Glaube liebe hoffnung - ÖDÖN VON HORVÁTH schauspiel

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Glaube liebe hoffnung - ÖDÖN VON HORVÁTH schauspiel
schauspiel
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glaube
liebe
hoffnung
 ÖDÖN VON HORVÁTH
Glaube liebe hoffnung - ÖDÖN VON HORVÁTH schauspiel
STEFANO WENK, Sophie Hottinger
Glaube liebe hoffnung - ÖDÖN VON HORVÁTH schauspiel
glaube
liebe
hoffnung
ein kleiner totentanz
in fünf bildern

ÖDÖN VON
HORVÁTH
Glaube liebe hoffnung - ÖDÖN VON HORVÁTH schauspiel
besetzung
regie Matthias Kaschig
bühne Michael Böhler
kostüme Stefani Klie
musik Michael Frei
dramaturgie Jan Stephan Schmieding
regieassistenz und abendspielleitung Mario Matthias
lichtgestaltung Daniel Gräub
soufflage Margot Vandrich
inspizienz Hasan Koru
bühnenbildassistenz Elisa Alessi
kostümassistenz Senta Amacker
regiehospitanz Anabel Sarabi

technischer direktor Gino Fornasa leiter bühnenbetrieb Claude
Ruch leiter werkstätten Andreas Wieczorek leiterin kostüme und
maske Franziska Ambühl

bühnenmeister Marc Brügger tontechnik Marcel Schneider,
Sebastian Hundius requisite Tabea Bösch tapezierer Philippe
Eggler maske Anja Wiegmann, Rainer Wolf

Die Ausstattung wurde in den Werkstätten und Ateliers von Konzert
Theater Bern hergestellt. co-leitung malsaal Susanna Hunziker,
Lisa Minder leiter schreinerei Bruno Basler leiter schlosserei
Marc Bergundthal leiter tapezierer Daniel Mumenthaler leiter
maske Ralph Zaun gewandmeisterinnen Mariette Moser, Gabriela
Specogna leiter requisite Thomas Aufschläger leiter beleuchtung
Karl Morawec leiter audio und video Bruno Benedetti

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Glaube liebe hoffnung - ÖDÖN VON HORVÁTH schauspiel
elisabeth Sophie Hottinger
alfons klostermeyer, ein schupo Jonathan Loosli
oberpräparator / arbeiterfrau Margot Gödrös
präparator / herr amtsgerichtsrat / ein invalider. Peter Jecklin
frau amtsgerichtsrat / maria .Henriette Blumenau
der baron mit dem trauerflor / irene prantl / kamerad
Stefano Wenk
vizepräparator Andri Schenardi
buchhalter / ein kriminaler / der oberinspektor Dominique Müller
der herr Michael Frei

premiere                         dauer der vorstellung
12. Oktober 2012, Vidmar 1       ca. 90 min, ohne Pause

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DER AUTOR
ÖDÖN VON HORVÁTH (1901  –1938)

«Sie fragen mich nach meiner Heimat, ich antworte: ich wurde
in Fiume geboren, bin in Belgrad, Budapest, Preßburg, Wien und
München aufgewachsen und habe einen ungarischen Pass – aber:
«Heimat»? Kenn ich nicht. Ich bin eine typisch alt-österreichisch-
ungarische Mischung: magyarisch, kroatisch, deutsch, tschechisch
– mein Name ist magyarisch, meine Muttersprache ist deutsch.
Ich spreche weitaus am besten Deutsch, schreibe nunmehr nur
Deutsch, gehöre also dem deutschen Kulturkreis an, dem deut-
schen Volke. Allerdings: der Begriff «Vaterland», nationalistisch ge-
fälscht, ist mir fremd. […]

Also, wie gesagt: Ich habe keine Heimat und leide natürlich nicht
darunter, sondern freue mich meiner Heimatlosigkeit, denn sie
befreit mich von einer unnötigen Sentimentalität. Ich kenne aber
freilich Landschaften, Städte und Zimmer, wo ich mich zuhause
fühle, ich habe auch Kindheitserinnerungen und liebe sie, wie jeder

