GESCHICHTE UND GERECHTIGKEIT

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GESCHICHTE UND GERECHTIGKEIT
GESCHICHTE UND
GERECHTIGKEIT
Aleida Assmann, Jan Assmann, Oliver Rathkolb (Hg.)
Hannes Androsch • Aleida Assmann • Jan Assmann • Ursula
Baatz • Anton Badinger • Sander Bekesi • Steven Beller· Eva
Blimlinger • Johanna Borek • Gerhard Botz • Andrea Maria
Dusl • Josef Ehmer • Irmgard Eisenbach-Stangl • Alexander
Emanuely • Renee Gadsden • Ulrich Gansert • Roland Girtler •
Christa Hämmerie· Wolfgang Häusler· Bodo Hell· Cornelius
Hell· Roman Horak • Martina Kaller· Peter Kampits • Helmut
Konrad • Ulrich Körtner • Margareth Lanzinger • Konrad Paul
Liessmann • Klara Löffler· Kurt Luger· Gerhard MeißI • Christian
Mertens· Lorenz Mikoletzky • Peter Moeschl • Manfred Nowak •
Markus Oppenauer • Anton Pelinka • Martina Pippal • Manfred
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• Christoph Reinprecht • Markus Reisenleitner • Elisabeth von
Samsonow • Wolfgang Schmale· Michael Schmidt • Elisabeth
Schratten holzer • Andreas Schwarcz • Karl Sigmund • Robert
Sommer· Alfred Springer· Marianne Springer-Kremser· Friedrich
Stadler • Wolfgang Stangl • Anton Tantner • Heidemarie Uhl •
Eisbeth Wallnöfer • Andreas Weigl • Manfried Welan

                                                            LIT
GESCHICHTE UND GERECHTIGKEIT
Aleida Assmann,   Jan Assmann,   Oliver RathkoJb (Hg.)

Geschichte und Gerechtigkeit
        Festschrift für Hubert Christian Ehalt

                         LIT
GESCHICHTE UND GERECHTIGKEIT
ARSENESSER              UND GESCHICHTE
           ANMERKUNGEN         ZUR UNTERGEGANGENEN            KULTUR
                             EINER RANDGRUPPE

             Inngard EISENBACH-STANGL,           Wolfgang STANGL

 I. Arsen ist ein Mineral, das selten in reiner Form ("gediegen") vorkommt und in
eigenen Bergwerken abgebaut wird, häufig hingegen mit anderen Erzen "verge­
sellschaftet" vorgefunden wird, und bei deren Verhüttung, durch die Anwendung
eines Röstverfahrens, anfallt. Der Bergbau, der auf heutigem österreichischern
Staatsgebiet ab dem 14. Jahrhundert vorangetrieben wurde, verlor am Ende des
 19. Jahrhunderts seine Rentabilität - die Bergwerke schlossen, das letzte 1884.
Auch die nach dem Ersten Weltkrieg wieder aufgenommene Arsenproduktion
wurde aus ökonomischen Gründen im Jahr 1924 eingestellt, sowie die Arsenge­
winnung zwischen 1941 und 1944 in Tirol nach dem Krieg nicht weitergeführt
wurde (Bylow 1935: 108; Wonisch 1951; Allesch 1959: 280-281).
     Arsen hatte durch die industriell organisierte Massenproduktion im 19. Jahr­
hundert an Bedeutung gewonnen, da die Beimengung des Minerals zu zahlreichen
Gütern, wie etwa Glaswaren, Tapeten und Textilien deren Qualität verbesserte.
Folge war, dass viele Gebrauchsgüter wie z.B. Möbel oder auch Kinderspielzeug
arsenhaltig waren (Whorton 20 I 0). Ende des 19. Jahrhunderts häuften sich Hin­
weise auf gesundheitsschädigende      Wirkungen der Beimengungen und so wurde
die Verwendung von Arsen in der Güterproduktion beschränkt, allerdings nicht
verboten: Aktuell wird das Mineral bei der Herstellung von Batterien und elektro­
nischen Geräten verwendet.

