Gesundheitsförderung in Haft

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Gesundheitsförderung in Haft –
         Ein modulares Konzept
              für den Justizvollzug

                          Entwicklung und Konzeption:
                               Aidshilfe Hamburg e.V.
                                          im Auftrag des
     Landesverbandes Hamburger Straffälligenhilfe e.V.

                                           Sonja Lohmann
                                        Diplom-Pädagogin

                                          Christian Szillat
                                 Master of Health Science

                                 Veröffentlichung: August 2021
„Gesundheitsförderung unterstützt die
Entwicklung von Persönlichkeit und Fähigkeiten
durch Information, gesundheitsbezogene Bildung
sowie die Verbesserung sozialer Kompetenzen und
lebenspraktischer Fertigkeiten.

Sie will dadurch den Menschen helfen, mehr
Einfluss auf ihre eigene Gesundheit und ihre
Lebenswelt auszuüben, und will ihnen zugleich
ermöglichen, Veränderungen in ihrem Lebensalltag
zu treffen, die ihrer Gesundheit zu gute kommen.“

                          – Ottawa-Charta, WHO 1986
1   Einleitung                                               05
    Ausgangssituation                                        05
    Zeit der Haft nutzen                                     06

2   Ziel, Aufbau und Handhabung des Konzepts zur
    Gesundheitsförderung                                     08
    Ziel und Entwicklung des Gesundheitsförderungskonzepts   08
    Zielgruppen                                              09
    Besondere Situation inhaftierter Frauen                  09
    Die Module                                               10
2.1 Umsetzung der Module für Inhaftierte                     11
2.2 Umsetzung der Module für Mitarbeiter:innen               13
2.3 Hinweise zur organisatorischen Umsetzung                 14

3   Förderung und Stärkung der Kompetenzen von
    Menschen in Haft                                         15
3.1 Schwerpunkt Substanzkonsum                               15

     Modul 01: Substanzkonsum –
               Auswirkungen, Risiken, Prävention             15
3.2 Schwerpunkt Prävention                                   18
     Modul 02: HIV und Hepatitiden                           18
     Modul 03: Tattoo und Piercing                           20
     Modul 04: Leber                                         22
     Modul 05: Gesundheit im Alter                           24
     Fokus: Sexualität                                       26
     Modul 06: Sexuell übertragbare Infektionen              27
     Modul 07: Verhütung                                     29
3.3 Schwerpunkt Psychosoziale Kompetenzen                    30
     Modul 08: Umgang mit Stress                             30
     Modul 09: Soziale Kontakte                              32
     Modul 10: Haltung und Wertesysteme                      34
     Modul 11: Gewaltfreie Kommunikation und Sprache         36
3.4 Schwerpunkt Alltagspraktische Fähigkeiten                     38
     Modul 12: Hygiene                                            38
     Modul 13: Ausgewogene Ernährung                              40
     Modul 14: Wirtschaftliche Möglichkeiten und Perspektiven     42

4   Förderung und Stärkung der Kompetenzen von
    Mitarbeiter:innen im Haftalltag                               44
    Module für das Personal in JVA                                44
     Modul M01: Sucht und Abhängigkeit                            45

     Modul M02: HIV, Hepatitiden und weitere
                übertragbare Infektionen                          47
     Modul M03: Sexualität versus Sexualisierte Gewalt            49

     Modul M04: Seelische Gesundheit.                             52
     Modul M05: Herausforderung beruflicher Alltag –
                Stressreduktion durch professionelle Abgrenzung   54
     Modul M06: Alternde Gefangene                                56

5   Schlussbetrachtung                                            58
    Weitere Unterstützungsmöglichkeiten                           58
    Unabhängige Gesundheitsberatung                               60

    Nachwort                                                      61

    Abkürzungsverzeichnis                                         62
    Anhang: Beispiele guter Praxis                                63
    Quellen                                                       65
1 Einleitung

               „Die Gesundheit der Gefangenen betrifft die Gesundheit aller, denn
        Gefangene kommen aus der Gesellschaft und kehren in den allermeisten
    Fällen in ihre Lebensverhältnisse zurück. Die Gesundheit der Gefangenen ist
         daher ein Thema der Öffentlichen Gesundheit, das uns alle angeht (…)“
                             (Heino Stöver, in: Stöver, H./ Egler, B. 2008: S. 126)

Ausgangssituation
In deutschen Gefängnissen sitzen jährlich rund 70.000 Menschen im offenen
oder geschlossenen Justizvollzug ein (Belegung am letzten Tag des Dezember
2020: 72.385, davon befanden sich 12.064 Menschen in den Untersuchungs-
haftanstalten (Statistisches Bundesamt 2021).
Die Insass:innen der Justizvollzugsanstalten stammen häufig aus sozio-
ökonomisch schlecht gestellten und bildungsarmen Bevölkerungsteilen.
Mehrfache Haftaufenthalte sind nicht selten. Ein erheblicher Teil lebt mit
kritischem Substanzkonsum (illegale Drogen, Alkohol) und schlechtem
Allgemein- und Gesundheitszustand.1 Neben der im Vergleich zur extramuralen
Bevölkerung höheren Prävalenz von Infektionserkrankungen – hier sind vor
allem HIV, Hepatitis B (HBV) und Hepatitis C (HCV) 2 zu nennen – finden sich
bei Gefangenen vermehrt psychische und psychiatrische Krankheitsbilder.
Unter Depressionen sowie einer - besonders in Untersuchungshaft - erhöhten
Neigung     zu     Suizidalität  leiden   Gefangene     häufiger   als    die
Allgemeinbevölkerung (Keppler, K. et al. 2010). Insbesondere bei zuvor
wohnungslosen Menschen und Drogenkonsument:innen zeigt sich neben den
Folgen von Mangel- und Fehlernährung oft ein desaströser Zahnstatus, der sich
negativ auf den Gesamtorganismus auswirken kann (z.B. Arteriosklerose,
Herzklappenentzündung).

Menschen, die in Haft kommen, sind vor ihrer Inhaftierung oftmals nicht ins
medizinische oder psychosoziale Versorgungssystem eingebunden. Das gilt
besonders für Obdachlose, Drogenkonsument:innen bzw. Substanzabhängige
ohne familiäre oder soziale Einbindung sowie Menschen mit ungesichertem
Aufenthaltsstatus und fehlender Sozialversicherung.

1Schätzungen zufolge sind 22 - 30% der Gefangenen Konsument:innen illegaler Drogen.
2 „Insbesondere „Infektionskrankheiten sind (…) im Vollzug deutlich überrepräsentiert,
Risikogruppen wie DrogenkonsumentInnen, psychisch Kranke, SexarbeiterInnen sowie
Alkohol“abhängige“ werden häufiger inhaftiert und tragen ein höheres Risiko einer HIV-Infektion
(….), so dass schon bei Haftantritt viele Infektionen vorhanden sind.“ (Thane, K. 2015: S. 59)

                                          5
„Menschen in Haft leiden nicht nur unter einem schlechteren
    gesundheitlichen Allgemeinzustand als die Normalbevölkerung, sie
    unternehmen auch aus vielfältigen Gründen weniger für ihre Gesundheit.
    Das hängt vor allem von ihren deutlichen eingeschränkten Möglichkeiten
    zur Teilhabe an der Gesellschaft ab und äußert sich zum Beispiel darin,
    dass Informationen zur Gesundheit erst gar nicht bei ihnen ankommen oder
    aus innerpsychischen Gründen nicht wahrgenommen werden.“ (Reuter, S./
    Behrens, M. 2014: S. 444).

Zum weit überwiegenden Teil sitzen Männer ein (unter den Ende Dezember
2020 bundesweit gut 72.000 Gefangenen stellen Frauen mit rund 4.400 eine
deutliche Minderheit dar), die sich auch außerhalb der Haft in der Regel weniger
um ihre Gesundheit bemühen als Frauen es tun (RKI 2020).

Zeit der Haft nutzen – Belastung und Chance Haft
Der Freiheitsentzug wirkt sich für Gefangene in vielerlei Bereichen negativ aus:
die Trennung von Familie und gewohntem sozialem Umfeld, das Fehlen
adäquater Gesprächspartner führen zu Isolation, es mangelt an positiven
Außenreizen. Unterbringung in Zwangsgemeinschaft, fehlende Intimsphäre,
Verlust der Autonomie im streng hierarchischen Gefüge Justizvollzug stellen
weitere Belastungen dar. Offen gebliebene Angelegenheiten und Probleme,
beispielsweise ungeklärte Wohnverhältnisse, Schulden, Beziehungsprobleme
aus Haft heraus zu erledigen und zu lösen, gestaltet sich meist sehr schwierig
und kann Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht hervorrufen.

