1978 Astrid Lindgren FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS 1978 Astrid Lindgren
FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS Hans-Christian Kirsch ___________________________________ Laudatio Die Frage, was mit einer hervorragenden reich der Kinder- und Jugendliteratur mit dem Leistung im Bereich der Kinder- und Jugendlite- Friedenspreis ausgezeichnet worden ist, an Ja- ratur für den Frieden getan sei, ist seit Bekannt- nusz Korczak. Von ihm, der in Verantwortung werden des Namens der diesjährigen Trägerin für die ihm anvertrauten Kinder den höchsten des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Preis zahlte, den ein Mensch für ein Ideal der gelegentlich zu hören gewesen. Humanität zu zahlen imstande ist, indem er sie Ich will, wenn ich von dieser Frage ausgehe, beim Abtransport ins KZ nicht verließ, stammt mich nicht näher mit der Unterscheidung befas- ein anderer Kinder- und Jugendbuchautoren sen, die in der Bundesrepublik immer noch hin verpflichtender Satz: » Das Kind wird nicht erst und wieder zwischen sogenannter »großer« Lite- ein Mensch, es ist schon einer!« ratur einerseits und Kinder- und Jugendliteratur Ich will - dies im Sinn - versuchen, auf die als etwas a priori Minderem oder Zweitrangigem Frage Antwort zu geben, die lautet: Was hat gemacht wird. Astrid Lindgren mit ihrem Werk für den Frieden Vorurteile, die eine solche Unterscheidung getan? hervorbringen, sind erfreulicherweise seit einiger Nicht nur, daß die dabei hervortretenden Zeit im Abnehmen begriffen. Einsichten vielleicht am besten dazu angetan Wenngleich ein genaueres Nachdenken über sind, die Autorin zu ehren. sie auch in den Kern unseres, wie ich finde, ge- Sie vermögen vielleicht auch einen Finger- stört-verstörten Verhältnisses zur Kindheit und zeig darauf zu geben, wie mit einer besonders zum Kind führen würde, will ich dem vorerst gearteten Einstellung zu Kindern, die sich für hier nicht weiter nachspüren. Gegen solche Vor- mich in den Geschichten von Frau Lindgren urteile gewandt, erinnere ich nur an einen Satz, abbildet, in einer ganz und gar nicht friedferti- dem sich, wie ich weiß, als Richtschnur viele gen, eher von Gewalttaten erschütterten Welt Kinder- und Jugendbuchautoren des deutschen und einer über den von manchen ihrer Töchter Sprachraums verpflichtet fühlen, und dessen und Söhne praktizierten Terrorismus verstörten Forderung sich gerade im Werk der hier zu eh- Gesellschaft, Schritte auf den Frieden hin mög- renden Autorin in exemplarischer Weise einlöst. lich werden könnten. Lassen Sie mich aber auch Dieser Satz stammt von Maxim Gorki und noch ganz offen bekennen, daß Autoren, als lautet: »Für Kinder sollte man schreiben wie für deren Repräsentant ich mich in diesem Augen- Erwachsene - nur besser.« blick vor allem verstehe, dieser Frau besonderen Dieser Satz enthält nicht nur die Aufforde- Dank schulden. Sie verkörpert mit ihrem Werk rung, Kinder als Leser ernst zu nehmen. Er weist die Wichtigkeit, die Ausdrucks- und Wirkungs- auch auf die besondere Verantwortung und auf möglichkeiten von Kinder- und Jugendliteratur das besondere Maß an handwerklichem Können aufs Glücklichste. Man denke nur an all jene hin, das von dem verlangt wird, der sich an- Eltern und Kinder, die vielleicht über diesen schickt, für Kinder zu schreiben. Büchern zum ersten Mal erfahren haben, daß Dieser Satz erinnert indirekt, nach meinem Literatur kein esoterischer Bereich sein muß, Verständnis auch daran, daß der Autor, der für sondern Einsamkeit und Isolierung aufzuheben Kinder und Jugendliche schreibt, das soziale vermag. Verhalten, die Rollenbilder, Wünsche und Uto- Seit dem Erscheinen der ersten jener wun- pien der nächsten Generation beeinflußt, ja diese derbaren Geschichten um die Gestalt der Pippi hier und da vielleicht sogar entscheidend prägt. Langstrumpf 1945 in Schweden und 1949 in Es drängt mich an dieser Stelle und bei die- Deutschland haben sich eine große Zahl kluger ser Gelegenheit auch, an jenen Mann zu erin- Frauen und Männer den Kopf darüber zerbro- nern, der posthum als erster Autor aus dem Be- chen, worin die Eigenart des Erzählens bei 2
FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS Astrid Lindgren bestehe, wie es denn komme, heit siegt. Das nenne man dann »ein nützliches daß Kinder diese Geschichten und deren Ge- Mitglied der menschlichen Gesellschaft« wer- stalten - und dazu wären nicht nur Pippi, sondern den. auch Karlsson, Michel (oder, wie er in Schwe- Könne es nicht sein, so fragt Dahrendorf, den heißt, Emil), Mio, Rasmus, Kalle Blomquist daß all das Abgetrennte, Abgedämmte, Unter- und die Brüder Löwenherz zu rechnen - als Ab- drückte irgendwo doch noch lebe, und die Hoff- bilder ihres Seins betrachten? nung, es verwirklichen zu können, nie ganz auf- Aus der Vielzahl der Erklärungsversuche gegeben werde, daß also in der Freisetzung die- will ich hier einige, die mich persönlich beson- ses Unterdrückten und in der Verteidigung eben ders überzeugt haben, wieder ins Gedächtnis dieser Hoffnung, die Erklärung dafür zu suchen rufen. sei, daß die Gestalten aus den Geschichten von So spricht Richard Bamberger davon, daß Astrid Lindgren - oft sogar gegen den Willen Astrid Lindgren die Welt der Kindheit in ihrer wohlmeinender Erwachsener! -von den Kindern ganzen Eigenart und Vielfalt ins Erwachsenen- so heiß geliebt werden? dasein mit hinübergerettet habe. »Astrid Lind- Dies ist der Punkt, an dem wir uns fragen gren«, fährt er fort, »ließ Träume und Phanta- müssen, wie sich denn die Haltung der Autorin sien, die Kinder haben und oft hartnäckig ge- gegenüber Kindern von der mancher anderer genüber den Erwachsenen verteidi- Zeitgenossen unterscheidet? Es reicht nicht hin, gen,Wirklichkeit werden und sich sogar vor den wenn man sagt, Astrid Lindgren nehme Kinder Erwachsenen behaupten.« Bamberger weist eben ernst. schließlich darauf hin, daß viele dieser Ge- Es reicht nicht hin, wenn man definiert, sie schichten ein Tor zum Traum seien, in dem all habe eben nicht, wie so viele andere Menschen, das, was in dieserWelt schief geraten ist, wieder die Brücken zwischen sich und dieser wunder- ins rechte Gleis komme. samen und nicht nur immer angenehm-friedlich Das stimmt wohl, wenn man hinzufügt, daß oder idyllischen "Welt des Kindseins, in der Phantasie hier eben nicht nur Flucht-, sondern »einfache Dinge so seltsam und seltsame Dinge immer auch Trostcharakter hat, Geborgenheit oft so einfach sind«, gesprengt. verbreitet, die Wirklichkeit nie verdrängt wird Ihre Art der Zuwendung zum Kind hat noch und zugleich auch in einer erstaunlich realisti- andere Dimensionen. schen Erzählhaltung Utopien von Freiheit und Einmal hat sie selbst der so klugen Welt der Selbstbestimmung vorgeführt werden. Erwachsenen einen Satz ins Gesicht geschleu- Hedi Wyss war es, die vor kurzem Pippi als dert, der uns alle in Hinblick auf unser Verhält- eine Vorbildgestalt des Emanzipatorischen und nis zu Kindern in unserer Sicherheit, Selbstge- besonders der weiblichen Emanzipation inter- fälligkeit und Nachlässigkeit erschüttern sollte. pretiert hat. Sie schreibt: »Pippi Langstrumpf ist Astrid Lindgren schreibt da von der uner- ein Symbol für Emanzipation des Kindes mit hörten Dummheit und Phantasielosigkeit, mit seinen Phantasien, seinen Interessen und Be- der viele Erwachsene die ihnen ausgelieferten dürfnissen, für die Emanzipation des weiblichen zarten Sprößlinge behandeln. Sie fährt dann ein Kindes gegen den besonders schweren (ge- großes Buch, nämlich die Bibel, zitierend fort: schlechtsspezifischen) Druck... Pippi ist das »>Fordert Eure Kinder nicht zum Zorn heraus!