2. Aus Arsen wurden Arsenik (auch: arsenige Säure, weißes Arsen, Hüttenrauch
oder Hittrach) und weitere toxische Präparate hergestellt, die seit Jahrtausenden
bei der Schädlingsbekämpfung wie in der Heilkunde eine wichtige Rolle spielten.
In der Heilkunde dienten sie bei der Bekämpfung von Fieber, Gewichtsverlust,
Migräne, Diabetes, Infektionskrankheiten, Malaria, Darmgeschwüren, Blutkrank­
heit und Syphilis, in medizinischen Spezialfachern   wie etwa der Gynäkologie
und der Augenheilkunde wurden sie auf breiterer Grundlage eingesetzt (Thera-

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Arsenesser    und Geschichte

 peutische Notiz 1892: 1820; Journal-Revue 1895: 2040-2041; Grabner/Gänser
 1987:77).
     Ebenso prominent waren Arsenik und verwandte toxische Präparate als Pesti­
zide, Herbizide und Insektizide und bei der Vernichtung von "Raubzeug", worun­
ter Krähen, Häher oder auch Wanderratten in der Jägersprache des 19. Jahrhun­
derts verstanden wurden, und auch von Ratten und Mäusen, die Lebensmittelvor­
räte bedrohten.
     Arsenik diente nicht nur der Kontrolle schädlicher Tiere, es kam auch in Tier­
zucht, Tierhandel und Veterinärmedizin zum Einsatz: Um die Leistungskraft von
Pferden zu erhöhen und um sie gegebenenfalls jünger und feuriger erscheinen zu
lassen, wurde es dem Pferdefutter beigemengt; Muskelentzündungen       von Pferden
wurden traditionell mit einer arsenhaItigen Salbe kuriert (Bibra 1855: 388; Ro­
segger 1914: 232; Grabner/ Gänser 1987: 77). Arsenik diente auch der Schweine­
mast und wird aktuell bei der Bekämpfung von Rotlauf bei Schweinen eingesetzt
(Schleich 1997: 120).

 3. Die Verwendung von Arsenik ist risikoreich, denn auch die Einnahme sehr ge­
 ringer Mengen des geruch- und geschmacklosen Stoffs kann bei Menschen rasch
den Tod herbeiführen. So fand das Gift bekanntlich auch als "Mord-Gift" seit
jeher Verwendung. Wiewohl das 19. Jahrhundert als .jhe arsen ic century" iden­
tifiziert wurde (Whorton 2010), ist nicht davon auszugehen, dass die - durch in­
tensivere wirtschaftliche Nutzung - gesteigerte Erhältlichkeit der Substanz im 19.
Jahrhundert in der absoluten oder auch nur relativen Steigerung von Arsenmor­
den zum Ausdruck kam. Das unauffällige Gift war für Mörder "schon immer"
attraktiv und für das Gros der Gift-Morde verantwortlich gewesen. Zudem konnte
die erleichterte Erhältlichkeit kaum ihre Wirkung entfalten, denn 1835 gelang es
erstmals, die Substanz im menschlichen Körper nachzuweisen.
      Die Geschichte der Arsenikmorde beschreibt die zweifellos prominentes­
te und an Beispielen reichste Rolle der Substanz, die alle Ausformungen und
Abgründe der menschlichen Seele berührt. Anklagen wegen Giftmord gehör­
ten zu den großen Kriminalthemen der Lokalzeitungen im 19. Jahrhundert und
Berichte über mordende Frauen und abgelegene Schauplätze steigerten das Le­
ser(i nnen)i nteresse.
      Arsenikmorde fanden zudem auch Eingang in die Belletristik, die sie subli­
mierte und die Öffentlichkeit mit zusätzlichen mythischen Figuren bereicherte.
Als berühmte Beispiele seien Päpste aus der Familie Borgia genannt, die um des
Erbes willen reiche Kardinäle vergifteten (Schmidbauer/vom Scheidt 1975:32);
des Weiteren die Schwestern Abby und Martha Brewster aus dem Lustspiel "Ar­
senic and old Lace", die die Leichen von zwölf Männern, die sie mit Arsenik
"erlösten", in ihrem Keller lagerten (Kesselring 1939); und schließlich die stei-