Inhaftierte Frauen sind oftmals (alleinerziehende) Mütter von minderjährigen
Kindern, sodass eine Inhaftierung besondere Probleme und Belastungen mit
sich bringt, insbesondere, wenn die Kinder von der Mutter getrennt werden.
Dazu gibt es aufgrund der geringen Anzahl weiblicher Gefangener weniger
Haftanstalten für Frauen, die entsprechend oft nicht in Wohnortnähe liegen,
sodass der Kontakt zu Familie, Kindern und Freunden zusätzlich erschwert ist.
    „Haft bedeutet immer Stress: Die Haftsituation, polizeiliche Vernehmungen,
    Gerichtstermine können Angst und Unsicherheit auslösen, die Trennung
    von Angehörigen, Partner(innen) und Freund(innen) belastet, Langeweile
    und Ohnmachtgefühle stellen sich ein, es kommt zu Konflikten mit
    Mithäftlingen oder Bediensteten, man erlebt Bedrohung, Aggression und
    Gewalt.“ (Keppler, K. 2014: S. 137).

Neben Belastungen bietet die Zeit der Haft auch Chancen: Menschen können
erreicht werden, die außerhalb der Mauern durch die Versorgungsnetze fallen
bzw. von Hilfsangeboten nicht erreicht werden. Neben einem Dach über dem
Kopf, regelmäßigen Mahlzeiten und der Möglichkeit zur Körperpflege profitieren
vor allem – meist durch Wohnungslosigkeit und Sucht - verelendete Gefangene
von der medizinischen Versorgung in den Vollzugsanstalten. Auch der
erzwungene      Verzicht   auf     bzw.    die   reduzierte     Verfügbarkeit

                                    6
bewusstseinsverändernder Substanzen macht die Gefangenen ansprechbarer
– zumindest, wenn der körperliche Entzug überstanden ist oder die bestehende
Sucht medikamentengestützt behandelt wird. Für Gefangene kann die Zeit der
Haft daher durchaus auch eine Zeit der körperlichen Genesung sein: „Die
Inhaftierung wirkt mitunter deutlich stabilisierend, ja sogar lebensrettend (…)“
(Woltmann, J. 2014: S. 346).

In Haft nehmen Gefangene oftmals ihren Körper wieder deutlicher wahr und
entwickeln ein stärkeres Interesse für ihre Gesundheit als zuvor. Neben der
Gesundheitsfürsorge im Sinne rein medizinischer Versorgung können
Justizvollzugsanstalten hier die Chance und einen Rahmen bieten, mit
geeigneten     pädagogischen      Angeboten      zu     einem    verbesserten
Gesundheitsbewusstsein       beizutragen    und     die    Entwicklung     von
Gesundheitskompetenz zu fördern.
    „Unter Gesundheitskompetenz wird das Wissen, die Motivation und die
    Fähigkeit verstanden, gesundheitsrelevante Informationen finden,
    verstehen, beurteilen und anwenden zu können, um die eigene Gesundheit
    zu erhalten, sich bei Krankheiten die nötige Unterstützung zu sichern und
    die dazu nötigen Entscheidungen zu treffen.“ (Hurrelmann et al. 2020: S. 3)

In der aktuellen Haftsituation können Angebote zur Gesundheitsförderung den
oft eintönigen Alltag bereichern, das Zuwenig an Außenreizen etwas
ausgleichen sowie Langeweile und Ohnmachtsgefühle abmildern. Der erlebte
Autonomieverlust kann partiell relativiert werden, da man selbst aktiv etwas für
sich tun und die Zeit der Haft sinnvoll gestalten kann. Die Möglichkeit,
Kompetenzen zu erwerben, die auch für das Leben in Freiheit nützlich sind,
stärkt Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein der Gefangenen und schafft
Perspektiven. In seiner „Charta gesundheitsfördernde Haftanstalten“ formuliert
Heino Stöver:
    „Das Gefängnis ist zwar einerseits ein Ort mit besonderen gesundheitlichen
    Belastungen aber andererseits auch einer, an dem medizinische und
    psycho-soziale Hilfen und Unterstützungen von vielen Gefangenen
    erstmalig und systematisch in Anspruch genommen werden und zum Teil
    zu einer erheblichen Verbesserung ihres Gesundheitszustandes führen.
    Gleichwohl sind diese Erfolge oft nur von kurzer Dauer und werden
    entweder von Risikoverhalten noch in Haft oder unmittelbar nach
    Haftentlassung wieder zunichte gemacht.“ (Stöver, H./ Egler, B. 2008: S.
    126ff).

Der Erwerb von Gesundheitskompetenzen kann und soll auch nach Haft
wirksame Grundlage für eine dauerhaft gesündere Lebensführung bieten.

                                    7
2         Ziel, Aufbau und Handhabung des
          Konzepts zur Gesundheitsförderung
Ziel und Entwicklung des Gesundheitsförderungskonzepts
Seit langem werden vielerorts auch Angebote aus dem Bereich der
Gesundheitsförderung umgesetzt3. Für letztere war die Deutsche Aidshilfe mit
ihren bundesweit durchgeführten Veranstaltungen „Gesundheit in Haft“ ein
maßgeblicher     Vorreiter. Allerdings    sind    die  Angebote    zumeist
Einzelveranstaltungen oder Pilotprojekte, die nur über begrenzte Zeiträume
verfügbar sind.

Der Anspruch an dieses Konzept war es, gesundheitsfördernde (Lern-)
Einheiten zu entwickeln, die in allen Justizvollzugseinrichtungen Deutschlands
variabel einsetzbar sind und die idealerweise als Regelangebot dauerhaft
etabliert werden.

Der erste Gedanke, zu ausgewählten Themenfeldern detaillierte Curricula (inkl.
methodischer Herangehensweise) zu konzipieren, wurde schnell verworfen. Die
Anstalten und die Voraussetzungen vor Ort sind so divers, dass die Entwicklung
„starrer“ Curricula den zu vermittelnden Inhalten, den Einrichtungen – und vor
allem den Inhaftierten – nicht gerecht werden würde.

Nicht nur die Vollzugsformen unterscheiden sich teilweise gravierend – man
vergleiche Untersuchungshaft, offenen und geschlossenen, Lang- und
Kurzstrafenvollzug,     Erwachsenen-       und    Jugendvollzug.      Auch      die
Rahmenbedingungen der einzelnen Justizvollzugsanstalten differieren je nach
Art und Größe, Standort und Bundesland, Häusern für Frauen, für Männer und
für Jugendliche. Jeder Standort ist so unterschiedlich wie die Menschen, die
dort arbeiten oder inhaftiert sind. Ebenso unterschiedlich sind die Bedarfe in den
jeweiligen Häusern oder Abteilungen.

Aus diesem Grund ist das Konzept nicht als Curriculum entwickelt worden und
soll auch so nicht verstanden werden. Vielmehr soll es mit seinen einzelnen
Elementen einen Ein- und Überblick darüber geben, welche Themenkomplexe
und Schnittstellen in Bezug auf die Förderung von Gesundheitskompetenz und
Gesundheit miteinander verwoben sind und Vorschläge zur inhaltlichen
Ausrichtung für die Umsetzung vor Ort machen.
Entsprechend ist das Konzept nicht notwendig als Gesamteinheit einzusetzen.
Es ist nach Themenschwerpunkten aufgebaut,                denen einzelne
Themenbereiche – die Module – zugeordnet sind. Die Inhalte der Module
erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie können variabel nach
Bedarfs- und Interessenlage sowie zeitlichen Ressourcen angepasst und/oder
modifiziert werden.

3   Einige Beispiele guter Praxis werden im Anhang aufgeführt.

                                            8
Nachfolgend werden die verschiedenen Zielgruppen des Konzepts
beschrieben, sowie Hinweise und Erklärungen zum Aufbau, zur Struktur, der
Handhabung und dem geeigneten Rahmen zur Durchführung der Module
gegeben. Besondere Aspekte, die unserer Ansicht nach sehr wichtig sind für
eine gute Umsetzung, finden sich am Ende dieses Kapitels.

