Fukushima Daiichi Menschliche und organisatorische Faktoren - Teil 3: Implikationen für die Aufsicht im Bereich von Mensch und Organisation
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Fukushima Daiichi Menschliche und organisatorische Faktoren Teil 3: Implikationen für die Aufsicht im Bereich von Mensch und Organisation
Inhaltsverzeichnis Zusammenfassung 4 1 Einleitung 8 1.1 Der zehnte Jahrestag des Unfalls im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi 8 1.2 Die Sektion MEOS und ihre Aufsichtstätigkeit 8 1.3 Die Themen im vorliegenden Bericht 11 2 Der Unfall von Fukushima Daiichi aus systemischer Perspektive 12 2.1 Berücksichtigung des systemischen Ansatzes 15 2.2 Schlussfolgerungen für die Aufsicht hinsichtlich der Berücksichtigung des systemischen Ansatzes 17 2.2.1 Aufsicht im Bereich Mensch und Organisation unter Berücksichtigung des systemischen Ansatzes 18 2.2.2 Aufsichtsthemen im Bereich Mensch und Organisation im Rahmen der Berücksichtigung des systemischen Ansatzes 20 3 Die resiliente Organisation 24 3.1 Resilienz 25 3.2 Safety-I und Safety-II 28 3.3 Die Aufgabe der Aufsichtsbehörde vor dem Hintergrund von Resilienz und Safety-II 34 3.3.1 Zwischenfazit 38 3.4 Schlussfolgerungen für die Sektion MEOS 39 3.4.1 Grundsätzliches 40 3.4.2 Methoden für eine Safety-II-Aufsicht im Bereich Mensch und Organisation 42 4 Entscheiden in Notfallsituationen: Einflussfaktoren 48 4.1 Entscheiden unter Unsicherheit (situative Effekte) 49 4.2 Personenbezogene negative Effekte im Entscheidungsprozess 50 4.3 Personen, die gut entscheiden 51 4.4 Wirkmodell menschlicher Leistung unter extremen Bedingungen 53 4.5 Aufsicht rund um das Thema Entscheiden 54 4.6 Fazit 55 5 Exkurs zur Resilienz: Ein Input aus der Zivilluftfahrt 56 5.1 Ausbildung und Training: Prozessanpassung, Improvisation und Entscheidungen 57 5.2 Von der Flugvorbereitung bis zur Enddestination: Sensibilisierung auf das Unerwartete im Arbeitsalltag 58 5.3 Die vier Potenziale zur Resilienz 60 5.4 Reflexion – Lernen von den Besonderheiten der Zivilluftfahrt 61 5.5 Reflexion – Schlussfolgerungen für die Aufsicht der Sektion MEOS 61 6 Schlusswort 62 7 Referenzen 64 8 Endnoten 68
Der Reaktorunfall von Fukushima Daiichi – Menschliche und organisatorische Faktoren | Teil 3 Zusammenfassung Seit dem Unfall im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi am kontinuierlichen Verbesserungszyklus anhand konkreter 11. März 2011 befasst sich die Sektion Mensch und Aufsichtsgegenstände und -schwerpunkte. Diese Organisation (MEOS) des ENSI kontinuierlich mit den Aufsichtsgegenstände betreffen Themen wie beispiels- Lehren, welche sich daraus ableiten lassen. Zum weise den Zweck, die Vision und die Strategie des zehnten Jahrestag des Unfalls veröffentlicht sie einen Systems, die Systemgrenzen und den externen Kontext Bericht, in dem es um die aus den gewonnenen des Systems (auf der Strategieebene), die Prozesse und Erkenntnissen abgeleiteten Implikationen für ihre Aktivitäten für den effektiven und sicheren Betrieb Aufsichtstätigkeit geht. (vorwiegend auf der Prozessebene), die MTO-bezoge- nen Einflussfaktoren bei sicherheitsbezogenen Aktivitä- Der Unfall aus systemischer Perspektive ten im Arbeitsalltag der Mitglieder des betrachteten MTO-Systems (auf der Arbeitsebene) sowie die Wirk- Die Analyse des Unfalls von Fukushima Daiichi hat samkeit von Massnahmen (auf der Prozessebene) und ergeben, dass zur Unfallentstehung und zum Unfallver- die kontinuierliche Verbesserung der Systemrobustheit lauf eine Vielzahl von sich wechselseitig beeinflussen- bzw. -resilienz (auf der Strategieebene). den Faktoren aus dem menschlichen, technischen und organisatorischen Bereich beigetragen haben. Das Aufsicht unter Berücksichtigung des Unfallgeschehen lässt sich nicht über einfache lineare systemischen Ansatzes Kausalzusammenhänge erklären. Auch ist eine Fokussie- rung ausschliesslich auf das MTO-System (Mensch-Tech- Ein zentraler Grundsatz der Aufsicht ist, dass die nik-Organisation) des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi Verantwortung für die Sicherheit bei den Bewilligungs- unzureichend. Vielmehr muss der Blick auf das komple- inhabern und damit Betreibern von Kernanlagen liegt. xe Verhalten und Geflecht des übergeordneten Systems Je nachdem, wie die Aufsichtsbehörde ihren Auftrag unterschiedlicher Akteure, inklusive der Aufsichtsbehör- interpretiert und in der Praxis wahrnimmt, beeinflusst den, ausgeweitet werden. Es ist also ein systemischer sie die Fähigkeit und den Willen der Beaufsichtigten zur Ansatz sowohl bei der Unfallanalyse als auch beim Verantwortungsübernahme. Für die Aufsicht über Betrieb und der Beaufsichtigung von Kernanlagen komplexe MTO-Systeme unter Berücksichtigung des erforderlich. systemischen Ansatzes sind deshalb nicht nur die Aufsichtsgegenstände von Bedeutung, sondern auch Ein zentrales Instrument zur Anwendung eines systemi- die Art der Ausübung der Aufsicht selbst. schen Ansatzes und dessen Überwachung ist ein wirksames Managementsystem, welches die In der Literatur wird vielfach zwischen zwei grundsätz- Wechselwirkung zwischen den Systemteilen Mensch, lichen «Aufsichtsstilen» unterschieden. Eine «compli- Technik und Organisation berücksichtigt. Dieses ist ance»-orientierte Aufsicht fokussiert auf vorgegebene nach dem Prinzip der kontinuierlichen Verbesserung Vorschriften und prüft deren strikte Einhaltung durch zyklisch aufgebaut und deckt auf der Basis des systemi- die Beaufsichtigten. Bei der «performance»-orientierten schen Ansatzes jeweils Elemente des betreffenden Aufsicht beurteilt die Aufsichtsbehörde die Leistung der MTO-Systems auf der Arbeits-, der Prozess- und der Beaufsichtigten hinsichtlich vordefinierter Kriterien, Strategieebene ab. wobei die Art und Methode der Zielerreichung in der Verantwortung der Beaufsichtigten belassen wird. Für Aufsichtsthemen unter Berücksichtigung komplexe MTO-Systeme wird eine ausschliesslich des systemischen Ansatzes «compliance»-orientierte Aufsicht insbesondere für die Beaufsichtigung von menschlichen und organisatori- In ihrer Aufsicht überprüft die Sektion MEOS die Berück- schen Faktoren als ungeeignet und für die Verantwor- sichtigung des systemischen Ansatzes durch die beauf- tungsübernahme der beaufsichtigten Organisationen sichtigten Organisationen entlang dieser Elemente des hinderlich beurteilt. Komplexe MTO-Systeme wie die