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Irmgard   EISENBACH-STANGL,   Wolfgang   STANGL

rische Bäuerin Agnes Karfreit. die sich von ihrer großen und bedrohten Mutter­
und Heimatliebe (von ihren drei Söhnen, die den Familienhof übernehmen kön­
nen, kommt 1945 nur der Jüngste zurück) in den Arsenmord treiben lässt (Wurm­
brand 1951). Schließlich ist auch Gustave Flaubert's 1857 erschienener Roman
"Madame Bovary" zu erwähnen, in dem die HeIdin ihrem Leben mit Arsen ein
Ende setzt (Flaubert). Im Lärmen der Geschichte der Arsenmorde und sensations­
prallen Historien über Giftmörder, Giftopfer und Zeugen lässt sich - wenn auch
mit Mühe - eine Figur auszumachen, durch die der Geschichte des Arsens eine
weitere Bedeutung hinzugefügt wird: Es sind dies die .Arsenesser'', wie sie die
Zeitgenossen nannten, jene, die Arsen gewohnheitsmäßig als Droge konsumier­
ten.
4. 1864 besuchten zwei britische Ärzte die Steiermark, um Arsenesser zu stu­
dieren, und sammelten gemeinsam mit steirischen Kollegen wertvolles Material
(Pregl 1928). Unklar bleibt, warum sie den gewohnheitsmäßigen Arsenkonsum
nicht in ihrer Heimat untersuchten, wo er durchaus gebräuchlich war. Da sich bei
Strafverfahren in UK wiederholt herausstellte, dass mutmaßliche Opfer - absicht­
lich oder durch Ungeschick -Gift zu sich genommen hatten, kam es wiederholt zu
Freisprüchen. Machten Verdächtige den Arsenkonsum der Opfer geltend, sprach
man von "styrian defense" (Whorton 2010:270).
     Das britische Bedürfnis, gewohnheitsmäßiges Arsenessen im Südosten Euro­
pas anzusiedeln, ist mit einer Sonderrolle der Steiermark in "Sachen Arsenessen"
insofern nicht unvereinbar, als' die in diesem österreichischen Kronland umfang­
reiche Arsenproduktion der Entwicklung der Kunst des Arsenessens förderlich
gewesen sein mag. Wenige Jahre nach der Reise der britischen Ärzte in die Stei­
ermark wurden in Graz jedenfalls zwei Arsen-Virtuosen der Öffentlichkeit prä­
sentiert: In einer Sitzung auf der 48. Versammlung deutscher Naturforscher und
Ärzte im Jahr 1875 hallen zwei steirische Arsenesser 0,3 bzw. 0,4 Gramm Arsen­
erheblich mehr als das Doppelte einer letalen Dosis für Anfänger - verzehrt, ohne
die geringsten Vergiftungserscheinungen zu zeigen.
     Aber auch in der Steiermark wurden Arsenessen und Arsenesser von der For­
schung vernachlässigt: Die Mehrzahl der Studien beschäftigt sich mit der ver­
gleichsweise dichten Verbreitung der Gewohnheit im Land, der Konsum in über­
greifenden Gebieten interessierte nur wenige (Bebra 1855: 384; Hörmann 1912).
Über Wien berichtet nur der Naturforscher Otto Tschudi, er habe hier arsenes sen­
de Kutscher, Schauspieler und Prostituierte beobachtet (Tschudi 1851: 455; ihm
folgend Moravius 1954:8). In den vorrangig gebirgigen und waldreichen Verbrei­
tungsgebieten in der Steiermark stammten die - vermutlich mehrheitlich männ­
lichen - Arsenesser aus dem bäuerlichen Milieu, in dem das Wissen über die
Droge gegebenenfalls von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Sie

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Arsenesser   und Geschichte

rekrutierten sich aber auch aus Berufsgruppen. die durch ihre Tätigkeit mit Ar­
sen in Berührung kamen - Bergknappen, HÜllenleuten und Hammerarbeitern -
wie aus ländlich bäuerlichen Randgruppen - Holz- und Rossknechten, Waldhü­
tern, Jägern, Wilderern und Bergführern. Die Versorgung der Arsenesser wurde
von Hausierern, Kräutersammlern, wandernden Ärzten, "fahrenden Leuten" und
durch Bergarbeiter wahrgenommen (Rosegger 1914:238, Bylof 1935: 108; Mora­
vius 1954:8).