Zielgruppen
In dem Konzept finden sich Module für unterschiedliche Zielgruppen: die in
Kapitel 3 richten sich an inhaftierte Frauen und Männer4, die Module in Kapitel
4 an Mitarbeiter:innen der JVA.

Besondere Situation inhaftierter Frauen
Frauen stellen mit derzeit rund 6% nur einen geringen Anteil an der
Gefangenenpopulation. Sie sind häufiger wegen Verstößen gegen das
Betäubungsmittelgesetz und/oder Eigentumsdelikten, seltener wegen
Gewaltdelikten verurteilt - somit zu kürzeren Haftstrafen als Männer, dennoch
sind sie den in Relation zu den von Frauen verübten Delikten überhöhten
Sicherheitsstandards des Männervollzuges unterworfen. Auch die weiblichen
Gefangenen sind oftmals mehrfach hafterfahren.

Im bundesweiten Durchschnitt (die Angaben unterscheiden sich nach
Bundesland und Haftanstalten/Vollzugsform) wird geschätzt, dass ungefähr bei
der Hälfte der weiblichen Gefangenen Drogenkonsumerfahrung bzw. ein
riskanter Drogenkonsum bis hin zu Sucht vorliegt. Wie die männlichen
Gefangenen kommen auch inhaftierte Frauen häufig aus benachteiligten
Verhältnissen; Geschichten von körperlicher, sexueller und emotionaler Gewalt-
und Missbrauchserfahrung sind nicht selten. Der Frauengesundheitsbericht des
RKI geht davon aus, dass rund 35% aller Frauen über 15 Jahre in Deutschland
bereits Opfer von körperlicher und/oder sexualisierter Gewalt geworden sind –
inhaftierte Frauen sind in ihrer Lebensgeschichte noch häufiger betroffen (RKI
2020; Ochmann, N. 2018). Im Vergleich zu männlichen Inhaftierten findet sich
bei Frauen eine höhere Prävalenz psychischer Komorbiditäten wie
Depressionen, Angstzustände, selbstverletzendes Verhalten, PTBS etc. Aber
auch physische Erkrankungen wie Hepatitis, Tuberkulose, Diabetes,
Hypertonie, Adipositas etc. sind häufiger zu sehen.

Des Weiteren unterscheiden sich die Lebenswelten von Frauen in Haft häufig
dadurch von denen der Männer, dass der Aspekt der Familie besonders
belastet ist. Viele der Frauen haben Kinder geboren, für die sie aber aufgrund
ihrer Lebensumstände kein Sorgerecht haben. Oder sie mussten sich aufgrund
der Inhaftierung von ihren Kindern trennen und diese anderweitig unterbringen.

4Das Konzept ist vorrangig für Erwachsene entwickelt worden, kann aber, entsprechend
modifiziert, auch für Jugendliche genutzt werden.

                                     9
Aufbau und Gestaltung der Module sollten geschlechtersensibel sein. Oft genug
berücksichtigen haftinterne Versorgungsstrukturen die Unterschiedlichkeit der
Geschlechter nicht ausreichend (Reuter, S./ Behrens, M. 2014). So beklagen
inhaftierte Frauen, dass zu häufig männliche Ärzte die gynäkologische
Versorgung durchführen. Wir empfehlen aufgrund der besonderen
Vulnerabilität inhaftierter Frauen ausdrücklich, die Veranstaltungen im
Frauenvollzug von Referentinnen durchführen zu lassen.

Die Module
Die Module für Gefangene, entwickelt auf Grundlage unterschiedlicher
Fachexpertisen, zielen ab auf Stärkung der Gesundheitskompetenz. Die
Module sind in verschiedene Themenschwerpunkte eingebettet, die mit
Hintergrundinformationen und Argumenten hinsichtlich der Wichtigkeit und
Bedeutung der Thematik ausgestattet sind. Die Module für die Mitarbeiter:innen
der JVA haben denselben Aufbau und dieselbe Struktur wie die Module für
Inhaftierte.
Die Struktur der Module ist einheitlich: Ziele, Inhalt, Kooperation, Anmerkungen.
Jedes Modul benennt mehrere mögliche Ziele. Welche(s) Ziel(e) bei der
Umsetzung fokussiert werden soll, obliegt den Fachpersonen, die mit der
Durchführung betraut werden.

Dies gilt ebenso für den Abschnitt Inhalte. Hier werden Aspekte,
Fragestellungen und Themenfelder erwähnt, die mit dem jeweiligen
Modulschwerpunkt in Verbindung stehen. Es muss nicht jeder einzelne
Punkt/Aspekt aus dem Abschnitt Inhalt in einer Veranstaltung
untergebracht/bearbeitet werden. Die Auflistung im Anschnitt der Inhalte ist als
Anregung und gedanklicher Anstoß zu verstehen. Auch hier obliegt es der – an
den Bedarfen der jeweiligen Zielgruppen/Teilnehmer:innen orientierten –
Entscheidung der durchführenden Fachperson(en), welche Inhalte umgesetzt
werden sollen.

Im Abschnitt Kooperation sind Organisationen, Institute, Fachexpert:innen
und/oder Einrichtungen aufgelistet, die bei der Umsetzung der Inhalte
unterstützend sein können – sei es als durchführende Partner:innen vor Ort
oder als Inputgeber:in im Zuge der Planung und Vorbereitung der
Veranstaltungen. Aus bisherigen Erfahrungen mit Veranstaltungen in
Justizvollzugsanstalten  wissen    wir,   dass   aus    Kapazitäts-   und
Akzeptanzgründen eine Umsetzung häufig leichter mit Hilfe externer
Kooperationspartner:innen gelingt.

Unter dem Abschnitt Anmerkungen sind ergänzende Hinweise und
Anregungen zu finden, die aus unserer Sicht hilfreich sein können.

                                   10
2.1 Umsetzung der Module für Inhaftierte
Elementare Voraussetzung für eine gute Umsetzung des Konzeptes und der
einzelnen Module sind Überlegungen zu Herangehensweise, Setting sowie
Bewerbung der Veranstaltung(en).

Format und Methodik
Das Konzept gibt weder Format noch Methodik für die Module vor. Die Art der
Umsetzung ist sehr von Expertise, gestalterischen und methodischen Ansätzen
der Fachperson(en), Schwerpunktsetzung und inhaltlicher Zielausrichtung
aufgrund der Bedarfe der Teilnehmenden sowie den Rahmenbedingungen des
Hauses abhängig. Nicht jedes mögliche Format – wie Workshop,
Informationsveranstaltung, interaktives Gruppensetting – ist für jedes Thema
geeignet oder überall umsetzbar.

Generell ist es möglich – und häufig empfiehlt es sich – aus den Inhalten eines
Moduls eine Reihe oder Serie zu konzipieren. Inhalte verschiedener Module zu
kombinieren und eine modifizierte Veranstaltung(sreihe) zusammen zu stellen
ist ebenfalls eine weitere Option.

Gruppengröße
Um die Inhalte der verschiedenen Schwerpunkte im Diskurs mit den
Teilnehmenden erarbeiten zu können, sollten die Module in nicht zu großen
Gruppen durchgeführt werden. Erfahrungsgemäß ist eine Anzahl von 10 bis
maximal 15 Personen geeignet, Raum für Fragen und Interaktion zu bieten.

Freiwilligkeit
Die Teilnahme an einer Veranstaltung sollte auf freiwilliger Basis erfolgen. Eine
Teilnahme unter Auflagen (beispielsweise als obligatorisch nach positiver
Drogen-Urinkontrolle), Nachteile oder gar Sanktionen bei Nichtteilnahme sind
nicht zielführend und produzieren Widerstände.

Setting/Rahmen der Veranstaltungen
Aufmerksamkeitsspanne und Konzentrationsfähigkeit der Teilnehmenden sind
bei der Festlegung der Veranstaltungsdauer und Pausenplanung zu
berücksichtigen.

Der Veranstaltungsraum sollte so störungsfrei wie möglich sein. Insbesondere,
da teilweise auch sensible Themen angesprochen werden, muss ein
„geschützter Rahmen“ angestrebt werden (kein Durchgangsraum, nicht
einsehbar, auch akustisch ungestört).