Zusammenfassung 5 vom ENSI beaufsichtigten Kernanlagen erfordern und Aufrechterhaltung dieser Fähigkeit. Es geht dabei deshalb eine auf dem systemischen Ansatz basierende nicht lediglich um die Fähigkeit, sich von Gefahren und Aufsichtsstrategie und Aufsichtsansätze, welche Belastungen zu erholen, sondern vielmehr um die geeignet sind, der Komplexität und Kontextabhängig- Fähigkeit, die erforderliche Leistung unter der Vielfalt keit dieser Systeme gerecht zu werden und deren unterschiedlicher Bedingungen zu erbringen und Verantwortungsübernahme zu stärken bzw. nicht zu angemessen sowohl auf Störungen als auch auf Oppor- behindern. Es ist nicht möglich, diese Ansprüche mit tunitäten zu reagieren. Dieser Konzeption von Resilienz einer «standardisierten», immer gleichbleibenden liegt ein Sicherheitsverständnis zugrunde, welches in den Aufsichtsstrategie und -methodik zu erfüllen. Das Sicherheitswissenschaften mit «Safety-II», gegenüber Konzept der «responsive regulation» zeigt einen dem traditionellen Verständnis von «Safety-I», bezeich- möglichen Weg auf, wie mit der Dynamik komplexer net wird. Vereinfacht ausgedrückt, impliziert Safety-I MTO-Systeme in der Aufsicht umgegangen werden das Lernen aus Dingen, die schlecht laufen, mit dem könnte. Unter «responsive regulation» wird eine Form Fokus auf «work-as-imagined», und zielt auf eine der Aufsicht verstanden, bei welcher nicht von einem Stärkung der «compliance» ab. Safety-II hingegen für alle beaufsichtigten Organisationen einheitlichen impliziert Lernen aus Dingen, die gut laufen, mit Fokus und gleichbleibenden Aufsichtsansatz ausgegangen auf «work-as-done», und zielt auf eine Stärkung der wird, sondern unterschiedliche Aufsichtsansätze und Resilienz ab. Die Safety-II-Sicht auf Sicherheit fokussiert Interventionen von der Aufsichtsbehörde angewandt auf die Fähigkeit einer Organisation, die Anpassungs- werden, in Abhängigkeit von Kontext und Verhalten, fähigkeit von Personal und Systemen zu lenken, indem der Kultur und dem Sicherheitsniveau der beaufsichtig- verstanden wird, wie komplexe Systeme meistens ten Organisationen, wobei eine Eskalation von einer erfolgreich sind und gelegentlich scheitern. Safety-I auf Dialog, Überzeugung und Selbstregulation beru- und Safety-II schliessen einander gegenseitig nicht aus. henden Aufsicht über zunehmend fordernde und Vielmehr umfasst bzw. erweitert die Safety-II-Perspek- präskriptive Interventionen bis zum Entzug von Bewilli- tive die Safety-I-Perspektive und ermöglicht es somit, gungen und Lizenzen oder Strafverfolgung möglich ist. Situationen zu begegnen, in denen der Safety-I-Ansatz aufgrund der zunehmenden Komplexität von MTO-Sys- Die resiliente Organisation temen nicht (mehr) zielführend ist. Organisationen müssen angesichts der hohen Komple- Aufsicht vor dem Hintergrund von xität moderner MTO-Systeme mit der Einsicht und Resilienz und Safety-II Tatsache leben, dass sie sich trotz einer bestmöglichen Vorbereitung auf antizipierbare Ereignisse nicht gegen Die Aufsichtsbehörde beeinflusst mit ihrer Aufsicht die alle möglichen (unerwünschten) Eventualitäten mit Fähigkeit der beaufsichtigten Organisationen zu einer technischen und organisatorischen Mitteln schützen resilienten Funktionsweise. Sie muss deshalb ihre bzw. sich auf alle Eventualitäten spezifisch vorbereiten Aufsicht derart gestalten, dass sie die Weiterentwick- können. Sie müssen mit dem Unerwarteten rechnen lung der Praktiken und Kulturen in den beaufsichtigten und mit diesem umgehen können, wenn es eintritt. In Organisationen zur Stärkung der Resilienz und Integra- anderen Worten: Sie – und ihre Mitarbeitenden tion des Safety-II-Ansatzes stärkt bzw. nicht behindert. – müssen resilient sein. Die Leistung einer Organisation Der Dialog mit den Beaufsichtigten ist ein zentrales ist resilient, wenn die Organisation sowohl unter erwar- Element einer geeigneten Aufsichtsstrategie im Kontext teten als auch unter unerwarteten Bedingungen den von Resilienz und Safety-II. In der Aufsicht ist es für die Anforderungen entsprechend (gut) funktionieren kann. Aufsichtsbehörde unerlässlich, zu verstehen, wie die Ein zentrales Element des Resilienzkonzepts ist die beaufsichtigte Organisation im Alltag funktioniert und Adaptivität (Anpassungsfähigkeit) des betrachteten Systems (z. B. einer Organisation) und die Entwicklung
Der Reaktorunfall von Fukushima Daiichi – Menschliche und organisatorische Faktoren | Teil 3 welche (auch situativen und kontextbezogenen) dardisierung und Reduktion von Handlungsspielräumen Faktoren dieses Funktionieren beeinflussen. Aufsicht die Komplexität der Situation zu reduzieren. Dem muss durch Einsicht in die normale Funktionsweise gegenüber ermöglicht jedoch auch die Erweiterung von geprägt sein. Handlungsspielräumen durch Flexibilität und Lernen, mit Komplexität umzugehen. Dabei wird auf Lernen Die Sektion MEOS hat sich zum Ziel gesetzt, ihre und Integration von Wissen gesetzt, wobei Lerngele- Aufsichtsarbeit vor dem Hintergrund von Safety-II und genheiten im Betriebsalltag eine wichtige Rolle spielen. Resilienz zu hinterfragen und weiterzuentwickeln, und Aufsichtsansätze und -methoden zu erarbeiten, welche In Notfallsituationen gibt es neben den situationsbe- zur Stärkung der Fähigkeit zur Resilienz und des Safety-II- dingten Einflüssen auch personenbezogene Effekte, Ansatzes bei den beaufsichtigten Organisationen welche die Entscheidungsfähigkeit von Einzelpersonen geeignet erscheinen. Beispielsweise soll der Fokus der oder Personengruppen beeinflussen können, wie Aufsichtstätigkeit im Bereich von Mensch und Organisa- beispielsweise die so genannte kognitive Notfallreaktion tion nicht ausschliesslich auf «compliance» liegen, bei Einzelpersonen oder das Gruppendenken bei sondern auch auf der Stärkung der Reflexion und der Personengruppen. Solchen personenbezogenen Eigenverantwortung der Beaufsichtigten im Sinne einer negativen Effekten kann, u. a. durch Training, vorge- «performance»-orientierten Aufsicht sowie auf dem beugt werden. Ein gutes Selbstmanagement ist zur Verstehen des normalen, alltäglichen Funktionierens der Vermeidung einer kognitiven Notfallreaktion wichtig. beaufsichtigten Organisation in ihrem situativen Personen mit guten Entscheidungsfähigkeiten kommu- Kontext. Gegenstand der Aufsicht soll also vermehrt nizieren effektiv und übernehmen Führung und Verant- auch «work-as-done», also die Art, wie Arbeit tatsäch- wortung. Zur Vermeidung von Gruppendenken ist lich ausgeübt wird, sein, im Vergleich zu «work-as-ima- beispielsweise eine rationale und ausgewogene Infor- gined», also einer idealtypischen Vorstellung, wie sie mationssuche wichtig und jedes Gruppenmitglied sollte ausgeübt werden sollte. Dies bedeutet auch, dass sich seine Gedanken und Argumente unabhängig von den die Aufmerksamkeit in der Aufsicht nicht nur auf das anderen äussern können. In komplexen Situationen ist «Negative» richten soll, sondern ebenso auf das ein planvolles Vorgehen anhand von klar definierten «Positive» bzw. «Normale». Eine solche, auf Safety-II Verfahrensanforderungen und mithilfe von geeigneten ausgerichtete Aufsicht im Bereich von Mensch und Entscheidungshilfen (z. B. Checklisten) empfehlenswert. Organisation legt ihren