< Vorbild, das nicht Anpassung und Wohlverhal- Behandelt sie mit derselben Rücksicht, die Ihr ten demonstriert, sondern Neugierde und Le- Euren erwachsenen Mitmenschen zwangsläufig benslust.« zeigen müßt. Gebt den Kindern Liebe, mehr Am genauesten scheint mir Malte Dahren- Liebe und noch mehr Liebe, dann kommt die dorf dem Geheimnis der Wirkung der Lindgren- Lebensart von selbst.« schen Geschichten nachgespürt zu haben. Hier, meine Damen und Herren, ergibt sich In seiner Analyse zeigt er auf, wie der beiläufig, was diese Frau, erzählend für den Mensch im Verlauf dessen, was die moderne Frieden getan hat: Durch ihre Fähigkeit, sensibel Entwicklungspsychologie den »Sozialisations- zu erahnen und konsequent auszudrücken, wie es prozeß« nennt, in der anfänglichen Vielfalt sei- im Bewußtsein von Kindern aussieht. ner Möglichkeiten beschnitten und begrenzt Direkt an uns Erwachsene gewandt, hat wird, wie das »Realitätsprinzip« über das Astrid Lindgren einmal gesagt: »Lustprinzip«, die Notwendigkeit über die Frei- »Es müßte also ihre (der Erwachsenen) Sa- 3
FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS che sein, eine Welt der Geborgenheit, der noch mehr Geld zu verdienen, damit wir unseren Wärme und Freundlichkeit um den Wicht zu Kindern ein Motorrad, ein Auto oder ein ent- schaffen. Aber tun sie das? Viel zu selten tun sie sprechendes mechanisches Spielzeug geben es, so will es mir scheinen. Sie haben wohl keine können, Ein Verhältnis zu Dingen soll das Ver- Zeit! Sie sind voll und ganz davon in Anspruch hältnis zwischen Menschen ersetzen. Würden genommen, den kleinen Wicht zu erziehen. Sie wir nicht so verfahren, es könnte uns eben in erziehen ihn beharrlich von früh bis spät. Es ist einer intensiven Begegnung mit Kindern unser ihnen so verzweifelt viel daran gelegen, daß er eigener Verlust an Lebendigkeit klar werden, schon von Anfang an genau wie ein Erwachse- und davor haben wir Angst. ner auftritt, denn dieses >ein Kind sein< ist doch Bei alldem entwickeln wir zwar manchmal wohl eigentlich ein sehr häßlicher Charakterzug, noch schlechtes Gewissen darüber, daß wir so der mit allen Mitteln weggearbeitet werden sind, wie wir nun einmal sind, machen aber viel muß.« zu häufig »die Verhältnisse«, viel zu selten uns Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, als Personen dafür verantwortlich. inwieweit bei jedem einzelnen von Ihnen die Wenn sich dann die Verstörtheit unserer Hoffnung noch besteht oder längst verworfen Kinder, ihre Einsamkeit und sprachliche Hilflo- worden ist, die großen Entwürfe und Systeme sigkeit zu psychischer Krankheit steigert - und seien in der Lage, dem Menschen den Weg in als solche will mir auch der Terrorismus eine friedfertigere Welt zu weisen. erscheinen - sind wir ratlos oder reagieren Wie immer die individuelle Antwort auf pharisäerhaft aufgebracht. diese Frage ausfallen mag, optimistisch oder Um die Beziehung zum Werk von skeptisch-pessimistisch, verweist sie nicht so Astrid Lindgren herzustellen: oder so auf unseren persönlichen Bereich, auf Lesen Sie einmal die Geschichten von die Beziehung zu unseren Kindern ? Hier müß- Michel oder Emil nach. In der Fiktion einer ten wir doch in der Lage sein, positiv etwas zu Geschichte, noch dazu in einer von und für ändern. Ich finde, wir sollten das Alltägliche als Kinder, ist ja ein solch aufgewecktes, ein- Ansatz für Veränderungen nicht unterschätzen. fallsreiches Bürschchen recht lustig. Überle- Aber wie sieht es damit in Wirklichkeit aus gen Sie sich aber: wie würden Sie reagieren, ? wäre Michel Ihr Sohn, Pippi Ihre Tochter? Gibt ein jeder von uns den Kindern, die ihm Liebevoll oder nervös? Schutzgebend oder anvertraut sind, durch Geburt, Sitte oder Beruf aufbrausend? Freundlich verständnisvoll dieses Soviel und noch mehr an Geborgenheit, oder aggressiv? Wärme, Liebe und noch einmal Liebe? Man hat Astrid Lindgrens Bücher in die Ich behaupte: viel zu oft nehmen wir uns die in der Bundesrepublik teilweise recht dog- Zeit zum lebendigen Umgang mit unseren Kin- matisch geführte Auseinandersetzung über dern eben nicht oder meinen, sie uns nicht neh- autoritäre oder antiautoritäre Erziehung hin- men zu dürfen. eingezogen. Wir geben uns stattdessen damit ab, Häuser Diese oder jene Seite hat Zitate aus den zu bauen, die oft nicht so sehr Heimstätten denn Büchern als Beweismittel für die Richtigkeit Prunkstätten sind. ihres Standpunktes angeführt. Unser Ehrgeiz geht dahin, selbst mächtig, Ich möchte damit nicht fortfahren, berühmt oder berüchtigt zu werden, um so vor meine aber, daß sich in Astrid Lindgrens unseren Kindern bestehen zu können, um ihnen Darstellung über ihre Kindheit und ihre El- zu imponieren. tern einige in diesem Zusammenhang uner- Wir bilden uns ein, durch die Anhäufung hört aktuelle Hinweise auf echte Autorität materiellen Besitzes, durch die Überlieferung finden. So, wenn sie schreibt: einer im Materiellen und im Besitzdenken wur- »Unsere Kindheit wurde von Geborgen- zelnden, zuweilen recht zynisch Materialismus heit und Freiheit geprägt. Man fühlte sich und Egoismus propagandierenden Wertordnung, geborgen bei diesen Eltern, die sich sehr trügen wir zum Schutz unserer Kinder, zu ihrer mochten und die immer da waren, wenn man Geborgenheit und ihrem Ansehen im späteren sie brauchte... gewiß wurden wir mit christ- Leben bei. lichen Ermahnungen erzogen, der damaligen Verkrampft streben wir danach, mehr und Zeit entsprechend, aber in unseren Spielen 4
FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS waren wir herrlich frei und wurden nie »Jeder muß lernen überwacht... ich finde, Hannas Art Kinder zu sich anzupassen, erziehen, war recht großzügig. Daß man aber gleichzeitig aufpassen, gehorchen mußte, war selbstverständlich, daß er nicht verpaßt zu sagen: aber sie verlangte nicht immer unnötige und Das paßt mir nicht.« unmögliche Dinge von uns. Sie hat z. B. nicht darauf bestanden, daß wir pünktlich zu den Dieser Satz könnte durchaus auch als Motto Mahlzeiten erschienen und... ich kann mich auch über dem gesamten Werk Astrid Lindgrens ste- nicht erinnern, daß sie uns jemals Vorwürfe hen, aus dem bei aller funkelnden Phantasie machte, wenn wir mit zerrissenen oder schmut- doch auch viel sich in Vernunft gründender zigen Kleidern heimkamen. Sie fand wohl, ein Realitätssinn, tiefe Liebe zum Menschen, ver- Kind habe das Recht, sich im Spiel auszutoben.« bunden mit Respektlosigkeit vor jedem Gehabe, Aber es heißt auch: zu uns sprechen. »Wir hatten viel Freiheit, aber das bedeutete Der Gedanke, den dieser Vers prägnant faßt, nicht, daß wir nichts zu tun brauchten. Natürlich verweist auf jene beiden Pole, zwischen denen mußten wir auch lernen zu arbeiten.« sich Erziehung in unserer Zeit, die immer auch Diese Balance zwischen Freiheit und Ge- Erziehung zu einem Mehr an Friedfertigkeit und borgenheit, zwischen Offenheit und notwendiger Toleranz, aber auch Erziehung zu recht verstan- Anpassung, scheint mir eine Voraussetzung für dener Emanzipation zu sein hat, bewegen sollte. echte, für personale Autorität, die von Kindern Lebendige, einprägsame Anregungen dazu nicht nur anerkannt, sondern als Teil der Gebor- liefert das Werk von Astrid Lindgren in reichem genheit auch gewollt und ersehnt wird. Dies Maße. setzt aber freilich auf Seiten der Erwachsenen Dafür gebührt ihr Dank, nicht nur Dank von Zeit, Souveränität, Absehenkönnen von sich Kindern, dessen sie gewiß ständig teilhaftig selbst, von eigenen Wünschen und hin und wie- wird, sondern auch unser Dank, als der von El- der auch Widerstand gegen scheinbar unver- tern und Mitmenschen. rückbare Normen der Konsumgesellschaft vor- aus. Astrid Lindgrens persönliche Haltung und ihr meistergültiges Einfühlungsvermögen in kindliches Bewußtsein sind für mich lebendiger Beweis dafür, welchen Zuwachs an Friedfertig- keit und menschlichem Glück eine solche Ein- stellung gegenüber Kindern erbringen könnte. Meine Damen und Herren: gewiß ist die Kinderfeindlichkeit unserer Gesellschaft ein vielstrapaziertes Schlagwort. Seltener ist schon davon die Rede, wie kinderfeindlich wir uns als Individuen verhalten, wenn wir von Kindern - und sei es auch nur spaßhaft - als von »kleinen Monstern« reden, wenn wir uns ihrer Existenz ganz und gar verweigern, wenn wir ihre Leben- digkeit als lästig empfinden und nur bestrebt sind, sie möglichst rasch in wohlfunktionierende, unbedingt angepaßte, kleine oder größere Er- wachsene zu verwandeln. In diesem Sinn enthalten die Geschichten und Szenen von Astrid Lindgren eine Heraus- forderung von großer Aktualität, sofern wir nur bereit sind, hinzusehen oder hinzuhören. Ich schließe mit einem Vers meines Kolle- gen Hans Manz. 5
FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS Astrid Lindgren _________________________________ Dankesrede »Niemals Gewalt« Liebe Freunde! Das erste, was ich zu tun habe, ist Ihnen zu Großmacht angehören oder in einem kleinen danken, und das tue ich von ganzem Herzen. Der neutralen Land leben. Wir alle wissen, daß ein Friedenspreis des Deutschen Buchhandels strahlt neuer Weltkrieg keinen von uns verschonen einen solchen Glanz aus und ist eine so hohe wird, und ob ich unter einem neutralen oder Auszeichnung, daß es einen fast überwältigt, nicht-neutralen Trümmerhaufen begraben liege, empfängt man ihn. Und jetzt stehe ich hier, wo das dürfte kaum einen Unterschied machen. schon so viele kluge Männer und Frauen ihre Müssen wir uns nach diesen Jahrtausenden Gedanken und ihre Hoffnungen für die Zukunft ständiger Kriege nicht fragen, ob der Mensch der Menschheit und den von uns allen ersehnten nicht vielleicht schon in seiner Anlage fehlerhaft ewigen Frieden ausgesprochen haben - was ist? Und sind wir unserer Aggressionen wegen könnte ich wohl sagen, das nicht schon andere zum Untergang verurteilt? Wir alle wollen ja den vor mir besser gesagt haben ? Frieden. Gibt es denn da keine Möglichkeit, uns Über den Frieden sprechen heißt ja über et- zu ändern, ehe es zu spät ist? Könnten wir es was sprechen, das es nicht gibt. Wahren Frieden nicht vielleicht lernen, auf Gewalt zu verzichten? gibt es nicht auf unserer Erde und hat es auch nie Könnten wir nicht versuchen, eine ganz neue Art gegeben, es sei denn als Ziel, das wir offenbar Mensch zu werden? Wie aber sollte das gesche- nicht zu erreichen vermögen. Solange der hen, und wo sollte man anfangen? Mensch auf dieser Erde lebt, hat er sich der Ge- Ich glaube, wir müssen von Grund auf be- walt und dem Krieg verschrieben, und der uns ginnen. Bei den Kindern. Sie, meine Freunde, vergönnte, zerbrechliche Friede ist ständig be- haben Ihren Friedenspreis einer Kinderbuchauto- droht. Gerade heute lebt die ganze Welt in der rin verliehen, und da werden Sie kaum weite Furcht vor einem neuen Krieg, der uns alle ver- politische Ausblicke oder Vorschläge zur Lö- nichten wird. Angesichts dieser Bedrohung set- sung internationaler Probleme erwarten. Ich zen sich mehr Menschen denn je zuvor für Frie- möchte zu Ihnen über die Kinder sprechen. Über den und Abrüstung ein - das ist wahr, das könnte meine Sorge um sie und meine Hoffnungen für eine Hoffnung sein. Doch Hoffnung hegen fällt sie. Die jetzt Kinder sind, werden ja einst die so schwer. Die Politiker versammeln sich in Geschäfte unserer Welt übernehmen, sofern großer Zahl zu immer neuen Gipfelgesprächen, dann noch etwas von ihr übrig ist. Sie sind es, und sie alle sprechen so eindringlich für Ab- die über Krieg und Frieden bestimmen werden rüstung, aber nur für die Abrüstung, die die an- und darüber, in was für einer Gesellschaft sie deren vornehmen sollen. Dein Land soll abrü- leben wollen. In einer, wo die Gewalt nur stän- sten, nicht meines! Keiner will den Anfang ma- dig weiterwächst, oder in einer, wo die Men- chen. Keiner wagt es anzufangen, weil jeder sich schen in Frieden und Eintracht miteinander le- fürchtet und so geringes Vertrauen in den Frie- ben. Gibt es auch nur die geringste Hoffnung denswillen des anderen setzt. Und während die darauf, daß die heutigen Kinder dereinst eine eine Abrüstungskonferenz die andere ablöst, friedlichere Welt aufbauen werden, als wir es findet die irrsinnigste Aufrüstung in der Ge- vermocht haben ? Und warum ist uns dies trotz schichte der Menschheit statt. Kein Wunder, daß allen guten Willens so schlecht gelungen ? wir alle Angst haben, gleichgültig, ob wir einer Ich erinnere mich noch sehr gut daran, 6
FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS welch ein Schock es für mich gewesen ist, als Gewalt. Auch künftige Staatsmänner und Politi- mir eines Tages - ich war damals noch sehr jung ker werden zu Charakteren geformt, noch bevor - klar wurde, daß die Männer, die die Geschicke sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben - das ist der Völker und der Welt lenkten, keine höheren erschreckend, aber es ist wahr. Wesen mit übernatürlichen Gaben und göttlicher Blicken wir nun einmal zurück auf die Me- Weisheit waren. Daß sie Menschen waren mit thoden der Kindererziehung früherer Zeiten. den gleichen menschlichen Schwächen wie ich. Ging es dabei nicht allzu häufig darum, den Aber sie hatten die Macht und konnten jeden Willen des Kindes mit Gewalt, sei sie physischer Augenblick schicksalsschwere Entscheidungen oder psychischer Art, zu brechen? Wie viele fällen, je nach den Antrieben und Kräften, von Kinder haben ihren ersten Unterricht in Gewalt denen sie beherrscht wurden. So konnte es, traf »von denen, die man liebt«, nämlich von den es sich besonders unglücklich, zum Krieg kom- eigenen Eltern erhalten und dieses Wissen dann men, nur weil ein einziger Mensch von Macht- der nächsten Generation weitergegeben! Und so gier oder Rachsucht besessen war, von Eitelkeit ging es fort, »Wer die Rute schont, verdirbt den oder Gewinnsucht, oder aber - und das scheint Knaben«, heißt es schon im Alten Testament, das häufigste zu sein - von dem blinden Glauben und daran haben durch die Jahrhunderte viele an die Gewalt als das wirksamste Hilfsmittel in Väter und Mütter geglaubt. Sie haben fleißig die allen Situationen. Entsprechend konnte ein ein- Rute geschwungen und das Liebe genannt. Wie ziger guter und besonnener Mensch hier und da aber war denn nun die Kindheit aller dieser Katastrophen verhindern, eben weil er gut und wirklich »verdorbenen Knaben«, von denen es besonnen war und auf Gewalt verzichtete. zur Zeit so viele auf der Welt gibt, dieser Dikta- Daraus konnte ich nur das eine folgern: Es toren, Tyrannen und Unterdrücker, dieser Men- sind immer auch einzelne Menschen, die die schenschinder? Dem sollte man einmal nachge- Geschicke der Welt bestimmen. Warum aber hen. Ich bin überzeugt davon, daß wir bei den waren denn nicht alle gut und besonnen? Warum meisten von ihnen auf einen tyrannischen Erzie- gibt es so viele, die nur Gewalt wollten und nach her stoßen würden, der mit einer Rute hinter Macht strebten ? Waren einige von Natur aus ihnen stand, ob sie nun aus Holz war oder im böse ? Das konnte ich damals nicht glauben, und Demütigen, Kränken, Bloßstellen, Angstmachen ich glaube es auch heute nicht. Die Intelligenz, bestand. die Gaben des Verstandes mögen zum größten In den vielen von Haß geprägten Kindheits- Teil angeboren sein, aber in keinem neugebore- schilderungen der Literatur wimmelt es von nen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem solchen häuslichen Tyrannen, die ihre Kinder zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein durch Furcht und Schrecken zu Gehorsam und Kind zu einem warmherzigen, offenen und ver- Unterwerfung gezwungen und dadurch für das trauensvollen Menschen mit Sinn für das Ge- Leben mehr oder weniger verdorben haben. Zum meinwohl heranwächst oder aber zu einem ge- Glück hat es nicht nur diese Sorte von Erziehern fühlskalten, destruktiven, egoistischen Men- gegeben, denn natürlich haben Eltern ihre Kin- schen, das entscheiden die, denen das Kind in der auch schon von jeher mit Liebe und ohne dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie Gewalt erzogen. Aber wohl erst in unserem ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht Jahrhundert haben Eltern damit begonnen, ihre tun. »Überall lernt man nur von dem, den man Kinder als ihresgleichen zu betrachten und ihnen liebt«, hat Goethe einmal gesagt, und dann muß das Recht einzuräumen, ihre Persönlichkeit in es wohl wahr sein. Ein Kind, das von seinen einer Familiendemokratie ohne Unterdrückung Eltern liebevoll behandelt wird und das seine und ohne Gewalt frei zu entwickeln. Eltern liebt, gewinnt dadurch ein liebevolles Muß man da nicht verzweifeln, wenn jetzt Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt diese plötzlich Stimmen laut werden, die die Rückkehr Grundeinstellung sein Leben lang. Und das ist zu dem alten autoritären System fordern? Denn auch dann gut, wenn das Kind später nicht zu genau das geschieht zur Zeit mancherorts in der denen gehört, die das Schicksal der Welt lenken. Welt. Man ruft jetzt wieder nach »härterer Sollte das Kind aber wider Erwarten eines Tages Zucht«, nach »strafferen Zügeln« und glaubt doch zu diesen Mächtigen gehören, dann ist es dadurch alle jugendlichen Unarten unterbinden für uns alle ein Glück, wenn seine Grundhaltung zu können, die angeblich auf zuviel Freiheit und durch Liebe geprägt worden ist und nicht durch zuwenig Strenge in der Erziehung beruhen. Das 7
FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS aber hieße den Teufel mit dem Beelzebub aus- aber hier hast du einen Stein, den kannst du ja treiben und führt auf die Dauer nur zu noch mehr nach mir werfen.« Da aber fing auch die Mutter Gewalt und zu einer tieferen und gefährlichen an zu weinen, denn plötzlich sah sie alles mit Kluft zwischen den Generationen. Möglicher- den Augen des Kindes. Das Kind mußte gedacht weise konnte diese erwünschte »härtere Zucht« haben, »meine Mutter will mir wirklich weh tun, eine äußerliche Wirkung erzielen, die die Be- und das kann sie ja auch mit einem Stein.« fürworter dann als Besserung deuten würden. Sie nahm ihren kleinen Sohn in die Arme, Freilich nur so lange, bis auch sie allmählich zu und beide weinten eine Weile gemeinsam. Dann der Erkenntnis gezwungen werden, daß Gewalt legte sie den Stein auf ein Bord in der Küche, immer wieder nur Gewalt erzeugt - so wie es und dort blieb er liegen als ständige Mahnung an von jeher gewesen ist. das Versprechen, das sie sich in dieser Stunde Nun mögen sich viele Eltern beunruhigt selber gegeben hatte: »NIEMALS GEWALT!« durch diese neuen Signale fragen, ob sie es bis- Ja, aber wenn wir unsere Kinder nun ohne her falschgemacht haben. Ob eine freie Erzie- Gewalt und ohne irgendwelche straffen Zügel hung, in der die Erwachsenen es nicht für selbst- erziehen, entsteht dadurch schon ein neues Men- verständlich halten, daß sie das Recht haben zu schengeschlecht, das in ewigem Frieden lebt? befehlen und die Kinder die Pflicht haben, sich Etwas so Einfältiges kann sich wohl nur ein zu fügen, womöglich nicht doch falsch oder Kinderbuchautor erhoffen! Ich weiß, daß es eine gefährlich sei. Utopie ist. Und ganz gewiß gibt es in unserer Freie und un-autoritäre Erziehung bedeutet armen, kranken Welt noch sehr viel anderes, das nicht, daß man die Kinder sich selber überläßt, gleichfalls geändert werden muß, soll es Frieden daß sie tun und lassen dürfen, was sie wollen. Es geben. Aber in dieser unserer Gegenwart gibt es bedeutet nicht, daß sie ohne Normen aufwachsen - selbst ohne Krieg - so unfaßbar viel Grausam- sollen, was sie selber übrigens gar nicht wün- keit, Gewalt und Unterdrückung auf Erden, und schen. Verhaltensnormen brauchen wir alle, das bleibt den Kindern keineswegs verborgen. Kinder und Erwachsene, und durch das Beispiel Sie sehen und hören und lesen es täglich, und ihrer Eltern lernen die Kinder mehr als durch schließlich glauben sie gar, Gewalt sei ein na- irgendwelche anderen Methoden. Ganz gewiß türlicher Zustand. Müssen wir ihnen dann nicht sollen Kinder