5. Die Wirkungen der Droge wurden von Arsenessern wie von ihren Beobach­
tern überraschend differenziert und konsistent beschrieben. Generell ging man
davon aus, dass Arsen die Kraft und Potenz steigere: So etwa mache es Bergstei­
ger "luftig" und vergrößere ganz allgemein die .Kurasch'' (Rosegger 1914:232).
Auch führe der Arsengenuss bei Mensch und Tier zu blühendem Aussehen, fär­
be die Wangen rot, mache die weibliche Brust voll und verleihe dem Haar Glanz
(Allesch 1959: 247; Bibra 1855: 385). Vom Arsengenuss erhoffte man also all­
gemein die Verstärkung und Vermehrung der eigenen körperlichen und psychi­
schen Kräfte und Kompetenzen und des körperlichen Anziehungspotentials.        In
das Sexualleben griffen bereits andere arsenbezogenen Praktiken ein: Arsen wur­
de seit Jahrhunderten - wenn auch illegal - zur Verhütung von Schwangerschaft
und zur Abtreibung eingesetzt und es war solcherweise mit Praktiken assoziiert,
die das Sexualleben liberalisierten (Hauschildl Staschen/Troschke 1979:31; Bie­
dermann 1987: 165). Generell ist daher davon auszugehen, dass Arsen als Droge
galt, die das Begehren fördert und die Erfüllung von Begierden erleichtert. Dass
der Gebrauch verboten und risikoreich war und bei mangelnder Kunstfertigkeit
zum Tode führen konnte, mag die Attraktivität der Droge nur noch weiter gestei­
gert haben.

6. Das Wissen um Arsenesser und Arsengenuss ist spärlich und widersprüchlich,
weil die Praxis - so der Nobelpreisträger Fritz Pregl (1928), der bei Arsenmorden
wiederholt als Gutachter fungierte - der "tiefste Schleier der Geheimhaltung" um­
gab. Denn - so klingt es bei Pregl an - würde die Potenz eines Mannes oder die
Schönheit einer Frau als arseninduziert erkannt, kehrte sich erwünschtes Begehren
leicht ins Gegenteil. Wie rasch Attraktion und Anziehung in Abscheu umschlagen
können - wird etwa die Herkunft "gesunder Wangen" aus den "Bergwerken in Un­
garn" entdeckt - schildert Heinrich von Kleist im .Käthchen von Heilbronn". Das
letzte Wort, das der enttäuschte Liebhaber der Frau nachruft, die ihn mit künstli­
chen Reizen verführt hat - und zugleich das letzte Wort des "Ritterspiels" - ist:
"Giftmischerin".
     Der Genuss des Arsens, dessen Drogenprofil in Vielem jenem von Hexen­
salben gleicht, erregte auch den Abscheu der Kirche, die jegliches Begehren der
Fortpflanzung unterworfen und auf diese reduziert sehen wollte. Doch auch der

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Irrngard   EISENBACH-STANGL,   Wolfgang STANGL

Einsatz von Arsen als Schönheitsmittel und als Therapeutikum widersprach kirch­
lichen Dogmen und förderte die Geheimhaltung des Gebrauchs vor "Priestern und
Ärzten": Denn der Kirche galt "Putzsucht" lange als das übelste aller Laster und
galten die Schmerzen des Gebarens als gottgewollt (Hauschild/Saschenl Troschke
1979:27).
    In der Literatur wird der Einfluss der Kirche auf das Arsenessen gerne unter­
schätzt, der des Staates aber überschätzt. Dafür spricht, dass die Regulierung des
Arsenverkehrs - der Lagerung, des Transportes, des Handels - ab Beginn des 19.
Jahrhunderts zwar mit größerer Konsequenz vorangetrieben wurde, jedoch lange
Stückwerk blieb und auch nur rudimentär durchgesetzt werden konnte. Im Ge­
gensatz zu den zahlreichen Regierungsentwürfen "zur Hintanhaltung der Trunk­
sucht", deren Bestimmungen aufgrund des politischen Dissenses ein Gesetzesvor­
haben blieben und erst im 20. Jahrhundert stückweise realisiert wurden, griffen die
arsenbezogenen Bestimmungen auf Personenebene in den Konsum nicht ein. Sie
sind als frühe sicherheitsstaatliche Regelungen einzustufen, die vor allem Handel,
Transport und Lagerung regelten (Tremel 1947) und wirtschaftlichen Interessen
Rechnung trugen. Die zahlreichen Entwürfe für präventive Maßnahmen gegen
die Trunksucht reagierten hingegen auf nationale und internationale Bewegun­
gen, und nicht zuletzt auf den politischen Aufstieg der Arbeiterschaft, als deren
Droge der Alkohol galt (Eisenbach-Stangl 2016). Das gesetzgeberische Desinter­
esse an den Arsenessern war vermutlich auch ihrer Unauffälligkeit geschuldet:
Anders als alkoholische Getränke war Arsen keine Droge der Öffentlichkeit und
nicht mit diversen Spielalten unmittelbar wahrnehmbarer Devianz - etwa Lärmen
und Gewalttätigkeiten - assoziiert.