Schwerpunkt auf Methoden, welche den Dialog mit den Beaufsichtigten und deren Zusammengefasst wirken auch in Notfallsituationen Selbstreflexion fördern. sowohl menschliche Fähigkeiten und Eigenschaften als auch technische und organisatorische Faktoren auf Entscheiden in Notfallsituationen vielfältige Art und Weise auf die menschliche Leistung bei Entscheidungen. Allen Einflussfaktoren muss In Situationen, in welchen Resilienz gefordert ist, deshalb Aufmerksamkeit geschenkt werden. beispielsweise in Notfallsituationen wie jener während des Unfalls im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi, spielen Entscheidungen sind bei vielfältigen Gelegenheiten Entscheidungen eine zentrale Rolle. Diese müssen unter Gegenstand der Aufsicht der Sektion MEOS. Beispiels- solchen Umständen unter Ungewissheit, Zeitdruck und weise werden sie in Fachgesprächen oder Inspektionen, Stress und häufig ohne die dafür erforderlichen Infor- in welchen die formalen Prozessabläufe geprüft wer- mationen erfolgen. In komplexen Notfallsituationen den, thematisiert. Das Entscheidungsverhalten wird bei wird die Entscheidungsfindung sowohl von situativen Notfallübungen oder Zulassungsprüfungen am Anla- Faktoren als auch durch Faktoren beeinflusst, die auf gensimulator beobachtet oder bei der Beurteilung von eine Person oder auf ganze Gruppen wirken. Hilfsmittel Vorkommnissen bewertet. wie z. B. Störfallvorschriften helfen dabei, durch Stan-
Zusammenfassung 7 Lernen aus anderen Branchen Die Besatzungsmitglieder werden dabei mit ihrem impliziten und expliziten Wissen, ihren Erfahrungen, Aus den Methoden und Erfahrungen der Zivilluftfahrt ihrem Training, ihrer Achtsamkeit, ihrem Situationsbe- können auch für die nukleare Sicherheitsaufsicht im wusstsein, ihrer Flexibilität und Kreativität, ihren Bereich von Mensch und Organisation wertvolle Entscheidungen und dem vorgegebenen Handlungs- Erkenntnisse und Ansätze abgeleitet werden. spielraum, den sie für ihre Anpassungen beim Handeln und Verhalten benötigen, als Sicherheitsfaktoren Eine resiliente Organisation strebt nach Achtsamkeit angesehen, welche auf unerwartete Situationen und Flexibilität, damit sie sich jederzeit der vorherr- vorbereitet und befähigt sind, zu reagieren. schenden Situation anpassen kann und somit auch auf unerwartete Situationen vorbereitet ist. Ausblick Ein kurzer Einblick in die Ausbildung und das Training Der vorliegende Bericht ist der Ausgangspunkt für die sowie die Umsetzung in den Arbeitsalltag bei der weitere Reflexion und Entwicklung der Aufsicht der Vorbereitung und Durchführung eines Flugs durch die Sektion MEOS vor dem Hintergrund der gewonnenen Kabinenbesatzung einer Fluggesellschaft zeigt auf, wie Erkenntnisse aus dem Unfall im Kernkraftwerk in einer anderen Branche die Vorbereitung auf das Fukushima Daiichi und des aktuellen Stands der Unerwartete konkret erfolgt. Sicherheitswissenschaften. Aus den identifizierten Themen und dargelegten Methoden und Ansätze für Neben einer soliden Ausbildung im Bereich der Sicher- die zukünftige Aufsicht wird die Sektion MEOS einen heit, flugzeugspezifischen Schulungen und einer Aktionsplan für die kurz-, mittel- und langfristige Einführungszeit «on the job» dienen auch regelmässige Umsetzung erarbeiten. Wiederholungsschulungen und Trainingssequenzen der Übung, mit immer unterschiedlichen Situationen und Anforderungen umzugehen. Dabei wird z. B. gelernt, bei fehlendem Equipment zu improvisieren und mit neuartigen Situationen umzugehen. Auch Crew- Briefings vor einem Flug werden zum gemeinsamen Lernen aus Erfahrungen der einzelnen Crew-Mitglieder und zur gedanklichen Vorbereitung auf mögliche unerwartete Ereignisse genutzt. Jedes einzelne Mitglied der Kabinenbesatzung richtet seine Aufmerksamkeit ausserdem vor dem Flug, im Rahmen des Sicherheits- Checks im Flugzeug, beim Boarding der Passagiere, bei der Startvorbereitung, während des Flugs und nach dem Flug immer wieder auf unerwartete Situationen, achtet auf mögliche Signale und bereitet sich gedank- lich auf verschiedene Szenarien vor. Dabei wendet es eingeübte Techniken und Prozesse an.
Der Reaktorunfall von Fukushima Daiichi – Menschliche und organisatorische Faktoren | Teil 3 1 Einleitung 1.1 Der zehnte Jahrestag des Unfalls im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi Am 11. März 2021 jährt sich der Unfall im Kernkraft- rungen der eigenen Aufsichtstätigkeit und aus den von werk Fukushima Daiichi zum zehnten Mal und noch anderen Aufsichtsbehörden weltweit in den internatio- immer sind die damit verbundenen Erinnerungen an nalen Gremien geteilten Erfahrungen auch in jüngerer dieses Ereignis sehr präsent. Die Mitarbeitenden des Zeit noch neue Erkenntnisse ergeben, aus denen die ENSI erinnern sich nach wie vor an die nach und nach Sektion MEOS Schlussfolgerungen für ihre Aufsicht eingetroffenen Bilder und Nachrichten und an die ableitet. wachsende Gewissheit, dass sich in Fukushima Daiichi Ereignisse von grosser Tragweite abspielten. Zum zehnten Jahrestag veröffentlicht die Sektion MEOS des ENSI deshalb einen dritten Bericht. Anders als in Seit dem Unfall befasst sich die Sektion Mensch und den ersten beiden Berichten, in welchen es in erster Organisation (MEOS) mit den Geschehnissen während Linie um die Analyse, also das Verstehen des Unfallher- des Unfalls und mit dessen Ursachen. Diese hat sie gangs und der Umstände ging ([11], [15]), handelt der unter anderem in den Teilen 1 ([11]) und 2 ([15]) dieser vorliegende Bericht von den aus den gewonnenen Berichtsreihe erörtert. Sie hat sich seither ausserdem Erkenntnissen abgeleiteten Implikationen für die kontinuierlich mit den Lehren befasst, welche sich für Aufsichtstätigkeit der Sektion MEOS. ihre Aufsicht ableiten lassen. Obschon seit dem Unfall zehn Jahre vergangen sind, haben sich aus den Erfah- 1.2 Die Sektion MEOS und ihre Aufsichtstätigkeit Die Sektion MEOS ist die Organisationseinheit innerhalb Die Sektion MEOS des ENSI ist ein interdisziplinär des ENSI, welche, basierend auf den einschlägigen zusammengesetztes Team, bestehend aus Arbeits- und rechtlichen und behördlichen Regelungen, über die Organisationspsychologinnen sowie aus Ingenieuren. Einhaltung der sicherheitsrelevanten Aspekte des Beide Berufsgruppen bilden sich in den Themengebie- Zusammenwirkens von Mensch, Technik und Organisa- ten der Sektion MEOS sowohl fachlich als auch auf- tion in einer Kernanlage wacht und die damit verbunde- sichtsmethodisch weiter. nen Projekte prüft. Zu ihrem Aufgabenbereich gehört ebenfalls, die in ENSI-Richtlinien festgelegten behörd- lichen Regelungen im Kontext von Mensch und Organi- sation einer Kernanlage periodisch zu prüfen und nötigenfalls zu revidieren. Dabei orientiert sie sich an international harmonisierten Anforderungen sowie am Stand der Sicherheitsforschung.