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andere. Die guten und die bösen. Ich sehe die Straßen und Plätze in
den verschiedenen Städten, auf denen ich gespielt habe, oder über
die ich zur Schule ging, ich erkenne die Eisenbahn wieder, die Ro-
delhügel, die Wälder, die Kirchen, in denen man mich zwang, den
heiligen Leib des Herrn zu empfangen – ich erinnere mich auch
noch meiner ersten Liebe: das war während des Weltkrieges in ei-
nem stillen Gässchen, da holte mich in Budapest eine Frau in ihre
Vierzimmerwohnung, es dämmerte bereits, die Frau war keine
Prostituierte, aber ihr Mann stand im Feld, ich glaube in Galizien,
und sie wollte mal wieder geliebt werden […]

Meine Generation ist bekanntlich sehr misstrauisch und bildet sich
ein, keine Illusionen zu haben. Auf alle Fälle hat sie bedeutend weni-
ger als diejenige, die uns herrlichen Zeiten entgegengeführt hat. Wir
sind in der glücklichen Lage, glauben zu dürfen, illusionslos leben zu
können. Und das dürfte vielleicht unsere einzige Illusion sein.

Ich weine dem alten Österreich-Ungarn keine Träne nach. Was
morsch ist, soll zusammenbrechen, und wäre ich morsch, würde
ich selbst zusammenbrechen, und ich glaube, ich würde mir keine
Träne nachweinen.

Manchmal ist es mir, als wäre alles aus meinem Gedächtnis aus-
radiert, was ich vor dem Kriege sah. Mein Leben beginnt mit der
Kriegserklärung. Und es widerfuhr mir das große Glück erkennen
zu dürfen, dass die Ausrottung der nationalistischen Verbrechen nur
durch die völlige Umschichtung der Gesellschaft ermöglicht werden
wird. Das ist mein Glaube. Lächeln Sie nicht! Dadurch, dass eine Er-
kenntnis oft als Schlagwort formuliert wird, verliert sie nichts von
ihrer Wahrheit. Worauf es ankommt, ist die Bekämpfung des Natio-
nalismus zum Besten der Menschheit [...] – denn das Herz der Völker
schlägt im gleichen Takt, es gibt ja nur Dialekte als Grenzen.»

Ödön von Horváth, 1929

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andri schenardi, peter jecklin, margot gödrös

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Der Tod
und das Mädchen
Jan Stephan Schmieding
Die Idee für Glaube Liebe Hoffnung stammt aus der Zeitung. Ein be-
freundeter Gerichtsreporter schilderte Ödön von Horváth 1932 in
München den Fall der «Korsettreisenden» Klara Gramm, die 1929
wegen Betruges zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Wie
später Elisabeth im Stück, stolpert auch Gramm über die strikte
Anwendung kleiner Paragraphen. Für Horváth bot sich anhand die-
ses Falles die Gelegenheit, wie er es in seiner Randbemerkung zum
Stück formulierte, «den gigantischen Kampf zwischen Individu-
um und Gesellschaft zeigen zu können, dieses ewige Schlachten,
bei dem es zu keinem Frieden kommen soll – höchstens, dass mal
ein Individuum für einige Momente die Illusion des Waffenstill-
standes geniesst».

Diesen Kampf schildert Horváth – wie in allen seinen Stücken –
allerdings mit den Mechaniken des Volksstückes, den Mitteln der
Komödie. Dafür spitzt er das Material für seine Zwecke radikal
zum Teil bis ins Groteske zu: Beginnt sein Stück doch dort, worauf
das Leben und die meisten Tragödien zusteuern – im Leichen-
schauhaus, mit dem verzweifelten Versuch Elisabeths, ihre sterb-
lichen Überreste schon zu Lebzeiten, per Vorkasse, zu verkaufen.
Damit brandmarkt Horváth seine Hauptfigur bereits im ersten
Bild des Stückes als lebendige Leiche; der kleine Totentanz, wie
es im Untertitel des Stückes heisst, beginnt.

