Gibt es ein polnisches Oderbruch? - PERSPEKTIVEN EINER (GRENZ)REGION - Oderbruch Museum Altranft
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G A Z E TA September 2020 Wa r t a PERSPEKTIVEN EINER (GRENZ)REGION Gibt es ein polnisches Oderbruch? „Grüße aus Neu Amerika” - Postkarte nach Ortner Das Oderbruch ist eine Klein- ner kommunalen Arbeitsgemein- Kolonistendörfer und viele alte einem großen Unterstützerkreis landschaft an der deutsch-pol- schaft „Kulturerbe Oderbruch“ Städte und Fischersiedlungen in der polnischen Oder- und War- nischen Grenze. Als besiedelter zusammengeschlossen. Bereits haben eine enge historische Be- theregion. Begleitend sind kleine Flusspolder ist es vor allem durch 2019 hat der Landkreis im Auftrag ziehung zu dieser Landschaft. Ausstellungsbausteine entstan- sein beispielhaftes Wassersystem der Kommunen eine Bewerbung Außerdem schließt sich im Süd- den, die im Oderbruch Museum geprägt, das in der preußischen auf das Europäische Kulturerbe- osten das Warthebruch an, das Altranft gezeigt werden. Die Tage Binnenkolonisation des 18. Jahr- Siegel eingereicht, mit der die man geradezu als Schwesterland- für Befragung, Exkursion, Text- hundert begründet wurde. Über Kulturlandschaft überregional schaft des Oderbruchs verstehen erstellung, Redaktion und Ge- Kriege, Katastrophen und poli- in Erscheinung treten will. Als kann. Was haben die Menschen staltung waren knapp und ließen tische Systembrüche hinweg ist fachliche Koordinationsstelle der an diesen Orten zu erzählen? nicht viel Zeit zum Schlafen. Die dieses Wassersystem immer wei- Initiative agiert das Oderbruch Welche Geschichten kennen sie, Freude am Entdecken und an den terentwickelt und optimiert wor- Museum Altranft. In den letzten und wie ist die Geschichte ihrer Gesprächen mit vielen freund- den, sodass man heute von einer vier Jahren wurden durch das Orte nach dem zweiten Weltkrieg lichen und offenen Menschen beispielhaften „Landschaftsma- Museum bereits 35 Kulturerbe- weiter gegangen? Schon lange aber hat uns durch die Woche ge- schine“ sprechen kann. Auffal- Orte ausgewiesen, die in eine ge- gab es in der Kulturerbe-Initiative tragen. Wir wünschen Ihnen viel lend an der Landschaft sind zu- meinsame landschaftliche Erzäh- den Wunsch, den Grenzhorizont Vergnügen bei unserer Spuren- dem die immer noch gut lesbaren lung eintreten. Unter ihnen sind zu überwinden und in polnisch- suche und hoffen, dass ihr viele Siedlungsstrukturen der Fischer- Schöpfwerke, Kirchen, Alleen, deutschen Partnerschaften ein Begegnungen und gemeinsame und Kolonistendörfer sowie eine Dorfrundgänge, Heimat-stuben gemeinsames Erbe zu gestalten. Schritte folgen werden. charakteristische Offenheit der und Museen. Alle leisten einen Diese Zeitung ist ein erster Schritt ländlichen Gesellschaft, die im- Beitrag und präsentieren sich ge- in diese Richtung. Erarbeitet mer wieder neue Menschen auf- meinsam. wurde sie in einer Sommerschul- Viel Freude bei der Lektüre genommen hat. Aber das Oderbruch endet nicht woche mit Studierenden der wünschen die Teilnehmenden Als Ausdruck des Selbstbewusst- so einfach an der deutsch-pol- Hochschule für Nachhaltige Ent- der Sommerschule seins der Oderbrücher haben sich nischen Staatsgrenze. Auch auf wicklung Eberswalde, der Fach- Landschaftskommunikation die Kommunen im Jahr 2020 zu ei- polnischer Seite gibt es einige hochschule Potsdam sowie mit 2020.
2 | GAZETA Warta | PERSPEKTIVEN EINER (GRENZ)REGION Ein Fluss verbindet Natur- und Kulturstätten auf der östlichen Seite der Oder hörte diese zu einem Gutshof der Templer. Zufällig trafen wir Jörg von Ameln, der sich im Zusam- menhang mit seiner Familien- geschichte, intensiv mit dem Mittelalter beschäftigt. Er ge- wärte uns Zutritt zur Kapelle. Im Inneren erzählte er von der Geschichte des Gutshofes, den Wandbildern und der Suche nach Krypten unterhalb des Ge- bäudes. Als Besonderheit fiel auf, dass der Kirchenbau mit den beiden kleinen Türmen und Schieß- scharten gleichsam eine Wehr- anlage war. Der nächste Halt war die Stadt Moryń. Diese liegt an schönen See in einer Endmoränenland- schaft, welche durch die Eiszeit entstanden ist. Zu dem See gibt es eine Sage über einen großen Krebs, von der es mehrere Ver- Michael Kurzwelly neben dem Krebsbrunnen in Moryń sionen gibt. Dieser Krebs steht auch als Statue in der Mitte der Könnte die Oder sprechen, so Geschichte der polnischen Seite liegt seitdem in Trümmern. Stadt. Umringt wird die Stadt würde sie wahrscheinlich zahl- der Region näherzubringen. Doch selbst die heutige Rui- von einer noch sehr gut erhal- lose Geschichten in vielen ver- ne mit ihren geschwungenen tenen Stadtmauer, welche sich schiedenen Sprachen erzählen. Wir starteten unsere kleine Rei- Rundbögen erzählt noch von hervorragend erkunden lässt, Im Laufe der Zeit war sie Teil se an einem Ort nahe Küstrin, den unterschiedlichsten Men- da sie zum großen Teil von der unterschiedlichsten Länder an dem Kultur heute ganz aktiv schengruppen, die der Ort im außen nicht verbaut wurde. und das Zuhause zahlreicher gelebt wird: Auf dem Gelän- Laufe seiner Geschichte gese- Wir erkundeten weiter den Mo- Ethnien. Heute bildet sie die de des Pol‘ and Rock Festivals hen hat. rynsee und den daran angren- Grenze zwischen Deutschland kommen seit Jahren über eine zenden Geopark. Hier sind le- und Polen. Doch lässt sich die halbe Million BesucherInnen Fährt man vom Fort aus durch bensgroße Tiere aus der Eiszeit Oderregion, die eine so lange aus aller Welt zusammen, um das Dorf Sarbinowo, so gelangt nachgebildet. In der Stadt gibt Geschichte verbindet, wirklich gemeinsam ihre Liebe zur Mu- man an einen unscheinbaren es zudem eine Ausstellung zur einfach so trennen? Als Deut- sik zu feiern. Das Event soll ein Feldweg, an dem nur eine Ge- Eiszeit, die in Zusammenarbeit sche kennen wir das Oderbruch Dankeschön für alle Menschen denktafel von dem historischen mit der Partnerstadt Joachimst- westlich des Flusses, doch wel- Polens sein, die jährlich bei der Ereignis zeugt, welches hier hal entstand. che Geheimnisse birgt wohl das Spendensammlung für Kin- stattgefunden hat: die Schlacht östliche Ufer? derkrankenhäuser mithelfen. bei Sarbinowo / Zorndorf 1757 Im letzten Teil unseres ersten Um das herauszufinden und Dieses Jahr musste die Veran- zwischen Preußen und dem Tages im polnischen Oderbruch die gemeinsame Vergangenheit staltung aufgrund der Covid-19 Russischen Reich. Mitten im widmeten wir uns den Natur- der Oderregion zu ergründen, Pandemie natürlich entfallen, Siebenjährigen Krieg lieferten landschaften. Unser erstes Ziel besuchten wir besondere Orte sie soll aber so bald wie möglich sich die Truppen von Friedrich war das bewaldete Tal des na- des Kultur- und Naturerbes auf wieder stattfinden. dem Großen und des russischen turnahen Flusses Słubia, das polnischer Seite. Generals Fermor hier eine der Teil eines Naturschutzgebietes Als Ortskundiger und Dolmet- Unser Weg führte uns weiter blutigsten Auseinandersetzung- ist. Wir folgten der plätschern- scher stand uns Michael Kurz- Richtung Sarbinowo. Das klei- en des 18. Jahrhunderts. Über den Słubia ein Stück flussab- welly zur Seite. Der Künstler ne Dorf, das früher Zorndorf 34 000 Soldaten fielen hier in- wärts und konnten beobachten, stammt aus Bonn, zog vor 30 hieß, ist gleich für zwei be- nerhalb eines einzigen Tages. wie sich das Gewässer in mehre- Jahren nach Poznan und lebt deutende historische Stätten Obwohl die Preußen das Ge- re Arme aufgliederte und einen heute in der Grenzregion. Da- bekannt. Zum Einen befindet fecht gewannen, standen die Erlenbruchwald durchfloss. rum versteht er sich als ein sich kurz vor dem Ort das Fort immensen Verluste auf beiden Als Abschluss unserer Reise Bewohner des „Dazwischens“, Sarbinowo, eines von vier Artil- Seiten in keinem Verhältnis durch die Oderregion genossen einem Raum, der frei von lerieforts, welche im 19. Jahr- zur strategischen Bedeutung wir im Landschaftspark Warte- Grenzen existiert. Seit Langem hundert von den Preußen zum der Schlacht. Heute kann man mündung die Aussicht auf und beschäftigt er sich auch künst- Schutz der Küstriner Festung einen Aussichtsturm besteigen über die Oder. Nur die unauf- lerisch mit Lebensraum, Iden- errichtet wurden. Seit seiner und von dort die Landschaft fälligen Grenzsteine verwiesen tifikation und Wirklichkeits- Erbauung diente das Fort als überblicken. darauf, dass sich auf der gegen- konstruktion. So gründete er Gefangenenlager, als Zwischen- überliegenden Seite des Flus- 1999 die fiktive Stadt Słubfurt, lagerplatz für Kriegsrückkehrer Wir folgten der Straße in Rich- ses ein anderer Staat befindet. welche Słubice und Frankfurt und später als Munitionsfabrik. tung Mieszkowice nach Chwar- Nach einem letzten Blick auf in sich vereint. Michael zeig- Der eindrucksvolle Bau aus hel- szczany. Dort befindet sich eine die am Ufer rastenden Gänse, te uns einige Orte entlang von lem Backstein wurde im zwei- gut erhaltene Kapelle aus dem machten wir uns wieder auf den Oder und Warthe, um uns die ten Weltkrieg gesprengt und 13.Jahrhundert. Ehemals ge- Rückweg.