                                   11
Zu einem geschützten Rahmen gehören auch klare Umgangsregeln (Respekt,
Verschwiegenheit etc.), die zu Beginn jeder Veranstaltung besprochen werden
und die für alle verbindlich sind.

Kommunikation und Didaktik
Die sprachliche Verständigung muss sichergestellt sein. Da in
Justizvollzugsanstalten der Anteil von Menschen nichtdeutscher Herkunft
teilweise sehr hoch ist, kann der Einsatz von Sprachmittlern erforderlich sein5.

Die Veranstaltungen sind auf Kommunikationsbedürfnisse und -fähigkeiten
sowie Lernniveau der Teilnehmer:innen abzustimmen. Grundsätzlich ist
einfache Sprache zu bevorzugen, in der auch komplexe Sachverhalte möglichst
verständlich darstellbar sind.

Da es in keinem Modul ausschließlich um Informationsvermittlung             geht, ist
„Frontalunterricht“ nicht angemessen. Vielmehr soll der Diskurs             mit den
Teilnehmer:innen gesucht werden, indem sie zu vertrauensvoller              Mitarbeit
ermutigt und angeregt werden und die Möglichkeit bekommen,                   Fragen,
Erfahrungen und eigene Expertise einzubringen.

Die    Erzeugung      einer „entspannten“    Atmosphäre,  spielerische
Herangehensweise und Humor erleichtern erfahrungsgemäß den Zugang zu
den Teilnehmer:innen.

Bewerbung der Veranstaltungen
Die Erfahrung mit den Angeboten der Veranstaltungsreihe der Deutschen
Aidshilfe zeigt, wie wichtig es ist, einen ansprechenden Titel zu finden, der die
möglichen Interessent:innen nicht abschreckt. Er muss so gewählt sein, dass er
keine Grundlage für Stigmatisierung oder Outing von Teilnehmer:innen ist.

Es empfiehlt sich die rechtzeitige Klärung der idealen Bekanntmachungswege
für die jeweilige Veranstaltung. Je nach Thema können dies Aushänge sein
oder      Informationen     durch     beispielsweise    Abteilungsleiter:innen,
Kursleiter:innen/ Werksbeamt:innen, interne/externe Berater:innen.

Weitere Aspekte
Die Teilnahme an Veranstaltungen darf Gefangenen nicht zum Nachteil
gereichen (z.B. Verdienstverlust, Anrechnung auf Besuchszeiten).

Idealerweise – und als möglicher zusätzlicher Anreiz zur Teilnahme – werden
die Veranstaltungen als Elemente von Resozialisierungsmaßnahmen/sozialem
Training anerkannt.

5Zu berücksichtigen ist der erhöhte Zeitaufwand pro zu übersetzender Sprache – je mehr
Sprachen, desto länger wird die Veranstaltung dauern.

                                      12
Die Anbindung von Veranstaltungen an bestehende Strukturen, wie
beispielsweise Schulklassen, Ausbildungskurse, ehrenamtlich angeleitete
Gruppen, Angebote der Drogenhilfe verringert den organisatorischen Aufwand
erheblich.

2.2 Umsetzung der Module für Mitarbeiter:innen
Bei Veranstaltungen für Mitarbeiter:innen sind ebenfalls einige Aspekte zu
berücksichtigen:

Format und Methodik
Auch für die Umsetzung der Module für Mitarbeiter:innen gibt es keine
Vorgaben für Format und Methodik. Allerdings kann in der Arbeit mit Personal
auch Frontalunterricht sinnvoll sein.

Gruppengröße
Die Gruppengröße sollte 20 Personen nicht übersteigen. Da die
Stationen/Abteilungen aber häufig personell unterbesetzt sind, finden
Veranstaltungen für Mitarbeiter:innen – wenn sie nicht anstaltsübergreifend
organisiert sind – eher mit weniger Personen statt.

Freiwilligkeit
Eine freiwillige Teilnahme an einer Veranstaltung ist immer anzustreben, kann
unter Umständen aber nicht immer eingehalten werden (Notwendigkeit der
Aktualisierung des Wissensstandes, akute Bedarfe des Hauses).

Setting/Rahmen der Veranstaltungen
Auch hier sind die Anforderungen an das Setting ähnlich wie in der Arbeit mit
Gefangenen: Einhalten der Gruppenregeln (Einigung auf Verschwiegenheit,
Einigung respektvollen Umgang u.a.) und ein geeigneter ruhiger Ort ohne
Störfaktoren sind sehr wichtig.

Bei Modulen/Veranstaltungen, die über reine Informationsvermittlung
hinausgehen,       sollte    darauf     geachtet     werden,       dass      die
Gruppenzusammensetzung möglichst homogen ist. Die Anwesenheit von
Kolleg:innen in Leitungspositionen beispielsweise kann sich auf die Bereitschaft
zur Mitarbeit auswirken.

Weitere Aspekte
Veranstaltungen sollten als Dienstzeit anerkannt werden, auch wenn sie
freiwillig besucht werden (Erhöhung der Bereitschaft zur Teilnahme).

                                   13
2.3 Hinweise zur organisatorischen Umsetzung
Eine Installation des Konzeptes kann nur gelingen, wenn eine hauptamtliche
Person mit der Umsetzung verantwortlich betraut und zuverlässig erreichbar ist.
Eine Vertretung für Urlaubs- und Krankheitszeiten muss gewährleistet sein.

Der Stundenumfang richtet sich an der Nachfrage (Anzahl und Frequenz der
Veranstaltungen) aus und daran, ob die verantwortliche Person auch selbst als
Referent:in tätig ist oder sich auf die Organisation beschränkt.

Werden die Veranstaltungen nicht von den JVA selbst organisiert, ist die
Einhaltung von Genehmigungswegen besonders wichtig (Aidshilfe Köln et al.
2008).

Mittel für Honorare und Fahrtkosten müssen ebenso sichergestellt sein wie
ausreichende Sachmittel (Beamer, Flipchart, Bewerbung usw.).

                                   14
3     Förderung und Stärkung der
      Kompetenzen von Menschen in Haft
3.1 Schwerpunkt Substanzkonsum
In Haftanstalten befinden sich viele Menschen, die an Sucht oder Abhängigkeit
erkrankt sind – nicht zwangsläufig stoffgebunden. Auch Spielsucht
beispielsweise kann durchaus im Zusammenhang mit Straffälligkeit stehen.

Deutlich überrepräsentiert sind aber Menschen, die aufgrund oder im
Zusammenhang mit ihrer Substanzabhängigkeit im Justizvollzug einsitzen.
Schätzungen zufolge sind bis zu 30% der inhaftierten Männer und rund 50%
der inhaftierten Frauen Menschen mit intravenösem Substanzkonsum
illegalisierter Substanzen. Hinzu kommen die Gefangenen, die in
gesundheitsgefährdendem Ausmaß legale Substanzen wie Alkohol,
Medikamente, NPS (sogenannte Designerdrogen) oder Tabak konsumieren.

Obschon insbesondere die meisten Opioidkonsument:innen als Expert:innen
ihrer Abhängigkeit, zumindest was die Beschaffenheit der Substanzen angeht,
anzusehen sind und zum Teil bereits Therapieerfahrung gemacht haben, treten
doch häufig Fragen im engeren und weiteren Zusammenhang mit dem Konsum
psychoaktiver Substanzen auf, die in diesem Modul besprochen werden
können.

Da der Themenkomplex sehr umfangreich ist, kann es schwierig sein, allen
Bereichen innerhalb einer Veranstaltung gerecht zu werden. Es bietet sich also
an, die jeweiligen Schwerpunkte als Einzelveranstaltung zu planen.

