Geschichte original Quellen für den Unterricht

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Geschichte original Quellen für den Unterricht
±                    Geschichte original
                     Quellen für den Unterricht

»Wenn ein Kernkraftwerk
schlechtes Wetter macht«
Klimaschutz als Argument in
der Auseinandersetzung
um das geplante AKW in Wyhl

Zu Beginn der 1970er Jahre veränderte sich       Rande des Kaiserstuhls ein Fanal für die Anti-     der Kraftwerkskühlung zusammen. Ein Gut-
weltweit, aber insbesondere in der Bun-          atomkraftbewegung der alten Bundesrepu-            achten, das die »lnitiativgruppe Atomkraftwerk
desrepublik die Wahrnehmung von Natur und        blik (Uekötter, S. 128). Das Motto Nai hämmer      Wyhl e. V.« anfertigen ließ, untersucht diese
Umweltschutz. Genau genommen nahmen              gsait! Kein Atomkraftwerk in Wyhl und anders-      Fragen überaus gründlich und speziell auf den
die Begriffe Umwelt bzw. Umweltschutz erst       wo (M 1) verdeutlicht, dass ein zunächst           Standort und dessen besondere Wetterver-
jetzt die Bedeutung an, die wir heute ken-       lokal begrenztes Problem den Protest gegen         hältnisse bezogen. Genaue Wetterbeobachtun-
nen. Schon in den Jahren zuvor hatte es ei-      Atomkraft befeuerte und zu einem grund­            gen gibt es dort erst seit Ende des vorigen
ne Verschiebung gegeben: Die vormals dis-        sätzlichen Anliegen machte. Dieses erreich­        Jahres. Um wirklich verläßliche Aussagen über
kutierten Verschuldungsprobleme waren stets      te zudem durch eine rege Medienbericht­            den lokalen Witterungscharakter machen zu
lokal begrenzt gewesen, man hatte sie zumeist    erstattung breite Aufmerksamkeit in der            können, braucht man aber mindestens drei-
sinnlich wahrnehmen können, und der zeit-        bundesrepublikanischen Öffentlichkeit.             bis fünfjährige Beobachtungsreihen. So muß
liche Rahmen, in dem Schädigungen eintra-            Unter dem Titel Wenn ein Kernkraftwerk         man vor allem auf die langfristigen Wetter-
ten, war überschaubar. Die neuen Gefahren        schlechtes Wetter macht warf der Wissen­           daten von Stationen in der näheren Umgebung
waren hingegen geographisch, zeitlich und sen-   schaftsjournalist Kurt Rudzinski am 5. Okto-       zurückgreifen. Sie aber zeigen eindeutig, daß
sorisch entgrenzt. Was bislang primär ein        ber 1974 die Frage auf, warum gegen den von        gerade das Gebiet nördlich des Kaiserstuhls
Problem einzelner Regionen […] gewesen war,      der Landesregierung als Zukunftsprojekt pro-       ein Kältebecken ist, das sich gegenüber diesem
erschien nun als eine fundamentale Heraus-       pagierten Bau eines AKWs in Wyhl nicht nur         selbst und den Randgebieten der Oberrhein-
forderung, der jeder Bewohner der westlichen     oberrheinische Bauern und Winzer protes-           ebene durch niedrige Durchschnittstempera-
Welt ausgesetzt war. (Uekötter, S. 108f.)        tierten (M 2). Das Augenmerk legte er hier-        turen, höhere Luftfeuchtigkeit, mehr Nebeltage
    In der Bundesrepublik stellte die Atom­      bei nicht auf die einschneidenden Verände-         und längere Nebeldauer besonders in den
kraft den ökologischen Streitfall schlecht-      rungen der Landschaft, nicht auf die Gefah-        Herbst- und Wintermonaten auszeichnet. Die
hin dar, der die Umweltbewegung tief präg­       ren der Radioaktivität, nicht auf grundsätz-       Nebel in den Rheinauen lösen sich am Vor-
te. Frank Uekötter betont in seinem Über-        liche Fragen politischer Partizipation, son-       mittag später auf, und sie fallen früher wieder
blick über die Entwicklung des Natur- und        dern auf das Wetter, genauer auf die zu erwar-     nieder als in der Umgebung. Das Ergebnis ist
Umweltschutzes in Deutschland das Über-          tende Veränderung des Mikroklimas durch            ein erhebliches Sonnendefizit, und das vor allem
raschende dieses Konflikts, denn in den          den alltäglichen, regulären Betrieb des AKWs:      im September und Oktober, in der Zeit, in der
1960er Jahren hätten sich all diejenigen, die        Ganz anders sieht es mit der Wetterver-        Obst und Wein ihre volle Reife erhalten sollen.