GAZETA Warta | PERSPEKTIVEN EINER (GRENZ)REGION | 3 Wintermonate. Mit Rückzug des Wassers im Frühjahr erobern die Wiesenbrüter dieses Areal, um dort zu brüten und ihre Jun- gen großzuziehen. Nach erfolg- reicher Brut und wenn es der Wasserstand zulässt, wird das Grünland gemäht oder durch Rinder und Pferde ortsansässi- ger Landwirt*innen beweidet. Diese Form der extensiven Nut- zung verhindert, dass das Gebiet verbuscht. Davon wiederum profitieren die bodenbrütenden Vögel. Diese einzigartige Vogelwelt Blick über die ausgedehnten Feuchtwiesen des Nationalparks zieht zahlreiche naturkundlich interessierte Touristen an, die dafür selbst weite Anreisewe- Ein Vogelparadies aus Menschenhand ge nicht scheuen. Vor Ort da- gegen ringt der Nationalpark seit Jahren um Akzeptanz. Um Vogelschutz & Landnutzung im Überschwemmungsgebiet der Warthe diese zu verbessern, setzt die Nationalparkleitung vermehrt Schon vor 40 Jahren begeister- ter Polens. Deiche dagegen entstand eines auf Umweltbildung. Die Kinder te das Warthebruch den jungen Der ca. 8.000 Hektar große Na- der wertvollsten Brut- und Rast- und Jugendlichen liegen ihnen Biologiestudenten Konrad Wy- tionalpark erstreckt sich über gebiet Polens für mehr als 250 dabei besonders am Herzen, da pychowski. Als Vogelliebhaber den Bereich der Warthemün- verschiedene Vogelarten. Auf aus ihnen die zukünftige Gene- zog es ihn vor 25 Jahren dorthin dung, wo die Warthe trotz der dem Areal des Nationalparks ration von Naturschützer*innen zurück, um sich auch beruflich Eindeichungen im 18. Jahrhun- versucht man heute, Natur- heranwachsen kann. Aber na- für den Schutz des Gebietes ein- dert nie vollständig gezähmt schutz, Hochwasserschutz und türlich sind der Park und seine zusetzen. An der Gründung des werden konnte. Die hochwas- landwirtschaftliche Nutzung Einrichtungen für jedermann Nationalparks „Ujście Warty“ sergeschützten Flächen außer- miteinander zu verzahnen. frei zugänglich. 2001 war er maßgeblich betei- halb der Deiche konnten seither Die Besonderheit des Warthe- ligt. Inzwischen ist er einer der besiedelt und landwirtschaftlich bruches besteht in der dauerhaf- dienstältesten Nationalparklei- genutzt werden. Innerhalb der ten Überflutung während der Roadtrip - Neu Amerika Eine sagenhafte Landschaftsgeschichte Durch die Fensterscheiben des dieses Versprechen. So fahren VW-Busses bestaunen wir die wir durch die Ortschaft Jamno, Auenlandschaft im Warthe- ursprünglich Jamaika genannt, bruch. Mit uns im Auto sitzt in Richtung Florida und verlas- Błażej Kaczmarek, der uns sen zu keinem Zeitpunkt polni- durch die weitläufige Land- schen Boden. schaft lotst. Am Straßenrand Für die neuen Siedler*innen, weist ein Schild darauf hin, die meist aus Gebirgsregionen dass wir uns jetzt in das Gebiet oder anderen trockenen Gebie- Nowa Ameryka begeben. Błażej ten stammten, stellte sich die Kaczmarek erzählt uns wäh- Bewirtschaftung des Warthe- renddessen die sagenhafte Ge- bruchs wegen der regelmäßig Stillgelegte Fähre auf der Warthe schichte dieser Region. steigenden Wasserstände als Im 18. Jahrhundert zog es die Herausforderung dar. Menschen ins ferne Nordameri- Das sumpfige Gebiet ist durch- te, aber heute verlassen auf der werkhaus erhalten ist, zeigt uns ka, wo sich Kolonisten und Pio- zogen von gewundenen Fluss- einen Seite des Ufers verharrt. Błażej Kaczmarek in Oksza. niere aus Europa ansiedelten. läufen. An ihren Ufern wachsen Seit einiger Zeit liegt sie leider Wir steigen wieder ins Auto und Als sie den preußischen König Gräser und Schilf. Die flache ohne Fährmann fest vertäut am begeben uns auf die Weiter- Friedrich II. um Erlaubnis ba- Landschaft ist Heimat vieler Ufer, sodass der Weg uns weiter fahrt. Um die Landschaft in ih- ten, sich auch auf den weiten Pflanzen- und Tierarten. Auf entlang des Flusses durch die rer Einzigartigkeit zu erfahren, Weg machen zu dürfen, bot er unserer Fahrt begegnen wir saftig grüne Wiesenlandschaft hätten wir gerne noch einen ihnen stattdessen die Gründung unter anderem Kranichen und führt. weiteren Tag mit dem Fahrrad eines „Neuen Amerikas“ im Fasanen. Der Raum als Kultur- In den weit über das Warthe- oder zu Fuß im Warthebruch Wartebruch an. Durch Steuer- landschaft wird von vielen Wei- bruch verteilten Ortschaften verbracht. erlässe und geschenktes Land deflächen geprägt, auf denen sehen wir alte, verfallene Höfe wurden Leute aus der Region Kühe grasen. und verschieden gestaltete ermutigt, sich dort ein neues Wir halten an der Warthe bei Kirchengebäude, einst evange- Zuhause zu schaffen. Auch die der Auffahrt zur Fähre, die eine lisch, heute katholisch. Eine der Namen der Orte erinnern an Abkürzung nach Witnica bilde- Kirchen, die komplett als Fach-
4 | GAZETA Warta | PERSPEKTIVEN EINER (GRENZ)REGION Regionalgeschichte aus Liebe Zu Besuch bei Zbigniew Czarnuch in Witnica Czarnuch beschäftigte die Fra- Brauerei ge, warum es nur wenig Interes- se für die gemeinsame deutsch- Browar Witnica polnische Vergangenheit gibt. Er jedenfalls begann, diese Ver- gangenheit anhand vieler Zeug- nisse zu studieren. Schon früh begann er, diese Forschungen zu dokumentieren. Im Mittelpunkt standen dabei ganz individuelle Geschichten. Da das Rathaus mitsamt sei- nem Archiv verbrannt war, be- gann er, Artefakte als Zeugnisse dieser Zeit zu sammeln. Diese können in dem von ihm ge- Die geschichtsträchtige gründeten Wegweiser-Park und Brauerei Browar Witnica im Heimatmuseum in Witnica Zbigniew Czarnuch in der heimischen Wohnstube mit Ordnern erlebt werden. Die Brauerei Browar Witnica ist ein voller Erinnerungen echter Geheimtipp! Die Region um Witnica im dersetzen und somit auch ein Bei unserem Besuch begleite- Sie wurde bereits 1848 gegründet Warthebruch ist durch Grenz- Verständnis für die Gegenwart te uns Herr Czarnuch auf dem und ist noch heute weitreichend verschiebungen, Wiederan- entwickeln. Fahrrad durch die Stadt, da ihm unter den Einwohnern der Woiwod- siedlungen und kulturelle das Laufen mittlerweile schwe- schaft Lubuskie bekannt. Überlagerungen geprägt. Vor Als Jugendlicher lebte Zbigniew rer fällt. Wir erlebten ihn als allem die Nationalsierungen Czarnuch mit seiner Familie in lebendigen Chronisten der Re- Es werden Führungen durch die des zwanzigsten Jahrhunderts Witnica, wo sein Vater als Bür- gionalgeschichte, der uns trotz Brauerei angeboten, welche mit und der von Deutschland ausge- germeister