      Modul 01:
      Substanzkonsum – Auswirkungen, Risiken, Prävention
      Ziel               Kompetenzstärkung
                         Schärfung des Problembewusstseins
                         Stärkung der Selbstverantwortung
                         Aufzeigen von Strategien zur Risikominimierung und
                         Verhaltensprävention

      Inhalt             Darstellung der Zusammenhänge von
                         Substanzkonsum und möglichen Auswirkungen auf
                         den Organismus:
                          Infektionserkrankungen
                          Fehl-/Mangelernährung

                                  15
Erkrankungen der Organe:
          Lunge, Leber, Haut, Hirn, Herz,
          Gefäßerkrankungen
 Zahngesundheit
 Leistungsfähigkeit/Belastbarkeit
 Libido
 Fertilität
 Psyche, Wahrnehmung, Urteilsfähigkeit

Bei Frauen zusätzlich:
 Zyklus
 Schwangerschaft, Entbindung, Stillen
 (vorzeitiger Beginn des) Klimakteriums

Erläuterung von Therapieansätzen:
 Abstinenzorientierte Therapien
 Substitutionstherapie

Konsumreduktionsprogramme:
 Tabakentwöhnung
 Akupunktur
 Möglichkeiten der Selbsthilfe

Informationen zu gängigen Präventionsmaßnahmen:
 Risiko unklarer Inhaltsstoffe (z.B. NPS),
 Verunreinigungen
 Safer Use
 Safer Sex
Unterstützungsangebote in Haft:
 Akupunktur
 Beratung
 Substitution

              16
Haftentlassung:
               Risiko Überdosierung
               Erste Hilfe, Naloxon

Kooperation   Deutsche Aidshilfe/Regionale Aidshilfen
              Internisten:innen
              Drogenhilfeeinrichtungen bzw. Fachberatungsstellen
              mit dem Schwerpunkt Sucht – Substanzkonsum -
              Substitution
              Einrichtungen der Selbsthilfe, z.B. JES

Anmerkung     Als thematische Ergänzung bieten sich folgende
              Module an:
               HIV und Hepatitiden
               Leber
               Ausgewogene Ernährung
               Hygiene
               Gesundheit im Alter

                         17
3.2 Schwerpunkt Prävention
HIV und Hepatitiden
Neben einer grundsätzlich höheren Prävalenz somatischer Erkrankungen gibt
es in Haftanstalten überproportional viele Menschen mit Suchterkrankung, mit
der häufig Erkrankungen wie Hepatitiden und HIV einhergehen. Gefängnisse
gelten dadurch als Hochrisikobereich für Infektionserkrankungen. Menschen
werden in Zwangsgemeinschaften zusammengebracht, auch auf engem Raum
in Saalunterbringung. Das Wissen um Infektionserkrankungen bei
Mitgefangenen verunsichert, weckt Ängste und kann zu Ausgrenzung führen.

Welche Infektionserkrankungen sind insbesondere in Haft von Bedeutung, mit
welchen wird man auch nach der Entlassung konfrontiert? Wie groß ist die
Infektionsgefahr? Welche Schutzmaßnahmen gibt es, was muss berücksichtigt
werden, welche Maßnahmen sind in Haft verfügbar? Wie geht man mit
Infektionen im Umfeld oder mit der eigenen möglichen Infektion um?

      Modul 02: HIV und Hepatitiden
      Ziel              Aktualisierung des Wissensstandes
                        Entwicklung eines Problembewusstseins
                        (Blood-Awareness)
                        Kompetenzstärkung für adäquate individuelle
                        Risikoeinschätzung
                        Abbau von Unsicherheiten als Basis von
                        Diskriminierung und Stigmatisierung Infizierter
                        Stärkung der Selbstverantwortung
                        Verhaltensänderung, Entwicklung präventiver
                        Routinen

      Inhalt            Aktuelle Informationen zu viralen
                        Infektionserkrankungen (Hepatitis A, Hepatitis B,
                        Hepatitis C, HIV/AIDS)
                        Infektionswege, Infektionsrisiko im Haftalltag, im
                        Betrieb, im privaten Umfeld (Ausgang/Freigang/nach
                        Entlassung)
                        Infektionsvermeidung, Präventionsmöglichkeiten:
                         Allgemeine Hygiene: Gebrauch von Zahnbürsten,
                         Rasierern, Schneidewerkzeugen, Vermeidung von
                         Spritzenabszessen

                                 18
Safer Sex: Aufklärung zum Kondomgebrauch,
               Femidom, HIV-Schutz durch Therapie, HIV-PrEP
               Sprechen über medikamentöse Notfallmaßnahmen
               bei HIV und HBV
               Safer use: Informationen zum sichereren
               Substanzkonsum
               Informationen zu Schutzimpfungen
               Therapieoptionen
               Rechtliche Fragen: Gibt es eine Informationspflicht?
               Recht auf informationelle Selbstbestimmung,
               Anspruch auf Verschwiegenheit

Kooperation   Deutsche Aidshilfe/Regionale Aidshilfen
              Infektiolog:innen
              Drogenhilfeeinrichtungen bzw. Fachberatungsstellen
              mit dem Schwerpunkt Sucht (zur Unterstützung für
              den Bereich safer use)
              Hochschulen mit Studiengang
              Gesundheitswissenschaften

Anmerkungen   Kontroverse Haltungen zum Thema Übernahme von
              Verantwortlichkeit und Schuld (-zuweisung) sind in
              diesem Modul erwartbar und sollten zeitlich
              eingeplant werden.
              Selbstverständlich kann dieses Modul um aktuelle
              Themen, wie SARS COV2/Corona erweitert werden.
              Als thematische Ergänzung bieten sich folgende
              Module an:
               Tattoo und Piercing
               Sexuell übertragbare Infektionen
               Verhütung
               Leber

                       19
Tattoo und Piercing
In Haft zwar nicht gestattet, dennoch beliebt: Gefangene lassen sich während
ihrer Inhaftierung tätowieren oder piercen. Mehr oder weniger erfahrene Laien
stechen Mitgefangenen mithilfe phantasievoll gebastelter Maschinen und
Nadeln und selbst angerührter Farben Tattoos oder Piercings. Die für Tattoo-
Studios geltenden Hygiene- und Materialanforderungen für steriles und
sicheres Arbeiten können nicht erfüllt werden (Ausnahme Luxemburg: im
dortigen Gefängnis Schrassig gibt es seit 2017 ein „Inmates-Tattoo-Studio“).

      Modul 03: Tattoo und Piercing
      Ziel              Aufklärung über mögliche gesundheitliche Risiken
                        von Tattoo und Piercing.
                        Schadensminimierung
                        Förderung des Risikomanagements
                        Anregung zur Reflexion über die Entscheidung für
                        Körperschmuck

      Inhalt            Tattoo/Piercing als Gesundheitsrisiko:
                        Infektionen mit Bakterien und/ oder Viren (HBV,
                        HCV, HIV)
                        Nerven- und Gewebeschädigungen v.a. beim nicht-
                        professionellen Piercen
                        Mögliche Langzeitfolgen durch giftige Bestandteile
                        der Tattoo-Farben: Allergien, Hauterkrankungen,
                        Organerkrankungen, Krebserkrankungen
                        Besprechung/Klärung folgender Fragen:
                          Welche Hygienemaßnahmen sind Voraussetzung
                          für risikoarmes Tätowieren/Piercen?
                          Welche Schutzmöglichkeiten habe ich/stehen mir
                          zur Verfügung?
                          Wie pflege ich die Wunden durch ein frisch
                          gestochenes Tattoo/Piercing?
                          Woran erkenne ich, dass eine Infektion
                          stattgefunden hat? Sollte ich damit zur Ärztin/zum
                          Arzt gehen?
                          Können Tätowierungen rückgängig gemacht
                          werden? Welche Voraussetzungen gibt es dafür?
                          Wo finde ich geeignete Ärzt:innen?

                                  20
Tattoo/Piercing als Ausdruck der Persönlichkeit:
               Aus welchen Gründen möchte ich ein Tattoo oder
               Piercing? Wo soll es platziert sein?
               Was soll das Tattoo/Piercing über mich aussagen?
               Passt das Tattoo auch in einigen Jahren oder in
               einer veränderten Lebenssituation noch zu mir?
               Wie wirkt mein Körperschmuck auf die Außenwelt?
               Gibt es soziale Nachteile insbesondere nach
               Entlassung (Beispielsweise bei der Arbeits-
               und/oder Wohnungssuche)?
               Bin ich mir bei meiner Entscheidung wirklich sicher?
               Muss das Tattoo unbedingt in Haft gestochen
               werden?
               Wo finde ich außerhalb der Haft ein Studio und wie
               erkenne ich, dass nach den aktuellen
               Hygienestandards gearbeitet wird?

Kooperation   Deutsche Aidshilfe/Regionale Aidshilfen
              Mitarbeiter:innen von Tattoo-Studios
              Dermatolog:innen

Anmerkung     Das Modul ist geeignet das Interesse an einer
              intensiveren Auseinandersetzung mit HIV und
              Hepatitiden zu wecken.

