Geschichte original Quellen für den Unterricht
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± Geschichte original Quellen für den Unterricht »Wenn ein Kernkraftwerk schlechtes Wetter macht« Klimaschutz als Argument in der Auseinandersetzung um das geplante AKW in Wyhl Zu Beginn der 1970er Jahre veränderte sich Rande des Kaiserstuhls ein Fanal für die Anti- der Kraftwerkskühlung zusammen. Ein Gut- weltweit, aber insbesondere in der Bun- atomkraftbewegung der alten Bundesrepu- achten, das die »lnitiativgruppe Atomkraftwerk desrepublik die Wahrnehmung von Natur und blik (Uekötter, S. 128). Das Motto Nai hämmer Wyhl e. V.« anfertigen ließ, untersucht diese Umweltschutz. Genau genommen nahmen gsait! Kein Atomkraftwerk in Wyhl und anders- Fragen überaus gründlich und speziell auf den die Begriffe Umwelt bzw. Umweltschutz erst wo (M 1) verdeutlicht, dass ein zunächst Standort und dessen besondere Wetterver- jetzt die Bedeutung an, die wir heute ken- lokal begrenztes Problem den Protest gegen hältnisse bezogen. Genaue Wetterbeobachtun- nen. Schon in den Jahren zuvor hatte es ei- Atomkraft befeuerte und zu einem grund gen gibt es dort erst seit Ende des vorigen ne Verschiebung gegeben: Die vormals dis- sätzlichen Anliegen machte. Dieses erreich Jahres. Um wirklich verläßliche Aussagen über kutierten Verschuldungsprobleme waren stets te zudem durch eine rege Medienbericht den lokalen Witterungscharakter machen zu lokal begrenzt gewesen, man hatte sie zumeist erstattung breite Aufmerksamkeit in der können, braucht man aber mindestens drei- sinnlich wahrnehmen können, und der zeit- bundesrepublikanischen Öffentlichkeit. bis fünfjährige Beobachtungsreihen. So muß liche Rahmen, in dem Schädigungen eintra- Unter dem Titel Wenn ein Kernkraftwerk man vor allem auf die langfristigen Wetter- ten, war überschaubar. Die neuen Gefahren schlechtes Wetter macht warf der Wissen daten von Stationen in der näheren Umgebung waren hingegen geographisch, zeitlich und sen- schaftsjournalist Kurt Rudzinski am 5. Okto- zurückgreifen. Sie aber zeigen eindeutig, daß sorisch entgrenzt. Was bislang primär ein ber 1974 die Frage auf, warum gegen den von gerade das Gebiet nördlich des Kaiserstuhls Problem einzelner Regionen […] gewesen war, der Landesregierung als Zukunftsprojekt pro- ein Kältebecken ist, das sich gegenüber diesem erschien nun als eine fundamentale Heraus- pagierten Bau eines AKWs in Wyhl nicht nur selbst und den Randgebieten der Oberrhein- forderung, der jeder Bewohner der westlichen oberrheinische Bauern und Winzer protes- ebene durch niedrige Durchschnittstempera- Welt ausgesetzt war. (Uekötter, S. 108f.) tierten (M 2). Das Augenmerk legte er hier- turen, höhere Luftfeuchtigkeit, mehr Nebeltage In der Bundesrepublik stellte die Atom bei nicht auf die einschneidenden Verände- und längere Nebeldauer besonders in den kraft den ökologischen Streitfall schlecht- rungen der Landschaft, nicht auf die Gefah- Herbst- und Wintermonaten auszeichnet. Die hin dar, der die Umweltbewegung tief präg ren der Radioaktivität, nicht auf grundsätz- Nebel in den Rheinauen lösen sich am Vor- te. Frank Uekötter betont in seinem Über- liche Fragen politischer Partizipation, son- mittag später auf, und sie fallen früher wieder blick über die Entwicklung des Natur- und dern auf das Wetter, genauer auf die zu erwar- nieder als in der Umgebung. Das Ergebnis ist Umweltschutzes in Deutschland das Über- tende Veränderung des Mikroklimas durch ein erhebliches Sonnendefizit, und das vor allem raschende dieses Konflikts, denn in den den alltäglichen, regulären Betrieb des AKWs: im September und Oktober, in der Zeit, in der 1960er Jahren hätten sich all diejenigen, die Ganz anders sieht es mit der Wetterver- Obst und Wein ihre volle Reife erhalten sollen. sich für einigermaßen fortschrittlich hiel- schlechterung aus. Sie ist mit hoher Wahrschein- ten, für das friedliche Atom ausgesprochen. lichkeit zu erwarten, auch wenn das offizielle Gab es auch zuvor vereinzelte Proteste meteorologische Gutachten speziell auf das gegen den Bau von Atomkraftwerken, so wur- Hauptrisiko, die Verschlechterung durch Nebel- de der Kampf gegen ein Atomkraftwerk am bildung, nicht ernsthaft eingeht. Sie hängt mit