tätig war. 30 Jahre seines hohen Alters mit seinem einer Bierverkostung abgeschlos- hende zweite Weltkrieg führten später zog es ihn wieder dort- Geist und einem sehr modernen sen werden können. Für all jene, die zu enormen und oft leidvollen hin zurück. In den 90er Jahren Gesellschaftsverständnis über- es ohne Umwege zur Verkostung Bevölkerungsbewegungen. wendete sich Herr Czarnuchs raschte. Dass seine Kenntnisse zieht, kann das Restaurant „Piwosz“ Dem damit einhergehenden na- Weltbild, er beschreibt dies als und Forschungen auch über direkt neben an nur empfohlen wer- tional-egoistischen Denken will Paradigmenwechsel. „Ich woll- Witnica hinweg gefragt sind, den. Dort findet sich das Brauerei der 90-jährige Publizist und Pä- te wissen, wer in meinem Haus merkt man an seinen zahlrei- eigene Bier, dass nebst Pieroggi dagoge Zbigniew Czarnuch ent- gewohnt hat und wer an diesem chen Publikationen. Ein Allein- und anderen klassischen Gerichten gegenwirken. Dafür forscht er Tisch gesessen hat.“ Er begann, stellungsmerkmal stellt dabei der polnischen Küche verköstigt nach der Geschichte dieser Re- über Menschenrechte nachzu- sein Buch: „Das Warthebruch“ werden kann. gion und ihrer Menschen. Sein denken und über die Rolle, die dar, da dieses zum ersten Mal Wissen will er an junge Leute jeder einzelne Mensch in der die Region als zusammengehö- weitergeben, damit sie sich mit Geschichte spielt – durch seine rige Kulturlandschaft fasst. ihren Orten und den Schicksa- Entscheidungen, sein Wirken, len ihrer Vorfahren auseinan- seine Kommunikation. Wegweiser der Geschichte Der Wegweiserpark in Witnica ist beinahe ein Freiluftmuseum. Wie andere Parks auch lädt die- Sprache kommentierter Reigen Unser persönliches Herzstück ser Park zum Spazierengehen aus Elementen, die durch ihr des Wegweiserparks ist ein von und Verweilen ein, aber die Arrangement und ihre Kon- ihm konzipiertes Kunstobjekt, Wege führen durch vergangene textualisierung als ein großes welches sowohl die Orte dar- Zeiten und die Parkbänke lie- Versöhnungswerk zusammen- stellt, aus denen Menschen gen an verschiedenen histori- wirken. nach Witnica gekommen sind, schen Schauplätzen. Die Objek- Die im Park präsentierte Samm- als auch jene, an die es sie von te der Orts- und Zeitgeschichte, lung beinhaltet alte Gaslaternen hier verschlagen hat. Die hu- welche Zbigniew Czarnuch mit und Wasserturbinen, Mühlstei- manistische Haltung Czarnuchs viel Empathie und Neugier über ne, Strommasten und Dampf- kommt besonders an einem als Jahre hinweg gesammelt hat, maschinen, ein Stück der Ber- Scheideweg gestalteten Objekt stehen nicht nur für verschie- liner Mauer, Grenzpfosten und zum Ausdruck, welches die dene Phasen der Technik- und Wegsteine, also verschiedenste Vielfalt der Menschheit, ver- Wirtschaftsentwicklung, der Exponate aus unterschiedli- scheide Werte, Religionen und politischen Geschichte oder der chen Zeiten, die immer wieder die Entscheidungen themati- kulturellen Veränderungen. Sie zu thematischen Plätzen arran- siert, die jeder Mensch täglich Kunstobjekt am buchstäbli- erzählen zugleich Geschichten giert sind, auf denen Zbigniew für sich treffen muss. chen Scheideweg über das Gute und Schlechte in Czarnuch die Besucher dazu der Historie der Stadt und öff- einlädt, sich über den „kleinen Ein Highlight des Tages und ein des neu restaurierten Schaufel- nen den Raum für die persön- Frieden“ des Lebens Gedanken Erfolg der unermüdlichen Be- rads der ehemaligen Wasser- liche Reflexion. Entstanden ist zu machen, den es zu suchen mühungen von Zbigniew Czar- mühle – genau in den Stunden ein in polnischer und deutscher und zu schaffen gilt. nuch war das Wiedereinsetzen unseres Besuchs.
GAZETA Warta | PERSPEKTIVEN EINER (GRENZ)REGION | 5 Heimatstube Witnica In der Wohnstube begonnen, zur Heimatstube geworden. Zbigniew Czarnuch fing früh Werte erst erfahren werden an, Artefakte zu sammeln. Zu- können, wenn jemand das Ge- erst im Kleinen bei sich zu Hau- spräch eröffnet und ihre gehei- se. Jedoch wurde die Samm- men Geschichten preisgibt. lung immer umfangreicher. Es Netzsenker, Hochzeitsfotos, Me- musste ein Ort gefunden wer- daillen und sogar Eingewecktes den, in dem diese ausgestellt finden sich in den drei Ausstel- und erlebt, und ihre Geschich- lungsräumen der Heimatstube. ten erzählt und gehört werden Eines der Herzstücke der können. Dieser Ort wurde in Sammlung ist eine hölzerne Zu Besuch im Rathaus. Frau Łopatka, stellvertretende Bürger- einer alten Fabrikantenvilla Truhe. Zbigniew Czarnuch meisterin, spricht deutsch und lebt seit 13 Jahren in Witnica. in Witnica gefunden, welche präsentiert hier Sargbeschlä- Ein Besuch im Rathaus inzwischen sorgfältig saniert ge aus dem Schloss Tamsel. Er werden konnte und zusätzlich meint, jedes Museum müsse als Standesamt und Bibliothek doch Schätze wie diese haben. Witnica als Kommune im Warthebruch dient. Hört man seinen Geschichten Die Heimatstube ist kein Mu- zu, kommt man jedoch kaum Zusammen mit unserem Dol- besseren Bildungsangeboten fo- seum im klassischen Sinne. Es umhin, ihn selbst als den wah- metscher Robert Piotrowski kussiert sich die Gemeinde auf ist eine Sammlung von Objek- ren Schatz dieser Sammlung zu und Herrn Kaczmarek betre- den Bau günstiger kommunaler ten vergangener Zeiten, deren erkennen. ten wir das Rathaus von Wit- Wohnungen sowie moderner nica, um den Bürgermeister Sportanlagen, um einer stei- der Gemeinde, Dariusz Edward genden Landflucht entgegen zu Jaworski zu treffen, der seit wirken. Ein bereits vollendetes 2014 im Amt ist. Allerdings ist Projekt stellt ein Skate-Park dar, er verhindert und wir werden der die „sentimentale Zone“ des von Frau Małgorzata Łopatka Wegweiser-Parks für eine junge empfangen, die sich als seine Zielgruppe aufwerten soll. Wün- Vertretung für ein Interview schenswert wäre auch der Bau zur Verfügung stellt. Wir er- einer groß angelegten Sprung- fahren Folgendes: Als Teil der schanze nach dem Vorbild der Grenzregion Neumark ist Wit- Anlage in Bad Freienwalde. nica bereits in viele Partner- Damit erhofft sich die Gemein- schaftsprojekte mit deutschen de unter anderem eine Steige- Gemeinden involviert. Der rege rung der Attraktivität Witnicas internationale Austausch sei für seine Bewohner sowie für auch auf Amtsebene längst zur die Tourismusbranche. Für das Normalität geworden und soll Schloss Tamsel (Dąbroszyn), durch