der Rest über hohe oder geringe Einkommen in Deutsch- aber sei darauf zurückzuführen, dass dieselben land nach wie vor auch das Geschlecht: Etwa drei Merkmale bei Frauen schlechter entlohnt werden. Viertel der dauerhaft Einkommensreichen sind Für einen großen Teil des Gender Pay Gaps ist also Männer, während bei den dauerhaft Armen Frauen die ungleiche Bezahlung gleicher und gleichwerti- mit 54 Prozent in der Mehrheit sind. Dass weibli- ger Arbeit verantwortlich. Um zumindest auf ein- che Beschäftigte im Schnitt 21 Prozent weniger zelbetrieblicher Ebene für mehr Gerechtigkeit zu verdienen als männliche, liegt auch am geringeren sorgen, trat Mitte 2017 das Entgelttransparenzge- sozialen Status weiblicher Erwerbsarbeit. Um das setz in Kraft. Doch nach einer Auswertung der zu belegen, hat WSI-Forscherin Dr. Christina Klen- WSI-Betriebsrätebefragung 2018 hatte dieses ner zusammen mit Prof. Dr. Ute Klammer und Gesetz bislang „keine spürbaren Effekte“. „Offen- Sarah Lillemeier vom Institut Arbeit und Qualifika- bar fühlte sich nur ein kleiner Teil der Betriebe von tion (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen den der Aufforderung angesprochen, im Betrieb für „Comparable-Worth-Index“ entwickelt. Der CW- Entgeltgleichheit zu sorgen“, heißt es in der Stu- Index fasst die Anforderungen an Wissen und Kön- die, die das WSI in Kooperation mit dem Institut nen, psychosoziale und physische Belastungen für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung sowie die Verantwortung in den einzelnen Berufen (INES) in Berlin vorlegte. Die Forscherinnen und in einem Punktwert zusammen. Mit dem so Forscher raten dazu, das Gesetz verbindlicher aus- gemessenen beruflichen Anforderungsniveau stei- zugestalten, die Hürden für den individuellen Aus- gen zwar auch die Verdienste – bei Frauen sowie kunftsanspruch zu verkleinern und wirksame in Berufen mit hohem Frauenanteil allerdings Sanktionen bei Verstößen einzuführen. geringer. Gut die Hälfte des Gender Pay Gaps lasse sich mit Unterschieden etwa bei der Berufserfah- rung oder der Branchenzugehörigkeit erklären, Engagement zahlt sich nicht für alle aus So steigen mit wachsenden Herausforderungen die Stundenlöhne in ... 30 € Männerberufen ?! 15 € Frauenberufen 5€ niedrig Anforderungen und Belastungen hoch Quelle: Lillemeier u. a. 2018 Seite 24 · Jahresbericht 2018
01. Was uns bewegt Höhere Einkommen, stärkeres Wachstum: nicht nur auf Exporterfolgen, sondern auch auf Mindestlohn hat sich bewährt einem stabilen Wachstum der Binnennachfrage Mit dem seit 2015 geltenden allgemeinen Mindest- beruht.“ Das werde in Zukunft so bleiben, erklären lohn gibt es in Deutschland erstmals eine gesetzli- die Ökonomen – vor allem, wenn der Staat die che Regelung, die den Absturz der Löhne ins zusätzlichen Einnahmen durch das Wachstum Bodenlose verhindern und für mehr Gerechtigkeit auch zeitnah wieder ausgebe. bei Niedriglohnjobs sorgen soll. In mehreren Stu- dien zogen die Forschungsinstitute der Hans-Böck- Dass bei der Höhe der Lohnuntergrenze in ler-Stiftung im vergangenen Jahr Bilanz – auch im Deutschland aber noch Luft nach oben ist, zeigte Auftrag der Mindestlohnkommission, in der Vertre- der WSI-Mindestlohnbericht 2018. Demnach war terinnen und Vertreter aus Gewerkschaften, der Mindestlohn im vergangenen Jahr in allen Arbeitgeberverbänden und Wissenschaft die westeuropäischen Euroländern deutlich höher als Anhebung der Lohnuntergrenze auf 9,19 Euro zum in der Bundesrepublik