Archivnachrichten 60 / 2020 67 Geschichte original M1 Plakat: »Nai hämmer gsait! Kein Atomkraftwerk in Wyhl und anderswo«, Badisch-El- sässische Bürgerinitiativen, entworfen von Hubert Hoff- mann, 1975. Vorlage: Archiv Soziale Bewegungen Freiburg, Dokument 7218 M 2 Artikel »Wenn ein Kern- kraftwerk schlechtes Wetter macht« von Kurt Rudzinski, Frankfurter Allgemeine Zei- tung vom 5. Oktober 1974. Vorlage: Archiv Soziale Bewegungen M1 Freiburg, Dokument 1392 M2
Archivnachrichten 60 / 2020 69 Geschichte original Im Folgenden soll ein knapper Überblick Bürgerinitiativen, der schließlich dazu ge, die der halbe Bodensee abgibt (siehe über die Geschichte des erfolgreichen führte, dass Landesregierung und Baden auch M 2). Widerstands gegen den Bau des Atomkraft werk nach Alternativen suchten. Spätestens Bei der Organisation des Widerstands werks am nördlichen Rand des Kaiser- im Juli 1973 wurde bekannt, dass mit dem konnten die Bürgerinitiativen auf Erfahrun- stuhls gegeben werden. Ein Schwerpunkt Rheinauewald bei Wyhl ein neuer Standort gen des erfolgreichen Protests gegen das soll hierbei in Hinblick auf die Behandlung gefunden wurde. Der Anstoß für diese Ent Vorhaben in Breisach zurückgreifen, aber im Unterricht auf die Organisation politi scheidung war aus kommunaler Initiative auch andere Protestaktionen am Ober scher Kommunikation gelegt werden, da – erfolgt: Der Wyhler Bürgermeister Zimmer rhein, wie gegen die AKWs in Kaiseraugst wie auch im obigen Zitat deutlich wird – der war während der Auseinandersetzung um (Schweiz) oder Fessenheim (Frankreich) Kraft des Arguments bzw. von gut recher Breisach aktiv geworden, um seine struktur oder gegen ein Bleichemiewerk im elsässi- chierten Informationen große Bedeutung schwache Gemeinde in Stuttgart ins Spiel schen Marckolsheim. Die transnationale bei der Mobilisation lokaler, regionaler und zu bringen. Zusammenarbeit der Bürgerinitiativen, wie überregionaler Unterstützer zukommt. Der Protest regte und organisierte sich sie auch in dem Internationalen Komitee sofort, v. a. bei den Nachbargemeinden der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen Ablauf des Protests Wyhls, die sich später sogar an den juristi ihren organisatorischen Ausdruck gefunden Die Landesregierung Baden-Württembergs schen Klagen gegen das Kraftwerk betei- hat, ist von zentraler Bedeutung, nicht nur hatte in Verbindung mit der französischen ligten. In Wyhl selbst stieß das Kraftwerk al- für das Selbstverständnis der damaligen Regierung und der Bundesregierung Großes lerdings keineswegs auf einhellige Ableh Akteure. Engels betont (S. 111), dass die Stra- am Oberrhein vor. Die Kernenergie sol- nung, da man auf Arbeitsplätze und eine Ver- tegie darin bestanden habe, das Problem lte die Möglichkeit bieten, die wirtschaftliche besserung der Struktur (Hallenbad, Vereins- zu einem allgemein diskutierten Thema zu Zukunft des Bundeslandes, das nicht über heime, Straßen) hoffte. Die Befürworter orga- machen. Ziel war es, die Bürgerinnen und eigene Kohlevorkommen verfügte, vor- nisierten sich und vertraten ihren Stand Bürger im Umkreis des Kaiserstuhls über die anzutreiben. Der Oberrhein sollte zwischen punkt vehement in der Öffentlichkeit. Wäh Nachteile und Gefahren der Nuklearenergie