Gott arbeitet mit uns zusammen - (Die Gnadengaben gemäß Römer 12)

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Gott arbeitet mit uns zusammen
                                (Die Gnadengaben gemäß Römer 12)

Zu Pfingsten erwartet man von einem Prediger eine mitreißende Predigt. –
Aber, sollen wir von einem Menschen überhaupt etwas erwarten – es kommt doch auf den Hl.Geist an, der zu uns reden
will?
Auf diese Frage komme ich noch zurück.

Wir befassen uns auf dieser Pfingstfreizeit mit den Geistesgaben, sowie mit Christus als Leib, dessen Glieder wir als die
Christen sind. Die längsten neutestamentlichen Gaben-Listen finden wir in 1.Korinther 12 sowie in Römer 12.

Der Römerbrief wurde von Paulus in der Mitte der 50er Jahre geschrieben (57 n.Chr.?). Paulus wendet sich an die
römische Gemeinde, und will sie für die Unterstützung seines Spanien-Missionsplans gewinnen. Paulus ist ein
Pioniermissionar, er möchte also dort evangelisieren, wo es noch keine Gemeinden gibt. Von Jerusalem bis Jugoslawien hat
er bereits evangelisiert (Röm 15,19f), nun hat er hier (in der oströmischen Hälfte des Reiches?) keine städtischen
Gemeindegründungsmöglichkeiten mehr (bedeutet das, dass es auch z.B. in Ägypten bereits Gemeinden gibt?), er möchte
nach Westen und denkt dabei speziell an Spanien (Röm 15,23.28; bedeutet das, dass es z.B. in Karthago und in
Südfrankreich auch schon Gemeinden gibt?).

Im Folgenden gebe ich meine eigene Übersetzung von Römer 12 (jeweils eingerückt), wobei ich an einigen Stellen das im
Original stehende griechische Wort in eckigen Klammern einschiebe:

                                                                                           [Das Leben als Gottesdienst]

       1aBrüder [Adelphoi], angesichts der erfahrenen Barmherzigkeit Gottes lade ich euch
       nun ein [Paraklet], …
Hier werden anscheinend nur die „Brüder“ angesprochen. Das finden wir oft so in den ntl. Briefen. Sind die Schwestern
nicht auch mit gemeint? Sicherlich gehörten Schwestern zur Gemeinde, in der ein solcher Brief vorgelesen wurde. Also ist
es auffällig, dass die Schwestern nicht angeredet werden. Folgende Erklärung scheint mir plausibel: Das griechische Wort
für „Schwestern“ heißt „adelphai“, unterscheidet sich also von „adelphoi“ nur durch einen einzigen Buchstaben. Wo aber
die männliche und die weibliche Form sehr ähnlich sind, begnügt man sich oft mit der männlichen Form in der Mehrzahl,
um beide Geschlechter zugleich zu meinen. Ähnlich ist es bei uns heute, wenn wir von „den Studenten“ reden – wir
gebrauchen die männliche Mehrzahlform, meinen aber genauso auch die weiblichen Studenten, also Studentinnen.
Paulus ladet ein – die meisten Übersetzungen haben hier stattdessen: „Ich ERMAHNE euch“. Das hier stehende
griechische Wort hängt mit Paraklet zusammen – dieser Paraklet wurde von Jesus (in den Abschiedsreden gemäß dem