Schüleraustausche und einen attraktiven historischen verbindende Interreg-Projekte Ort, wird noch nach einem Käu- Netzsenker als Zeugen der lokalen Fischereigeschichte in der weiter gefördert werden. Neben fer gesucht. Heimatstube in Witnica Das Lapidarium von Słońsk Błażej Kaczmarek versammelt seit über vierzig Jahren Grabplatten in seinem Lapidarium. tionen und erkundete den Ort. „deutschen Zugehörigkeit“ von Dabei entdeckte er vereinzelt Friedhöfen entfernt wurden. Ei- Grabplatten abseits des Fried- nerseits als symbolische Hand- hofs. Diese vereinte er und initi- lung, andererseits mangelte es ierte damit das Lapidarium von der Region nach dem Zweiten Słońsk. Er betreut das Lapida- Weltkrieg stark an Baumate- rium seitdem, also bereits seit rial. Grabplatten oder Stücke über vierzig Jahren. von Grabsteinen wurden somit Das Lapidarium von Słońsk für den Bau von beispielsweise befindet sich seitlich abgele- Mauern und Gebäuden ver- gen auf einem alten evangeli- wendet. Des Weiteren ist an- schen Friedhof. Es versammelt zunehmen, dass Grabplatten bis heute dem Ort zugehörige aufgrund finanziell bedingter Grabplatten, sowie einige Grab- Auflösungen von Gräbern neu steine. Die Grabplatten werden verortet wurden. Private Funde dazu auf Holzstamm-ähnlichen werden bis heute von Bewoh- und verzierten Säulen, soge- ner*innen dem Lapidarium Grabstein von Otto Rubow, ehemals Bürgermeister von Słońsk. nannten Lebensbäumen dra- hinzugefügt. Angehörige der Er setzte sich unter anderem für die Entstehung von Parks, piert. Konfession oder Herkunft Verstorbenen besuchen das La- Pflasterstraßen, Industrieanlagen, Eisenbahnverbindungen oder der erinnerten Verstorbenen pidarium, um sich dort zu erin- Grünanlagen ein. sind dabei nicht von Bedeutung. nern. Das Lapidarium hat sich Diese Vereinigung steht teils in durch Błażej Kaczmarek und „Sie erschienen mir so einsam, pidariums. Herr Kaczmarek starkem Kontrast zu den his- die Unterstützung der Gemein- da habe ich sie an einem Ort begab sich nach seinem Zuzug torischen Ursprüngen. Es ist de weiterentwickelt. Es schafft vereint“, erinnert sich Błażej auf Erkundung seines neuen anzunehmen, dass einige der ein gemeinsames Bewusstsein Kaczmarek an den Fund der Wohnorts Słońsk. Er besuchte Grabplatten nach dem zwei- der Bewohner*innen für die Ge- ersten Grabplatten seines La- Archive, sammelte Informa- ten Weltkrieg aufgrund ihrer schichte ihres Wohnorts.
6 | GAZETA Warta | PERSPEKTIVEN EINER (GRENZ)REGION „Erfolg und Niederlage - in solchen Kategorien denke ich nicht” Durchhaltevermögen erhält wertvolle Landschaften am Rande des Oderbruchs Auf dem Gelände des Wiesen- gab sich die Möglichkeit der museums in Owszary gibt es Übernahme eines solchen Be- viel zu entdecken. Vom Park- triebes samt marodem Gebäu- platz geht es durch eine Pforte debestand sowie 6.000 Hektar auf den Hof. Schafe blöken hin- Fläche, von denen der Verein ter einem Zaun hervor, der Ge- 30 Hektar wertvoller Trocken- ruch von Stroh liegt in der Luft. rasenflächen im Eigentum er- Eine Ecke des Hofs ist liebevoll warb. mit geflochtenen Tipis und Wei- Seit nunmehr 17 Jahren ist Ewa dentunneln geschmückt. Vor- Mitglied dieser NGO und hat sichtig tapst eine Katze in den sich an der Sanierung des Ho- Schafstall - bestimmt auf der fes mit viel Mühe und Herzblut Suche nach Mäusen. beteiligt. Der gemeinsame Wie- Inmitten dieser Idylle steht deraufbau verlangte ihnen in voller Stolz Ewa Drewniak mit den ersten Jahren viel ab, doch ihrem Hütehund an der Seite. inzwischen hat das Gelände ei- Kräuter fand sie schon in ihrer niges zu bieten. Kindheit faszinierend, und Eine Herde aus 170 Heidescha- Vorderansicht des Wiesenmuseums sie hegte schon damals den fen und 20 Ziegen sichert den Wunsch nach einem eigenen Erhalt der umliegenden Tro- Ewa Drewniak auf dem umlie- werden. Ganz praktische Um- Obstgarten. ckenrasen. Die genügsamen genden Gelände sowie in den weltbildung findet in Kursen, Dieser Wunsch erfüllte sich Tiere sind an magere Standorte altdeutschen Gärten ausfindig bei Workshops und auf Hoffes- für Ewa im Wiesenmuseum angepasst, halten das Gras kurz und weitet ihre Suche stetig aus. ten statt. – einer Außenstelle der NGO und verhindern, dass aus den In einem der Gebäude des al- In sich ruhend und mit Zuver- „Klub Przyrodnikow“. In den verstreut wachsenden Bäum- ten Hofes finden Besucher eine sicht schaut Ewa Drewniak in 1990er Jahren war die Grün- chen ein Wald entsteht. Ausstellung und auf dem Au- die Zukunft. Zwar bringt ihr dung einer NGO wie dieser mit Zum Museum gehört ein zwei ßengelände einen kleinen bota- Wiesenmuseum „wenig Pres- naturschutzfachlichem Fokus Kilometer langer Lehrpfad, der nischen Garten – derzeit leider tige, aber großen persönlichen in Polen ziemlich verrückt und durch die seltene Trockenra- vor allem durch die Trockenheit Gewinn“. außergewöhnlich. Zur gleichen senlandschaft führt. An seinem in Mitleidenschaft gezogen. In Zeit schlossen zahlreiche staat- Anfang liegt eine kleine Baum- einem der folgenden Projekte liche Landwirtschaftsbetriebe. schule mit alten Obstbaumsor- soll dieser den Bedingungen Am Rande des Oderbruchs er- ten. Die „Mutterbäume“ machte des Klimawandels angepasst Ein Museum kämpft an zwei Fronten Das Erbe der Festung Küstrin Altstadt Küstrin. Diese wurde stellung reichen derzeit die durch die heftigen Kriegshand- Gelder, denn für die Stadt sind lungen am Ende des zweiten die Projekte zu groß, für den Weltkrieges weitestgehend zer- polnischen Staat zu klein. Mit- stört. Die verbliebenen Reste telakquise ist ein schwieriges des preußischen Residenz- Unterfangen. schlosses wurden in den 1960er Das zweite große Problem re- Jahre vollständig dem Erdbo- sultiert aus der Geschichte der den gleichgemacht. Erst in den Festung und der Region selbst. 