Überhaupt ist Gevatter Tod im Kosmos des Stückes allgegenwär-
tig. Der Präparator, dem Elisabeth ihre Leiche anbietet, hat sich
längst vor der Welt und seinem Vorgesetzten in eine morbide Tier-

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liebe geflüchtet und streichelt versonnen seinen ausgestopften
Rehpinscher. Der Oberpräparator infiziert sich gleichzeitig töd-
lich an einem «komplizierten Fall aus Brünn». Im zweiten Bild
verabschiedet sich der Invalide von seinen Leidensgenossen in
der Warteschlange vor dem Wohlfahrtsamt lakonisch mit «Auf
Wiedersehen im Massengrab». Schon qua Besetzungsliste mit
dem Tod verbunden ist auch der «Baron mit dem Trauerflor». Der
beteuert in der Pathologie allzu heftig seine Unschuld am Unfall-
tod seiner Frau und sorgt später dafür, dass es dem Fräulein Maria
an den Kragen geht. Den Schupo Alfons Klostermeyer erinnert
Elisabeth gar an eine «liebe Tote» aus seiner Vergangenheit. Der
Bürgerkrieg, der im Hintergrund des Geschehens tobt, fordert
derweil regelmässig seinen Tribut an unschuldigen Opfern.

Wobei das Wort «unschuldig» eben nicht recht passen will auf
die Welt, die Horváth in Glaube Liebe Hoffnung skizziert. Mit der
Ansammlung von Kleinbürgern, die sein Stück bevölkert, legt
Horváth den Blick auf eine entsolidarisierte Welt frei, auf Be-
schränktheit, Dummheit und Egoismus, die sich in Zeiten wirt-
schaftlicher Krisen ins Asoziale und Inhumane steigern. Schicht
um Schicht präpariert er in knappen, fast skelettierten Dialogen
Mechanismen von Selbstschutz und Abgrenzung heraus. Die
eigene prekäre Lage oder allein die Angst vor dem sozialen Ab-
stieg hält die Figuren davon ab, sich um einander zu kümmern.
Schuldig machen sie sich alle, auch Elisabeth, die das Geld des
Präparators für etwas anderes verwendet als sie vorgibt. So wird
Glaube Liebe Hoffnung zu einem Spiegel heutiger Ab- und Ausgren-
zungsmentalität, befeuert von nicht immer rationalen Ängsten
vor sozialem Abstieg, dem subjektiven Gefühl von Armut.

Umgeben von Menschen mit unterschiedlichen Abstufungen von
Larmoyanz und Selbstgerechtigkeit behauptet allein Elisabeth
fast trotzig ihren Überlebenswillen. Aber nicht nur, dass Elisabeths

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Kampf um Selbstbestimmtheit sogar von ihren Geschlechtsge-
nossinnen nur mit Kopfschütteln bedacht wird. Auch ihr selbst-
gewählter Gang ins Wasser wird, zumindest zunächst einmal,
vereitelt. Bezeichnend ist dabei, dass sich ihr Lebensretter mehr
darum sorgt, ob er nun als Belohnung für seine Heldentat von
der Mutter ein Motorrad bekommt, als um Elisabeth. Sorge hat
er erst, als die lebende Leiche erneut in Ohnmacht fällt und seine
Belohnung in Gefahr gerät.

Am Ende kann sich Elisabeth dann doch noch befreien, sie stirbt
umringt von ihren Peinigern, wahrscheinlich an Herzversagen,
oder war es an menschlicher Herzenskälte? «Na, wir werden es
ja morgen sehen», sagt der Vizepräparator mit Blick auf seinen
nächsten Fall. Von Interesse scheint Elisabeth für ihre Mitmen-
schen tatsächlich erst als Tote zu sein.

 jonathan loosli, stefano wenk, dominique müller, sophie hottinger

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«Ein Panoptikum
 von Bestien»
INTERVIEW
MIT DEM REGISSEUR
Matthias Kaschig
Du hast hier in Bern vor drei Jahren sehr er-
folgreich Georg Büchners Woyzeck inszeniert.
Inwiefern ist die Beschäftigung mit Glaube Liebe
Hoffnung, wie Du einmal gesagt hast, «die konse-
quente Fortsetzung» dieser Arbeit?
In beiden Stücken steht ein Individuum im Zentrum, das von
der Gesellschaft zerstört wird. Im Woyzeck gibt es den Satz: «Jeder
Mensch ist ein Abgrund», und auch die Figuren bei Horváth sind
dafür gute Beispiele. Und sowohl Woyzeck als auch Glaube Liebe Hoff-
nung spiegeln deutlich ein Bewusstsein für die sozialen Problema-
tiken ihrer Entstehungszeit.