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Johannes-Evangelium, Kap.14-16) angekündigt: Der kommende Hl.Geist, der Tröster, Beistand, Fürsprecher … Oder
Ermahner, Ermutiger, Zusprechender … Dieses griechische Wort hat eine enorme Bedeutungsbreite, das gilt
gleichermaßen für das Hauptwort wie für das Zeitwort. Hier steht das Zeitwort. Ich habe es mit „einladen“ übersetzt, also
eher neutral – nicht negativ mit „ermahnen“. Denn dieses „ermahnen“, sprachlich zwar möglich, passt aus sachlichen
Gründen nicht. Wenn Paulus z.B. die Korinther auf konkrete Miss-Stände hinweist, dann passt „ermahnen“ durchaus,
denn Paulus war der Gründer der Gemeinde in Korinth. Aber Paulus war nicht der Gründer der römischen Gemeinde,
eine solche Autorität hatte er also für diese Gemeinde nicht. Er war für die Römer sicherlich prominent, als erfolgreicher
Missionar im Osten des Römischen Reiches, aber sie sahen ihn noch nicht – so wie wir heute – als Autor des NTs. Und
Paulus verweist auf keine Miss-Stände, er kannte die Gemeinde ja auch noch gar nicht persönlich. Er wollte diese
Gemeinde zur Unterstützung gewinnen, als Partner. Da tritt man nicht als „Ermahnender“ auf. Daher meine Übersetzung
mit „einladen“.
Wie wir hier übersetzen, beeinflusst unsere Betrachtung dieses Kapitels – darauf komme ich noch! Denn mit Römer 12,1
beginnt offensichtlich etwas Neues, denn zuvor – Ende Kap.11 – schloss Paulus mit einem Lobpreis Gottes. So lässt sich
dieser Einstieg in etwas Neues in 12,1 auch als eine Art Überschrift für das Folgende sehen. Wer hier mit „ermahnen“
übersetzt, liest auch das Folgende als Ermahnung.
Gottes Barmherzigkeit steht hier in der Mehrzahl – dafür haben wir im Deutschen gar keine Ausdrucksmöglichkeit, wir reden nicht von
„Barmherzigkeiten“ (oder „Erbarmungen“). Diese Mehrzahl soll vermutlich die konkreten Auswirkungen von Gottes Barmherzigkeit bezeichnen,
also Gottes Barmherzigkeitserweise. (Ich übersetze mit „erfahrene“, d.h. erlebte Barmherzigkeit.) Die Barmherzigkeit Gottes wurde in den
vorhergehenden Kapiteln des Römerbriefes dargelegt, insofern leitet das „nun“ vielleicht doch vom Vorhergehenden über.

        1b…, dass ihr euren Körper Gott bereitstellt als lebendes, heiliges, erfreuliches Opfer.
        Das ist euer vernünftiger Gottesdienst.
Unser Christsein betrifft nicht nur unsere Seele, sondern auch unseren Körper. Was wir in dieser Welt tun und bewirken,
tun wir durch unseren Körper. Vielleicht abgesehen vom Beten – hier können wir, auch in großer Entfernung, etwas
bewirken, während unser Körper ziemlich passiv ist.

Gott will durch uns wirken. Diese Zusammenarbeit geschieht jedoch nicht zwischen zwei völlig gleichberechtigten Partnern
– der eine Partner, nämlich Gott, ist deutlich übergeordnet. Wir stellen uns zur Verfügung für Gottes Pläne. Aber es
handelt sich um ein „lebendes Opfer“, also nicht um eine Marionette, nicht um etwas Lebloses. Gott will mit uns und
unseren Fähigkeiten zusammenarbeiten.

Schon am Beginn erwähnte ich eine Spannung: Ich oder Gott? Ist es der mitreißende
Prediger, durch den die Zuhörer angesprochen werden, oder kommt es bloß auf den
Hl.Geist an? Die Antwort ist nicht entweder/oder, sondern sowohl – als auch: Auf
beides kommt es an, Gott wirkt, aber durch Menschen.
(Ich schrieb „erfreuliches Opfer“ anstelle von – wie andere Übersetzungen – „wohlgefälliges Opfer“, da „wohlgefällig“ unter uns eher ein
ungebräuchliches Wort ist.)

Unser Leben als Gottesdienst! „Gottesdienst“ bezeichnet also nicht bloß eine Veranstaltung – aber diese als
„Gottesdienst“ bezeichnete Veranstaltung soll eine Hilfe sein, damit unser ganzes Leben „gottesdienstlich“ wird.