1990er Jahren wurde der meter- Die brandenburgisch-preußi- hoch aufgetürmte Schutt, unter schen Herrscher sind in der denen die Reste der alten Stadt polnischen Geschichtsschrei- verborgen lagen entfernt und bung stark negativ behaftet. so entstand der „Park der Be- Diesem Umstand muss das sonderheiten“, wie das Gelände Museum sensibel durch eine heute von Küstriner*innen ge- neutrale Darstellung Rechnung nannt wird. tragen. Da die Bewohner*in- Überreste der Marienkirche in der Küstriner Altstadt Seit 2008 befindet sich in ehe- nen Küstrins erst nach Ende maligen Bastionen der Festung des zweiten Weltkriegs dort an- Beim Betreten der Festung Küs- fremdlich, seltsam. Was ist hier ein Museum, das sich vor allem gesiedelt wurden, nehmen sie trin kommt das Gefühl auf, sich passiert? mit deren militärischer Ge- die Geschichte der Festung nur in einem Park zu befinden. Wer Die Festung Küstrin wurde im schichte beschäftigt. Doch es schwer als ihre eigene wahr. weitergeht, sieht jedoch gepflas- 16. Jahrhundert von Markgraf kämpft an zwei Fronten gleich- Durch verschiedene Bildungs- terte Straßen, kaputte Gehwege, Johann von Brandenburg-Küs- zeitig. Obwohl das Museum die angebote des Museums identi- Straßenschilder und noch teil- trin erbaut, der damals über Visitenkarte der Stadt Küstrin fiziert sich die junge Generation weise erhaltende Mauern und die Neumark herrschte und ist und viele v.a. internationa- zunehmend mit der Festung Treppen von Gebäuden, die von dort sein Residenzschloß er- le Tourist*innen anzieht, fehlt und begreift deren Geschichte Bäumen und Sträuchern über- richten ließ. Danach blieb sie es ihm an finanziellen Mitteln. und die der Küstriner Altstadt wuchert sind. Zwischen diesen im brandenburgisch-preußi- Weder für eine Restaurierung als Teil der eigenen. finden sich freie Grasflächen. schen Besitz, und innerhalb weiterer Festungsteile noch All das wirkt ein wenig be- der Festungsmauern wuchs die für eine Erweiterung der Aus-
GAZETA Warta | PERSPEKTIVEN EINER (GRENZ)REGION | 7 Unbekanntes Über die Identitätsfindung Land? in einer Grenzstadt Der Verein „Terra Incogni- ta“ spürt dem Kulturerbe Die polnische Stadt Chojna und ihr deutsches Kulturerbe in Chojna nach Chojna ist von einer wechsel- In Lublin geboren, zog Robert haften Geschichte geprägt: Bis Ryss 1980 für eine neue Anstel- 1945 in Deutschland gelegen lung nach Chojna. Dort war er 30 und Hauptstadt der Neumark, Jahre lang Chefredakteur der Lo- gehört die Stadt seit Ende des kalzeitung „Gazeta Chojeńska“. Zweiten Weltkrieges und der da- Zwei Ereignisse führten dazu, mit einhergehenden Grenzver- dass er sein Interesse für die schiebung zu Polen. Die neue Geschichte der deutsch-polni- Grenze zwischen der Volks- schen Grenzregion vertiefte: Ein republik Polen und der Deut- schen Demokratischen Repub- lik war bis 1991 nicht ohne ein Visum zu überqueren. Erst mit dem Beitritt Polens in die EU im Jahr 2004 und in das Schengen- Abkommen im Jahr 2008 eröff- neten sich neue Möglichkeiten in der Gestaltung der Nachbar- schaftsverhältnisse: Robert Ryss auf dem Turm der Deutsche und polnische Kultur- Marienkirche in Chojna einrichtungen nahmen seither Partnerschaften auf. Das Ange- alter Stadtbewohner übergab bot von zweisprachigen Kultur- ihm eine persönliche Sammlung veranstaltungen wächst stetig. von Texten, in denen ehemalige Viel häufiger entstehen Begeg- deutsche Bewohner*innen ihre nungen jedoch im Alltag. Deut- Erinnerungen niedergeschrie- sche fahren für einen günstigen ben hatten. Diese ließ Robert Einkauf nach Polen und um- Ryss in die polnische Sprache gekehrt fahren die Polen dafür übersetzen und veröffentlichen. nach Deutschland. Auch bieten Das Interesse in der Leserschaft die fünf Restaurants und mehr war sehr hoch und die Veröffent- als zehn Bars in Chojna – bei lichungen werden noch heute rund 7.000 Einwohnern eine in Schulen gelesen. Eine zweite Ein Beispiel für gelungene deutsch-polnische Zusammenarbeit: überdurchschnittlich hohe An- Arbeit mit unerwarteter Reso- zahl – viel Platz für deutsch-pol- Die Restauration der Marienkirche in Chojna. nanz war ein Artikel über die nische Annäherung. Und wer blieb größtenteils bestehen. er seine Arbeit, mit der er einen Schlacht von Cedynia. Der Arti- hätte gedacht, dass der Weg zur Nach dem Zweiten Weltkrieg ta- Beitrag zur Identitätsfindung kel hinterfragte, ob die Schlacht Arbeit von Chojna nach Szcze- buisiert, begann deren struktu- der Stadtbewohner*innen leis- an diesem Ort überhaupt stattge- cin kürzer ist, wenn man durch relle Aufarbeitung erst vor rund ten möchte. funden hatte. Unter den Lesern Deutschland fährt? zehn Jahren. Ein wichtiger Ak- In unserem Gespräch mit ihm entstand von Frankfurt (Oder) Gleichzeitig gab es auf bei- teur ist dabei der Verein „Terra haben wir viel über die Ge- bis Szczecin eine sehr kontrover- den Seiten auch Vorbehalte Incognita“, der beispielsweise schichte einer Grenzstadt in se Diskussion um den Ort und bezüglich der Grenzöffnung. regelmäßig Publikationen wie einem besonderen Kulturraum die Bedeutung der Schlacht für Großräumiger Flächenaufkauf Jahrbücher herausgibt und au- erfahren. Der Kulturraum ist die polnische Geschichte. Für die durch Deutsche in Polen sowie ßerschulische Bildungsangebo- durch eine politische Grenze Beteiligten war die Diskussion Arbeitsplatzverlust in Deutsch- te für Jugendliche organisiert. geteilt, aber die Begegnungen Anlass, im Jahr 2009 den Verein land durch polnische Arbeits- „Man nimmt an, dass Identi- der Menschen und die Aktivitä- „Terra Incognita“ zu gründen, in kräfte waren Befürchtungen, fikation erst ab der dritten Ge- ten, wie durch den Verein „Ter- dem auch Robert Ryss seit Be- die sich jedoch als unbegründet neration einsetzt“, so Robert ra Incognita“ organisiert, lassen ginn Mitglied ist. erwiesen haben. Ryss, ein Mitglied des Vereins. die Grenze verschwimmen und Der Verein beschäftigt sich heu- Doch die Skepsis bezüglich der „Deutsche Geschichte ist auch eine neue Identität wachsen. te mit der Geschichte der Stadt deutschen Geschichte Chojnas unsere Geschichte“, begründet Chojna und ihrer Bedeutung für die Neumark. Ein besonderes Stadtmauer Chojna Interesse liegt im deutschen und jüdischen Kulturerbe der Stadt. Chojna war vom 13. bis 17. Jahrhun- Angefangen mit Jahrbüchern dert umgeben von einer Stadtmau- über die Geschichte der Stadt er und drei Stadttoren. Zwei der und der angrenzenden Region, Stadttore sind noch heute erhalten folgten seitdem viele weitere – das Schwedter Tor und das Ber- Publikationen. Auch außerschu- nikower Tor. Hatte die Stadtmauer lische Bildungsangebote für den Schutz von Angreifern geboten, Jugendliche und Konzerte wer- zerfallen heute ganze Abschnitte. den von dem Verein organisiert. Andere Abschnitt werden wieder Heute zählt der Verein 30 Mit- in Stand gesetzt. Als Bollwerk der glieder, die mit viel Leidenschaft Stadt erbaut, ist sie heute verwund- die Projekte betreuen. bar und standhaft zu gleich.