sich für einigermaßen fortschrittlich hiel-      schlechterung aus. Sie ist mit hoher Wahrschein-
ten, für das friedliche Atom ausgesprochen.      lichkeit zu erwarten, auch wenn das offizielle
Gab es auch zuvor vereinzelte Proteste           meteorologische Gutachten speziell auf das
gegen den Bau von Atomkraftwerken, so wur-       Hauptrisiko, die Verschlechterung durch Nebel-
de der Kampf gegen ein Atomkraftwerk am          bildung, nicht ernsthaft eingeht. Sie hängt mit
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                          M1   Plakat: »Nai hämmer gsait!
                               Kein Atomkraftwerk in Wyhl
                               und anderswo«, Badisch-El-
                               sässische Bürgerinitiativen,
                               entworfen von Hubert Hoff-
                               mann, 1975.
                               Vorlage:
                               Archiv Soziale Bewegungen
                               Freiburg, Dokument 7218

                          M 2 Artikel »Wenn ein Kern-
                              kraftwerk schlechtes Wetter
                              macht« von Kurt Rudzinski,
                              Frankfurter Allgemeine Zei-
                              tung vom 5. Oktober 1974.
                               Vorlage:
                               Archiv Soziale Bewegungen
     M1                        Freiburg, Dokument 1392

M2
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     Geschichte original

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Im Folgenden soll ein knapper Überblick           Bürgerinitiativen, der schließlich dazu          ge, die der halbe Bodensee abgibt (siehe
über die Geschichte des erfolgreichen             führte, dass Landesregierung und Baden­          auch M 2).
Widerstands gegen den Bau des Atomkraft­          werk nach Alternativen suchten. Spätestens          Bei der Organisation des Widerstands
werks am nördlichen Rand des Kaiser-              im Juli 1973 wurde bekannt, dass mit dem         konnten die Bürgerinitiativen auf Erfahrun-
stuhls gegeben werden. Ein Schwerpunkt            Rheinauewald bei Wyhl ein neuer Standort         gen des erfolgreichen Protests gegen das
soll hierbei in Hinblick auf die Behandlung       gefunden wurde. Der Anstoß für diese Ent­        Vorhaben in Breisach zurückgreifen, aber
im Unterricht auf die Organisation politi­        scheidung war aus kommunaler Initiative          auch andere Protestaktionen am Ober­
scher Kommunikation gelegt werden, da –           erfolgt: Der Wyhler Bürgermeister Zimmer         rhein, wie gegen die AKWs in Kaiseraugst
wie auch im obigen Zitat deutlich wird – der      war während der Auseinandersetzung um            (Schweiz) oder Fessenheim (Frankreich)
Kraft des Arguments bzw. von gut recher­          Breisach aktiv geworden, um seine struktur­      oder gegen ein Bleichemiewerk im elsässi-
chierten Informationen große Bedeutung            schwache Gemeinde in Stuttgart ins Spiel         schen Marckolsheim. Die transnationale
bei der Mobilisation lokaler, regionaler und      zu bringen.                                      Zusammenarbeit der Bürgerinitiativen, wie
überregionaler Unterstützer zukommt.                  Der Protest regte und organisierte sich      sie auch in dem Internationalen Komitee