Mannheim und Basel industrialisiert wer rend viele Wyhler auf eine Verbesserung zu informieren und zur politischen Mitar- den, das Rheintal eine deutsch-französische ihrer Existenz hofften, fürchteten viele Fi- beit zu veranlassen (M 3, M 4). und in die EWG eingebundene Wirtschafts scher, Obst- und Tabakbauern und v. a. Die zunächst ungeschickten und autori achse bilden. Winzer des Kaiserstuhls um ihre wirtschaft tär wirkenden politischen Reaktionen der Rückt nämlich die EWG noch näher zusam- liche Existenz, aber auch um ihre Heimat Landesregierung stellen weitere wichtige men […] so wird das Rheintal zwischen (Engels 2003). Die Winzer des Kaiserstuhls Faktoren dar, um die breite Mobilisierung und Frankfurt und Basel die Wirtschaftsachse über- hatten mit Unterstützung der Landesre- den Erfolg der Protestbewegung zu erklären. haupt werden. Ob dann noch Platz für den gierung massiv in die sogenannten Rebum Die Bürgerinitiativen erwarteten durchaus, Umweltschutz ist, muss bezweifelt werden. legungen investiert. Weite Teile des Kaiser- dass sie die Experten des Badenwerks und Sachverständige Leute sind deshalb der An- stuhls waren terrassiert worden, um die der Landesregierung durch gute Argumente sicht, die Ebene soll für gewerbliche und Weinberge maschinentauglich zu machen. umstimmen könnten. Bei den öffentlichen industrielle Nutzung freigegeben werden, wäh- Die Winzer waren schon im Zuge der Dis Informationsveranstaltungen und Anhörun rend die Funktionen »Wohnen« und »Erho- kussion um den Breisacher Standort, nicht gen, die für die atomrechtlichen Geneh lung« usw. in der Vorbergzone und in den zuletzt durch Freiburger Umweltgruppen, migungsverfahren vorgeschrieben waren, Seitentälern des Rheintals angesiedelt werden darauf aufmerksam gemacht worden, dass brüskierte aber deren Vorgehen die Kritiker. sollten. (Staatsanzeiger Baden-Württem- der Bau des zu diesem Zeitpunkt welt- So ließ etwa der Vertreter der Landesregie berg 76 (1972), zitiert nach: Löser, S. 106) weit größten AKWs (mit 1.360 Megawatt) rung bei der Veranstaltung in Wyhl im Juli Ursprünglich war der Standort des pro- eine erhebliche Bedrohung für den Weinbau 1974 die Gegner des Vorhabens nicht zu Wort jektierten AKWs des Stromversorgers Baden- in der Region darstellte. Im Zentrum der kommen. Immer wieder wurde der Eindruck werk in der Nähe der Stadt Breisach geplant. Befürchtungen standen zunächst weniger erweckt, dass die Experten und Gutachter, Ab Sommer 1972 regte sich jedoch ein brei der Reaktor und die radioaktive Kontamina- die von den Befürwortern herangezogen ter Protest, kanalisiert durch verschiedene tion, sondern die Auswirkungen der bei- wurden, nicht gut vorbereitet waren und den den geplanten Kühltürme auf das Mikroklima Argumenten der Gegner oft nichts Adäqua- der Region. Die gewaltigen Mengen Wasser tes entgegensetzen konnten, was die Zuhö- dampf aus den 160 Meter hohen Kühl- renden weiter verunsicherte. So äußerte sich türmen mit ihren rund 80 Meter großen Öff- etwa ein Zeitzeuge (Gladitz, S. 39, Zitat 52): nungen würden die ohnehin hohe Luft Da ist das dümmste Vieh aufgewacht und feuchtigkeit massiv ansteigen lassen (zum hat sich gesagt: Halt, wir werden ja verdumm- Vergleich: Der Westturm des Freiburger beutelt. So führte man gegen den Einwand Münsters ist 116 Meter hoch). Die dadurch der Gegner, dass der Bau zu einer Verände- M 3 Flugblatt »Information. verstärkte Nebelbildung würde die für rung des Mikroklimas am Kaiserstuhl füh Warum weder in Wyhl, noch den Weinbau wichtige Sonneneinstrahlung ren würde, unzureichendes Datenmaterial in Breisach, ein Atomkraft- werk gebaut werden darf«, erheblich reduzieren. Schätzungen gingen an. Vor diesem Hintergrund wirkten auch Initiativgruppe Atomkraftwerk von etwa 120.000 Tonnen Wasser aus, die die Versicherungen des Ministerpräsidenten Wyhl e. V., April 1974. täglich durch den Normalbetrieb des AKWs Filbinger in einem Brief von Anfang Janu- Vorlage: Archiv Soziale Bewegungen an die Atmosphäre abgegeben würden, das ar 1975, der an die Wyhler Haushalte verteilt Freiburg, Dokument 18038 entspräche laut Rudzinski ungefähr der Men- wurde, nicht vertrauensbildend (M 5). Auch