8 | GAZETA Warta | PERSPEKTIVEN EINER (GRENZ)REGION Gelebte Geschichte Auf den Spuren des Zweiten Weltkriegs an der Oder Herzblut können heute drei Eta- gen besucht werden. Im Erdge- schoss erfuhren wir von der Ge- schichte der Gedenkstätte Stare Łysogorki. Zudem befinden sich dort viele Exponate aus der Zeit des zweiten Weltkriegs, beson- ders der letzten Kriegsjahre. Viele der Exponate hat Michał selbst erworben. Das Erleben und das Erfahren der Geschich- te sind ihm besonders wichtig. Die Vitrinen können aufge- klappt werden, um die Gegen- stände anzufassen und anzu- schauen. Die oberen Räume sind für Wechselausstellungen gedacht. Im untersten Geschoss sind historische Gegenstände aus der Region zu sehen wie Postkarten, Bilder und Alltags- gegenstände. Geplant ist dort eine Ausstellung über die Ge- schichte Mieszkowices. Sehr be- rührt hat uns der letzte Raum. Michał Dworczyk im Museum bei Stare Łysogórki Hier sind die alten Plaketten der Kriegsgräberstätte Stare Die Oderregion war während Zu Beginn unseres Treffens er- sie mussten in die sibirischen Łysogorki mit Namen und To- des Zweiten Weltkrieges Schau- zählte er uns von dem von ihm Gulags. Viele Polen schlossen desjahr der Gefallenen dicht an platz zahlreicher Kämpfe. Heu- initiierten Verein „Um alte Le- sich der Sowjetarmee an und dicht auf einer Wand zu sehen. te wird ihnen an bedeutenden genden herum und Postkarten“. mussten später an vorderster Die Plaketten sind vor Jahren Orten gedacht, die in den Rah- Zusammen mit der Stadt möch- Front gegen die Deutschen ausgetauscht worden da sie in men der Region des nationalen te dieser Verein Informations- kämpfen. Diesen Pionieren, schlechtem Zustand waren. Die Gedenkens eingefasst wurden. tafeln im Stadtgebiet aufstellen, die oft als Erste den Schlachten Gedenkstätte für die Gefallenen Experte zu diesem Thema ist die alte Postkartenmotive an an der Oder zum Opfer fielen, der ersten polnischen Armee Michał Dworczyk, mit dem wir ihren Entstehungsorten zeigen. wurde neben dem Museum in befindet sich direkt neben dem uns auf dem Marktplatz von Diese sollen mit einem QR-Co- Gozdovice eine Gedenkstätte Museum. Hierhin wurden die Mieszkowice trafen. de versehen sein, der auf wei- errichtet. polnischen Soldaten umgebet- tere Informationen verweist. tet, welche 1945 bei der Über- Vor dem Zweiten Weltkrieg, Gedacht ist dies als eine Art Michał ist nicht nur für die Lei- querung der Oder ihr Leben als Mieszkowice Teil des Deut- moderne Alternative zu den üb- tung des Museums zuständig, ließen. schen Reiches war, hieß die lichen eher textlastigen Schil- sondern arbeitet zusammen mit Stadt Bärwalde, benannt nach dern. Gemeinsam mit anderen seinen beiden Kollegen auch Michał Dworczyk hat sein Le- Albrecht dem Bären, dessen Ideen soll diese Initiative dabei als Historiker, Kurator und Ak- ben der Vermittlung der regio- Abbild als Statue auf dem helfen Mieszkowice zu revitali- quisiteur der Kulturstätte. Vie- nalen Geschichte verschrieben. Marktplatz stand. Nachdem die sieren. le Exponate der Ausstellungen Am meisten freut er sich, wenn Stadt polnisch wurde, änderte wie Waffenreste, Uniformen neue Ausstellungsteile Be- sich nicht nur ihr Name, auch Danach zeigte Michał uns das und andere Militaria stammen sucher*innen aus ganz Polen die Statue wurde ausgetauscht Museum in Gozdovice, welches von regionalen Vereinen, die anziehen. Doch nicht nur die Heute steht der slawische Fürst unter anderem die Geschich- sich intensiv mit der Kriegs- lebendige Vermittlung der Ver- Mieszko I. dort. te der Oderüberquerung zum geschichte des Ortes beschäfti- gangenheit ist ihm wichtig: Ende des zweiten Weltkrieges gen. Das ist nicht nur hilfreich, „Landschaft gehört nieman- Michał Dworczyk ist Mitarbei- erzählt: weil es immer an nötigen För- dem”, betont Michał, “sie wird ter der Stadtverwaltung und Die Nazis sprengten 1945 alle dergeldern fehlt, sondern bin- nur immer wieder neu erzählt”. Direktor zweier Museen und Brücken an der Oder, um die det gleichzeitig die Bewohner Im Moment erfährt die Re- mehrerer Gedenkstätten nahe sowjetischen Truppen am Vor- der Region in den Ausbau des gion wieder eine solche Neu- der Stadt. marsch zu hindern. Die So- Museums mit ein. Zusammen- erzählung. Auf der Brücke bei Aufgewachsen in Mieszkowi- wjetunion schickte Pioniere, arbeit steht für Michał sowie- Siekierki, welche seit über 50 ce studierte Michał in Stettin welche Pontonbrücken aus so an erster Stelle: „Menschen Jahren ungenutzt war, entsteht Geschichte. Der Zufall und der Booten und Brettern über den können immer voneinander jetzt ein Radweg. Besucher*in- glückliche Umstand, dass seine Fluss errichten sollten. Diese lernen, wenn wir offen und nen aus Polen und Deutschland Heimatstadt einen qualifizier- Pioniere waren oft polnischer kompromissbereit sind“. können so schon bald beide Sei- ten Menschen aus der Region Herkunft, erzählte uns Michał. ten der geschichtsreichen Oder- als Direktoren suchte, brachte Denn nachdem der Osten des Das Museum in Stare Łysogorki region erkunden. ihn zurück hierher. Mit großer Landes von der Sowjetunion liegt Michał besonders am Her- Motivation begann er das Mu- besetzt worden war, stellte die- zen. Als er 2016 den Posten des seum in Gozdowice zu erneu- se die polnischen Soldaten vor Museumsdirektors übernahm, ern und das Museum in Stare die Wahl: Entweder sie dienten befand es sich in schlechtem Łysogórki aufzubauen. in der sowjetischen Armee oder Zustand. Durch viel Arbeit und
GAZETA Warta | PERSPEKTIVEN EINER (GRENZ)REGION | 9 Die Vogelrepublik von Słońsk Słońsker Mühle Die im 19. Jahrhundert erbaute Izabel Engel vom Verein „Freunde von Słońsk“ e.V. engagiert sich seit Mühle ist die letzte gut erhal- vielen Jahren für die Vogelwelt im Warthebruch tene, vollausgestattete Wasser- mühle in der Wojewodschaft „Die demokratische Vogelrepu- Lubuskie. Sie wurde ursprüng- blik in der Warthemündung ist lich mit Dampf angetrieben. ein einzigartiges Gebiet in Po- Der frühere Bürgermeister Otto len, welches durch den Verein Rubow (1892-1924) bewirkte Freunde von Słońsk e.V. ins Leben schließlich den Betrieb durch gerufen wurde“, erläutert Izabel Wasser des Flusses Lenka. Die Engel. Sie ist ein engagiertes Mühle wurde über 50 Jahre Mitglied des Vereins und war von Herrn Edward Goworko bis für diesen auch schon für die zu seinem Tode im Jahre 2011 Heimatstube im Ort verantwort- betrieben. Für die regionalen lich. Die gelernte Forstwirtin Bäckereien und Landwirte, führt zudem in Eigeninitiative welche ihr Brot selbst produ- eine kleine Touristeninforma- zierten, war sie von immenser tion mit Übernachtungsmög- Bedeutung. Bis zu 5.000 t Mehl lichkeit, die am Rande der konnten in diesem kulturhisto- Vogelrepublik gelegen ist. Sie rischen Gebäude in einem Jahr bietet allen Besucher*innen produziert werden. Des Weite- nicht nur einen Überblick über ren wurde der erzeugte Strom die vorkommenden Vogelarten, in der Nachkriegszeit für die sondern auch über die weiteren Beleuchtung der Ortschaft ge- Attraktionen im Umland. nutzt. Mittlerweile ist die Mühle Der Verein „Freunde von Einer der drei Grenzpfähle, welche die Vogelrepublik markieren. seit ca. acht Jahren nicht mehr Słońsk“ e.V. existiert bereits in Betrieb. Das Gebäude wird seit ca. 20 Jahren und besteht Umgebung ausgewählt. Dieses Górzyca sowie mit dem Forst- jedoch gelegentlich für Work- aus etwa 30 Mitgliedern. Be- Jahr ist es der Eisvogel. Insge- amt Ośno Lubuskie Routen ent- shops, sowie die Aufnahme von reits 2009 hat das Projekt den samt zählt die Republik bereits worfen, die unterschiedlichen Hochzeitsfotos genutzt. Wettbewerb EDEN um das in- über 3.400 Bürger*innen, die Vogelarten gewidmet sind und teressanteste Reiseziel in den sich durch den Beitritt für den mit aufmerksamen Augen bei europäischen Schutzgebieten Schutz und den Erhalt der Vo- den Begehungen gesichtete gewonnen. Für das Staatsge- gelwelt einsetzen. Einige beson- werden können. Die Wege sind biet ist ein Bürgerpass vor Ort ders Engagierte übernehmen zu Fuß, Rad oder Kajak leicht erhältlich und man bekommt zudem in Warschau und Berlin zugänglich und führen durch bei jedem Besuch einen Stem- die Verantwortung für eigene die wasserreichen Wiesen- und pel mit dem Motiv des jewei- Botschaften, dadurch gewinnt Weidelandschaften des Land- ligen „Vogel des Jahres“. Der die Vogelrepublik auch außer- schaftsschutzparks „Ujście War- Vogel des Jahres wird jährlich halb der Region zunehmend ty“. Der Verein versucht letzt- Die Słońsker Mühle bei einem Treffen der Vereins- an Öffentlichkeit. 