                       21
Leber
Die Prävalenz von Lebererkrankungen ist bei Gefangenen im Vergleich zur
Allgemeinbevölkerung deutlich erhöht. Der Konsum illegaler Drogen, v.a.
intravenös appliziert, führt zu viral bedingten Hepatitiden. Der erhöhte Konsum
legaler Substanzen wie Alkohol birgt das Risiko der Entwicklung einer
alkoholbedingten Fettleber (ASH); Fehlernährung, Übergewicht, erhöhte
Blutfettwerte und Medikamentengebrauch können zur nicht-alkoholischen
Fettleber (NASH) führen.

Dieses Modul bietet Gefangenen die Möglichkeit, ihr Wissen um das
lebenswichtige Organ zu vertiefen.

      Modul 04: Leber
      Ziel               Wissensvermittlung zu Bedeutung und
                         Funktionsweise des größten Entgiftungsorgans
                         Aufbau eines Problembewusstseins
                         Erlernen von Möglichkeiten zur Unterstützung der
                         Leberfunktion

      Inhalt             Bedeutung der Leber für den Gesamtorganismus,
                         wie beispielsweise Entgiftung, Bildung von
                         Hormonen.
                         Funktion und Aufbau
                         Reaktion der Leber auf:
                          Alkohol
                          Ernährung
                          Illegale Substanzen
                          Infektionen
                          Medikamente
                         Regenerationsfähigkeit der Leber
                         Leberstützende Maßnahmen
                         (Ernährung, Bewegung)
                         Prävention (Impfung)
                         Risikomanagement (safer sex, safer use)

                                    22
Kooperation   Deutsche Aidshilfe/Regionale Aidshilfen
              Infektiolog:innen/Hepatolog:innen
              Leberhilfe
              Ökotropholog:innen

Anmerkung     Als thematische Ergänzung bieten sich folgende
              Module an:
               HIV und Hepatitiden
               Hygiene
               Substanzgebrauch
               Ausgewogene Ernährung

                         23
Gesundheit im Alter
Die Gesellschaft altert, somit finden sich auch im Justizvollzug zunehmend
ältere Menschen, entweder, weil sie lange oder immer wieder inhaftiert sind,
oder weil sie als ältere Menschen – eine besondere Herausforderung – erstmals
zu einer Haftstrafe verurteilt sind. Der Alterungsprozess kann sich massiv auf
die eigene Identität auswirken und das gewohnte Selbstbild und
Selbstvertrauen in Frage stellen.

Dieses Modul richtet sich nicht nur an schon Ältere, sondern an alle
interessierten Gefangenen, die sich mit dem Thema (drohendes) Alter
beschäftigen oder sich vielleicht auch darum sorgen.

      Modul 05: Gesundheit im Alter
      Ziel               Informationsvermittlung zu sich im Laufe der Jahre
                         entwickelnden Veränderungen von Körper und Geist
                         Auseinandersetzung mit möglichen zu erwartenden
                         Körperveränderungen und Erkrankungen
                         Erarbeitung von (präventiven)
                         Handlungsmöglichkeiten zur Aufrechterhaltung von
                         Mobilität und Vitalität auch im höheren Alter
                         Stärkung der Selbstsorge

      Inhalt             Fortschreitendes Lebensalter geht einher mit
                         psychischen wie physischen bis hin zu
                         hirnorganischen Veränderungen.
                         Häufig auftretende Einschränkungen:
                          Verlust von Körperkraft und Beweglichkeit
                          Gewichtsveränderungen
                          Veränderung der Sexualität
                          (Libidoverlust, Trockenheit der Schleimhäute,
                          Prostataprobleme, Dysfunktionen)
                          Stimmungsschwankungen, Schwermut, depressive
                          Verstimmungen
                          Veränderung der Gehirnleistung
                          (u.a. Demenzerkrankungen)
                          Hirnschädigungen durch Substanzkonsum
                          Herz-Kreislauferkrankungen
                          Diabetes/Stoffwechselerkrankungen
                          Tumorerkrankungen

                                  24
Möglichkeiten zur Statuserhaltung und Prävention:
               Bewegung: Muskelaufbau bzw. Verhinderung von
               Muskelabbau, Trainieren von Gleichgewichtssinn
               und Koordination
               „Gehirnjogging“: Trainieren von Konzentration und
               Aufnahmefähigkeit
               Aufbau/Förderung sozialer Kontakte
               Ernährung
               Medizinische Untersuchungen zur Früherkennung
               Reduktion von Rauchen und/oder Substanz-
               /Alkoholkonsum

Kooperation   Deutsche Aidshilfe/Regionale Aidshilfen
              Mediziner:innen
              Geriatrische Fachkräfte
              Fitness-Trainer:innen
              Hochschulen mit Studiengang Pflegewissenschaften
              Selbsthilfegruppen (Fit im Alter o.ä.)

Anmerkungen   Die Themen Tod, Sterben und der Umgang mit Trauer
              und Verlust sollten bei Bedarf angemessenen Raum
              finden können.
              Als thematische Ergänzung bietet sich folgendes
              Modul an:
               Ausgewogene Ernährung

                        25
Fokus: Sexualität
Die haftbedingte Trennung von Familie, Partner:innen, Freunden und die
fehlenden Möglichkeiten frei gewählter sozialer Kontakte mindern nicht den
Wunsch und die Sehnsucht nach Beziehungen, Familie, Sexualität. Eher ist das
Gegenteil der Fall und Gefangene erhoffen von einer (zukünftigen)
Partnerschaft und Familiengründung sehr viel an Zugewinn von Geborgenheit,
Stabilität, Absicherung bis hin zur Beendigung ihrer Abhängigkeitsprobleme.

Das Ausleben von Sexualität in Haft ist offiziell nur sehr begrenzt möglich.
Selbst wenn eine Anstalt über Langzeitbesuchsräume verfügt, kann nicht jede:r
Gefangene eine stabile Partnerschaft vorweisen, die die Voraussetzung für die
Gewährung von Langzeitbesuch darstellt.
Geschlechtergetrennte Unterbringung unterbindet zwar heterosexuelle
Kontakte zwischen den Gefangenen, sexuelle Bedürfnisse und das Bedürfnis
nach Nähe bleiben jedoch – Stichwort „Knasthomosexualität“. Auch kann davon
ausgegangen werden, dass sexuelle Dienstleistungen in Haftanstalten
angeboten werden.
Sexualität sollte kein Tabuthema sein – auch nicht in Haft.

Die beiden folgenden Module befassen sich auf den ersten Blick vorrangig mit
der Vermeidung unerwünschter Folgen gelebter Sexualität. Sie bieten über den
Zugang der Prävention aber eine Einstiegsmöglichkeit in das aus Gründen wie
Unsicherheit oder Scham oft vermiedene Thema Sexualität. So kann - über die
Vermittlung rein biologisch-medizinischer Fakten hinausgehend - auf
psychosoziale Dynamiken von Sexualität eingegangen werden.

Erfahrungsgemäß können in diesen Zusammenhängen weitere Themen wie
Kinderwunsch, Schwangerschaft, Partnerschaft, sexuelle Orientierung u.a. zur
Sprache kommen. Bei Bedarf sollte geprüft werden, ob entsprechend
weiterführende sexualpädagogische Einheiten entwickelt und angeboten
werden.

                                   26
Modul 06: Sexuell übertragbare Infektionen
Ziel          Wissensvermittlung zu einzelnen sexuell
              übertragbaren Infektionen (STI)
              Förderung individuellen Problembewusstseins
              Abbau von Unsicherheiten in Bezug auf
              Übertragungswege
              Stärkung der Risikoeinschätzungskompetenz
              Aufzeigen von Strategien zur
              Infektionsvermeidung/Prävention

Inhalt        Basisinformationen zu STI (Syphilis, Gonorrhoe,
              Chlamydien, HPV)
              Übertragungswege und mögliche Symptome der
              jeweiligen Infektionen
              Hemmungen überwinden mit Ärztin/Arzt über eine
              befürchtete STI zu sprechen
              Schutzmöglichkeiten/Verhütungsmethoden:
               Kondomgebrauch, Lecktücher (Dental Dam),
               Femidom, Impfung HPV
              Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es auch in
              Haft?
              Wie wirkt sich das Risiko einer Infektion auf die
              Ausübung meiner Sexualität aus? Kann ich diese
              noch leben wie gewünscht?
              Wie spreche ich mit meiner Sexualpartnerin/meinem
              Sexualpartner über den Umgang mit einem
              STI-Risiko?
              Wer trägt Verantwortung für die
              Infektionsvermeidung?