Achtung vor ihren Eltern haben, wenigstens daheim durch unser Beispiel zeigen, aber ganz gewiß sollen auch Eltern Achtung vor daß es eine andere Art zu leben gibt? Vielleicht ihren Kindern haben, und niemals dürfen sie ihre wäre es gut, wenn wir alle einen kleinen Stein natürliche Überlegenheit mißbrauchen. Liebe- auf das Küchenbord legten als Mahnung für uns volle Achtung voreinander, das möchte man und für die Kinder: NIEMALS GEWALT! allen Eltern und allen Kindern wünschen. Es könnte trotz allem mit der Zeit ein win- Jenen aber, die jetzt so vernehmlich nach ziger Beitrag sein zum Frieden in der Welt. härterer Zucht und strafferen Zügeln rufen, möchte ich das erzählen, was mir einmal eine alte Dame berichtet hat. Sie war eine junge Mutter zu der Zeit, als man noch an diesen Bi- belspruch glaubte, dieses »Wer die Rute schont, verdirbt den Knaben«. Im Grunde ihres Herzens glaubte sie wohl gar nicht daran, aber eines Ta- ges hatte ihr kleiner Sohn etwas getan, wofür er ihrer Meinung nach eine Tracht Prügel verdient hatte, die erste in seinem Leben. Sie trug ihm auf, in den Garten zu gehen und selber nach einem Stock zu suchen, den er ihr dann bringen sollte. Der kleine Junge ging und blieb lange fort. Schließlich kam er weinend zurück und sagte: »Ich habe keinen Stock finden können, 8
FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS Gerold Ummo Becker ___________________________________ Auf der Suche nach dem entschwundenen Land Eines der Bücher von Astrid Lindgren, und auch und gerade Sachbücher sein, die dem Kind zwar eines der wenigen von ihr, das sich nicht an beim Aufwachsen helfen. Kinder oder Jugendliche, sondern an Erwachsene Die vielbändigen systematischen Sammlun- als Leser wendet, trägt den Titel »Das ent- gen von Märchen verschiedenster Kulturkreise schwundene Land«. Dieser Band enthält außer machen deutlich, daß es nicht die besondere Ei- einigen streitbaren Aufsätzen über Kinderbücher genart einer Kultur, sondern eine Art Grundbe- auch Astrid Lindgrens Erinnerungen an ihre ei- dürfnis aller Menschen ist, Geschichten zu hören, gene Kindheit. Es liegt nahe, daß ich diese Erin- aller Menschen, das heißt, Erwachsener ebenso nerungen in den letzten Wochen mehrfach sehr wie Kinder. Die Geschichte, die erzählt wird, genau gelesen habe. Dabei ist es mir merkwürdig oder die in einem Buch aufgeschrieben ist, tut ergangen: Einerseits hat es mich immer wieder auch mit uns Erwachsenen etwas Magisches, verblüfft, mit welcher Genauigkeit Astrid Lind- Zauberisches: sie macht uns über Zeit und Raum gren sich an zahllose Einzelheiten ihrer Kinder- hinweg zu Teilnehmern an fremdem Leben. Sie zeit erinnert, die sich dann in ihrer Darstellung entführt uns in die andere Zeit, an den anderen fast beiläufig und scheinbar naiv zu einprägsa- Ort. Das Kind sagt, eine Geschichte sei »span- men Szenen und Bildern verdichten, ich habe nend«, es will wissen, »wie sie zu Ende geht«, immer wieder vergnügt gleichsam Teile des Roh- wir Erwachsenen reden vielleicht von Identifika- materials entdeckt, aus denen dann 40 Jahre spä- tion mit der Hauptperson oder anderen Personen ter Bullerbü oder Lönneberga entstanden sind. des Geschehens. Der Zauber ist wirksam. Mit Andererseits schien es mir, als seien diese knapp seiner Hilfe gelingt es uns, mehr als nur ein Le- 70 Seiten, die als Erinnerung daherkommen, ben zu führen, mit Lederstrumpf in der Dämme- durchaus nicht nur rückwärts gewandt, durchaus rung am Rande der Prärie zu stehen, mit Jack nicht nur Schattenbeschwörung, durchaus nicht Dawkins und Oliver Twist zum ersten Mal die nur Elegie auf eine versunkene Kinderwelt, son- dunkle Treppe in der Field Lane hinaufzusteigen, dern in dieser Verkleidung so etwas wie eine mit Nils Holgersson uns in die Schwungfedern konkrete Utopie, wie die Beschreibung einer der alten Wildgans festzuklammern, während Form von Kindheit, in der Kind zu sein beglük- unter uns die Bauernhäuser von Dalarna klein kend und nützlich, aufregend und sinnvoll und wie Kinderspielzeug in der Sonne liegen. Um damit zugleich nach vorn, auf Zukunft weisend, wieviel ärmer wäre unser Leben, wenn nur das sein könnte. unsere Gedanken beschäftigen könnte, was vor Da war es naheliegend, zu erproben, ob sich unseren Augen ist, was wir selbst erleben oder nicht Überlegungen zu Kinder- und Jugendbü- erlebt haben. chern und ihren Lesern unter die Überschrift »Es ist gut«, sagt Ernst Bloch, »auch fabelnd »Auf der Suche nach dem entschwundenen zu denken. Denn so vieles eben wird nicht mit Land« bündeln ließen. sich fertig, wenn es vorfällt, auch wo es schön Ich beschränke mich auf Bücher, in denen berichtet wird. Sondern ganz seltsam geht mehr Geschichten erzählt werden. Das hat etwas Will- darin um, der Fall hat es in sich, dieses zeigt oder kürliches, denn natürlich gehören auch die Sach- schlägt er an. Geschichten dieser Art werden bücher, von denen es in den letzten Jahren einige nicht nur erzählt, sondern man zählt auch, was es aufregend gute gegeben hat, seit jeher zur Kin- darin geschlagen hat oder horcht auf: was ging der- und Jugendliteratur. Und weil sich das Su- da? Aus Begebenheiten kommt da ein Merke, das chen nach dem entschwundenen Land im Ent- sonst nicht so wäre; oder ein Merke, das schon decken und Finden erfüllt, können es natürlich ist, nimmt kleine Vorfälle als Spuren und Bei-
FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS spiele. Sie deuten auf ein Weniger oder Mehr, braunen Hosen, einem grauen Pullover und einer das erzählend zu bedenken, denkend wieder zu kleinen roten Mütze bekleidet. Mitteilungen über erzählen wäre; das in den Geschichten nicht den Verschwundenen nimmt jede Polizeidienst- stimmt, weil es mit uns und allem nicht stimmt. stelle entgegen.« Manches läßt sich nur in solchen Geschichten Ja, so sagten sie. Aber es kamen niemals ir- fassen, nicht in einem breiteren oder höheren Stil, gendwelche Mitteilungen über Bö Vilhelm Ols- oder dann nicht so.« (Bloch, Spuren, S. 16) son. Er war fort. Niemand erfuhr jemals, wo er Astrid Lindgren hat gelegentlich die Zumu- geblieben ist. Keiner weiß es. Außer mir. Denn tung abgewehrt, zu definieren, wie denn ein gutes ich - ich bin Bö Vilhelm Olsson.« (Lind-gren, Kinderbuch beschaffen sein müsse und den neu- Mio mein Mio, S. 7} gierigen Frager etwas ironisch beschieden: »falls So beginnt Astrid Lindgren ihre Geschichte du mich fragst, so könnte ich dir nach reiflicher »Mio, mein Mio«, deren Ich-Erzähler, ein Wai- Überlegung nur antworten: es muß gut sein. Ich senkind, das bei seinen Pflegeeltern unglücklich versichere dir, daß ich lange und gründlich dar- ist, als Prinz Mio in das geheimnisvolle Land der über nachgedacht habe, aber keine andere Ant- Ferne reist, wo er seinen Vater, den König, trifft. wort darauf weiß, als: es muß gut sein. Wie muß Bei dem hat er es gut, aber er muß doch wieder eine gute Gedichtsammlung sein? Wie ein guter aufbrechen, um mit seiner kleinen Kraft gegen Roman?