                                                  sofort, v. a. bei den Nachbargemeinden           der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen
Ablauf des Protests                               Wyhls, die sich später sogar an den juristi­     ihren organisatorischen Ausdruck gefunden
Die Landesregierung Baden-Württembergs            schen Klagen gegen das Kraftwerk betei-          hat, ist von zentraler Bedeutung, nicht nur
hatte in Verbindung mit der französischen         ligten. In Wyhl selbst stieß das Kraftwerk al-   für das Selbstverständnis der damaligen
Regierung und der Bundesregierung Großes          lerdings keineswegs auf einhellige Ableh­        Akteure. Engels betont (S. 111), dass die Stra-
am Oberrhein vor. Die Kernenergie sol-            nung, da man auf Arbeitsplätze und eine Ver-     tegie darin bestanden habe, das Problem
lte die Möglichkeit bieten, die wirtschaftliche   besserung der Struktur (Hallenbad, Vereins-      zu einem allgemein diskutierten Thema zu
Zukunft des Bundeslandes, das nicht über          heime, Straßen) hoffte. Die Befürworter orga-    machen. Ziel war es, die Bürgerinnen und
eigene Kohlevorkommen verfügte, vor-              nisierten sich und vertraten ihren Stand­        Bürger im Umkreis des Kaiserstuhls über die
anzutreiben. Der Oberrhein sollte zwischen        punkt vehement in der Öffentlichkeit. Wäh­       Nachteile und Gefahren der Nuklearenergie
Mannheim und Basel industrialisiert wer­          rend viele Wyhler auf eine Verbesserung          zu informieren und zur politischen Mitar-
den, das Rheintal eine deutsch-französische       ihrer Existenz hofften, fürchteten viele Fi-     beit zu veranlassen (M 3, M 4).
und in die EWG eingebundene Wirtschafts­          scher, Obst- und Tabakbauern und v. a.              Die zunächst ungeschickten und autori­
achse bilden.                                     Winzer des Kaiserstuhls um ihre wirtschaft­      tär wirkenden politischen Reaktionen der
    Rückt nämlich die EWG noch näher zusam-       liche Existenz, aber auch um ihre Heimat         Landesregierung stellen weitere wichtige
men […] so wird das Rheintal zwischen             (Engels 2003). Die Winzer des Kaiserstuhls       Faktoren dar, um die breite Mobilisierung und
Frankfurt und Basel die Wirtschaftsachse über-    hatten mit Unterstützung der Landesre-           den Erfolg der Protestbewegung zu erklären.
haupt werden. Ob dann noch Platz für den          gierung massiv in die sogenannten Rebum­         Die Bürgerinitiativen erwarteten durchaus,
Umweltschutz ist, muss bezweifelt werden.         legungen investiert. Weite Teile des Kaiser-     dass sie die Experten des Badenwerks und
Sachverständige Leute sind deshalb der An-        stuhls waren terrassiert worden, um die          der Landesregierung durch gute Argumente
sicht, die Ebene soll für gewerbliche und         Weinberge maschinentauglich zu machen.           umstimmen könnten. Bei den öffentlichen
industrielle Nutzung freigegeben werden, wäh-     Die Winzer waren schon im Zuge der Dis­          Informationsveranstaltungen und Anhörun­
rend die Funktionen »Wohnen« und »Erho-           kussion um den Breisacher Standort, nicht        gen, die für die atomrechtlichen Geneh­
lung« usw. in der Vorbergzone und in den          zuletzt durch Freiburger Umweltgruppen,          migungsverfahren vorgeschrieben waren,
Seitentälern des Rheintals angesiedelt werden     darauf aufmerksam gemacht worden, dass           brüskierte aber deren Vorgehen die Kritiker.