Das hat mit dem Hier und Heute, mit unserer aktuellen sozialen
Realität erst einmal nichts zu tun. Es ist eher eine Art Panoptikum,
ein Panoptikum von Bestien. Und ich mag auch die Vorstellung
der «kleinen Stadt» als Wimmelbild sehr, so à la Ali Mitgutsch. Ich
habe eine grosse Lust daran, eine Gesellschaft auf der Bühne zu
erfinden, eine Welt zu erschaffen. Da gibt es so eine spielerische
Lust, eine höchst böse Welt zu erfinden, ein System, innerhalb des-
sen sich die Figuren dann bewegen, und ein Mechanismus, der sie
zermalmt.

Der Reiz von Horváths Welt hat auch deshalb viel mit Büchner zu
tun, weil diese Welten so rätselhaft sind. Es ist, als hätte man ein

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Puzzle ausgekippt und muss jetzt jedes einzelne Teilchen drehen,
wenden, und schauen, wie es ins Gesamtbild passt. Und meist ist
es das Gegenteil dessen, was drinsteht oder was naheliegt. Es ist
sehr rätselhaft, Horváth nennt es auch «unheimlich». Der Horváth
ist auch darin dem Büchner sehr verwandt, dass auch er nicht nur
psychologisch funktioniert. Das Fragment Büchners ähnelt der col-
lagierenden Arbeit Horváths, Dialoge und Szenen so auszukochen,
so konzise zu gestalten und das dann zu montieren, Szenen zu ver-
schieben – die Anzahl der Apokryphen übersteigt den Umfang des
Stückes. Und was der da alles aussortiert hat und umgestellt hat,
der hat wahrscheinlich gearbeitet wie Shakespeare, mit Schere
und Prittstift. Er ist im Gegensatz zu Büchner über diesem Prozess
nicht gestorben. Die luftige Struktur des Textes ist gewollt.

Wie ist dein persönlicher Zugriff auf das Stück
und insbesondere die Hauptfigur, Elisabeth?
Eigentlich sollte das Stück «In der Maschinerie der Paragraphen»
heissen. Elisabeth, die Hauptfigur stolpert über Banalitäten in den
Abgrund der Anderen hinein, weil sie keinerlei Hilfe, Vertrauen
oder Geld bekommt, bestenfalls Floskeln über Glaube Liebe Hoff-
nung. Und alle sehen dabei zu, wie sie verhungert.

Ich finde toll, dass da jemand ein Stück über Arbeit geschrieben
hat, über Karriere und Geld. Elisabeth will arbeiten und Geld ver-
dienen. Sie entspricht dabei allen Anforderungen, die derzeit ge-
sellschaftlich gestellt werden, sie ist hoch motiviert, adrett, un-
gebunden und kann hart einstecken. Sie ist selbständig. Aber sie
muss jemand Zuständigen sprechen, um ihre Arbeit tun zu kön-
nen und stellt fest: «Es kümmert sich keiner darum.» Wenn man
dann auch noch Geld kostet und falsche Erwartungen nicht erfüllt,
wird der Auftragsgeber aggressiv. Der Betrieb fürchtet um seinen

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Umsatz, den reibungslosen Fortgang und sein Ansehen. Dafür soll
man dann auch noch Verständnis haben.

Kann man sich einen Polizisten vorstellen, der zu seiner Partnerin
steht, die ihm eine Gefängnisstrafe vorenthalten hat?

Trotz dieser beruflichen und privaten Situation hält Elisabeth an
ihrem Credo fest: «Aber ich lasse den Kopf nicht hängen». Und ge-
nau das verhindern die anderen Figuren am Ende des Stückes so-
gar noch. Wenn sie überhaupt einmal etwas tun oder eingreifen,
dann verhindern sie ihren Selbstmord. Dabei ist der Selbstmord
ihre letzte Rettung, aber das Pflichtbewusstsein der Polizei verbie-
tet ihr zu gehen. Die Situationen, die Horváth skizziert, erweisen
sich häufig noch einmal als eine Ecke bösartiger als man zunächst
denkt. Daher krabbeln ihr die Fliegen der Verwesung noch zu Leb-
zeiten in die Nase, schliesslich hat sie das System auch internali-
siert, denn ihre letzten Worte sind die gleichen wie zu Beginn: «Ich
lasse den Kopf nicht hängen».