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2 Und passt euch nicht diesem Zeitgeist [Äon] an, sondern lasst euch umgestalten
       [Metamorphose] durch Erneuerung des Sinnes, damit ihr beurteilen könnt, was Gottes
       Wille ist, das Gute, Erfreuliche, Vollkommene.
Nicht diesem Äon anpassen – viele Übersetzungen schreiben hier: „nicht der Welt anpassen“. Die Gegenüberstellung –
hier die heile Gemeinde, draußen die schlechte Welt – möchte ich eher vermeiden. Denn „die Welt“ soll in unserem
Bewusstsein nicht als etwas grundsätzlich Böses existieren. Hier gilt es ja zu differenzieren. Das griechische Wort hier ist
ja auch nicht Kosmos, sondern Äon. Das bedeutet Zeitalter. Gemeint sind also wohl die speziellen Tendenzen des jeweiligen
Zeitalters, also Modeströmungen, Gegenwartstendenzen. Ich übersetze hier mit Zeitgeist.
Gott will mit uns zusammenarbeiten – mit uns, so wie wir sind, nicht mit einer leblosen Marionette. Mit mir, als einem
„lebenden Opfer“ (v.1). Mit uns, mit unseren Neigungen und Fähigkeiten. Allerdings gilt auch, dass wir Veränderung
benötigen, eine „Metamorphose“.
Unser „Sinn“ soll erneuert werden, unser Sinnen und Trachten: Das, worum sich unsere Gedanken drehen, unsere
Ausrichtung. Da sollen sich Prioritäten verschieben.

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       3 Denn aufgrund der mir gegebenen Gnade sage ich jedem, der unter euch ist, dass er
       sich nicht überschätzen soll, sondern dass er sich angemessen einschätzt - wie Gott
       jedem das Maß des Glaubens austeilt.
In Bezug auf unsere Glaubenserfahrungen sollen wir eine realistische Selbsteinschätzung gewinnen. Das von Gott
Geschenkte, die Gnadengaben, soll ich verwalten – indem ich wahrnehme, was und wieviel bei mir vorhanden ist.
Das „Maß des Glaubens“ deute ich als „Maß der Glaubenserfahrungen“. Es ist hier ja wohl kaum der rettende Glaube
gemeint, durch den ich Christ wurde. Dieser rettende Glaube wird kaum „gemessen“ – entweder er ist da, oder er fehlt.
Aber in meinem Glauben mache ich Erfahrungen, und diese stärken und ermutigen mich – so dass ich Gott mehr
zutraue. Mein Glaube wächst also. In dem Maß, als ich auf bestimmten Gebieten bereits positive Erfahrungen mit Gott
gemacht habe, erwarte ich auch mehr. Gott vertraut mir Gnadengaben an, und wenn ich diese gut einsetze, werde ich
ermutigt, und Gott vertraut mir noch mehr an. Es ist also ein Miteinander, Gott und Mensch wirken zusammen. In diesem
Sinn kann es dann durchaus ein unterschiedliches Maß an Glaubenserfahrungen geben. Das Austeilen durch Gott
geschieht nicht willkürlich, sondern erfolgt aufgrund meiner bisherigen Verwaltung des mir von Gott Anvertrauten.

       4 Denn wie wir an einem Körper [Soma] viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder
       dieselbe Tätigkeit [Praxis] haben,
Den Vergleich der Gemeinde mit dem Leib Christi finden wir auch in 1.Kor 12 und Eph 4. Jedes Glied ist wichtig. Die
Status-Unterschiede der Welt sollten für das Gemeindeleben keine Bedeutung haben. Zwischen den Mitgliedern soll es
keine Status-Unterschiede geben, sondern bloß praktische Unterschiede – da die Glieder unterschiedliche Praxis haben.

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5    so sind wir viele ein Körper in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied,
       6aund haben verschiedene Gnadengaben [Charisma] nach der uns gegebenen Gnade
       [Charis]:
Das Wort Charisma ist abgeleitet von Charis = Gnade. Ein Charisma ist also etwas aus Gnade Gegebenes. Die Bedeutung
ist wohl die Gleiche wie beim Wort Pneumatika (1.Kor 14,1 und 12,1).
Es folgt nun eine Auflistung von sieben „Charismata“ (oder „Charismen“):