Kooperation   Deutsche Aidshilfe/Regionale Aidshilfen
              Fachärzt:innen aus den Bereichen
               Gynäkologie
               Venerologie
               Infektiologie
               pro familia Beratungsstellen/
               Familienplanungszentren

                       27
Anmerkung   Bei der Umsetzung in einer JVA für Frauen sollen
            vorzugsweise     Referentinnen       und   weibliche
            Fachärztinnen eingesetzt werden (siehe Kapitel 2:
            Besonderer Situation inhaftierter Frauen).
            Kontroverse     Haltungen      zu    den    Themen
            „Verantwortlichkeit“ und „Schuld (-zuweisung)“ sind in
            diesem Modul erwartbar.
            Als thematische Ergänzung bietet sich folgendes
            Modul an:
             HIV und Hepatitiden

                     28
Modul 07: Verhütung
Ziel          Informationen zu gängigen und alternativen
              Verhütungsmethoden
              Risikomanagement
              Vermeidung von Infektionserkrankungen und
              ungewollter Schwangerschaft
              Abbau von Hemmungen über Verhütung und
              Sexualität zu sprechen

Inhalt        Ziel von Verhütung
              Aufbau und Funktionen der primären und
              sekundären Geschlechtsorgane
              Darstellung unterschiedlicher
              Verhütungsmöglichkeiten
              Hinweise zur praktischen Anwendung der jeweiligen
              Methoden/Mittel
              Chancen und Risiken der jeweiligen
              Verhütungsmethode/-mittel
              Alternative Verhütungsmöglichkeiten
              Welche Verhütungsmethode ist für meine Situation
              passend?
              Wie spreche ich mit meiner Partnerin/meinem
              Partner über Verhütung?
              Wer übernimmt Verantwortung für die Verhütung?

Kooperation   Deutsche Aidshilfe/Regionale Aidshilfen
              pro familia Beratungsstellen/
              Familienplanungszentren

Anmerkung     Erfahrungsgemäß bietet sich ein Exkurs zu
              „Sexualität und Sprache“ an: angemessene
              Benennung von Körperbereichen/-regionen im
              Gegensatz zu diskriminierend-abwertender Sprache.
              Kontroverse     Haltungen     zu    den    Themen
              „Verantwortung“ und „stereotype Rollenzuweisungen“
              sind in diesem Modul erwartbar.

                       29
3.3 Schwerpunkt Psychosoziale Kompetenzen
Das psychische Befinden ist ebenso elementarer Bestandteil der Gesundheit
wie das körperliche und kann unter anderem durch Stress stark belastet
werden. Die Zeit in Haft bringt einige Stressoren mit sich. Die Module in diesem
Kapitel widmen sich daher den Schwerpunkten „Stress“, „Erhalt sozialer
Kontakte“, „Haltungen und Wertesysteme“ und „gewaltfreie Kommunikation“.
Sie bieten den Teilnehmenden an, sich aktiv mit unterschiedlichen belastenden
Situationen zu beschäftigen und individuelle Wege zur Stressreduktion zu
erkunden.

WICHTIG: Es handelt sich hierbei nicht um gruppentherapeutische Angebote.
Therapeutische Angebote im Einzel- oder Gruppensetting sollten entsprechend
von den dafür zuständigen psychologischen Mitarbeiter:innen entwickelt und
angeboten werden.

Ein besonderer Stressor in Haft ist Erleben von oder Angst vor Gewalt. Zur
Bearbeitung des Gewaltthemas empfehlen wir die Nutzung der inzwischen
etablierten Antigewalttrainings und Angebote zu Gewaltprävention in Haft.

      Modul 08: Umgang mit Stress
      Ziel               Darstellung verschiedener Methoden und Strategien
                         zur Stressbewältigung
                         Aneignung von Bewältigungskompetenzen und
                         Coping-Strategien
                         Stärkung der Resilienz

      Inhalt             Einführung in das Thema Stress:
                           Begriffsdefinition (Eustress, Disstress)
                           Ursachen, Entstehung und Auslöser von Stress
                           Eingehen auf Kontraindikationen
                           (z.B. Substanzgebrauch, provozierendes Auftreten)
                           Für die Entwicklung individueller Präventions- und
                           Bewältigungsstrategien können folgende Themen
                           und Fragestellungen hilfreich sein:
                                 Auseinandersetzung mit der aktuellen
                                 Situation: Eingesperrtsein, Aggressionen,
                                 Unsicherheiten, Überforderungen,
                                 Einsamkeit
                                 Eigene Erfahrungen im Umgang mit Stress

                                   30
mentale und physische
                     Entlastungsmethoden: Sport, Yoga,
                     Entspannungstechniken, Akupunktur,
                     Singen, kreatives Schreiben, künstlerische
                     Angebote u.ä.

Kooperation   Anti-Stress-Trainer:innen
              Psycholog:innen

Anmerkung     Dieses Modul sollte – nach einem kurzen Input durch
              die Referent:innen – als offener Gruppendiskurs
              angeboten werden.
              Das Modul könnte als Impuls für eine
              Entspannungsgruppe dienen. Interesse daran wird es
              wahrscheinlich eher im Langstrafenvollzug geben, da
              dort die Positionen in der Hierarchie ausgefochten
              und gefestigt sind. Im Kurzstrafenvollzug muss mit
              weniger Interesse gerechnet werden, da sich niemand
              als „Weichei“ präsentieren will.

                       31
Soziale Kontakte
Inhaftierung und Verurteilung betreffen nicht nur die Gefangenen selbst,
sondern wirken sich auch auf ihr soziales Umfeld, ihre Freunde und Familien
aus. Dies wiederum bedeutet eine weitere Belastung für Inhaftierte. Ihnen sind
die Hände gebunden, wenn sie um Probleme in ihrem sozialen Umfeld wissen,
und sie sorgen sich, ob ihre Inhaftierung sie nicht von Familie und Freunden
trennen wird. Manch einer bricht vorsorglich, um einem möglichen
Trennungsprozess vorzugreifen, Kontakte ab.

Dieses Modul ist als Anregung gedacht, individuelle Wege zu entdecken, mit
der Belastung durch die Veränderung sozialer Bezüge lösungsorientiert
umzugehen und Perspektiven zu entwickeln.

      Modul 09: Erhalt sozialer Kontakte
      Ziel               Erarbeitung und Entwicklung von
                         Entlastungsstrategien
                         Aufbau und/oder Stärkung der Selbstwirksamkeit im
                         Kontakt mit dem sozialen Umfeld
                         Anregung zur Perspektivenentwicklung

      Inhalt             Folgen der Inhaftierung:
                          Trennung von Familie, Freunden, Bezugspersonen
                          Verlust von Haushaltseinkommen = Folgeprobleme
                          wie drohender Wohnungsverlust
                          Ächtung/Kontaktabbruch aufgrund des Deliktes
                          Scham und Schuldgefühle
                          Ohnmacht, Hilflosigkeit
                          Unsicherheit im Umgang mit dem sozialen Umfeld

                         Erwartungen, Befürchtungen, Ängste in Bezug auf
                         Familie und Freunde:
                          abgelehnt zu werden
                          eine emotionale und finanzielle Belastung zu sein
                          nahestehende Menschen zu stigmatisieren
                          den Kontakt zu verlieren, verlassen zu werden

                                  32
Typische Fragestellungen, die daraus resultieren:
               Wie sage ich es meiner Familie, meinen
               Bezugspersonen, meinem sozialen Umfeld?
               Wie kann es mir gelingen, meine
               Partnerschaft/Freundschaften/Kontakt zur Familie
               aufrecht zu erhalten?
               Wie kann ich verlorenen Kontakt auch aus der Haft
               heraus wieder aufnehmen?
               Welche Möglichkeiten habe ich, mit meinen
               Befürchtungen und Sorgen umzugehen, Grübeleien
               und „Kopfkarussel“ abzustellen?
               Wie löse ich innere Konflikte? Wie treffe ich die
               richtigen Entscheidungen?