sollten. (Staatsanzeiger Baden-Württem-           der Bau des zu diesem Zeitpunkt welt-            So ließ etwa der Vertreter der Landesregie­
berg 76 (1972), zitiert nach: Löser, S. 106)      weit größten AKWs (mit 1.360 Megawatt)           rung bei der Veranstaltung in Wyhl im Juli
    Ursprünglich war der Standort des pro-        eine erhebliche Bedrohung für den Weinbau        1974 die Gegner des Vorhabens nicht zu Wort
jektierten AKWs des Stromversorgers Baden-        in der Region darstellte. Im Zentrum der         kommen. Immer wieder wurde der Eindruck
werk in der Nähe der Stadt Breisach geplant.      Befürchtungen standen zunächst weniger           erweckt, dass die Experten und Gutachter,
Ab Sommer 1972 regte sich jedoch ein brei­        der Reaktor und die radioaktive Kontamina-       die von den Befürwortern herangezogen
ter Protest, kanalisiert durch verschiedene       tion, sondern die Auswirkungen der bei-          wurden, nicht gut vorbereitet waren und den
                                                  den geplanten Kühltürme auf das Mikroklima       Argumenten der Gegner oft nichts Adäqua-
                                                  der Region. Die gewaltigen Mengen Wasser­        tes entgegensetzen konnten, was die Zuhö-
                                                  dampf aus den 160 Meter hohen Kühl-              renden weiter verunsicherte. So äußerte sich
                                                  türmen mit ihren rund 80 Meter großen Öff-       etwa ein Zeitzeuge (Gladitz, S. 39, Zitat 52):
                                                  nungen würden die ohnehin hohe Luft­             Da ist das dümmste Vieh aufgewacht und
                                                  feuchtigkeit massiv ansteigen lassen (zum        hat sich gesagt: Halt, wir werden ja verdumm-
                                                  Vergleich: Der Westturm des Freiburger           beutelt. So führte man gegen den Einwand
                                                  Münsters ist 116 Meter hoch). Die dadurch        der Gegner, dass der Bau zu einer Verände-
M 3 Flugblatt »Information.                       verstärkte Nebelbildung würde die für            rung des Mikroklimas am Kaiserstuhl füh­
    Warum weder in Wyhl, noch                     den Weinbau wichtige Sonneneinstrahlung          ren würde, unzureichendes Datenmaterial
    in Breisach, ein Atomkraft-
    werk gebaut werden darf«,                     erheblich reduzieren. Schätzungen gingen         an. Vor diesem Hintergrund wirkten auch
    Initiativgruppe Atomkraftwerk                 von etwa 120.000 Tonnen Wasser aus, die          die Versicherungen des Ministerpräsidenten
    Wyhl e. V., April 1974.
                                                  täglich durch den Normalbetrieb des AKWs         Filbinger in einem Brief von Anfang Janu-
    Vorlage:
    Archiv Soziale Bewegungen                     an die Atmosphäre abgegeben würden, das          ar 1975, der an die Wyhler Haushalte verteilt
    Freiburg, Dokument 18038                      entspräche laut Rudzinski ungefähr der Men-      wurde, nicht vertrauensbildend (M 5). Auch
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                      Geschichte original

die Versuche, den Protest als Aktion orts­               M4
fremder Radikaler darzustellen, führte – da
offensichtlich unzutreffend – zu einer
weiteren Skepsis gegenüber den Verlautba-
rungen der Landesregierung.
   Ab 1976 verlagerten sich die Auseinan­
dersetzungen um das AKW Wyhl auf die
juristische Ebene – es war der Beginn eines
jahrelangen Rechtsstreits. Ein Höhepunkt
war der zehntägige Freiburger Wyhl-
Prozess im Januar 1977, bei dem 50 Pro-
Gutachter und Kernenergiebetreiber sowie
drei Kernenergiekritiker dem Gericht
vor viel Publikum Rede und Antwort stan­
den. Anfang April 1977 hob das Gericht
in Freiburg die Baugenehmigung für das AKW
wegen fehlendem Berstschutz auf. 1982
hob der Verwaltungsgerichtshof Mannheim
den Baustopp auf, 30.000 Menschen de­
monstrierten gegen diesen Entscheid. 1983
verkündete Baden-Württembergs Minister­
präsident Lothar Späth dann überraschend,
dass das AKW Wyhl vor 1993 nicht benö-
tigt würde und legte das Projekt damit auf
Eis, 1994 wurde es offiziell eingestellt.

Politische Kommunikation
Der kurzfristige und langfristige Erfolg des
Widerstands gegen das AKW in Wyhl
ist verschiedenen Faktoren zuzuschreiben.