Einleitung 9 Die Aufsichtstätigkeit der Sektion MEOS umfasst Der «Soll-Ist-Vergleich» repräsentiert den klassischen insbesondere die folgenden Themengebiete: Wirksam- «Compliance»-Ansatz. Dabei prüft das ENSI, ob die keit und kontinuierliche Verbesserung des Manage- internen Vorgaben der Beaufsichtigten und die in der mentsystems; Eignung, Ausbildung und Zulassung von Praxis des Anlagenalltags ausgeführten Arbeiten den zulassungspflichtigem Personal; Kontrolle von Meldun- gesetzlichen Vorgaben entsprechen. Zu dieser Katego- gen der Beaufsichtigten; Gestaltung von organisatori- rie von Aufsichtsmethoden gehören insbesondere schen Prozessen, Arbeitssystemen und Arbeitsmitteln Inspektionen, die Kontrolle von Meldungen der beispielsweise im Zuge technischer Änderungen einer Beaufsichtigten und die Bewertung meldepflichtiger Kernanlage; Massnahmen zur Förderung der Sicher- Vorkommnisse (vgl. [13]). Mit Methoden des «Soll-Ist- heitskultur wie u. a. Führung, Verantwortung oder Vergleichs» werden Themengebiete beaufsichtigt, für Entscheidungsfindung; Bewertung von Vorkommnissen die im Regelwerk klar messbare Anforderungen im Kontext von Mensch und Organisation; Gestaltung existieren. der Organisation und mitarbeiterbezogene Aspekte im Rahmen von organisatorischen Änderungen. Der «Anstoss der (Selbst-)Reflexion» erfolgt in Gruppen- gesprächen mit Hilfe einer spezifischen Gesprächsfüh- Der gesetzliche Auftrag des ENSI besteht darin, die rung durch das ENSI. Das ENSI erachtet die Fähigkeit Einhaltung der geltenden gesetzlichen und behörd- zur (Selbst-)Reflexion als eine unabdingbare Vorausset- lichen Regelungen durch die Betreiber von Kernanlagen zung, um beispielsweise aus Erfahrungen zu lernen. (vgl. Art. 72 KEG [36]) zu überprüfen. Der Umsetzung Zu dieser Kategorie von Aufsichtsmethoden gehören dieses Auftrags liegt die Auffassung zugrunde, dass insbesondere Fachgespräche, bei welchen Themenge- unter Aufsicht neben der Kontrolle der Einhaltung des biete mit abstrakt und allgemein formulierten recht- Regelwerks auch die Stärkung der Sicherheit zu lichen Regelungen geprüft werden. verstehen ist ([10], [14]). Auch gilt es zu berücksichti- gen, dass im Kontext von Mensch und Organisation die oben erwähnten Regelungen oft allgemein und abstrakt formuliert sind1 und damit nicht immer klar messbar gemacht werden können. Diese Sachverhalte widerspiegeln sich in den von der Sektion MEOS angewandten vielfältigen Aufsichtsmethoden. Diese Methoden sind nachstehend kurz beschrieben. Die von der Sektion MEOS angewandten Aufsichtsme- thoden können grundsätzlich entweder in Methoden des «Soll-Ist-Vergleichs» (Aufsicht «im engeren Sinne», vgl. [12]) oder in Methoden zum Anstoss der (Selbst-) Reflexion über die Sicherheit (Aufsicht «im weiteren Sinne», vgl. [12]) unterteilt werden. 1 | Ein Beispiel einer solchen allgemein formulierten Anforderung findet sich in Art. 5 des Kernenergiegesetzes KEG ([36]), wo der Aufbau einer geeigneten Organisa- tion als Schutzmassnahme für die nukleare Sicherheit gefordert wird. Es wird jedoch nicht präzisiert, was unter einer «geeigneten» Organisation zu verstehen ist.
Der Reaktorunfall von Fukushima Daiichi – Menschliche und organisatorische Faktoren | Teil 3 Im Kasten 1 sind die auf Gesprächen basierenden Aufsichtsmethoden mit Beispielen von Aufsichtsgegen- ständen der Sektion MEOS illustriert2. Kasten 1: Von der Sektion MEOS in • Exploratives Fachgespräch: Dieses Gespräch Gesprächen mit den Beaufsichtigten dient ebenfalls der Anregung der (Selbst-) angewandte Methoden Reflexion. Es wird von der Sektion MEOS in alleiniger Regie oder zusammen mit Fachex- • Inspektionen: Inspektionen dienen dem pertinnen und -experten anderer Sektionen Soll-Ist-Vergleich von Aufsichtsgegenständen. durchgeführt. Im Ankündigungsbrief sind Die Sektion MEOS führt z. B. Inspektionen explizit Fragen enthalten, die die Hinterfra- zum Managementsystem durch und beteiligt gung und Reflexion des zu besprechenden sich an Inspektionen anderer Sektionen. Sachverhalts anstossen sollen. Diese Gesprä- Letztere sind beispielsweise Inspektionen, die che dauern in der Regel – je nach Thema – vor Ort in der Anlage stattfinden und deren eineinhalb bis drei Stunden und sind danach Inspektionsgegenstände eine grössere abgeschlossen. Explorative Fachgespräche Organisation und Koordination der beteiligten werden durchgeführt, um insbesondere Personen seitens der Beaufsichtigten erfordert sensiblere Themen im Kontext «Mensch und (z. B. Durchführung von wiederkehrenden Organisation» (z. B. zu Themen wie Ressour- Prüfungen, Inbetriebsetzungen von geänder- cen und Führung) oder Fragen zum organisa- ten Anlageteilen). tionalen Lernen mit den Beaufsichtigten zu besprechen. • Fachgespräch zum Dialog über die Sicher- heitskultur (vgl. [12]): Mit diesen offen und • Informationsgespräch: Diese Art von Fachge- konstruktiv geführten Fachgesprächen will die sprächen dient der Sammlung von Informa- Sektion MEOS bei den Beaufsichtigten eine tionen z. B. nach Ereignissen, bei organisatori- Selbstreflexion über ihre Sicherheitskultur schen Änderungen oder im Rahmen von anstossen. Die Gespräche finden alle drei technischen Modernisierungsprojekten. Jahre statt und bestehen aus zwei jeweils ca. Fachgespräche zur Informationsbeschaffung dreistündigen Teilen im Abstand von einigen werden oftmals durchgeführt, um Änderun- Wochen. Im ersten Teil findet eine Diskussion gen, die vom ENSI freigegeben werden über eine von der Sektion MEOS festgelegte müssen, zu verstehen bzw. um das für die sicherheitskulturbezogene Fragestellung statt. Erteilung einer Freigabe notwendige Sachver- Im zweiten Teil wird die Reflexion vertieft ständnis zu erhalten. Die Sektion MEOS führt weitergeführt. Diese Vertiefung gründet auf zudem mit den Betreibern der Kernkraftwerke Feststellungen und Hypothesen, welche die jährlich ein Fachgespräch zu aktuellen Sektion MEOS aus dem ersten Teil des Themen und anstehenden Änderungen im Gesprächs erarbeitet hat. Zusammenhang mit dem Personal oder der Organisation. Wie sich die Aufsichtstätigkeit und -methoden der Sektion MEOS aufgrund der Erkenntnisse aus dem Unfall im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi und vor dem Hintergrund der neueren Entwicklungen in den Sicherheitswissenschaften weiterentwickeln soll, wird im vorliegenden Bericht behandelt. 2 | Die Aufsichtstätigkeit der Sektion MEOS basiert nicht nur auf Gesprächen, sondern zu einem wesentlichen Teil auch auf Dokumenten und sonstigen schriftlich vorliegenden Daten (z. B. Sicherheitsindikatoren) der Beaufsichtigten.
