Gerd Antos: Wissenskommunikation. Ausgewählte Aufsätze.
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https://doi.org/10.5817/BBGN2021-1-9 Marcelina Kałasznik über: Gerd Antos: Wissenskommunikation. Ausgewählte Aufsätze. Frank & Timme, Berlin 2020, 509 S., ISBN: 978-3-7329-0602-4 Der Begriff der Wissenskommunikation hat be- wandten Diskursforschung, der Gerd Antos zum reits vor einigen Jahren Eingang in die Wissen- ersten Mal im Jahre 19961 veröffentlicht hat, schaft gefunden. Da es sich um ein interdiszi- wird die Geschichte der Konzeptualisierungen plinäres Forschungsfeld handelt, ist es schwie- von Kommunikation verfolgt. Es wird erstens rig eine allgemein geltende Auffassung dieses gezeigt, durch welche Metaphern das Alltags- Terminus anzuführen. Beispielsweise verstehen verständnis von Kommunikation geprägt wird Eppler und Reinhardt (2004: 2) unter Wissens- (z. B. Kommunikation ist (wie) Kampf). Zweitens kommunikation „[…] die (meist) absichtsvolle, werden klassische Ansätze zur Kommunikation interaktive Konstruktion und Vermittlung von präsentiert, deren Kritik dazu führt, für „refle- Erkenntnis und Fertigkeit auf der verbalen und xive“ Modelle der Kommunikation zu plädie- nonverbalen Ebene“. Im Rahmen des Wissens- ren. Im Anschluss daran werden in der zwei- managements wird Wissenskommunikation als ten Studie Die Rolle der Kommunikation bei der „der Austausch, die Wiedergabe und die Ver- Konzeptualisierung von Wissensbegriffen Konzep- teilung von Wissen“ (Wohlwender 2014: 14) tualisierungen von Wissen dargestellt. Bevor al- aufgefasst. Der Wissenskommunikation aus der lerdings auf die Konzeptualisierungen des Wis- linguistischen Sicht ist die hier vorzustellende sensbegriffs eingegangen wird, werden einige Monographie von Gerd Antos gewidmet, die Entwicklungstendenzen besprochen, die für die 2020 im Verlag Frank & Timme erschienen ist. Brisanz des Begriffs Wissen in gegenwärtigen Mit dem aus sechs Teilen bestehenden Band Gesellschaften zuständig sind. Anschließend wird das Ziel verfolgt, die aktuelle Vielschich- werden die folgenden Wissensbegriffe ausführ- tigkeit der Untersuchung zur Wissenskommuni- lich besprochen: sensualistischer, wissenssozio- kation zu zeigen. Um allerdings die gegenwär- logischer, repräsentationeller Wissensbegriff, tige Bandbreite der linguistischen Forschung neurowissenschaftliche Konzeptualisierungen, zu diesem Thema zu umreißen, „[…] werden reflexionstheoretischer Ansatz und linguistisch rückblickend einige programmatische Artikel motivierte Konzeptualisierung. In dem zwei- präsentiert, die einen Beitrag zur Entwicklung ten Beitrag wird vielerorts angedeutet, dass der Wissenskommunikations-Forschung gelei- moderne Gesellschaften mit einer kaum zu stet haben“ (S. 9). überschauenden Informationsfülle konfron- Den ersten Teil des Bandes, betitelt Kommu- tiert werden. So setzt sich Gerd Antos2 in dem nikation, Wissen und Wissenschaft, bilden drei nächsten Beitrag Transferwissenschaft. Chancen Beiträge, mit denen der Blick auf die Geschich- und Barrieren des Zugangs zu Wissen in Zeiten te der Wissenskommunikation gerichtet wird der Informationsflut und der Wissensexplosion für und vor deren Hintergrund die neuen For- schungstendenzen erklärt werden können. In 1 Die genauen bibliographischen Angaben wer- den im Quellenverzeichnis am Ende des Bandes an- dem ersten hier präsentierten Aufsatz Mythen, gegeben. Metaphern, Modelle. Konzeptualisierungen von 2 Der Beitrag ist unter Mitarbeit von Stefan Pfän- ‚Kommunikation‘ aus dem Blickwinkel der Ange- der entstanden. 124