und lag zwischen 9,47 Euro 1. Januar 2019 beschlossen. in Belgien und 11,55 Euro in Luxemburg. Hinzu kommt, dass die Lohnuntergrenze von etlichen „Der Mindestlohn hat zu einem deutlichen Anstieg Unternehmen in Deutschland nicht eingehalten der Löhne im Niedriglohnsektor geführt, ohne dass wird. Nach einer Studie von WSI-Forscher es dabei in nennenswertem Ausmaß zu negativen Dr. Toralf Pusch wurden Beschäftigten und Sozial- wirtschaftlichen Konsequenzen für Wachstum und kassen durch Verstöße gegen den allgemeinen Beschäftigung gekommen wäre“, schreiben For- gesetzlichen Mindestlohn im Jahr 2016 – neuere scher von WSI und IMK in einer gemeinsamen Daten liegen noch nicht vor – rund 7,6 Milliarden Analyse. Allerdings sei der Mindestlohn noch nicht Euro vorenthalten. „Durch die weit verbreiteten existenzsichernd und sollte deshalb temporär stär- Mindestlohn-Umgehungen werden nicht nur die ker steigen als die Tariflöhne, empfehlen die Wis- betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer senschaftler. Nach Untersuchungen des IMK wirkt geschädigt, sondern auch die Allgemeinheit“, sagt der Mindestlohn, weil er den privaten Konsum der Arbeitsmarktexperte. „Endlich die Kontrollen stärkt, zudem als Wachstumsverstärker: „Er hat zu verbessern, ist also von höchstem öffentlichen mit dazu beigetragen, dass Deutschland auf einen Interesse.“ stabileren Wachstumskurs eingeschwenkt ist, der Mindestlohn gibt Impulse So steigert die Lohnuntergrenze ... 2. Jahr 5. Jahr 10. Jahr das Bruttoinlandsprodukt +0,27 % +0,25 % +0,27 % den privaten Konsum +0,46 % +0,48 % +0,69 % die Lohnsumme +1,06 % +1.51 % +1.81 % die Preise +0,21 % +0,38 % +0,49 % Quelle: IMK 2018 Jahresbericht 2018 · Seite 25
02. Mitbestimmung 02. MITBESTIMMUNG WEITERDENKEN. MITGESTALTEN. MITBESTIMMEN. Seite 26 · Jahresbericht 2018
02. Mitbestimmung 283 VEREINBARUNGEN BETRIEBS- UND 283 THEMENRADAR-MELDUNGEN Aktuelle Entwicklungen, Trends und Forschung unter DIENST- www.mitbestimmung.de im Mitbestimmungsportal 17.000 Die Stiftung dokumentiert über 17.000 HHHHHHHHHH Betriebs- und Dienstvereinbarungen. Unter www.boeckler.de/betriebsvereinbarungen HHHHHHHH stellt der Arbeitsbereich Praxiswissen Betriebs- vereinbarungen Auswertungen, Beispiele aus der HHHHHHHHHH Praxis (Original-Textauszüge) sowie Gestaltungs- hilfen für Vereinbarungen zur Verfügung. In 18 VON 28 EU-LÄNDERN gibt es Gesetze zur Arbeit- nehmerbeteiligung an der Spitze von Unternehmen. Unter den zehn wettbewerbsfähigsten europäischen Ländern haben sieben Mitbestimmungssysteme. BESSER MIT MITBESTIMMUNG 20 Europa 2020 ist ein auf zehn Jahre angelegtes Wachstums- und 20 Beschäftigungsprogramm der EU. Länder mit starker Mitbestimmung sind bei der Umsetzung der Ziele weiter vorangekommen. 24 KARTENSTAPEL „WISSEN KOMPAKT“ Hintergrundinformationen – kurz und bündig 24 zu aktuellen Themen wie Private Equity, Geschlechterquote und Industrie 4.0 im Mitbestimmungsportal Weit mehr als 800.000 Beschäftigte in Deutschland werden durch juristische Tricks ihrer Arbeitgeber um Mitbestimmung im Auf- sichtsrat gebracht. Deutschlandweit setzen sich mehr als 180.000 Frauen und Männer als gewählte Interessenvertre- terinnen und Interessenvertreter in Betriebsräten für mehr Mitbestimmung im Arbeitsalltag ein. 635 Unternehmen sind mitbestimmt nach dem Mitbestimmungsgesetz von 1976, 363 davon sind GmbHs, 218 sind Aktiengesellschaften. Jahresbericht 2018 · Seite 27
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