    Von zentraler Bedeutung ist die soziale
Vielfalt der Protestbewegung. In den zu-
nächst 21, dann rund 50 ländlichen und
städtischen Bürgerinitiativen, die sich zu­
sammenschlossen und in verschiedenen ge­
meinsamen Erklärungen an die Öffentlich-
keit traten, lassen sich drei Gruppen von
Aktiven unterscheiden (nach Löser):
1. die Bauern und Winzer, sowie Handwer­
ker der Region: Sie wendeten sich zunächst
v. a. gegen den Standort eines AKWs am
Kaiserstuhl, da sie wegen des Kühlturm-
nebels und der Industrieansiedlung um ihre
berufliche Existenz fürchteten. Auffal-
lend ist hierbei das große Engagement von
Frauen. Zentral ist weiter der Gedanke, im                                                           M 4 Flugblatt »Klimaveränderung
                                                                                                         durch Kühlturmfahnen am
Kampf gegen das geplante Großprojekt die            Partizipation und die Forderung nach mehr            Kaiserstuhl« von Bürgerinitia-
Heimat zu verteidigen.                              Demokratie. Verschiedene K-Gruppen der               tive Weisweil, ohne Datum.
2. die Bürgerlichen (Ärzte, Apotheker,              Freiburger Universität zielten auch auf grund-        Vorlage:
                                                                                                          Archiv Soziale Bewegungen
Lehrer, Pfarrer, Wissenschaftler etc.)              legende gesellschaftliche Veränderungen,              Freiburg, Dokument 3586
und Arbeiter: Sie verstanden sich v. a. als         fanden dafür aber keine breite Akzeptanz.
Umwelt- und Naturschützer. Sie warnten                 Als bemerkenswert erachtet Löser, dass        M 5 Schreiben des Ministerpräsi-
                                                                                                         denten Dr. Hans Filbinger
grundsätzlich vor den Gefahren der Atom­            aufgrund eines gemeinsamen Lernprozesses             an die Wyler Bürger vom
kraft und wollten die Landschaft am Kaiser­         trotz verbleibender Unterschiede und Dif­            9. Januar 1975.
stuhl und am Oberrhein erhalten.                    ferenzen eine weitgehende Aktionseinheit              Vorlage:
                                                                                                          Archiv Soziale Bewegungen
3. die Jüngeren (meist Studierende, Schü-           von Land und Teilen der Stadtbevölkerung              Freiburg, Dokument 3066 und
lerinnen und Schüler, Lehrlinge etc.):              erreicht worden sei. Die Bedeutung, die in­           3067
Sie waren oft eher links eingestellt. Umwelt­       nerhalb der Bewegung dem guten Argument
schutz spielte für sie durchaus eine Rolle,         und der seriösen Information zugeschrieben
aber bestimmend war die Frage politischer           wurde, war groß.
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     Geschichte original

M5
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                                                                                                                  M 6 Foto: Demonstration gegen
                                                                                                                      das KKW Wyhl in Weisweil von
                                                                                                                      Leo Horlacher,
                                                                                                                      26. Januar 1975.
                                                                                                                       Vorlage:
                                                                                                                       Archiv Soziale Bewegungen
                                                                                                                       Freiburg, Dokument 17610

M6

Chronologie                                            Folgende Strategien der AKW-Gegner lassen      Der erfolgreiche Widerstand gegen das AKW
                                                       sich feststellen: A. Großes Augenmerk wur-     am Kaiserstuhl war prägend für die Ent-
25. August 1974
                                                       de auf die Beschaffung und Verbreitung von     wicklung der Antiatomkraftbewegung, zu-
Gründung des Internationalen Komitees der
Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen                 Informationen gelegt. Die Bandbreite der       mindest in der Bundesrepublik, wenn nicht
Erklärung der 21 Bürgerinitiativen an die Be-          gewählten Medien / Kommunikationswege          global. Das Bekenntnis zu Gewaltfreiheit,