7. Die kargen Berichte über Arsenesser aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts las­
sen vermuten, dass der Arsengenuss im habsburgischen Österreich weit verbreitet
gewesen war, dass sich intensiver Konsum aber auf ausgewählte Gebiete kon­
zentrierte. Idealtypisch besehen zeichneten sich die .Hochkonsumgebiete" durch
einen bäuerlich provinziellen Charakter und traditionelle Lebensformen aus, auch
waren sie topografisch unzugänglich und wirtschaftlich rückständig, wenn nicht
arm. Ein beträchtlicher Anteil der Arsenesser gehölte überdies sozial benachtei­
ligten Berufs- und Randgruppen an. Unter diesen Vorzeichen betrachtet, lässt sich
die Bedeutung des Arsengenusses nahe der verpönten Hexensalben früherer Jahr­
hunderte ansiedeln. Arsen war ein .Berauschungsmittel des armen Volkes ...
dem kostspieligere Genüsse versagt waren" (Hauschild/StaschenITroschke 1979:
37).
     Die Einstufung der Arsenesser als benachteiligte Randgruppe und des Arsen­
essens als Ersatz gründet in einem Material, dessen erhebliche Mängel im Rah­
men der Arbeit an diesem Text nicht zu beheben waren. Ob und in wieweit der

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Arsenesser und Geschichte

Text daher im Sinne von Christian Ehalts Vorschlägen (1984) zur Sichtbarkeit be­
nachteiligten sozialen Milieus und zur Hörbarkeit wenig artikulierter subjektiver
Bedürfnisse und Anliegen beitragen konnte, ist ungewiss. Gewiss wurde das viel­
gestaltige Thema in mehrfacher Hinsicht idealtypisch vereinfacht und, um ihm
gerechter zu werden, werden abschließend ausgewählte Verkürzungen angespro­
chen.
     Kompensierte der Genuss von Arsen für einige gesellschaftlichen Ausschluss,
war er für andere Ausdruck der selbstgewählten Distanz zu sozialpolitischen
Strukturen, Organisationen und Institutionen und damit zur gegebenen "Gesell­
schaft" schlechthin. Auch "distanzierte" Arsenesser lebten häufig im sozialen wie
rechtlichen Abseits - sie stammten aus sozialen Milieus, die in Auflösung begrif­
fen waren oder sich bereits aufgelöst hatten. Die Konsumgewohnheiten glichen
den Lebensgewohnheiten - dem selbst gewähltem "Lebensstil", der zusätzliche
Kraft versprach und mit hohem (Überiebens)Risiko assoziiert war. Sie bedurften
weder Gleichgesinnter noch der Advokaten.
     Hielt das gesellschaftliche Abseits Arsenesser generell von Mitteilungen über
Lebens- und Konsumgewohnheiten zurück - in den letzten 200 Jahren haben
nur Einzelne ausnahmsweise Auskunft gegeben und eine aktuelle Anfrage wür­
de wohl negativ beschieden - war die Geheimhaltung zweifellos ein machtvol­
lerer Schutz. Geheimhaltung separiert die Gewohnheit von der Sprache, mögli­
cherweise sogar von der "Menthalisierung",      sie bleibt leiblich dominiert, stülpt
sich in ihrer Leiblichkeit über andere Lebensangelegenheiten und erzeugt ihrer­
seits gesellschaftliches Abseits. Zu hören ist bestenfalls das Schweigen, liegt die
Botschaft darin? Und wenn ja, handelt sie von den Ansprüchen emanzipatori­
scher Forschung angesichts sprachloser Adressaten, von deren Aussterben in den
1950er Jahren (Moravius, 1954), von Ersatz-Kulturen, und/oder von?