2010 wurden endlich das Kulturerbe, sowie mitglieder, sowie mit den Bür- im Gebiet, in Zusammenarbeit den Naturschutz zu vereinen ger*innen der Republik aus mit den Gemeinden Słońsk und und sich für die Vogelwelt im Um die Mühle vor dem Verfall den etwa 280 Vogelarten der Warthebruch einzusetzen. zu schützen kaufte sie Dariusz Schloss Tamsel (Dąbroszyn) Matkowski und gründete im August 2015 die Stiftung „Przy mlynie“ („An der Mühle“). Mit Eine Bühne mit wechselndem Personal der Stiftung verfolgte er das Ziel, die damalige Schönheit Der Park ist teilweise zugewach- auch später noch als Herrensitz und Besonderheit der Mühle sen, Sichtachsen und Pavillons attraktiv. Die hier residierenden wiederherzustellen und zu er- sind verschwunden, die Fassa- Geschlechter (auch die Grafen halten. Seine Motivation lässt de wartet auf frischen Putz. Das von Dönhoff waren darunter) sich auf die gemeinsamen Be- Ensemble von Dąbroszyn strahlt wechselten meist durch Hei- suche mit seinem Opa in der dennoch eine enorme Kraft raten der Töchter des Hauses. Kindheit zurückführen, wo- aus. Erbaut durch Hans Adam Zeugnisse davon finden sich durch er eine persönliche Bin- v. Schöning im 17. Jahrhundert in der restaurierten Patronats- dung zu diesem Ort aufgebaut wurde es immer wieder zum kirche, die gleich neben dem hat. Dariusz Matkowski ist In- historischen Schauplatz, sei es Schloss liegt und inzwischen haber der Gospodarstwo Rolne durch die Plünderung durch zur katholischen Kirche von und züchtet Rinder in und um die russische Armee im Vorfeld Küstrin gehört. Der radikalste Słońsk und vermarktet diese. der Schlacht von Zorndorf oder Bruch in der Geschichte von Darüber hinaus dienen die Rin- durch die Besuche Friedrich II. Tamsel ist sicher der Einzug der der der Offenhaltung der Land- von Preußen bei Luise Eleonore Roten Armee. Hier im Schloss schaft des Nationalparks „Ujście von Wreech in jener Zeit, in der bereitete General Schukow warty“ (Nationalpark Warthe- er nach der Hinrichtung seines mit seinem Stab minutiös die mündung). In naher Zukunft Freundes Hans Hermann Katte Schlacht um die Seelower Hö- soll, nach Möglichkeit mit deut- noch auf der nahe gelegenen hen und die Einnahme Berlins schen Kooperationspartnern, Festung Küstrin bleiben muss- vor. Später wurde das Schloss in der Mühle ein Restaurant te. Zum literarischen Schau- kommunal genutzt, nun wartet mit einem angrenzenden Hotel platz wurde Tamsel durch Theo- es, teilweise saniert, auf eine entstehen. Bei einem Ausbau dor Fontanes „Wanderungen neue Blütezeit. sollen die originalen Maschi- durch die Mark Brandenburg. Schloss Tamsel: zwischen Zerfall nen und somit der Charme der Das Oderland“. Durch die Lage und Hoffnungsschimmer Mühle erhalten bleiben. an der Ostbahn blieb der Ort
1 0 | GAZETA Warta | PERSPEKTIVEN EINER (GRENZ)REGION Das Martyrium Museum In Słońsk erinnert heute ein Museum an eines der ersten Konzentrationslager der Nationalsozialisten Das 2012 nach einer umfang- marsch der Roten Armee erging reichen Modernisierung neu der Befehl, das Konzentrations- eröffnete Museum erinnert an lager zu räumen. 819 Insassen das Zuchthaus Sonnenburg. Do- wurden erschossen. Lediglich minika Piotrowska-Kuipers ist vier Personen überlebten. die Leiterin des Martyrium Mu- Das Martyrium Museum er- seum in Słońsk. Sie informierte innert seit 1974 an diese Er- uns über die Geschichte und eignisse, seit 2012 in einer ihre Aufgaben: überarbeiteten multimedialen 1832 wurde das Zuchthaus auf- Ausstellung. Durch zusätzliche grund seiner fluchtsicheren Vermittlungsformate, wie län- und abgelegenen Lage am Rand derübergreifende Workshops des Warthebruchs gegründet. und Bildungsangebote für deut- Die Johanniterkirche in Słońsk mit neuem Dachstuhl nach einem Es wurde mehrfach erweitert sche und polnische Schüler Entwurf von Schinkel und zu einem großen Arbeitge- und Schülerinnen, schafft es ber der Stadt Sonnenburg. Die hygienischen Bedingungen des das Museum, ein kollektiv-his- torisches Bewusstsein des Or- Der Johanniterorden in Słońsk Zuchthauses waren allerdings tes zu bewahren. Zudem ist die Wie ein Orden eine ganze Stadt beeinflusste und das Interes- so schlecht, dass es 1931 ge- Leiterin des Museums bestrebt, schlossen werden musste. Die Kooperationen und den Aus- se einer Frau zu der Gründung einer Heimatstube führte Schließung sorgte für Unruhe tausch zu anderen Gedenkorten Der in Słońsk geborene Henryk malig statt und wurde bis in die Radowski berichtet mit Leiden- Kriegszeit gefeiert. Erst um 2000 schaft von der Geschichte sei- herum wurde sie wiederbelebt. ner Heimat. Er ist Leiter der Bei Aufräumarbeiten des Glo- Heimatstube und Präsident ckenturms wurde ein Zirkel mit des Vereins der Vogelrepublik Gravuren des Symbols des Jo- „Rzeczpospolita Ptasia“. Darü- hanniterordens vom Großvater ber hinaus teilt er sein Wissen Radowskis gefunden. Dieser über die Einrichtungen der lässt sich heute in der Heimats- Stadt. tube von Słońsk besichtigen. Der im Jahr 1474 begonnene In der Heimatstube, die einst Bau der Kirche wurde im Jahr eine Johanniter-Schule war, 1522 mit der Fertigstellung des findet man heute die verschie- Steingewölbes vollendet. Sie densten Exponate aus der Ver- wurde vom Johanniterorden gangenheit von Sonnenburg genutzt, welcher eine wesent- und wenige aus der jüngeren liche Rolle für die Entwicklung Geschichte Słońsks wieder. Des von Sonnenburg und später Weiteren sind einige Exponate Słońsk spielte. In den Jahren zu sehen, die Bürger und Bür- 1652 bis 1657 war Moritz von gerinnen aus Słońsk aus ihrer Nassau das Oberhaupt des Or- Heimat mitgebracht haben. Die dens. Er brachte der Stadt viele Mutter von Henryk Radowski Errungenschaften. So wurde hat durch ihr persönliches Inte- Das Martyrium Museum in Słońsk. beispielsweise die alte Burgrui- resse die Idee der Heimatstube ne zu einem Schloss mit einem ins Leben gerufen. Bis heute unter der Stadtbevölkerung, zu vertiefen und zu pflegen. Mit 20m hohen Tanzsaal, auch Rit- werden die unterschiedlichsten die sich über fehlende Ein- der Gedenkstätte Seelower Hö- tersaal genannt, aufgebaut und Gegenstände in die Sammlung nahmen durch ausbleibende hen am Rande des Oderbruchs Sonnenburg erhielt ein Johan- aufgenommen. Beispielsweise Besucher*innen der Insassen besteht ein solcher Austausch niter-Krankenhaus. kann man den letzten erhalte- beklagten. Die Nationalsozia- bereits. Nachdem die Bevölkerung von nen Stuhl aus dem Rittersaal, listen nutzten diese Sorgen aus. Darüber hinaus wurde für die Sonnenburg 1945 ihre Heimat das Grundbuch von Sonnen- 1933 wurde das Zuchthaus, die Verstorbenen eine Grabstätte verlassen musste und