« (Lindgren, Das entschwundene Land, unheimliche, finstere Mächte zu kämpfen. S. 85). Ja, Rezepte gibt es da wohl nicht. Oder Michel aus Lönneberga, der kleine Dennoch kann man über die Wirkungen re- wilde und eigensinnige Junge, von dem es heißt: den, die auch und gerade Kinderbücher im besten »er wollte über Mutter und Vater bestimmen, Falle bei ihren Lesern tun. Ich will vier solcher über ganz Katthult und am liebsten noch über Wirkungen zu beschreiben versuchen. Daß ich ganz Lönneberga, aber da machten die Lönne- sie vor allem mit Beispielen aus Astrid Lindgrens berger nicht mit. Büchern oder mit Äußerungen von ihr illustriere, >Sie können einem leid tun, die Svenssons scheint mir dem heutigen Anlaß angemessen, um auf Katthult, die einen solchen Lausejungen zum so mehr, als mit ihr ja auch die anderen Kinder- Sohn habenAus dem wird niemals und Jugendbuchautoren geehrt werden sollten, etwas.< von deren Büchern Ähnliches gilt. Es gibt gerade So dachten die Lönneberger, ja! Wenn sie unter den in den letzten Jahren neu erschienenen gewußt hätten, was noch aus Michel werden Kinder- und Jugendbüchern eine ganze Reihe, bei sollte, dann hätten sie nicht so geredet.« (Lind- denen mir scheint, daß sie diese Wirkungen in gren, Immer dieser Michel, S. 9/10) Und wer es höchst beglückender Weise haben. Aber meine von uns wissen will, der muß halt die Geschich- Kenntnisse sind da beschränkt, meine Auswahl ten vom Michel lesen. wäre zufällig und damit ungerecht. Wie neugierig man da werden kann, wie Was solche Bücher bei ihren kindlichen und gern man wissen möchte, wie es weitergeht, er- jugendlichen (oder auch erwachsenen) Lesern fahren wir aus einer kleinen Begebenheit, die bewirken, läßt sich, so scheint mir, mit sehr ein- Astrid Lindgren in einem Aufsatz mit dem Titel fachen Worten beschreiben. »Wo kommen nur die Einfälle her ?« berichtet: »Mein Vater«, schreibt sie, »hat mir viel erzählt, I. und auch ich habe ihm, als er alt und so schwach- sichtig geworden war, daß er nicht mehr lesen Sie halten die Neugier wach. Der Leser will konnte, mancherlei erzählt. Aus dem letzten Mi- wissen, wie es weitergeht. chel-Buch hat er, kurz bevor er von uns ging, nur »Hat jemand im vorigen Jahr am 15. Oktober noch von Michels Bravourstück auf der Verstei- Radio gehört? Hat jemand gehört, daß man nach gerung in Backhorva erfahren. Da er selbst sein einem verschwundenen Jungen forschte? So etwa Leben lang mit großem Vergnügen Geschäfte sagten sie: getätigt hat, fand er an Michels Gewitztheit gro- >Die Polizei in Stockholm sucht den neun- ßen Gefallen. Nachdem ich ihm von dieser Ver- jährigen Bö Vilhelm Olsson, der seit vorgestern steigerung in Backhorva erzählt hatte, vergingen Abend 18 Uhr aus der Wohnung Upplandsgatan ein paar Monate bis zu unserem nächsten Wie- 13 verschwunden ist. Bö Vilhelm Olsson hat dersehen, und da fragte er gleich als Erstes: »War helles Haar und blaue Augen und war mit kurzen Michel wieder mal auf 'ner Auktion?« (Lindgren, 10
FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS Wo kommen nur die Einfälle her? S. 99/100) dem wunderbaren Spielplatz, den wir in dem Näs Wenn ein Buch diese Wirkung nicht hat, unserer Kindheit besaßen, herumtollen. [...] wenn es »langweilig« ist, wie die Kinder sagen, Und wir spielten und spielten und spielten, dann mag die Botschaft, die es bringen will, noch so daß es das reine Wunder ist, daß wir uns nicht so wichtig sein, sie wird die kindlichen oder ju- totgespielt haben. Wir kletterten wie die Affen gendlichen Leser nicht erreichen. Woran es ei- auf Bäume und Dächer, wir sprangen von Bret- gentlich liegt, daß sie ein Buch als langweilig terstapeln und Heuhaufen, daß unsere Einge- empfinden und ein anderes nicht, ist nicht so weide nur so wimmerten, wir krochen quer durch leicht zu sagen. Es hat wohl weniger damit zu riesige Sägemehlhaufen, lebensgefährliche, un- tun, daß besonders großartige, dramatische Er- terirdische Gänge entlang, und wir schwammen eignisse berichtet werden. Die Welt der Kinder im Fluß, lange bevor wir überhaupt schwimmen aus Bullerbü ist sozusagen eine Kinder-Alltags- konnten. Keinen Augenblick dachten wir an das welt auf einem kleinen Dorf. Kinder im Grund- Gebot unserer Mutter >aber nicht weiter raus als schulalter, besonders Mädchen, denen ich aus bis zum Nabel!viele< Menschen um mich hatte, so meine ich Sevedstorp und Hanna in Hult, S. 34/35) das im Vergleich zu heutigen Kindern, egal ob Ich habe das so ausführlich zitiert, weil es auf dem Lande oder in der Stadt. Für ein Kind (wie mir scheint) einen Hinweis enthält, warum war es lehrreich und interessant, mit Menschen auch die Alltagsgeschichten von ihren Lesern als unterschiedlicher Art und Eigenheiten und Al- spannend empfunden werden: aus den Elementen tersgruppen aufzuwachsen. Von ihnen lernte ich - konkreter Erfahrungen einer solchen Kindheit hat ohne daß sie oder ich es gewußt hätten -, daß das die Dichterin Astrid Lindgren das entworfen, was Leben Bedingungen unterworfen ist und wie ich vorhin eine konkrete Utopie genannt habe. schwierig es manchmal ist, Mensch zu sein. Aber So könnte es sein; sollte es nicht so sein ? auch andere Dinge lernte ich von diesen Men- Vielleicht nicht immer auf einem »ganz normalen schen, denn nur weil vielleicht zufällig ein Kind Pachthof der Pfarrei«, aber doch so, daß es ein in der Nähe war, nahm man damals kein Blatt vor Wunder ist, daß man sich nicht totgespielt, doch den Mund. Und meine Geschwister und ich, wir so, daß die Erwachsenen eine nützliche und für waren in der Nähe, denn wir mußten ihnen ja den das Kind verständliche Arbeit tun, doch so, daß Kaffee aufs Feld bringen. An diese Kaffeepausen junge und Alte und Uralte bei vielen Gelegen- erinnere ich mich am besten, daran, wie sie alle heiten etwas miteinander zu tun haben, doch so, am Feldrain saßen, Kaffee tranken, ihre Butter- daß es für Kinder etwas Handfestes zu tun gibt, brote hineintunkten und über so mancherlei ihre durch das sie erfahren können, daß sie wirklich Gedanken austauschten.« (Lindgren, Das ent- gebraucht werden, doch so, daß die Erwachsenen schwundene Land, S. 46) nicht unnötige und unerfüllbare Forderungen an Oder an anderer Stelle: »Im übrigen [ließen die Kinder stellen und über Mißgeschicke nicht unsere Eltern uns] aber frei und unbeschwert auf die Nerven verlieren. 11
FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS Ich glaube, dieses Gefühl von Sehnsucht Phantasien, die es ihm ermöglichen, sich mit nach dem, was sein könnte, sein sollte, ist es, das diesem Inhalt auseinanderzusetzen. In dieser Astrid Lindgren bei ihren Lesern zu wecken ver- Hinsicht haben die Märchen einen unschätzbaren steht; diese Beschreibungen sind es, die auch die Wert, weil sie der Phantasie des Kindes neue unter ihren Büchern für ihre Leser »spannend« Dimensionen eröffnen, die es selbst nicht er- machen, die nicht - wie zum Beispiel »Kalte schließen könnte. Was noch wichtiger ist: Form Blomquist« oder »Rasmus, Pontus und der und Gestalt der Märchen bieten dem Kind Bilder Schwertschlucker« - eine handfeste Kriminalge- an, nach denen es seine Tagträume ausbilden und schichte voller Überraschungen als Gerüst haben. seinem Leben eine bessere Orientierung geben Am atemlosesten, oft »in einem Zuge«,habe kann.« (Bettelheim, Kinder brauchen Märchen, S. ich selbst und haben Kinder und Jugendliche, 12) denen ich das Buch geliehen habe, »Die Brüder Zu den aufregendsten Abenteuern, die wir Löwenherz« gelesen. Wenn das Wort Spannung bestehen können, gehört es sicher, im Umgang hier überhaupt angebracht ist, dann kommt bei mit uns selbst Erfahrungen mit dem zu machen, diesem Buch die Spannung wohl aus der Be- »was vom Menschen nicht gewußt oder nicht troffenheit des Lesers über die Kühnheit der Fa- bedacht, durch das Labyrinth der Brust wandelt bel und die Selbstverständlichkeit, mit der sie in der Nacht.« Ist es da verwunderlich, daß Kin- sich in Bildern und Episoden entfaltet, die reali- der und Jugendliche nicht nur mit Betroffenheit stisch und mythisch zugleich sind. Es ist das oder mit dem Gefühl der Befreiung, sondern auch einzige Kinderbuch, das ich kenne, dessen mit Spannung Geschichten lesen, die ihnen sol- Thema der Tod und die Überwindung von To- che Erfahrungen erschließen ? desangst ist. »Es geht darin«, schreibt Bettina Hürlimann, »in elementarer, nur im Märchen II. erlaubter Weise um Leben und Tod, um Gut und Böse, um Freiheit und Tyrannei. Der Kampf ge- Damit waren wir schon bei der Beschreibung gen das Böse, in den die Brüder unentrinnbar der zweiten Wirkung, die Kinder- und Jugendbü- verflochten sind und der die ganze Handlung cher auf ihre Leser haben. Sie regen die Vorstel- bestimmt, wendet sich gegen Gewalten, wie wir lungskraft an, verführen zum Nachdenken. Astrid sie in unserem Jahrhundert erlebt haben, bezieht Lindgren spricht von der »Zusammenarbeit zwi- seine Motive von dort, ja selbst manche äußeren schen Worten und Kindern«, um aus den Buch- Merkmale, obgleich alles in mythologische Ver- staben »zwischen zwei Buchdeckeln Bilder von gangenheit verlegt und dadurch verfremdet einer Deutlichkeit zu machen, wie sie nur die wird.« (Hürlimann, Ein Totenmärchen ?, S. 150) Phantasie eines Kindes malen kann. Die Kinder Bruno Bettelheim, der große Kinderthera- schufen Bilder - von dunklen Märchenwäldern peut, geht in seiner eindrucksvollen Untersu- und grünen Indianerpfaden, von längst erlosche- chung Über den Nutzen der Märchen von einer nen Lagerfeuern und längst versunkenen Piraten- scheinbar schlichten Wahrheit aus: »Heute liegt schiffen, Bilder von bekannten Welten und von wie in früheren Zeiten die wichtigste und schwie- unbekannten, von nahen Dingen und von fernen rigste Aufgabe der Erziehung darin, dem Kind Wunderwerken - und es war in diesen Bildern dabei zu helfen, einen Sinn im Leben zu finden. eine Stärke, eine Intensität, die alles Übertraf, Dazu sind viele Wachstumserfahrungen nötig. was es > in Wirklichkeit < gab. Das Kind muß in seiner Entwicklung lernen, sich Solche Bilder braucht der Mensch. An dem selbst immer besser zu verstehen, dann vermag es Tag, da die Phantasie der Kinder nicht mehr die auch andere zu verstehen und schließlich befrie- Kraft besitzt, sie zu schaffen, an diesem Tag ver- digende und sinnvolle Beziehungen mit ihnen armt die Menschheit. Alles, was an Großem in herzustellen.« (Bettelheim, Kinder brauchen der Welt geschah, vollzog sich zuerst in der Märchen, S. 9) Phantasie eines Menschen, und wie die Welt von Und die Sätze, mit denen Bettelheim den, morgen aussehen wird, hängt in großem Maß von wie er sagt, »unschätzbaren Wert« begründet, der Einbildungskraft jener ab, die gerade lesen den Märchen für diese Entwicklung des Kindes lernen. »Deshalb«, fährt Astrid Lindgren fort, haben, könnten wohl auch für Bücher wie »Mio, »brauchen Kinder Bücher, an denen ihre Phanta- mein Mio« oder »Die Brüder Löwenherz« gelten: sie wachsen kann. Es gibt nichts, was das Buch Das Kind »formt unbewußte Inhalte zu bewußten als Nährboden der Phantasie ersetzen kann. Die 12
FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS Kinder von heute sehen Filme, hören Radio, sit- telheim und andere so überzeugend als eine zen vor dem Fernsehschirm, lesen Comics - all Funktion der Märchen nachgewiesen haben, gilt das ist gewiß lustig und appelliert wohl auch an mit einigen Veränderungen wohl doch auch für die Phantasie, aber es sind oberflächliche Erleb- das phantastische Kinderbuch: nisse. Ein Kind, allein mit seinem Buch, schafft »Die Verächter des traditionellen Volksmär- sich irgendwo tief in den geheimen Kammern der chens beschlossen, wenn schon Ungeheuer in Seele eigene Bilder, die alles andere übertreffen.« einer Geschichte auftreten müßten, sollten sie alle (Lindgren, Deshalb brauchen Kinder Bücher, S. gutmütig sein - dabei übersahen sie das Unge- 14/15) heuer, das dem Kind selbst am besten bekannt ist, Wer die Anregung und Entfaltung der Phan- und das ihm am meisten Sorge bereitet: das Un- tasie fordert, muß sich zumindest drei Einwänden geheuer, das es in sich selbst fühlt und das es stellen: auch manchmal verfolgt. Wenn die Erwachsenen Besteht nicht die Gefahr, daß ein Kind oder von diesem Ungeheuer im Kind nicht sprechen, ein junger Mensch sich in einer Phantasiewelt wenn sie es im Unbewußten versteckt halten verliert und dadurch ungeschickt oder untauglich wollen und dem Kind nicht erlauben, es mit Hilfe für die sogenannte wirkliche Welt wird? Und: Ist der Bilderwelt des Märchens in seiner Phantasie Phantasiereichtum nicht eine sehr äußerliche, zu bedenken, lernt das Kind das eigene Unge- sozusagen formale Kategorie? Gibt es nicht auch heuer nicht besser kennen und erhält auch keinen zerstörerische, böse Phantasien ? Ist es nicht so, Hinweis, wie es gebändigt werden kann. Die daß nicht nur die großen und guten Taten sich Folge davon ist, daß das Kind seinen schlimm- zuerst in der Phantasie vollzogen haben, sondern sten Ängsten hilflos gegenübersteht - viel mehr, auch die mörderischen, haßerfüllten oder men- als wenn man ihm Märchen erzählt hätte, die schenverachtenden ? Und schließlich: Ist es in diesen Ängsten Gestalt verleihen und Wege auf- einer Zeit, in der die Erwachsenen nicht mehr an zeigen, wie das Ungeheuer überwunden werden gute Feen und wunderbare Begebenheiten glau- kann.