Buchbesprechungen eine Disziplin – Transferwissenschaft – ein, die derzeit schwer einzuschätzen. In der nächsten sich mit dem Zugang zum Wissen im Zeitalter Studie Sprachdesign als Stil. ‚Lifting‘ oder: ‚Sie der Informationsflut beschäftigen sollte (vgl. werden die Welt mit anderen Augen sehen‘ wird S. 84). In diesem Sinne sollte sie Wege zeigen an zwei Beispielen von Texten, d. h. an einer und Strategien entwickeln, wie das Wissen auf Werbeanzeige für ein Handy und an einem eine selektive Art und Weise für breite Kreise Flyer einer Praxis für plastische Chirurgie ge- von Gesellschaften verfügbar gemacht werden zeigt, wie diese Texte gestaltet werden und wie sollte. sie in ihrer Umgebung kontextualisiert werden Mit den im nächsten Teil des Bandes Spre- (vgl. S. 153). In der Untersuchung wird präsen- chen, Schreiben, Stil und Schönheit zusammenge- tiert, dass diese Aspekte, die unter den Begriff stellten Beiträgen wird die Vielfalt der media- Sprachdesign subsumiert werden, stilistisch re- len Angebote verdeutlicht, mit denen Wissen levant sind. Im nächsten Aufsatz „Essen macht vermittelt wird. Der erste Aufsatz dieses Teils schön“. Image-Kommunikation: Wie Medien kom- Schule der Performativität. Wahrnehmen und Üben: munikative Wahrnehmung erzeugen wird anhand zwei übersehene Aspekte von Vollzugswirklichkeiten eines Aufmachers aus einem Frauenmagazin beim Sprechen ist der Sprechwissenschaft ge- dargestellt, „wie ein kollektiv verfestigtes Image widmet, die aufgrund ihrer Gegenstandsbe- durch bestimmte Muster medialer Kommunika- stimmung, ihrer bisherigen Erkenntnisse und tion thematisiert, in Frage gestellt und verän- ihres Potenzials hierin als „Schule der Perfor- dert werden kann“ (S. 174). Es handelt sich kon- mativität“ betrachtet wird. Gerd Antos fasst kret um das negative Image von Korpulenz. Die die Sprechwissenschaft als eine Disziplin auf, Grundlage für die empirische Analyse bilden die „[…] einen großen ‚Schatz‘ an Einsichten, die Annäherung an den Begriff Image und die Erfahrungen und Expertisen über mündliche Darstellung seiner Funktionen. In der nächsten Vollzugswirklichkeiten vorzuweisen [hat]“ und Studie Schriftliche Textproduktion. Formulieren als in diesem Sinne eben als „Schule der mündli- Problemlösung weist der Autor hingegen darauf chen Performativität“ verstanden werden kann. hin, wie wichtig die sprachliche Gestaltung ei- Mit dem nächsten Beitrag Kultur- und domänen- nes Textes – im Sinne eines angemessenen und geprägtes Schreiben wird vom Sprechen zum Sch- zielgerichteten Formulierens – ist. Hierbei stellt reiben übergegangen. Die Autoren, Gerd Antos sich die Frage nach den vom Textproduzenten und Karl-Heinz Pogner, stellen in dieser Studie bei der Herstellung und Gestaltung von Texten vor dem Hintergrund der Schreibforschung unternommenen Handlungen und nach den dar, auf welche Art und Weise sich einerseits Möglichkeiten deren theoretischer und empi- Sprache und Kultur auf die Schreibkonventio- rischer Erforschung. Grundsätzlich wird hier- nen auswirken. Andererseits weisen sie darauf bei die Meinung vertreten, dass Formulieren hin, dass globale Diskus- oder Schreibgemein- problemlösendes Handeln ist, was folglich dazu schaften aufgrund der Verflechtungstenden- führt, dass bestimmte sprachliche oder textuel- zen in solchen Bereichen wie Wirtschaft, Poli- le Unzulänglichkeiten in den Texten nicht als tik und Kultur sowie in diesem Sinne auch in Fehler betrachtet werden, sondern als Spuren der Wissenschaft aktiv bei der Herausbildung von Problemlösen. Darüber hinaus legt diese von bestimmten Schreibmustern mitwirken. Auffassung von Formulieren nahe, dass be- Die genaue Bestimmung dieses Einflusses von stimmte Problemlösestrategien dazu eingesetzt globalen Diskursgemeinschaften auf bestimm- werden, die Wissensvermittlung zu verbessern. te Textkonventionen sind den Autoren nach Außerdem muss darauf hingewiesen werden, 125