                         LrTERATURVERZEICHNlS

Richard M. Allesch: Arsenik. Seine Geschichte in Österreich. Klagenfurt: Verlag Fcrdi­
    nand Kleinmayr (1959).
Ernst von Bibra: Die Narkotischen Genußmittel und der Mensch. Nürnberg: Verlag Wil­
    helm Schmid (1855).
Hans Biedermann: Schaden- und Abwehrzauber. In: Helfried Valentinitsch (Hg.)Hexen
     und Zauberer. Die große Verfolgung - ein europäisches Phänomen in der Steiermark,
     Graz- Wien: Leykam- Verlag (1987), S. 165 - 174.
Fritz Bylow: Die steirische Arsenikesserei in geschichtlicher Betrachtung. In: Zeitschrift
     des Historischen Vereins für Steiermark, 29. Jg. (1935), S. 107-110.

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Irmgard EISENBACH-STANGL,         Wolfgang STANGL

Die 48. Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte in Graz. In: Carinthia, Zeit­
     schrift für Vaterlandskunde, Belehrung und Unterhaltung, 65. Jg. NI'. II u. 12 (1875),
     S.245-258.
Die Verwendung von Arsen in der gynäkologischen        Praxis. In: Wiener Medizinische Wo­
     chenschrift, 47 (1892),1820.
Irmgard Eisenbach-Stangl:      Towards Individual Responsibilities:  Interests affecling Major
     Aicohol Policy Changes in 1950s Austria. In: Social History of Alcohol and Drugs,
     Volume30(2016),p.120-137.
Huben Christi an Ehalt: "Geschichle von unten". Zwischen Wissenschaft, politischer Bil­
     dung und politischer Aktivierung.ln:   Beiträge zur historischen Sozialkunde, I (1984),
     S.32-36.
EI friede Grabnerl Gerald Gänser: Volksmedizin und ärztliche Versorgung. In: Hexen und
     Zauberer, Steirische Landesausstellung    1987, Katalog, Graz: Leykam_ Verlag (1987),
     S. 77 - 92.
Thomas Hauschild/ Heidi Stase he nl Regina Troschke: Hexen. Katalog zur Ausstellung.
     Hamburg: Hochschule für bildende Künste (1979).
Ludwig von Hönnann: Gcnuß- und Reizmittel in den Ostalpen. eine volkskundliche Skiz­
     ze. In: Zeitschrift des Deutschen und Österreich ischen Alpenvereins, Jg. 1912, Bel.
     XLIII, S. 78-100.
Journal-Revue: Zur Methode des subcutanen Anwendung des Arsens. 1n: Wien er Medi­
     zinische Wochenschrift 48 (1895), S. 2040-2041.
Dieter Martinetz: Rauschdrogen und Stimulantien, Leipzig, Jena, Berlin: Urania-Verlag
     (1994), S. 143-145.
Ludwig Morovius: Die Hidrimänner und der Hüttenrauch. In: Neue Illustrierte Wochen­
     schau, Nr. 39,26. September 1954, S. 8.
Fritz Pregl: Arsen als Volksmedizin und Gift in der Steiermark. In: Die medizinische Welt,
     Nr.25 (1928), S. 939-940.
Peter Rosegger: Der Arsenikesser. In: Gesammelte Werke, Bd. 20, Waldheimat - Erzäh­
     lungen aus der Jugendzeit - Vierter Band, Leipzig: Staackmann, (1914), S. 232 - 239.
Wolfgang Schmidbauer/Jürgen         vom Scheidt: Handbuch der Rauschdrogen, München:
     Nymphenburger Verlagshandlung (1975).
Ferdinand Tremel: Der Handel der Stadt Judenburg im 16. Jahrhundert. In: Zeitschrift des
     historischen Vereins für Steiermark vol. 38 (1947), S. 95-164.
Otto Tschudi: Über die Giftesser. In: Wien er medizinische Wochenschrift I (1851),
     S.454-455.
Othmar, Wonisch: Der Hittrachbergbau in St. Blasen bei St. Lambrecht. In: Blätter für
     Heimatkunde, 25. Jg., Heft 4, (1951), S. 97-100.
James C. Whorton: The Arsenic Century. How Victorian Britain was poisened at Horne,
     Work & Play, Oxford (2010), Oxford University Press

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