              Aufzeigen der vor Ort vorhandenen Angebote und
              Möglichkeiten: Freizeitangebote, die bei Stressabbau
              helfen können (z.B. Sport, Yoga, Chor)
              Eigene Möglichkeiten: Tagebuch/Briefeschreiben,
              Malen/Zeichnen u.a.
              Unterstützungsmöglichkeiten durch z.B. Seelsorge,
              Soziale Dienste, Beratungsangebote durch externe
              Einrichtungen in der JVA

Kooperation   Psycholog:innen/Systemiker:innen
              Beratungsstellen für Inhaftierte, Haftentlassene und
              ihre Angehörigen

Anmerkung     Da das Thema auf Seiten der Gefangenen sehr
              emotional besetzt sein kann, ist besonders darauf zu
              achten, es möglichst auf der Sachebene zu halten.
              Möglicherweise zeigt sich ein Bedarf nach Angeboten
              speziell für Eltern. In manchen JVA gibt es bereits
              Eltern- oder Eltern-Kind-Gruppen. Sollte es vor Ort
              noch kein Angebot geben, sollte der Bedarf geprüft
              und ein Angebot geschaffen werden.

                       33
Haltungen und Wertesysteme
Im Justizvollzug werden Menschen räumlich zusammengebracht, die
unterschiedliche persönliche Hintergründe haben. Gemeinsam ist ihnen die
Straffälligkeit – und selbst die Straftaten unterliegen unterschiedlichsten
Bewertungen und hierarchischen Einordnungen. Das Aufeinanderprallen
differierender Haltungen, Kulturen und Wertesysteme birgt Konfliktpotential,
das den Stresslevel erhöhen kann.

Respektvoller Umgang mit Unterschiedlichkeit kann Stressoren reduzieren und
somit den Haftalltag erleichtern. Perspektivisch dient die Auseinandersetzung
mit den Themen des Moduls der Vorbereitung auf die Rückkehr in die
Gesellschaft, deren Haltungen und Wertesysteme sich stetig weiterentwickeln.

      Modul 10: Haltungen und Wertesysteme
      Ziel              Abbau von Verunsicherung durch vom eigenen
                        Lebensentwurf abweichende Lebensgestaltungen
                        Abbau von Vorurteilen und stereotypen Bewertungen
                        Sensibilisierung für Stigmatisierung und
                        Diskriminierung anderer Lebens- und Liebesweisen
                        Stärkung respektvollen Umgangs

      Inhalt            Wissensvermittlung Grund- und Menschenrechte
                        Recht auf (auch sexuelle) Selbstbestimmung
                        Unterschiedliche Perspektiven auf Lebensentwürfe –
                        konventionell/unkonventionell
                        Diversität von Lebens- und Liebesweisen (LSBTIQ*)
                        Begriffsdefinition und Abgrenzung von Toleranz,
                        Respekt, Akzeptanz
                        Auswirkungen von Diskriminierung, Stigmatisierung,
                        Sexismus, Rassismus und grenzüberschreitendem
                        Verhalten
                        Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Normen
                        und Werten
                        Reflexion eigener Vorurteile und persönlicher
                        Grenzen

                                  34
Kooperation   Mitarbeitende aus interkulturellen Beratungsstellen
              Deutsche Aidshilfe/Regionale Aidshilfen
              Netzwerk Rassismus und Antidiskriminierung
              Bildungsinstitute

Anmerkung     Aufgrund der besonderen Komplexität dieses
              Themenbereichs bietet es sich an, das Modul als
              mehrere Einheiten zu konzipieren.
              Als thematische Ergänzung bietet sich folgendes
              Modul an:
               Gewaltfreie Kommunikation und Sprache

                       35
Gewaltfreie Kommunikation und Sprache
Der Haftalltag ist geprägt von teilweise aggressiven verbalen oder körperlichen
Auseinandersetzungen. Provokantes Auftreten, Missverständnisse und
Verständigungsprobleme können dabei – insbesondere durch den hohen Anteil
nicht Deutsch sprechender Gefangener – eine große Rolle spielen. Um einen
psychisch und physisch stressärmeren und konfliktfreieren Haftalltag zu
schaffen, erscheint es sinnvoll, die Kompetenzen Inhaftierter hinsichtlich
gewaltfreier Kommunikation zu stärken, zu erweitern oder erst zu entwickeln.

      Modul 11: Gewaltfreie Kommunikation und Sprache
      Ziel               Eskalationsprävention
                         Erlernen gewaltfreier Kommunikation

      Inhalt             Differenzierung verbaler und nonverbaler
                         Kommunikation
                         Dynamiken der Kommunikation:
                          unterschiedliche Formen verbaler Kommunikation
                          verschiedene Arten des Zuhörens
                          Einfluss nonverbaler Botschaften auf die
                          Kommunikation
                          unterschiedliche Wahrnehmungen

                         Aufgreifen von Alltagssituationen:
                          provozierendes Verhalten
                          emotionsgeladene Situationen
                          unterschiedliche Sprachkompetenzen
                          divergierende Kommunikationsmuster
                          Sprache als Machtinstrument: rassistischer,
                          diskriminierender, stigmatisierender und
                          sexistischer Sprachgebrauch

      Kooperation        Kommunikationstrainer:innen
                         Antigewalttrainier:innen

                                   36
Anmerkung   Bei der Bearbeitung des Themas Kommunikation und
            Sprache wird zwangsläufig der Bereich Wertesysteme
            berührt. Mit kontroversen Diskussionen muss
            gerechnet werden.
            Bietet man dieses Modul als Serie an, kann es als
            Trainingseinheit zum Erlernen und Erproben
            gewaltfreier Kommunikation genutzt werden.
            Das Modul kann ebenso als ein Element im
            Sprachkurs „Deutsch als Fremdsprache“ eingesetzt
            werden.
            Als thematische Ergänzung bietet sich folgendes
            Modul an:
             Umgang mit Stress

                     37
3.4 Schwerpunkt Alltagspraktische Fähigkeiten
Bei Gesprächen in Haft und nach Haftentlassung zeigen sich insbesondere bei
Männern,     die    tradierte  Rollenbilder  pflegen,    oftmals   fehlende
Alltagskompetenzen aufgrund mangelnder Kenntnisse und Fähigkeiten.
Ernährung wird in Form von „fast food“/Convenienceprodukten bevorzugt,
welche mit Nährwertbilanz ernährungsphysiologisch und mit relativ hohen
Kosten auch ökonomisch negativ ins Gewicht fallen, insbesondere für ALGII-/
Sozialhilfebezieher und Geringverdienende. Basisinformationen zu Hygiene
und Hauswirtschaften fehlen oftmals ebenso wie ein angemessenes Verhältnis
zu Geld und wirtschaftlichen Möglichkeiten.

Hygiene
Menschen, die lange Zeit Drogen konsumieren oder wohnungs- oder sogar
obdachlos leben, fallen nicht selten durch unzureichende Körperpflege auf.
Hinzu kommt häufig ein sehr schlechter Zahnstatus. Die konsumierten
Substanzen (inklusive Tabak) können Zahnsubstanz und Zahnfleisch angreifen.
Darüber hinaus führen gestörtes Schmerzempfinden und unzureichende
Mundhygiene zu behandlungsbedürftigen Gebissen. Neben der speziellen
Lebenssituation verhindern auch Angst und Scham allzu oft die
Inanspruchnahme (zahn-) medizinischer Behandlung – mit dem Risiko weiterer
gesundheitlicher Schäden (Woltmann, J. 2014).

In Haft allerdings achten die meisten Gefangenen auf sich – eine gute
Gelegenheit, ihnen das Thema Hygiene anzubieten, das den Fokus nicht nur
auf individuelle Körperpflege setzt, sondern mit der Notwendigkeit von
Sauberkeit im Alltag – Küche, Bad, Lebensmittel – kombiniert und damit auf das
Leben in einer (im Idealfall eigenen) Wohnung vorbereiten kann.

      Modul 12: Hygiene
      Ziel               Darstellung der Bedeutung von Hygiene für die
                         Prophylaxe von Erkrankungen
                         Vermittlung von Hygieneregeln bei Körperpflege und
                         im Haushalt
                         Abbau von Ängsten und Vorurteilen gegenüber
                         Ärzt:innen (Zahnheilkunde, Dermatologie)
                         Befähigung zum respektvollen Umgang mit sich
                         selbst

                                  38
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