Da bist Du schon bei der Beschreibung einer be-
sonderen Mechanik, die Du bei Horváths Volks-
stücken freigelegt hast.
Es gibt da einen gewissen dialektischen Mechanismus, der auch
bei Karl Valentin zu finden ist. Das Schöne an Glaube Liebe Hoff-
nung ist, dass einige dieser kurzen Szenen wie Sketche daher kom-
men, dass da einer mit Bewusstsein für eine soziale Problematik
schreibt, aber eben kein Sozialdrama. Er schaut quasi «komödien-
tragisch» auf Menschen. Der Horváth sass als Zugezogener in Mur-
nau, hat Menschen beobachtet und mit einer spielerischen Lust
und Bosheit deren Sprache verdichtet.

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Glaube Liebe Hoffnung ist mit «Ein kleiner Toten-
tanz in fünf Bildern» untertitelt …
Ein Totentanz wird traditionell gerne im Kreis dargestellt. Das
Stück beginnt vor dem Anatomischen Institut, am Ende wird Eli-
sabeth dort wieder ankommen, aber dann nicht mehr hineinge-
lassen, weil jetzt auch der Vizepräparator meint, nicht zuständig
zu sein.

Damals aktuell und für mich wichtig, um die Dimension des Stü-
ckes zu erfassen, ist, dass die NSDAP ein halbes Jahr vor der Macht-
ergreifung Hitlers ein Wahlergebnis von 38 % hatte. Heute wissen
wir, wohin das führte, Horváth hat das nicht mehr erlebt, aber es
schien ihm zu dämmern.

Klein ist der Totentanz nur zu nennen, weil er sich um Kleinbürger
dreht. Horváth meint «dass 90 Prozent der europäischen Staaten
aus vollendeten oder verhinderten Kleinbürgern besteht», tatsäch-
lich hat er sich dem Schicksal einer einfachen Angestellten ange-
nommen.

In Kasimir und Karoline lässt Horváth seine bei-
den Protagonisten übers Oktoberfest bummeln,
in Deinen konzeptionellen Überlegungen zu Glau-
be Liebe Hoffnung finden sich auch immer wieder
Jahrmarkts- und Geisterbahn-Assoziationen – wie
kommt das?
Es ist überliefert, dass Horváth Jahrmärkte, insbesondere Geis-
terbahnen mochte, ausgestellte Kreaturen – davon war er wohl
fasziniert. Um den Figuren in unserem Stück einen Auftritt zu ver-
schaffen, sprechen sie gelegentlich ihre Regieanweisung mit, sie
kündigen sich quasi selbst an, ihre Show im Kuriositätenkabinett.

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Manchmal scheint auch die Sprache den Figuren weniger zu ge-
hören, als von ihnen vorgestellt zu werden. Die Situation soll wie
aus dem Stegreif entwickelt entstehen, nicht in Bilder gebannt,
sondern in Sketchen gestaltet werden. Sketches hier im Sinne von
schnellen scharfen Menschen-Zeichnungen, nicht ausgemalt zum
Milieu-Bild.

Ein Autor, der sich nicht scheut, einen Liebhaber im Schrank zu
verstecken, wird schnell missverstanden. Als läge die Latte so nied-
rig, als wäre das schon das Niveau des Textes. Wenn man da nicht
eine weitere Volte herauspräpariert, dann wäre es albernes Volks-
theater. Das ist eben die Gefahr, aber auch das Schöne beim Pro-
ben mit Horváth, dass man herausfindet, «ah, das geht ja eigent-
lich so», dass man oft noch eine neue Dimension entdeckt. Das ist
Freud und Leid zu gleich.

Alfred Polgar hat der Humorlage Horváths «eiskalte Witzigkeit»
bescheinigt. Das ist uns ein guter Orientierungspunkt. Wenn die
Figuren, Situationen und Dialoge eine kalte Klarheit bekommen,
dann stimmen manche Szenen. Wenn sich so eine Kälte einstellt,
sich Abgründe, jetzt in Form von Rissen, die sich in dem Eis, auf
dem die Figuren zu stehen scheinen, bilden, und ich mich erfreu-
en kann: «Ist das böse grad.»