Buchbesprechungen dass im Laufe des Problemlöseprozesses beim sich der Autor, ausgehend von Meldungen dar- Schreiben bestimmte als innovativ empfunde- über, dass die modernen Gesellschaften immer ne Formulierungskonventionen entstehen, die mehr vom Lesen absehen und häufig Probleme veraltete, zu inflationär gebrauchte oder uner- mit dem Textverstehen haben, der Frage der wünscht konnotierte Formulierungsweisen er- Wahrnehmbarkeit von in Texten erzeugtem setzen können. Wissen zu. In diesem Zusammenhang werden Den dritten Teil des Bandes Textlinguis- Texte als „(Laien-)Theorien“ (S. 271, 285) auf- tik und Wissensproduktion eröffnet der Beitrag gefasst, die den Menschen dazu dienen, die Wozu eigentlich Textlinguistik? Theoretische Fragen sie umgebene Welt und die Wirklichkeiten er- an eine erfolgreiche sprachwissenschaftliche Diszip- schließen zu können. lin. Das Ziel des Aufsatzes ist es, das Konzept Verständlichkeit – den dritten Teil des Buches einer theoretisch orientierten Textlinguistik zu beginnt der Beitrag von Gerd Antos, Ursula umreißen, der die Aufgabe zukommt, zu erklä- Hasler und Daniel Perrin zur Textoptimierung, ren, wie die sich in Form von Texten manifes- in dem dieser Terminus nach verschiedenen tierenden Wissensangebote für eine breite und Konzepten und Ansätzen dargestellt wird. Be- unbegrenzte Leserschaft zugänglich und nach- zugnehmend auf die einschlägige Literatur vollziehbar gemacht werden können. Anschlie- unternehmen die Autoren den Versuch, zu ver- ßend wird in dem nächsten Aufsatz Texte als deutlichen, auf welche Art und Weise die Wis- Konstitutionsformen von Wissen. Thesen zu einer sensangebote durch bestimmte Prozesse der evolutionstheoretischen Begründung der Textlinguis Textoptimierung für Textrezipienten adäquater tik die Aufmerksamkeit auf die Funktion „[…] gemacht werden können. Vor diesem so umris- von Texten im Kontext der kulturellen Evolu- senen Hintergrund werden in dem nächsten tion von Wissen zum Ausgangs- und Zielpunkt Aufsatz „Verständlichkeit“ als Bürgerrecht? Positio- einer ‚evolutionstheoretischen‘ Begründung nen, Alternativen und das Modell der „barrierefrei- der Textlinguistik“ (S. 243) gelenkt. Hierbei en Kommunikation“ Argumente für und gegen wird davon ausgegangen, Texte als „Formen der Verständlichkeitsmachung von Gesetzestexten Konstitution und Organisation von komplexem Wis- für Laien präsentiert. Die Reflexion darüber sen“ (S. 243, Hervorhebung im Original) wahr- wird mit einem Abschnitt zur „barrierefrei- zunehmen und ihnen die Rolle zuzuschreiben, en Kommunikation“ – einer amerikanischen das individuelle Wissen zu konstituieren (vgl. Bewegung – abgeschlossen, die fordert, Texte S. 244). Diese zwei Grundannahmen werden in adressatengerecht zu formulieren. Im nächsten dem Text ausführlich erläutert und besprochen. Beitrag Rechtsverständlichkeit in der Sprachkri- Hierbei werden die folgenden Aspekte spezi- tik der Öffentlichkeit, den Gerd Antos mit Hel- ell hervorgehoben, die mit dem Kontext der ga Missal verfasst hat, gehen die Autoren von Wissensvermittlung zusammenhängen: Texte Umfrageergebnissen aus, die darauf hinweisen, ermöglichen den Menschen kognitive Orientie- dass die Rechts- und Verwaltungssprache einem rung, sie zeichnen sich durch eine bestimmte Durchschnittsbürger in den meisten Fällen Ver- Struktur aus, so das durch Texte vermitteltes ständnisschwierigkeiten bereiten. Im Anschluss Wissen sachgemäß und rezeptionsangemessen daran werden drei Kritikpunkte vorgestellt: „Ju- organisiert wird, Texte dienen der Archivierung risten-Schelte“, Europäisierung des Rechts, die von Wissen und so kann mit ihnen das Wissen sich darin manifestiere, dass lange und kompli- übertragen werden. In dem nächsten Aufsatz zierte Rechtstexte entstehen, Gender-Kritik, die Texte: Modelle der Erzeugung von Wissen wendet sich darauf konzentriert, dass die Vorschriften 126