« (Bettelheim, Kinder brauchen Märchen, S. ben, überhaupt zulässig, den Kindern Geschich- 115) ten zu erzählen, in denen »der beste Karlsson der Die Psychoanalyse hat in vielen Bildern Welt« in einem kleinen Häuschen auf dem Dach deutlich gemacht, wie im strengsten Sinne leben- wohnt und mit seinem Propeller auf dem Rücken sentscheidend es ist, daß ein Mensch, aufwach- durch die abendlichen Straßen des Vasa-Viertels send, lernt, in einem entspannten aber nicht span- fliegt, in denen man durch einen Gang unter dem nungslosen Gleichgewicht zwischen den Ansprü- Fuchsstein direkt vom Kapelahof ins Reich der chen seiner Triebe und den Ansprüchen der Rea- Unterirdischen kommt, in denen ein kleines lität zu leben, ja, daß der einzelne sich mit seiner Mädchen mühelos ein Pferd auf die Veranda Triebwelt geradezu befreunden muß, wenn sein heben kann, in denen Katla und Karm, zwei Un- Ich nicht durch die Angriffe aus dem Hinterhalt geheuer aus der Urzeit, miteinander kämpfen und des Verdrängten ständig gefährdet sein soll. sich gegenseitig vernichten? Astrid Lindgren, die mir gesagt hat, daß sie Dieser letzte Einwand berührt einen Streit, ihre Geschichten und Gestalten nie als Illustra- der alt ist, aber vor etwa 20 Jahren eine Neuauf- tion zu irgendeiner psychologischen Theorie lage in Gestalt einer radikalen Märchenkritik verstanden habe, hat zum Beispiel den Karlsson erlebt hat. Mir scheint, daß die gründliche Dis- vom Dach erfunden, jenen egoistischen, gefräßi- kussion diese Auseinandersetzung inzwischen als gen, rücksichtslosen, sich überall geschickt aus- Streit um ein Scheinproblem entlarvt hat. Das redenden - und dennoch liebenswerten Karlsson, Magische, Phantastische und das Realistische das alter ego des siebenjährigen Lillebror, und sind im Kinderbuch kein Gegensatz, sondern dazu eine Fülle lustiger und spannender Ge- ergänzen und bedingen einander. Wenn etwas schichten, in denen Lillebror, aber auch seine unrealistisch ist, muß es darum nicht unwahr Eltern und Geschwister, mit diesem kleinen Ko- sein. bold umgehen lernen und Freundschaft schließen. Den zweiten Einwand wird man ernst neh- Aber ob nun Karlsson vom Dach oder Herr Lili- men müssen. Ich meine, es ist in der Tat nicht enstengel, der den kranken Göran in das geheim- gleichgültig, mit welchen Bildern die Phantasie nisvolle Land der Dämmerung entführt, oder die der Kinder von heute angefüllt ist. Doch darf man allerliebste Schwester, die die kleine Babro in es sich nicht zu einfach machen. Denn was Bet- ihrem Kummer tröstet, daß nun ein neugeborener 13
FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS kleiner Bruder die Liebe und Aufmerksamkeit weg aus seinem derzeitigen Dilemma zu ersinnen der Mutter beansprucht, immer sind es Gestalten, (d. h.: in der Phantasie auszudenken), verschwin- an denen das Kind erfahren kann, daß seine den die Zornanfälle, denn wenn Hoffnung auf die Phantasien und Ängste ernstgenommen und zu- Zukunft vorhanden ist, sind die gegenwärtigen gleich gebannt werden. Schwierigkeiten nicht mehr unerträglich. An die Hier, scheint mir, wäre ein Maßstab zu ge- Stelle ungezügelten körperlichen Austobens mit winnen, mit welchen Bildern und Gestalten wir Boxen und Schreien tritt Nachdenken oder Tätig- uns bemühen sollten, die Phantasie der Kinder keit, die darauf gerichtet ist, ein gewünschtes Ziel reicher zu machen: Sie müssen daran gemessen zu erreichen, entweder jetzt oder irgendwann werden, ob sie dem Kind helfen, mit seinen Äng- später. So kann das Kind mit den Problemen, die sten fertig zu werden, sich geborgen zu fühlen, es nicht augenblicklich lösen kann, dennoch le- Zuversicht zu gewinnen. Sie müssen das durch ben, weil die Enttäuschung in der Gegenwart von eine Bilderwelt tun, die dem Kind in einer un- Visionen zukünftiger Siege gemildert wird.« mittelbaren Weise zugänglich ist, dem Kind, das (Bettelheim, Kinder brauchen Märchen, S. sich in einer Situation befindet, in der rationale 119) Argumente es gerade nicht erreichen, sondern es nur in seiner Hilflosigkeit und seinem Ausgelie- III. fertsein bestätigen. Das führt zum ersten Einwand zurück: Zur Damit sind wir schon bei einer dritten Wir- Gefahr des Sich-Verlierens in der Phantasiewelt, kung, die zumindest das Buch für Kinder und des Untauglichwerdens für die sogenannte Rea- Jugendliche haben kann: Es tröstet und ermutigt lität. »Aus der Tatsache, daß manche Menschen seinen Leser. Hier ist wohl mehr oder weniger sich von der Welt zurückziehen und den größten deutlich nach einer Grundentscheidung des Au- Teil ihrer Zeit im Reich ihrer Vorstellungen zu- tors gefragt. Ganz sicher will er unterhalten, das bringen, hat man den irrigen Schluß gezogen, ein soll er auch - und wenn er es erfolgreich tut, um überreiches Phantasieleben mache es unmöglich, so besser; vielleicht will er aufklären, den Leser erfolgreich die Realität zu bewältigen. Das Ge- kritisch machen, zum "Weiterfragen, Zweifeln genteil ist jedoch richtig:«, schreibt Bettelheim, veranlassen, auch das kann seine Aufgabe sein - »Diejenigen, die völlig in ihren Phantasien leben, und wenn er sie erfolgreich wahrnimmt, um so werden von zwanghaften besser. Aber was will er noch? "Was hat er mit Gedankengängen befallen, die sich ewig um seinem kindlichen oder jugendlichen Leser ei- einige, eng begrenzte, stereotype Gegenstände gentlich im Sinn? Trösten und Ermutigen heißt drehen. Diese Menschen haben keineswegs ein nicht belügen. Mit dem, was wir zu Recht einen reiches Phantasieleben; sie sind vielmehr in ei- »billigen Trost« nennen, ist nichts gewonnen, nem angsterfüllten oder sehnsüchtigen Wunsch- höchstens etwas beschwichtigt. Ermutigung, die traum eingeschlossen und können nicht ausbre- nicht aus Hoffnung und Zuversicht für die Zu- chen. Die [...] Phantasie dagegen, die in der Vor- kunft kommt, ist ebenso kränkend wie das »Nun stellung eine breite Vielfalt von Gegenständen reiß dich mal zusammen«. Mit dem moralischen auch aus der Realität umfaßt, gibt dem Ich eine Unterton bedrängen wir das mutlose Kind nur, Überfülle an Material zu verarbeiten.« (Bettel- wir helfen ihm in seiner Verzweiflung gerade heim, Kinder brauchen Märchen, S. 117) nicht. Ja, genaugenommen ist es wohl der Reich- Aber daß, wie in so vielen Geschichten von tum an inneren Bildern, aus dem wir, auch wenn Astrid Lindgren (oder auch in vielen Märchen) unsere Erfahrungen entmutigend, demütigend das Kleine, Verzagte, scheinbar Ohnmächtige oder verletzend sind, Hoffnung und Zuversicht nicht unterliegen muß, sondern durch List und gewinnen können. »Wie groß die Zurücksetzung, Geduld oder durch die Unbeirrbarkeit seines Enttäuschung und Verzweiflung des Kindes in Glaubens das Große und Gewalttätige überwin- Augenblicken völlig hoffnungsloser Niederlage det, kann trösten und Mut machen, so daß daraus ist, erkennt man aus seinen Wutausbrüchen; sie die Kraft zum "Weiterleben und eine neue Tap- sind der sichtbare Ausdruck seiner Überzeugung, ferkeit gegenüber den eigenen Ängsten und es könne nichts unternehmen, um seine »uner- Schwierigkeiten kommt. Dazu ist es nötig, daß träglichen« Lebensverhältnisse zu verbessern. die Angst und Verzagtheit erst einmal so ernstge- Sobald ein Kind aber in der Lage ist, einen Aus- nommen wird, wie bei dem kleinen Karl 14
Sie können auch lesen