Wo sind für Dich die konkreten Bezüge des Stückes
zur Gegenwart?
Wie gesagt, wie es ist, als Selbstständige in eine Institution zu gera-
ten, in eine Mühle von Zwängen. Mit der Euro-Krise hat das Stück
jedenfalls nichts zu tun. Aber ich bin oft erstaunt, wie empfindlich
Menschen werden, wenn sie fürchten, etwas zu verlieren.

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Ich habe amerikanische Reportagen (H.R. Knickerbocker: Deutsch-
land, So oder so?, 1932) aus der Entstehungszeit des Stückes gele-
sen; damals war die Weltwirtschaftskrise auf ihrem Höhepunkt,
und der Faschismus versprach demnach, im Gegensatz zum Kom-
munismus, die Rückzahlung der Schulden, die Deutschland wegen
der Reparationszahlungen aufgenommen hatte. Mir fiel auf, dass
politische Entscheidungen in der heutigen Schuldenkrise «alterna-
tivlos» genannt werden und die Schere zwischen Arm und Reich
in den letzten 20 Jahren (sic!) aufgegangen ist. Dann las ich, etwas
ganz anderes: Berichte über saleswomen, die heute für Danone in
Bangladesch arbeiten. Aber ein Stück in einen andern Kontext zu
verlegen, oder es historisch zu belassen das widerstrebt mir, ist
mir zu absichtsvoll. Ich möchte eine Existenzparabel anbieten, die
der Zuschauer auf sich beziehen kann.

Der Vorteil von Horváth ist, dass seine Stücke eben nicht wie die
von Brecht funktionieren, dass er seinen Text nicht ideologisch
vereinnahmt, sie individualistischer, irrationaler belebt werden,
Menschen eher in ihren Triebstrukturen blossgelegt werden. Unse-
re Unternehmung darf gerne als Unterhaltung genossen werden,
man darf Freude daran haben, wie böse Menschen sein können.

  «Ich erwarte niemals, dass man mich irgendwo
  mit offenen Armen empfängt, aber es wäre
  für mich mehr als ein schmerzliches Erlebnis,
  wenn man es mir untersagen würde, am Wieder-
  aufbau Deutschlands mitzuarbeiten, soweit
  dies mir meine Kräfte erlauben.»

  ÖDÖN VON HORVÁTH (in einem Brief an den Reichs-
  dramaturgen Rainer Schlösser, 26. Juni 1934)

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Nachweise
Impressum
aufführungsrechte
Thomas Sessler Verlag Wien, in der Schweiz vertreten durch Procedere-Verlag AG
Zürich

BILD- UND TEXTNACHWEISE
Fotos: Horváth-Porträt © Bildarchiv der Österr. Nationalbibliothek, Wien.
Der Artikel zu Glaube Liebe Hoffnung wurde für dieses Programmheft geschrieben.
Die biographische Notiz stammt aus: Ödön von Horváth, Gesammelte Werke,
kommentierte Werkausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von Traugott Krischke, Bd. 11,
Suhrkamp, 1988. Das Horváth-Zitat ist entnommen aus: Traugott Krischke, Horváth
Chronik, Daten zu Leben und Werk, Suhrkamp, 1988, S. 109. Das Gespräch mit
Matthias Kaschig wurde am 26. September 2012 für dieses Programmheft geführt.
Probenfotos: Philipp Zinniker

konzert Theater bern
direktor Stephan Märki
schauspieldirektorin Iris Laufenberg
spielzeit 2012 /2013

glaube liebe hoffnung
premiere 12. Oktober 2012, Vidmar 1
redaktion Jan Stephan Schmieding
konzept & Gestaltung formdusche, Berlin
layout Murielle Bender
druck Haller + Jenzer AG, 3400 Burgdorf

redaktionsschluss 05.  Oktober 2012
Änderungen vorbehalten.

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henriette blumenau, stefano wenk

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«Oberinspektor:
Sie wollen doch nicht
behaupten, dass Sie
unschuldig sind?

Elisabeth:
Oh nein, das habe
ich mir schon längst
abgewöhnt.
Entschuldigens, aber
jetzt muss ich lachen –»
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