Buchbesprechungen nicht frauengemäß formuliert seien. Danach sche Disruptions-Forschung zu etablieren. Der werden andere Probleme diskutiert, die mit Begründung einer solchen linguistischen Diszi- der Rechtsverständlichkeit zusammenhängen, plin liegt die Überzeugung zugrunde, dass die wie Barrieren, die diese Verständlichkeit ver- Veränderungen in der sprachlichen Kommuni- hindern, Verhältnis zwischen Rechtsverständ- kation, die durch den vermehrten Einsatz von lichkeit und Fremdheit sowie Gewalt. In dem Maschinen mit künstlicher Intelligenz zustande den Teil abschließenden Beitrag ‚Öffentlichkeit‘ kommen, von Anfang an verzeichnet und syste- – ‚Laien‘ – ‚Experten‘. Strukturwandel von ‚Lai- matisch verfolgt werden sollten. en‘ und ‚Experten‘ in Diskursen über ‚Sprache‘ Der letzte Teil des Bandes – Randbedingun- von Gerd Antos und Bettina M. Bock wird gen – besteht aus zwei Studien. In dem ersten das Wechselverhältnis zwischen Wissenschaft, Beitrag Linguistik als problemlösende Wissenschaft. Medien und Öffentlichkeit thematisiert, wobei Herausforderungen an die heutige Linguistik schla- diese Relationen anhand der Diskussion über gen die Autoren – Gerd Antos und Karlfried Sprache und Kommunikation dargeboten wer- Knapp – eine andere Konzeptualisierung der den. Angewandten Linguistik vor, die hierbei als Ein weiterer thematischer Block ist mit Rhe- eine problemlösende Wissenschaft profiliert torik der Selbsttäuschung betitelt. In diesem Teil wird. Der ganze Band wird mit dem Beitrag des Buches wird darauf aufmerksam gemacht, Linguistik und Leben. Autobiographische Selfies dass eine große Rolle heutzutage trotz der abgeschlossen, in dem Gerd Antos dem Leser Beobachtung, dass moderne Gesellschaften einen Einblick in sein berufliches und privates Wissensgesellschaften sind, der Selbsttäu- Leben gewährt. Daran kann man erkennen, wie schung und Tarnung zukommt. Dies beweist sich die Wissenschaft mit dem normalen Alltag Gerd Antos in den drei in diesem Teil zusam- verflicht. mengestellten Beiträgen. In dem ersten Auf- Der vorgestellte Band enthält Beiträge von satz „Tarnkappen-Rhetorik“. Zur Rhetorik einer Gerd Antos oder Aufsätze, die in Kooperation sich selbst überzeugenden Selbsttäuschung wird an- mit anderen Wissenschaftlern entstanden sind. hand von Beispielen aus verschiedenen Texten Das Oberthema bildet die Wissenskommunika- gezeigt, wie die sog. „Tarnkappen-Rhetorik“ tion, die hier aus verschiedenen Blickwinkeln funktioniert, welche sprachlichen Mittel hier- betrachtet wird. Deswegen kann ohne Zweifel bei dominieren und welche Wirkungen sie auf gesagt werden, dass die hier zusammengestell- den Rezipienten erzeugt. Ein in einiger Hin- ten Aufsätze einen Lektürekanon zu diesem sicht ähnliches Phänomen wird in dem Beitrag Thema darstellen, der einen umfassenden Ein- Fake News. Warum wir auf sie reinfallen. Oder: blick in die Entwicklung der Forschung in die- Ich mache Euch die Welt, so wie sie mir gefällt the- sem Bereich gibt. matisiert. Diese Studie wird Falschmeldungen gewidmet, von denen die gegenwärtige Öffent- lichkeit geplagt wird. Vor einem reichhaltigen Literatur: theoretischen Hintergrund geht der Autor vor allen Dingen auf die Frage ein, warum die Re- Eppler, Martin J. – Reinhardt, Rüdiger (2004): zipienten auf Fakes oder Fake News so leicht Zur Einführung: Zum Konzept der Wis- hereinfallen. In dem letzten Beitrag Wenn Ro- senskommunikation. In: Eppler, Martin J. boter „mitreden“… „When bots have a say…“ aus / Reinhardt, Rüdiger (Hrsg.): Wissenskom- diesem Teil wird dafür plädiert, eine linguisti- munikation in Organisationen. Methoden, 127
Buchbesprechungen Instrumente, Theorien. Berlin – Heidelberg: Wissenskommunikation in einer Matrixor- Springer Verlag, S. 1–11. ganisation. Wiesbaden: Springer VS. Wohlwender, Alexander (2014): Analyse der Dr. Marcelina Kałasznik / marcelina.kalasznik@uwr.edu.pl Universität Wrocław, Institut für Germanistik, Pl. Nankiera 15b, 50-140 Wrocław, PL This work can be used in accordance with the Creative Commons BY-SA 4.0 International license terms and con- ditions (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode). This does not apply to works or elements (such as image or photographs) that are used in the work under a contractual license or exception or limitation to relevant rights 128
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