70 Archivnachrichten 60 / 2020 Geschichte original die Versuche, den Protest als Aktion orts M4 fremder Radikaler darzustellen, führte – da offensichtlich unzutreffend – zu einer weiteren Skepsis gegenüber den Verlautba- rungen der Landesregierung. Ab 1976 verlagerten sich die Auseinan dersetzungen um das AKW Wyhl auf die juristische Ebene – es war der Beginn eines jahrelangen Rechtsstreits. Ein Höhepunkt war der zehntägige Freiburger Wyhl- Prozess im Januar 1977, bei dem 50 Pro- Gutachter und Kernenergiebetreiber sowie drei Kernenergiekritiker dem Gericht vor viel Publikum Rede und Antwort stan den. Anfang April 1977 hob das Gericht in Freiburg die Baugenehmigung für das AKW wegen fehlendem Berstschutz auf. 1982 hob der Verwaltungsgerichtshof Mannheim den Baustopp auf, 30.000 Menschen de monstrierten gegen diesen Entscheid. 1983 verkündete Baden-Württembergs Minister präsident Lothar Späth dann überraschend, dass das AKW Wyhl vor 1993 nicht benö- tigt würde und legte das Projekt damit auf Eis, 1994 wurde es offiziell eingestellt. Politische Kommunikation Der kurzfristige und langfristige Erfolg des Widerstands gegen das AKW in Wyhl ist verschiedenen Faktoren zuzuschreiben. Von zentraler Bedeutung ist die soziale Vielfalt der Protestbewegung. In den zu- nächst 21, dann rund 50 ländlichen und städtischen Bürgerinitiativen, die sich zu sammenschlossen und in verschiedenen ge meinsamen Erklärungen an die Öffentlich- keit traten, lassen sich drei Gruppen von Aktiven unterscheiden (nach Löser): 1. die Bauern und Winzer, sowie Handwer ker der Region: Sie wendeten sich zunächst v. a. gegen den Standort eines AKWs am Kaiserstuhl, da sie wegen des Kühlturm- nebels und der Industrieansiedlung um ihre berufliche Existenz fürchteten. Auffal- lend ist hierbei das große Engagement von Frauen. Zentral ist weiter der Gedanke, im M 4 Flugblatt »Klimaveränderung durch Kühlturmfahnen am Kampf gegen das geplante Großprojekt die Partizipation und die Forderung nach mehr Kaiserstuhl« von Bürgerinitia- Heimat zu verteidigen. Demokratie. Verschiedene K-Gruppen der tive Weisweil, ohne Datum. 2. die Bürgerlichen (Ärzte, Apotheker, Freiburger Universität zielten auch auf grund- Vorlage: Archiv Soziale Bewegungen Lehrer, Pfarrer, Wissenschaftler etc.) legende gesellschaftliche Veränderungen, Freiburg, Dokument 3586 und Arbeiter: Sie verstanden sich v. a. als fanden dafür aber keine breite Akzeptanz. Umwelt- und Naturschützer. Sie warnten Als bemerkenswert erachtet Löser, dass M 5 Schreiben des Ministerpräsi- denten Dr. Hans Filbinger grundsätzlich vor den Gefahren der Atom aufgrund eines gemeinsamen Lernprozesses an die Wyler Bürger vom kraft und wollten die Landschaft am Kaiser trotz verbleibender Unterschiede und Dif 9. Januar 1975. stuhl und am Oberrhein erhalten. ferenzen eine weitgehende Aktionseinheit Vorlage: Archiv Soziale Bewegungen 3. die Jüngeren (meist Studierende, Schü- von Land und Teilen der Stadtbevölkerung Freiburg, Dokument 3066 und lerinnen und Schüler, Lehrlinge etc.): erreicht worden sei. Die Bedeutung, die in 3067 Sie waren oft eher links eingestellt. Umwelt nerhalb der Bewegung dem guten Argument schutz spielte für sie durchaus eine Rolle, und der seriösen Information zugeschrieben aber bestimmend war die Frage politischer wurde, war groß.