Einleitung 11 1.3 Die Themen im vorliegenden Bericht Die zahlreichen Ereignisanalysen zum Unfall im Kern- Kapitel 5 enthält einen Exkurs zu den behandelten kraftwerk Fukushima Daiichi ergeben eine grosse Themen aus der Zivilluftfahrt. Es wird dabei anhand Anzahl beitragender Faktoren. Eine Auswahl dieser konkreter und praktischer Beispiele beschrieben, wie Themen wird im vorliegenden Bericht behandelt. Im sich Mitglieder der Crew eines Fluges auf diesen Rahmen einer Reihe von Workshops bestimmte die vorbereiten und welche Methoden sie anwenden, um Sektion MEOS die folgenden Hauptthemen, welche sie stets auf das Unerwartete vorbereitet zu sein. als für ihre Aufsichtstätigkeit zentral erachtet und im Rahmen des vorliegenden Berichts vertiefen möchte. Schliesslich werden in Kapitel 6 die Implikationen, welche die Sektion MEOS für ihre Aufsicht identifiziert Der systemische Ansatz erkennt die Komplexität von hat, sowie ihre Absichten bezüglich deren Umsetzung Systemen an und betrachtet diese mit deren Schnitt- zusammenfassend dargelegt. stellen und Wechselwirkungen in ihrer Ganzheitlichkeit. Das Ganze ist mehr als die Summe der einzelnen Im Rahmen der einzelnen Kapitel werden jeweils, Bestandteile. Die Notwendigkeit der Anwendung eines neben der theoretischen Erörterung der Themen und systemischen Ansatzes beim Betrieb von Kernanlagen Konzepte, Implikationen für die Aufsicht der Sektion und der Aufsicht darüber stellt eine der zentralen MEOS abgeleitet. Diese sind als langfristiges Vorhaben Erkenntnisse und Empfehlungen aus den Analysen der Sektion MEOS zu verstehen und werden in der des Unfalls im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi dar zukünftigen Aufsicht nach und nach eingeführt und (z. B. [31]). Kapitel 2 dieses Berichts behandelt den stets weiterentwickelt. Der Bericht erhebt zudem Unfall von Fukushima aus systemischer Perspektive und keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr dient er dessen Implikationen für die Aufsicht der Sektion als Grundlage und Ausgangspunkt für die kontinuier- MEOS. liche Weiterentwicklung der Themen und Aufsichtsme- thoden und die Weiterverfolgung der relevanten Organisationen müssen angesichts der hohen Komple- Literatur. xität moderner MTO-Systeme mit der Einsicht und Tatsache leben, dass sie sich trotz einer bestmöglichen Der Bericht richtet sich an ein fachlich interessiertes Vorbereitung auf antizipierbare Ereignisse nicht gegen Publikum. Er hat den Anspruch, die behandelten alle möglichen (unerwünschten) Eventualitäten mit Themen zu vertiefen und für die Aufsicht direkt technischen und organisatorischen Mitteln schützen anwendbare Schlussfolgerungen und Methoden bzw. sich auf alle Eventualitäten spezifisch vorbereiten abzuleiten. Ausserdem soll er den fachlichen Austausch können. Sie müssen mit dem Unerwarteten rechneni mit interessierten Parteien (z. B. den Beaufsichtigten und mit diesem umgehen können, wenn es eintritt. In oder Spezialistinnen und Spezialisten im Bereich von anderen Worten: Sie – und ihre Mitarbeitenden – müs- Mensch und Organisation in anderen Aufsichtsbehör- sen resilient sein. Kapitel 3 dieses Berichts behandelt den oder internationalen Arbeitsgruppen) anregen. Aus das Konzept der (organisationalen mit einem Exkurs zur diesem Grund werden im Bericht, wo dies erforderlich individuellen) Resilienz und das der Resilienz zugrunde scheint, auch fachspezifische Begriffe und Konzepte liegende Verständnis von Sicherheit («Safety-II»). Ein aus dem Bereich der menschlichen und organisatori- Schwerpunkt des Kapitels liegt dabei auf der Bedeu- schen Faktoren verwendet. tung von Resilienz und Safety-II für die Aufsicht. Daraus leitet die Sektion MEOS Implikationen für ihre eigene Aufsichtsarbeit ab. Der Unfall im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi hat auch gezeigt, welche zentrale Bedeutung einer ange- messenen Entscheidungsfindung zukommt. Diesem Thema widmet sich Kapitel 4 dieses Berichts.
Der Reaktorunfall von Fukushima Daiichi – Menschliche und organisatorische Faktoren | Teil 3 2 Der Unfall von Fukushima Daiichi aus systemischer Perspektive Die Analyse des Unfalls von Fukushima Daiichi hat ergeben, dass zur Unfallentstehung und zum Unfallver- lauf eine Vielzahl von Faktoren aus dem menschlichen, technischen und organisatorischen Bereich beigetragen haben. Diese Faktoren haben sich zudem wechselseitig beeinflusst. Der sehr dynamische Unfallverlauf und die extrem komplexe Situation während des Unfalls haben gezeigt, dass das Unfallgeschehen nicht über einfache lineare Kausalzusammenhänge zu erklären ist. Es wäre auch zu kurz gegriffen, die Unfallentstehung aus- schliesslich durch eine unzureichende technische Vorsorge in Form eines ungenügenden Tsunami- Schutzes und einer mangelnden technischen Notfall- vorsorge zu erklären, denn für die Defizite bei der Auslegung der Anlage gab es wiederum tieferliegende Gründe in nicht-technischen Bereichen. Die Frage im Zusammenhang mit der Unfallentstehung lautet also, warum es zu den Defiziten bei der Sicherheitsvorsorge kommen konnte und warum diese so lange toleriert wurden. Hierbei zeigt sich, dass die Ursachen nicht allein in dem MTO-System (Mensch-Technik-Organisa- tion) des Kernkraftwerks von Fukushima Daiichi zu suchen sind, sondern weit darüber hinaus reichen.