völkerung                                              war groß, sie reichte von Flugblättern bis     das in Südbaden weitgehend umgesetzt
                                                       hin zu Büchern, von Infoständen bis hin zu     wurde, wirkte aber nicht weiter: In der zwei-
18. Februar 1975                                       Vorträgen und Podiumsdiskussionen. Beson-      ten Hälfte der 1970er Jahre erschienen bür­
Erste Bauplatzbesetzung                                ders hervorzuheben ist die Entwicklung ei-     gerkriegsähnliche Bilder von den Auseinan-
                                                       gener oder nahestehender Publikationswege:     dersetzungen in Gorleben und Brokdorf
20. Februar 1975                                       — Der Umweltbote: ein Infoblatt der Bürger­    auf den Bildschirmen der Republik. Weiter
Gewaltsame Räumung des Bauplatzes durch                initiativen, das über 18 Jahre hinweg ver­     kamen jedoch aus der Auseinandersetzung
die Polizei
                                                       teilt wurde                                    um Wyhl Anstöße für eine wissenschaft­
Festnahme von 54 Besetzern
                                                       — Was wir wollen: eine von eigenen Akti-       liche, technische und politische Diskussion
23. Februar 1975
                                                       ven hervorgebrachte Zeitung                    zur Entwicklung alternativer Energiefor­
Zweite Bauplatzbesetzung                               —Radio Verte Fessenheim, aus dem später        men. Ein Beispiel hierfür wäre das Öko-In­
Ca. 1.000 Menschen bleiben auf dem Platz,              das Radio Dreyeckland hervorging               stitut in Freiburg (seit 1977), das sich zur
bauen Barrikaden und Hütten / Zelte                    — Volkshochschule Wyhler Wald: Sie war         Aufgabe macht, wissenschaftliche Gutach­
                                                       aktiv von 1975 bis 1988 mit 80 Vierwochen­     ten zu ökologischen Fragen zu erstellen.
März 1975                                              programmen und 600 Veranstaltungen.
Verwaltungsgericht Freiburg bewirkt einen              Dieses wandernde Kommunikations-, Infor­
vorläufigen Baustopp und verfügt, dass das
AKW nur mit einem »Berstschutz« gebaut                 mations- und Kulturzentrum der Bürger-
werden dürfe                                           initiativen bot eine Viel-zahl von Themen
                                                       an: von der kritischen Auseinandersetzung
Januar 1976                                            mit der Atomkraft bis hin zur Erörterung
Offenburger Vereinbarung: Den Bauplatz-                von alternativen Energieformen, von der
besetzern von Wyhl, die als Vorleistung zuvor
den Bauplatz geräumt hatten, wurde zugesi-             Verhandlung von Umweltproblemen bis hin
chert, dass Strafanträge gegen sie zurückge-           zu Liederabenden.
nommen und weitere Gutachten zur Klimaver-
                                                           Weiter zu nennen sind: B. Demonstra-
träglichkeit beauftragt werden.
                                                       tionen und Kundgebungen z. B. Protest-
1982
                                                       fahrten von Traktoren oder Fischerkähnen;
Aufhebung des Baustopps durch den Verwal-
                                                       C. Unterschriftensammlungen; D. gewalt-
tungsgerichtshof Mannheim                              freie direkte Aktionen wie Bauplatzbesetzung
                                                       sowie Sitz- und Straßenblockaden; E. juris­
1983                                                   tische Maßnahmen wie Sammel- und Ein­
Erklärung der Landesregierung, dass auf-               zelklagen; F. politische Wahlempfehlungen,
grund veränderter Prognose momentan
kein Bedarf für den Bau eines AKW in Wyhl
                                                       mit denen man Einfluss auf die Zusammen-
bestehe.                                               setzung der regionalen Gemeinderäte zu
                                                       gewinnen suchte.
Archivnachrichten 60 / 2020                        73
                                               Geschichte original

Didaktische Analyse                                (1982). Eine narrative Verdichtung bietet der
Die Behandlung des Protests gegen den ge-          2019 erschienene Roman Kalter Nebel.
planten Bau eines AKWs in Wyhl lässt sich          Widerstand am Kaiserstuhl von Julia Heinecke.
sowohl in der Mittelstufe wie auch in
der Oberstufe mit Bezug auf den Bildungs-          Literatur
plan 2016 rechtfertigen. Für die Mittel-           Franz-Josef Brüggemeier:
stufe sieht der Bildungsplan vor, dass die         Schranken der Natur. Essen 2014.