Archivnachrichten 60 / 2020 71 Geschichte original M5
72 Archivnachrichten 60 / 2020 Geschichte original M 6 Foto: Demonstration gegen das KKW Wyhl in Weisweil von Leo Horlacher, 26. Januar 1975. Vorlage: Archiv Soziale Bewegungen Freiburg, Dokument 17610 M6 Chronologie Folgende Strategien der AKW-Gegner lassen Der erfolgreiche Widerstand gegen das AKW sich feststellen: A. Großes Augenmerk wur- am Kaiserstuhl war prägend für die Ent- 25. August 1974 de auf die Beschaffung und Verbreitung von wicklung der Antiatomkraftbewegung, zu- Gründung des Internationalen Komitees der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen Informationen gelegt. Die Bandbreite der mindest in der Bundesrepublik, wenn nicht Erklärung der 21 Bürgerinitiativen an die Be- gewählten Medien / Kommunikationswege global. Das Bekenntnis zu Gewaltfreiheit, völkerung war groß, sie reichte von Flugblättern bis das in Südbaden weitgehend umgesetzt hin zu Büchern, von Infoständen bis hin zu wurde, wirkte aber nicht weiter: In der zwei- 18. Februar 1975 Vorträgen und Podiumsdiskussionen. Beson- ten Hälfte der 1970er Jahre erschienen bür Erste Bauplatzbesetzung ders hervorzuheben ist die Entwicklung ei- gerkriegsähnliche Bilder von den Auseinan- gener oder nahestehender Publikationswege: dersetzungen in Gorleben und Brokdorf 20. Februar 1975 — Der Umweltbote: ein Infoblatt der Bürger auf den Bildschirmen der Republik. Weiter Gewaltsame Räumung des Bauplatzes durch initiativen, das über 18 Jahre hinweg ver kamen jedoch aus der Auseinandersetzung die Polizei teilt wurde um Wyhl Anstöße für eine wissenschaft Festnahme von 54 Besetzern — Was wir wollen: eine von eigenen Akti- liche, technische und politische Diskussion 23. Februar 1975 ven hervorgebrachte Zeitung zur Entwicklung alternativer Energiefor Zweite Bauplatzbesetzung —Radio Verte Fessenheim, aus dem später men. Ein Beispiel hierfür wäre das Öko-In Ca. 1.000 Menschen bleiben auf dem Platz, das Radio Dreyeckland hervorging stitut in Freiburg (seit 1977), das sich zur bauen Barrikaden und Hütten / Zelte — Volkshochschule Wyhler Wald: Sie war Aufgabe macht, wissenschaftliche Gutach aktiv von 1975 bis 1988 mit 80 Vierwochen ten zu ökologischen Fragen zu erstellen. März 1975 programmen und 600 Veranstaltungen. Verwaltungsgericht Freiburg bewirkt einen Dieses wandernde Kommunikations-, Infor vorläufigen Baustopp und verfügt, dass das AKW nur mit einem »Berstschutz« gebaut mations- und Kulturzentrum der Bürger- werden dürfe initiativen bot eine Viel-zahl von Themen an: von der kritischen Auseinandersetzung Januar 1976 mit der Atomkraft bis hin zur Erörterung Offenburger Vereinbarung: Den Bauplatz- von alternativen Energieformen, von der besetzern von Wyhl, die als Vorleistung zuvor den Bauplatz geräumt hatten, wurde zugesi- Verhandlung von Umweltproblemen bis hin chert, dass Strafanträge gegen sie zurückge- zu Liederabenden. nommen und weitere Gutachten zur Klimaver- Weiter zu nennen sind: B. Demonstra- träglichkeit beauftragt werden. tionen und Kundgebungen z. B. Protest- 1982 fahrten von Traktoren oder Fischerkähnen; Aufhebung des Baustopps durch den Verwal- C. Unterschriftensammlungen; D. gewalt- tungsgerichtshof Mannheim freie direkte Aktionen wie Bauplatzbesetzung sowie Sitz- und Straßenblockaden; E. juris 1983 tische Maßnahmen wie Sammel- und Ein Erklärung der Landesregierung, dass auf- zelklagen; F. politische Wahlempfehlungen, grund veränderter Prognose momentan kein Bedarf für den Bau eines AKW in Wyhl mit denen man Einfluss auf die Zusammen- bestehe. setzung der regionalen Gemeinderäte zu gewinnen suchte.