Der Unfall von Fukushima Daiichi aus systemischer Perspektive 13 Kasten 2: MTO-System (Mensch-Technik- Eingriffe in solche komplexen Systeme (z. B. Organisation) und dessen Verhalten Arbeiten vor Ort) beeinflussen nicht nur einzelne Ein MTO-System, wie z. B. eine Kernanlage, ist Funktionen, sondern können eine Vielzahl von eine dynamische Ganzheit mir einer Vielzahl von Veränderungen in benachbarten Funktionen be- unterschiedlichen Funktionen, die miteinander wirken und auf das Gesamtsystem wirken ([44]). vernetzt sind und wechselseitig aufeinander Durch die hohe Vernetztheit und Abhängigkeit wirken. Eine Funktion bezieht sich auf eine und die möglichen kombinierten Effekte ist es oder mehreren Aktivitäten zur Erreichung eines nicht mehr möglich, alle Funktionen mit ihren bestimmten Ziels (Output) als Teilaufgabe zur Eigenschaften und allen potenziellen Wech- Erfüllung des Systemzwecks. Dabei ist es uner- selwirkungen vollständig zu beschreiben ([6], heblich, wer die Funktion innerhalb des Systems [44]). Kleine, lokale Abweichungen können sich ausübt, die Organisation, die Technik oder der möglicherweise auf schwer vorhersehbare Weise Mensch. In einem MTO-System werden die funk- im System ausbreiten (Nichtlinearität). Die Vor- tionsbezogenen Aktivitäten durch eine Vielzahl hersehbarkeit des Systemverhaltens (Output) und menschlicher, organisatorischer und technischer die Steuerbarkeit sind in komplexen Systemen Faktoren beeinflusst (siehe Abbildung 1). daher besonders anspruchsvoll ([44]). Das Verhalten von MTO-Systemen ist komplex, Wenn im Folgenden von «System», «Gesamt- da die Funktionen in einer spezifischen, dyna- system» etc. die Rede ist, ist damit jeweils ein mischen Beziehung zueinanderstehen und in solchermassen verstandenes MTO-System vielfältiger Weise miteinander interagieren ([44]). gemeint. Abbildung 1: Das internationale Ebene (WANO, IAEA,OECD/NEA etc.) MTO-System «Kernanlage» und seine externen Anspruchsgruppen nationale Ebene Politik, NGOs Forschung Netzwerk interagierender Funktionen Weitere Behörden Mensch Organisation Technik Lieferanten Medien Bewilligungsinhaber Öffentlichkeit
Der Reaktorunfall von Fukushima Daiichi – Menschliche und organisatorische Faktoren | Teil 3 Externe Anspruchsgruppen, wie der übergeordnete Aus dem Unfall von Fukushima ergeben sich hinsichtlich Konzern TEPCO als Bewilligungsinhaber, die Aufsichts- der Anwendung des systemischen Ansatzes insofern die behörden, die japanische Regierung, die Politik und die folgenden Erkenntnisse: Öffentlichkeit in Japan nahmen entscheidend Einfluss auf die Sicherheit des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi. • Einerseits konnten durch die systemische Betrach- Dieses war in dem Sinne in das übergeordnete System tung bei der Unfallanalyse eine Vielzahl von der Kernenergie in Japan eingebettet. Diese externen beitragenden Faktoren aus dem menschlichen, Anspruchsgruppen standen ihrerseits untereinander in technischen und organisatorischen Bereich und ständiger Wechselwirkung. Für die Unfallanalyse war es deren wechselseitige Beeinflussung identifiziert also erforderlich, auch über das MTO-System des werden. Dabei war es notwendig, über die Kernkraftwerks von Fukushima Daiichi hinauszugehen Grenzen des MTO-Systems «Kernkraftwerk Fukus- und ausserhalb dessen nach beitragenden Faktoren für hima Daiichi» hinauszugehen und den externen die Unfallentstehung zu suchen. Kontext mit den unterschiedlichen, sich wechsel- seitig beeinflussenden Anspruchsgruppen in die Beitragend für die Defizite bei der Sicherheitsvorsorge Analyse mit einzubeziehen. des Kernkraftwerks von Fukushima Daiichi waren u. a. auch Faktoren, die den übergeordneten TEPCO-Konzern • Andererseits hat die Analyse auch gezeigt, dass der als Bewilligungsinhaber betreffen. So führte ein ineffek- systemische Ansatz zur Beurteilung und Verbesse- tives Programm zur Nutzung der nationalen und rung der Sicherheitsvorsorge der Kraftwerke in der internationalen Betriebserfahrung zu einer zögerlichen Zeit vor dem Unfall nicht ausreichend im Bewusst- Bewertung und Behandlung von externen Gefährdun- sein der verantwortlichen Führungskräfte war. Dies gen wie Erdbeben und Tsunami ([31]). wird durch den Untersuchungsbericht der IAEA bestätigt ([31]). Es hat sich gezeigt, wie wichtig die Die Unfallanalyse zeigte auch, dass die Aufsichtsbehör- kontinuierliche Anwendung des systemischen den, namentlich die Nuclear and Industrial Safety Ansatzes für eine effektive Sicherheitsvorsorge ist. Agency (NISA), ihre Aufsichtsarbeit nicht ausreichend Eine der zentralen Empfehlungen der IAEA aus der systemisch gestalteten. Unter anderem wurde in dem Analyse des Unfalls betrifft demnach die Anwen- Bericht der IAEA aus 2015 ([31]) hervorgehoben, dass dung eines systemischen Ansatzes durch alle sie Sachverhalte häufig basierend auf einem Silodenken beteiligten Akteure ([1])iii. und nicht ausreichend umfassend und systemisch betrachtete, d. h. es wurden nicht alle für die Sicherheit relevanten Aspekte einbezogen. Besondere Aufmerk- samkeit wurde den technischen Aspekten gewidmet, wenig hingegen den betrieblichen Aspekten bzw. den menschlichen und organisatorischen Faktoren. Zudem waren die Aufsichtsbehörden nicht ausreichend ge- neigt, aus internationalen Erfahrungen zu lernen, und zeigten eine Tendenz, sich zu isolieren. Häufig argumen- tierten sie dabei, Erfahrungen und Ansätze aus dem Ausland seien in Japan nicht anwendbar ([31])ii.
Der Unfall von Fukushima Daiichi aus systemischer Perspektive 15 2.1 Berücksichtigung des systemischen Ansatzes Eine zentrale Forderung aus dem Regelwerk der IAEA Die in dem Bericht der Working Group on Human and ([32]) ist ein wirksames Managementsystem. Dies gilt Organizational Factors (WGHOF) der Nuclear Energy für alle Phasen des Lebenszyklus einer Kernanlage. Zur Agency (NEA) der OECD zum Thema «Human and Erreichung und Aufrechterhaltung eines wirksamen Organizational Performance» eingeführten Themen in Managementsystems betonen das IAEA-Regelwerk und Abbildung 2 geben eine Hilfestellung, was auf der die ENSI-Richtlinie zur Organisation von Kernanlagen, strategischen, der prozessualen und der Arbeitsebene ENSI-G07 ([9]), die Wichtigkeit, die Wechselwirkung bezüglich des systemischen Ansatzes besonders zu zwischen den Systemteilen Mensch, Technik und berücksichtigen ist. Je nachdem, welches System Organisation, zu berücksichtigen. Führungskräfte auf betrachtet wird, sind die einzelnen Themen aus allen Stufen der Organisation sind aufgefordert, bei der Abbildung 2 mehr oder weniger detailliert zu behan- Umsetzung des Managementsystems diese Wechsel- deln. Für ein technisches Sicherheitssystem mit dem wirkungen im Sinne der Wirksamkeit des Gesamtsys- Zweck, im Notfall Kühlmittel in den Reaktor einzuspei- tems zu identifizierten und zu berücksichtigen. Die sen, liegen die zu betrachtenden Themen schwer- Ergebnisse der regelmässigen Überprüfung von der punktmässig auf der Prozess- bzw. Arbeitsebene, Wirksamkeit des Managementsystems sollten genutzt während das gesamte Kernkraftwerk als MTO-System werden, um das Gesamtsystem mit der Vielzahl von mit seinen Zweck der Stromproduktion auch auf der Wechselwirkungen besser zu verstehen und im Sinne strategischen Ebene wichtige Themen zu behandeln der Sicherheit kontinuierlich zu verbessern. Es zeigt sich hat. Die Erläuterung der einzelnen Themen erfolgt im also, dass die Berücksichtigung des systemischen Zusammenhang mit der Ableitung von aufsichtsrele- Ansatzes zum Betrieb eines wirksamen Management- vanten Themen unter Kapitel 2.2.2 dieses Berichtes. systems im nationalen und internationalen Regelwerk bereits verankert und seine Anwendung im Rahmen der kontinuierlichen Verbesserung unausweichlich ist. Die genannten Anforderungen der IAEA ([32]) zum systemischen Ansatz resultieren nicht zuletzt aus den Erfahrungen der Analyse des Unfalls von Fukushima Daiichi. Die Frage, wie der systemische Ansatz anzu- wenden ist, kann nicht einfach beantwortet werden, da das Netzwerk der sich beeinflussenden mensch- lichen, technischen und organisatorischen Faktoren in einem System wie einem Kernkraftwerk zu komplexen Wirkzusammenhängen führt. Die technischen Nachrüs- tungen und eine Erhöhung der organisatorischen Rege- lungsdichte haben in den Kernanlagen zu einer Zunahme der Funktionen und deren Vernetzungsgrad geführt. Das Systemverhalten ist dadurch tendenziell noch komplexer geworden, was es somit noch schwe- rer verständlich bzw. vorhersagbar macht. Dies bedeu- tet, dass die Berücksichtigung des systemischen Ansatzes zwar noch wichtiger, aber auch anspruchsvol- ler geworden ist.