Schülerinnen und Schüler die Kompe-
tenz erwerben sollen, Liberalisierungspro-         Jens Ivo Engels: Geschichte und Heimat:
zesse und Emanzipationsbewegungen                  der Widerstand gegen das Kernkraftwerk
in der BRD und weltweit in den 1960er- und         Wyhl. In: Wahrnehmung, Bewusstsein, Iden-
1970er-Jahren (zu) charakterisieren und bewer-     tifikation: Umweltprobleme und Umwelt­
ten, für die Oberstufe gilt es, Aufbruchsver-      schutz als Triebfedern regionaler Entwick­
suche in West und Ost zu mehr Bürgerbeteili-       lung. Hg. von Kerstin Kretschmer.
gung (zu) erläutern. Als Beispiel werden hier      Freiberg 2003. S. 103–130.
Neue Soziale Bewegungen genannt, für die
die Wyhler-Bewegung als Prototyp exem-             Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv:
plarisch ist. Weiter lassen sich in vielfältiger   Wyhl, Bauern erzählen; warum Kernkraft-
Weise auch Bezüge zu der fächerübergrei-           werke schädlich sind; wie man eine Bürger­
fenden Leitperspektive Bildung für nachhal-        initiative macht; und wie man sich da-
tige Entwicklung herstellen, zumal es laut         bei verändert. Hg. von Nina Gladitz.
Joachim Radkau nötig ist, der ökologischen         Berlin 1976.
Bewegung und damit auch dem jüngsten
ökologischen Engagement der Jugendlichen           Georg Löser: Grenzüberschreitende Koopera-
historische Tiefenschärfe zu verleihen. Bei        tion am Oberrhein. Die Badisch-Elsässi­
den prozessbezogenen Kompetenzen liegt             schen Bürgerinitiativen. In: Deutsche und
ein Fokus auf der Reflexionskompetenz.             Franzosen im zusammenwachsenden
    Für die Gestaltung eines problemorien­         Europa 1945–2000. Hg. von Kurt Hochstuhl.
tierten Geschichtsunterrichts bieten sich          Stuttgart 2003. S. 105–156.
unterschiedliche Möglichkeiten: Das Foto
(M 6) kann gut als Einstieg benutzt wer-           Mathias Mutz: Die Volkshochschul’ fuer un-
den, da es gleichermaßen Vorwissen aktiviert       ser Volksgewuhl. Zur Bedeutung der Volks­
und Fragen provoziert. Angesichts der unter­       hochschule Wyhler Wald für den Widerstand
schiedlichen Akteure bietet es sich an,            gegen das Kernkraftwerk Wyhl.
die Lerngruppen Rollenkarten erarbeiten            In: Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsver­
und eine Podiumsdiskussion durchfüh-               eins Schau-ins-Land 124 (2005) S. 203–220.
ren zu lassen.
    Weiterführendes Material findet sich be-       Nai hanmer g’sait. Kein Atomkraftwerk in
quem auf der CD-ROM des Archivs für So-            Wyhl und anderswo. Hg. vom Archiv Soziale
ziale Bewegungen Freiburg und auf der Zeit-        Bewegungen (Materialien zur Protestge­
reise, die über die Homepage des Öko-              schichte). Freiburg 2005 (CD-ROM).
Instituts Freiburg zugänglich ist. Gibt man
auf der Recherche-Seite der Universitäts-          Joachim Radkau: Eine kleine Geschichte der
bibliothek Freiburg Wyhl und mp3 an, so            deutschen Atomkraftbewegung. In: APUZ
erhält man Tondokumente aus der Zeit der           46–47 (2011) S. 7–15.
Bauplatzbesetzung. Die unten angeführ-
ten Aufsätze finden sich auch im Netz. Di-         Frank Uekötter: Deutschland in Grün. Eine
daktisch verwendbar ist weiter die SWR2            zwiespältige Erfolgsgeschichte. Göttingen
Wissen-Sendung Wyhl – Geburtsort der Anti-         2015.
atomkraftbewegung (2015), die im Inter-
net verfügbar ist (Stand: 01.03.2020). Auf
YouTube findet sich weiter ein Trailer zu          ±Götz Distelrath
S’Weschpe-Näscht – Die Chronik von Wyhl
– ein Film der Medienwerkstatt Freiburg            Götz Distelrath ist Gymnasiallehrer in Müllheim.
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