Archivnachrichten 60 / 2020 73 Geschichte original Didaktische Analyse (1982). Eine narrative Verdichtung bietet der Die Behandlung des Protests gegen den ge- 2019 erschienene Roman Kalter Nebel. planten Bau eines AKWs in Wyhl lässt sich Widerstand am Kaiserstuhl von Julia Heinecke. sowohl in der Mittelstufe wie auch in der Oberstufe mit Bezug auf den Bildungs- Literatur plan 2016 rechtfertigen. Für die Mittel- Franz-Josef Brüggemeier: stufe sieht der Bildungsplan vor, dass die Schranken der Natur. Essen 2014. Schülerinnen und Schüler die Kompe- tenz erwerben sollen, Liberalisierungspro- Jens Ivo Engels: Geschichte und Heimat: zesse und Emanzipationsbewegungen der Widerstand gegen das Kernkraftwerk in der BRD und weltweit in den 1960er- und Wyhl. In: Wahrnehmung, Bewusstsein, Iden- 1970er-Jahren (zu) charakterisieren und bewer- tifikation: Umweltprobleme und Umwelt ten, für die Oberstufe gilt es, Aufbruchsver- schutz als Triebfedern regionaler Entwick suche in West und Ost zu mehr Bürgerbeteili- lung. Hg. von Kerstin Kretschmer. gung (zu) erläutern. Als Beispiel werden hier Freiberg 2003. S. 103–130. Neue Soziale Bewegungen genannt, für die die Wyhler-Bewegung als Prototyp exem- Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv: plarisch ist. Weiter lassen sich in vielfältiger Wyhl, Bauern erzählen; warum Kernkraft- Weise auch Bezüge zu der fächerübergrei- werke schädlich sind; wie man eine Bürger fenden Leitperspektive Bildung für nachhal- initiative macht; und wie man sich da- tige Entwicklung herstellen, zumal es laut bei verändert. Hg. von Nina Gladitz. Joachim Radkau nötig ist, der ökologischen Berlin 1976. Bewegung und damit auch dem jüngsten ökologischen Engagement der Jugendlichen Georg Löser: Grenzüberschreitende Koopera- historische Tiefenschärfe zu verleihen. Bei tion am Oberrhein. Die Badisch-Elsässi den prozessbezogenen Kompetenzen liegt schen Bürgerinitiativen. In: Deutsche und ein Fokus auf der Reflexionskompetenz. Franzosen im zusammenwachsenden Für die Gestaltung eines problemorien Europa 1945–2000. Hg. von Kurt Hochstuhl. tierten Geschichtsunterrichts bieten sich Stuttgart 2003. S. 105–156. unterschiedliche Möglichkeiten: Das Foto (M 6) kann gut als Einstieg benutzt wer- Mathias Mutz: Die Volkshochschul’ fuer un- den, da es gleichermaßen Vorwissen aktiviert ser Volksgewuhl. Zur Bedeutung der Volks und Fragen provoziert. Angesichts der unter hochschule Wyhler Wald für den Widerstand schiedlichen Akteure bietet es sich an, gegen das Kernkraftwerk Wyhl. die Lerngruppen Rollenkarten erarbeiten In: Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsver und eine Podiumsdiskussion durchfüh- eins Schau-ins-Land 124 (2005) S. 203–220. ren zu lassen. Weiterführendes Material findet sich be- Nai hanmer g’sait. Kein Atomkraftwerk in quem auf der CD-ROM des Archivs für So- Wyhl und anderswo. Hg. vom Archiv Soziale ziale Bewegungen Freiburg und auf der Zeit- Bewegungen (Materialien zur Protestge reise, die über die Homepage des Öko- schichte). Freiburg 2005 (CD-ROM). Instituts Freiburg zugänglich ist. Gibt man auf der Recherche-Seite der Universitäts- Joachim Radkau: Eine kleine Geschichte der bibliothek Freiburg Wyhl und mp3 an, so deutschen Atomkraftbewegung. In: APUZ erhält man Tondokumente aus der Zeit der 46–47 (2011) S. 7–15. Bauplatzbesetzung. Die unten angeführ- ten Aufsätze finden sich auch im Netz. Di- Frank Uekötter: Deutschland in Grün. Eine daktisch verwendbar ist weiter die SWR2 zwiespältige Erfolgsgeschichte. Göttingen Wissen-Sendung Wyhl – Geburtsort der Anti- 2015. atomkraftbewegung (2015), die im Inter- net verfügbar ist (Stand: 01.03.2020). Auf YouTube findet sich weiter ein Trailer zu ±Götz Distelrath S’Weschpe-Näscht – Die Chronik von Wyhl – ein Film der Medienwerkstatt Freiburg Götz Distelrath ist Gymnasiallehrer in Müllheim.
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