Der Reaktorunfall von Fukushima Daiichi – Menschliche und organisatorische Faktoren | Teil 3 Die genannten Themen folgen dem Prinzip der kontinu- Die Grenzen eines Systems gegenüber seiner Umwelt, ierlichen Verbesserung des Managementsystems d. h. gegenüber einem umgebenden System, sind nicht (PDCA-Prinzip «Plan-Do-Check-Act»), auf Basis dessen absolut gegeben, sondern in Abhängigkeit von der auch die Wirksamkeit des Managementsystems über- jeweiligen Perspektive der Systembetrachtung zu prüft und kontinuierlich verbessert wird. Die zyklische definieren. So ist z. B. eine bestimmte Abteilung eines Anwendung der Themen ist von zentraler Bedeutung, Betriebes aus Organisationsperspektive ein Subsystem, da nur so ein kontinuierlicher Lernprozess gewährleistet während die Organisation aus Sicht der Abteilung als wird, der den Fortschritt beim Verstehen und Verbes- Teil der Systemumwelt anzusehen ist ([44]). In den sern des Systemverhaltens sicherstellt. Dies ist aufgrund Kernanlagen können auch einzelne Prozesse oder der oben beschriebenen Komplexität und Dynamik des technische Systeme in dieser Form betrachtet werden. Systems unausweichlich erforderlich. Allerdings ist dabei zu beachten, dass eine ausschliess- lich isolierte Betrachtung von einzelnen Subsystemen Die Berücksichtigung der Themen verläuft von der für das Verständnis des Gesamtsystemverhaltens nicht Makroebene über die Mesoebene zur Mikroebene und ausreicht, da diese Subsysteme wiederum untereinan- wieder zurück in zyklischer Abfolge. Die Detailbetrach- der vernetzt sind und in Wechselwirkung zueinander tung auf der Mikro- bzw. Arbeitsebene ist nicht hierar- stehen. Aus systemtheoretischer Sicht ist es demnach chiegebunden. Sie betrifft alle Hierarchiestufen in einer sinnvoll, alle Funktionen in die Betrachtung einzuschlie- Organisation, vom Top-Management bis zur ausführen- ssen, die zum Ergebnis (Output) des betrachteten den Ebene. Systems beitragen, beispielsweise bezüglich der Produk- tivität, der Innovation oder der Sicherheit ([59]). Unab- Die Themen lassen sich nach der Definition der System- hängig von den gewählten Systemgrenzen sind immer grenzen auf jedes MTO-System anwenden. Diese die externen Einflussfaktoren, also Einflüsse, welche aus Systemgrenzen können im Prinzip frei gewählt werden. dem jeweils übergeordneten auf das betrachtete System wirken, in die Betrachtung einzubeziehen. Ebene Themen Makro (Strategie- (1) Zweck, Vision und (2) System- ebene) Strategie des Systems grenzen und externen Kontext (7) Kontinuierliche klären Verbesserung der Systemrobustheit (3) Prozesse und und -resilienz (8) Einbezug der Aktivitäten für den Akteure auf allen effektiven und Abbildung 2: Meso Ebenen sicheren Betrieb Kontinuierlicher (Prozess- etablieren Verbesserungszyklus auf ebene) Grundlage des (4) Wechselwirkungen zwischen systemischen Ansatzes (6) Wirksamkeit im Prozessen und Aktivitäten Sinne von (1) und ermitteln Þ Schlüsselaktivitäten (3) beurteilen Mikro identifizieren (Arbeits- ebene) (5) Ermittlung der MTO-Einflussfaktoren für die Schlüsselaktivitäten
Der Unfall von Fukushima Daiichi aus systemischer Perspektive 17 2.2 Schlussfolgerungen für die Aufsicht hinsichtlich der Berücksichtigung des systemischen Ansatzes Der Unfall des Kernkraftwerks von Fukushima Daiichi Eine wichtige Erkenntnis aus dem IAEA-Bericht ([31]) ereignete sich, weil die Sicherheits- bzw. Notfallvorsor- und den Unfallberichten der japanischen Regierung ist, ge des Werks gegen eine externe Gefährdung durch dass die beteiligten Stakeholder, insbesondere der Tsunamis unzureichend war. Verantwortlich für die Betreiber und die Aufsichtsbehörden, in dem System Sicherheit der Anlage war die Betreiberin TEPCO. der Kernenergie in Japan nicht aktiv genug nach Allerdings hatten sich die damaligen japanischen Defiziten in der Sicherheitsvorsorge gesucht haben. Aufsichtsbehörden von der Übernahme der Verantwor- tung zu überzeugen. Dazu mussten sie beurteilen, dass Diese Lehre aus dem Unfall sollte auch für die Betreiber die Sicherheitsvorsorge für das Kernkraftwerk von und die Aufsicht in der Schweiz langfristig richtungs- Fukushima Daiichi dem geltenden Regelwerk ent- weisend sein. Ein aktives Bestreben, mögliche latent sprach. vorhandene Defizite in der Sicherheitsvorsorge zu entdecken, bedarf der Grundhaltung des besseren Wie vorhergehend beschrieben, sind die Ursachen des Verstehen-Wollens des betrachteten Systems bei Unfalls nicht allein auf die mangelnde Übernahme gleichzeitiger Akzeptanz, dass dieses Verständnis nie der Verantwortung des Betreibers zurückzuführen. abschliessend sein wird, sondern aufgrund der Beitragend waren u. a. ebenfalls die damalige Rolle der Komplexität und Dynamik der betrachteten MTO- Aufsicht im übergeordneten System der Kernenergie Systeme einen kontinuierlichen Lernprozess darstellt. in Japan, die Beziehungen zwischen Betreiber und Aufsichtsbehörden und das zugrundeliegende Regel- In der Schweiz verfolgt das ENSI mit seiner integrierten werk. Aufsicht dieses Ziel. Voraussetzung für die Stärkung der Sicherheit (Mission aus dem ENSI-Leitbild [10]) ist das Vor dem Hintergrund einer kollektiven Grundannahme, Bestreben, die beaufsichtigten MTO-Systeme unter sich wonach die technische Auslegung der Anlage ausrei- ändernden Rahmen- und Randbedingungen fortlau- chend robust gegen jegliche externe Gefährdungen sei fend besser verstehen zu wollen. Hier stellt sich die (vgl. [31] und Kap. 3), erkannten auch die Aufsichtsbe- Frage, wie dies im Rahmen der Aufsichtstätigkeit am hörden nicht, dass es Defizite in der Sicherheitsvorsor- besten erreicht bzw. wie die Aufsicht weiterentwickelt ge gab, und adressierten diese demzufolge auch nicht werden kann, damit die Aufsichtsbehörde möglichst wirkungsvoll. effektiv zur kontinuierlichen Verbesserung der Sicher- heitsleistung der beaufsichtigten MTO-Systeme Dieses Versäumnis der Aufsichtsbehörden wurde zwar beiträgt. durch ein unzureichendes nationales Regelwerk begünstigt. Es gab allerdings damals schon das inter- Dabei geht es im Zusammenhang mit dem systemi- nationale Regelwerk ([32]), welches ein wirksames schen Ansatz einerseits grundsätzlich um die Art Managementsystem des Betreibers forderte. Dies der Aufsicht im Bereich Mensch und Organisation impliziert eine kontinuierliche Verbesserung mit einer (Kap. 2.2.1) und andererseits um die Fokussierung auf aktiven Suche nach Chancen und Risiken für das bestimmte Aufsichtsthemen (Kap. 2.2.2). MTO-System.