Men- burg und ein Paar selbstgebas- „Folterhölle Sonnenburg“, eines mit zugehörigem Denkmal er- schen aus dem ehemaligen telte Schuhe begutachten. Die der ersten Konzentrationslager richtet. Ein Besuch empfiehlt Ostpolen in die Stadt Słońsk Ausstellungsstücke erzählen so- des NS-Regimes. Bis zur Auf- das Museum, um einen all- kamen, setzten sich diese stark mit eine persönliche Geschich- lösung durch die Rote Armee umfassenden Eindruck zu er- für die Erhaltung der Kirche te, die Henryk Radowski den saßen dort politische Wider- halten. Zusätzlich erinnert die ein. Mit ihrem Engagement er- Besuchenden näherbringen standskämpfer, sogenannte Bevölkerung in Słońsk Ende hielten sie dadurch auch Ver- kann. Das unweit der Heimat- Schutzhäftlinge, sowie Wider- Januar an das furchtbare Mas- antwortung für das kulturelle stube stehende Schloss hat den ständler aus Westeuropa, die im saker mit einem offiziellen/ öf- Erbe von Sonnenburg. Heute Zweiten Weltkrieg unbeschä- Rahmen der „Nacht und Nebel“ fentlichen Gedenktag. möchte die Gemeinde die alten digt überstanden, ist jedoch - Aktion in Sonnenburg inter- jährlichen Feste „Moritziade“ später ausgebrannt, sodass niert wurden. Vor dem Ein- wieder einführen und somit heute nur noch das Mauerwerk an die Geschichte von Sonnen- sichtbar ist. Was mit der Ruine burg erinnern. Die Moritziade geschehen wird, ist offen. fand in den 1930er Jahren erst-
GAZETA Warta | PERSPEKTIVEN EINER (GRENZ)REGION | 1 1 Von Mammuts und Menschen Die vielen Geschichten von Cedynia Im äußersten Westen Polens in einer erstaunlichen Größe befindet sich die dörflich an- sehen. Mit circa zwei Metern mutende Stadt Cedynia. In für überragte dieser Dorfbewohner die Region ungewöhnlich hüge- seine mittelalterlichen Zeit- ligem Terrain mischen sich alte genossen deutlich. Das Skelett Bauernhäuser und Nachkriegs- steht beispielhaft für unzählige neubauten mit restaurierten Funde menschlicher Überreste Gebäuden. Der Kirchturm der in und um Cedynia – Nachweis stattlichen neogotischen Kirche einer permanenten Besiedlung. ist weithin sichtbar. Die Gründe hierfür liegen vor Wer in Polen aufgewachsen ist, allem in der leichten Passier- kennt den Namen der Stadt und barkeit der dort flachen Oder, assoziiert ihn allgemein mit der einem reichhaltigen Wildbe- dort verorteten Schlacht unter stand, der eine Nahrungsver- Fürst Mieszko I. im Jahr 972. sorgung sicherte, und einer gu- Auch wenn die Vorbereitungen ten Handelsinfrastruktur. für das 1.000-jährige Jubiläum In den 25 Jahren, die er schon der Anlass zur Gründung des in Cedynia lebt, setzte sich Rys- Das Regionalmuseum am Freiheitsplatz in Cedynia enthält dortigen Regionalmuseums wa- zard Matecki mit diesen zahlrei- einen Teil der Sammlung von Exponaten aus verschiedenen Epo- ren, reproduziert es nicht nur chen geschichtlichen Aspekten chen. Doch für viele Artefakte reicht der Platz nicht aus. die Erzählung jener Schlacht. der Stadt und des Umlandes Es befinden sich hier vor allem auseinander. fluss begreifen. Die Betrach- geschichtlichen Erfahrungen in Artefakte der Eiszeit und des Aus persönlichem Interesse be- tung vom Ufer stellt er dabei eine literarische Beschreibung. gesamten Mittelalters sowie der schäftigt er sich zudem schon der Betrachtung aus der Luft An Projektideen und Visionen Zeit bis 1945. seit 20 Jahren mit der polnisch- oder dem Erleben vom Wasser mangelt es ihm nicht und so „Cedynia ist die zweitgrößte deutschen Beziehung, auch in aus gegenüber. dürfen wir gespannt sein, wie Ausgrabungsstätte von Mam- Zusammenhang der Mythisie- Neben der Arbeit im Museum sich die Stadt und das Museum mutüberresten in Europa“, so rung der Schlacht von Cedynia. verarbeitet Matecki seine Ein- in Zukunft entwickeln werden. Ryszard Matecki, Leiter des Wichtig ist ihm in diesem Kon- drücke der Region sowie die Be- Museums. Neben den Knochen text vor allem ein Perspektiv- ziehungen der Menschen zum und Stoßzähnen dieser eiszeit- wechsel der Grenzbetrachtung. Nachbarland in Kinderbüchern lichen Riesen kann man hier So solle man die Oder viel eher und neuen selbstverfassten Sa- auch ein menschliches Skelett als Landschaft denn als Grenz- gen. Somit verwandelt er seine Die Schlacht von Cedynia – Ein lebender Mythos Zwischen Wahrheit und Legende im polnisch-deutschen Grenzraum bereitet hat. Mit Ausnahme Stadt herum statt. Um die zahl- Bei unserem Besuch in Cedynia von dem Markgrafen Hodo und reichen Fundstücke verschiede- erzählte uns der heutige Leiter seinem Verbündeten Graf Sieg- ner Zeitalter auszustellen und des Regionalmuseums Ryszard fried sollen alle Ritter ihres Ge- die Geschichte der Schlacht zu Matecki, dass es nach neuen Er- folges erschlagen worden sein. erzählen, wurde 1966 ein Regio- kenntnissen die Schlacht in Ce- Es handelt sich somit um die nalmuseum gegründet. dynia gar nicht gegeben hat. Sie erste dokumentierte siegreiche Zwei Jahre vor den geplanten wird bis heute in Schulen ver- Verteidigung polnischen Ter- Feierlichkeiten kam es infolge mittelt, aber ist wissenschaft- ritoriums gegen eine deutsche der Unruhen im Dezember 1970 lich in dieser Form nicht nach- Provokation. zur Entmachtung Gomułkas, weisbar. Sowohl der Ort des 1000 Jahre danach, im Jahr dessen Nachfolge Edward Gie- Konfliktes als auch die große 1972, sollte in Cedynia ein gro- rek antrat. Dieser wollte, anders Anzahl der Beteiligten wird von ßes Jubiläum gefeiert werden. als sein Vorgänger, die Kontakte einigen Historikern angezwei- Insbesondere nach der Grenz- zu den westlichen Ländern ver- felt. Wahrscheinlicher handelte Der polnische Adler als verschiebung infolge des Zwei- bessern. Doch die Dynamik der es sich nur um einen Überfall ten Weltkriegs sollte so der Vorbereitungen und die Schaf- der Piasten auf den Markgraf Denkmal für die Schlacht bei rechtmäßige Anspruch Polens fung des nationalen Mythos um Hodo sowie Graf Siegfried und Cedynia - eine missverstande- auf die neuen Gebiete bekräf- die Schlacht bei Zehden / Cedy- wenige ihres Gefolges, bei dem ne Geschichte? tigt werden. Hauptinitiator war nia konnte nicht mehr gestoppt die Ritter getötet und beide Ad- Im Jahr 972 zieht der Lausit- der damalige Staatssekretär werden. lige als Geisel gefangen genom- zer Markgraf Hodo I. mit einer Władysław Gomułka, dessen Am Festtag nahmen 30.000 men wurden. Dies war damals Streitmacht in die Provinz Ziel die Anerkennung der Oder- Menschen an der Eröffnung eine gängige Praxis, um Löse- Pommern, die von dem Pias- Neiße-Grenze gewesen ist. Mit des Ehrendenkmals teil. Doch geld zu erpressen. Indem er ten-Fürst Mieszko I. verwal- den Vorbereitungen der Feier- Gierek war nicht unter ihnen. Besuchergruppen wie uns oder tet wird. Es kommt zu einem lichkeiten wurde schon zehn Stattdessen feierte er mit Erich polnischen Schulklassen von ersten Kampf in der Nähe von Jahre früher begonnen. Honecker an der Brücke der beiden Versionen der Schlacht Niederwutzen / Osinów Dolny, Cedynia erlebte in der Folge Freundschaft, die Frankfurt erzählt, möchte er eine kriti- nach welchem sich Mieszko einen großen Aufschwung: Stra- (Oder) und Słubice verbindet, sche Auseinandersetzung mit nach Zehden / Cedynia zurück- ßen wurden gebaut, Häuser sa- ein Abkommen über den pass- dem Mythos und der späteren zieht. Dort lockt er die Truppen niert und mit Schmuckelemen- und visafreien grenzüberschrei- politischen Instrumentalisie- Hodos in einen Hinterhalt, den ten verschönert. Zudem fanden tenden Verkehr – ein wichtiges rung anregen. Mieszkos Bruder Czcibor vor- viele Ausgrabungen um die Zeichen der Annäherung.
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