Der Reaktorunfall von Fukushima Daiichi – Menschliche und organisatorische Faktoren | Teil 3 2.2.1 Aufsicht im Bereich Mensch und Organisation unter Berücksichtigung des systemischen Ansatzes Ein zentraler Grundsatz der Aufsicht ist, dass die insbesondere für die Beaufsichtigung von menschlichen Verantwortung für die Sicherheit bei den Bewilligungs- und organisatorischen Faktoren ungeeignet ist. Im inhabern und damit Betreibern von Kernanlagen liegt Rahmen einer «performance»-orientierten Aufsicht (vgl. Art. 22 KEG [36] sowie [14]). Je nachdem, wie die erhält die Selbstbeurteilung durch die beaufsichtigte Aufsichtsbehörde ihren Auftrag interpretiert und in der Organisation eine grössere Bedeutung. Ein zentraler Praxis wahrnimmt, beeinflusst sie die Fähigkeit und den Aspekt der Aufsichtsarbeit stellt dabei der Dialog Willen der Beaufsichtigten zur Verantwortungsübernah- zwischen der Aufsichtsbehörde und den Beaufsichtigten me. Im ungünstigsten Falle kann sie diese gar negativ zur Festlegung geeigneter Leistungsindikatoren dar. beeinflussen, etwa indem sie einen zu präskriptiven Wilpert sieht eine Kultur offener und selbstkritischer Aufsichtsstil pflegt, indem sie also den Beaufsichtigten Kooperation zwischen den Parteien und eine Art zu detailliert vorschreibt, was diese zu tun haben. In der gemeinsames «management by objectives» als erforder- Literatur wird in diesem Zusammenhang vielfach lich, was für beide Seiten in einem gemeinsamen zwischen zwei grundsätzlichen «Aufsichtsstilen» Lernprozess resultiert. unterschieden, wobei diese in der Regel nicht in der einen oder anderen reinen Form angewandt werden, Dass komplexe Systeme nicht (ausschliesslich) mittels sondern zumeist in einer Kombination mit unterschied- eines «compliance»-basierten Ansatzes beaufsichtigt lichen Ausprägungen auftreten ([59]): präskriptive werden können, legt Sidney Dekker ([6]), dar. Die Aufsicht («compliance»-orientierte Aufsicht) im Gegen- Aufsicht wird als Teil der «Schutz-Strukturen» im System satz zu zielorientierter Aufsicht (oder ergebnisorientier- betrachtet, deren Zweck es ist, Diversität ins System zu ter, leistungsorientierter, «performance»-orientierter bringen. Inspizierende bekleiden in diesem Aufsichtsver- Aufsicht). «Compliance»-orientierte Aufsicht fokussiert ständnis eine anspruchsvolle Rolle und müssen sowohl sich auf vorgegebene Vorschriften und prüft deren «Insider» als auch «Outsider» sein. Dies bedeutet, dass strikte Einhaltung durch die Beaufsichtigten. Bei der sie einerseits ausreichend Kenntnis und Erfahrung mit «performance»-orientierten Aufsicht beurteilt die dem zu beaufsichtigenden System haben müssen, Aufsichtsbehörde die Leistung der Beaufsichtigten damit sie wissen, worauf sie achten müssen, und in der hinsichtlich vordefinierter Kriterien, wobei die Art und Lage sind, auch schwache Signale zu erkennen. Sind sie Methode der Zielerreichung in der Verantwortung der andererseits zu stark «Insider», so sind sie nicht mehr in Beaufsichtigten belassen wird ([59]). Wilpert ([59]) der Lage, Diversität in das System zu bringen, also eine identifiziert eine Reihe potenzieller negativer Auswirkun- Aussensicht und dadurch Impulse zur weiteren Verbes- gen einer (strikten) «compliance»-orientierten Aufsicht, serung der Sicherheit, zu welcher die Beaufsichtigten wie beispielsweise eine starke Zunahme von (behörd- auf Grund ihrer zu starken Betroffenheit selbst eventuell lichen) Vorschriften, einen übermässigen Eingriff der nicht mehr in der Lage sind. Aufsicht impliziert nach Aufsichtsbehörde in die alltäglichen betrieblichen Dekker demnach eine Sensibilität für die Eigenschaften Tätigkeiten der Beaufsichtigten, eine Zunahme von von Komplexität, beispielsweise Vernetzung, Wechsel- Konflikten und Misstrauen in der Beziehung zwischen wirkungen, Diversität oder Lernen. Dies bedeutet, dass der Aufsichtsbehörde und den Beaufsichtigten, eine Inspektionen von Systemteilen insbesondere nach zunehmende Demotivation und eine Tendenz zu möglichen Wechselwirkungen mit umliegenden Teilen blindem Erfüllen der behördlichen Anforderungen von des Systems bzw. anderen Systemen suchen müssen. Seiten der Beaufsichtigten, einen negativen Einfluss auf Dabei ist es zentral, auf verschiedene Narrative zu das Lernen bei allen involvierten Parteien und eine hören, also vielfältige Sichtweisen von unterschiedlichen zunehmende Verantwortungsübernahme durch die Akteuren aus unterschiedlichen Teilen des Systems Aufsichtsbehörde. Er kommt zum Schluss, dass in einzubeziehen ([6]). komplexen MTO-Systemen eine solche Art der Aufsicht
Der Unfall von Fukushima Daiichi aus systemischer Perspektive 19 Die Ausführungen zur Aufsicht im Zusammenhang mit Ansatzes der «responsive regulation» wird im Allgemei- dem systemischen Ansatz in komplexen Systemen nen eine so genannte Regulierungspyramide (vgl. verdeutlichen, dass es nicht möglich ist, eine «standar- Abbildung 3) verwendet, welche die Eskalationsstufen disierte», immer gleichbleibende Aufsichtsstrategie und von einer auf Dialog, Überzeugung und Selbst-Regula- -methodik zu definieren und anzuwenden. Das Kon- tion beruhenden Aufsicht auf den untersten Ebenen zept der «responsive regulation» zeigt einen möglichen über zunehmend fordernde und präskriptive Interven- Weg auf, wie mit der Dynamik komplexer MTO-Syste- tionen hinauf bis zum Entzug von Bewilligungen und me in der Aufsicht umgegangen werden könnte. Unter Lizenzen oder Strafverfolgung beschreibt. Die Rolle der «responsive regulation» wird eine Form der Aufsicht Aufsichtsbehörde bzw. der Inspizierenden ist entspre- verstanden, bei welcher nicht von einem für alle chend auf der untersten Ebene die Eröffnung eines Dia- beaufsichtigten Organisationen einheitlichen und logs mit der beaufsichtigten Organisation und deren gleichbleibenden Aufsichtsansatz ausgegangen wird, Motivierung zu bestimmten Veränderungen. Auf den sondern unterschiedliche Aufsichtsansätze und Inter- obersten Ebenen stehen ihnen punitive Instrumente mit ventionen von der Aufsichtsbehörde angewandt strengen Sanktionen zur Verfügung ([52]). werden, in Abhängigkeit vom Kontext und Verhalten, der Kultur und dem Sicherheitsniveau der beaufsichtig- ten Organisationen ([2]iv, [24]). Zur Illustrierung des Abbildung 3: Beispiel einer Regulierungspyramide (Quelle: Queensland Workplace Health and Safety (Australien) [63])
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