       6b   Sei es Prophetie - in Übereinstimmung [Analogie] mit dem Glauben,
       7    sei es Dienst [Diakonie] - im Dienst,
       es sei der lehrt - in der Lehre,
Bei drei Gaben wird keinerlei Erläuterung gegeben, wie diese auszuüben sind, sondern bloß die Gabe nochmals wiederholt:
„Lehren – in der Lehre“. Das klingt trivial. Wie sonst Lehren, wenn nicht „in der Lehre“?! Ich deute Paulus so, dass er
durch diese monotone Wiederholung betonen will, dass meine Funktion dem entsprechen soll, was auch meine Gabe ist. Es
geht also darum, sehr gründlich zu prüfen, worin ich ein Charisma habe, und meine Tätigkeit (Praxis) darauf zu
konzentrieren. Manchmal nehmen einen viele unbesetzte Aufgaben so in Anspruch, dass zur Ausübung der eigentlichen
Gabe kaum noch Zeit übrigbleibt.
Die Seelsorge ist für jede Gemeinde hochwichtig. In der Bibel finden wir jedoch diesen Begriff nicht. Von der Sache her
könnte unsere Seelsorge dem entsprechen, was hier in v.8 als Zusprechen übersetzt ist. Hier steht wieder jenes griechische
Wort, das mit Paraklet zusammenhängt, d.h. es könnte auch trösten, ermahnen oder ermutigen bedeuten. Ich wählte das
neutrale Zusprechen – das lässt offen, ob der Zuspruch eher ermutigend oder eher ermahnend ist:

       8    es sei der zuspricht - im Zuspruch [Paraklet];
       der Gebende - mit Einfachheit,
       der Vorsteher - mit Zuverlässigkeit,
       der sich Erbarmende - mit Freundlichkeit.
Die Leitungsgabe („Vorsteher“) kommt in dieser Liste unter „ferner liefen“. Bedeutet das, dass diese Gabe eher unwichtig
ist? Nein, denn Paulus meint ja eigentlich, dass alle Gaben wichtig sind. Er bietet hier keine „Hitparade“, anfangend von
der bedeutendsten Gabe, hinunter bis zu unbedeutenden Gaben. Aber zumindest liegt hier keine Bestätigung für das in
autoritären Gemeinden anzutreffende Bild, dass Leitungsgaben erhaben sind über anderen Gaben. Als ob die Leiter in der
Gemeinde über eine besondere Vollmacht verfügen würden, die sich deutlich abhebt von den „normalen“ Gaben
„normaler“ Gemeindeglieder. Die Gabe des Vorstehens ist eine Gabe neben anderen Gaben.
Wie sollen diese Gaben eingesetzt werden? Die nähere Erläuterung dazu ist sehr knapp gehalten. Wer etwas von seinem
Besitz gibt, soll das „mit Einfachheit“ tun. Das kann bedeuten: „in Schlichtheit“, ohne großes Aufsehen zu erregen damit.
Es kann auch bedeuten: „in Einfalt“, d.h. ohne Hintergedanken, ohne sich irgendwelche Gegenleistungen zu erwarten dafür.

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Diese knappen Erläuterungen sind bloß Andeutungen, sicherlich keine detaillierten „Gebrauchsanweisungen“. Hier lag wohl
nicht die Zielsetzung des Paulus – er wollte hier nicht genau die Handhabung dieser Gaben erklären. Er wollte wohl auch
nicht vollständig auflisten, was es alles an Charismen gibt. Paulus liefert hier eine knappe Skizze von Charismen. Warum?
Vielleicht wollte er nicht so sehr die einzelnen Charismen erklären, sondern den Zusammenhang der Charismen mit
unserer Haltung (v.1f) und unserem Verhalten (v.9ff) aufzeigen.
Wer nach Charismen fragt, sollte nicht mit Römer 12,6 beginnen, sondern mit 12,1: Mein Körper als lebendes Opfer – damit
beginnt es, das ist die Voraussetzung für alles weitere: Dafür, dass Gott durch mich und mit mir wirken kann.
Und auch zum Folgenden besteht eine Verbindung. Wir sollten, wenn wir im NT von Charismen lesen, sowieso immer
fragen: „Wo steht da was von Liebe, und wo steht da was von Gebet?“ Liebe – dieses Thema kommt nun:

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        9 Die echte Liebe [Agape]:

        Das Böse verabscheuend, dem Guten anhaftend,
Ab Römer 12,9 werden eine Reihe von Tätigkeiten beschrieben, mit Hilfe von Zeitwörtern. Von (das Böse) verabscheuen bis
hin zu Gastfreundschaft gewähren. Am Beginn, bei der Liebe, steht jedoch kein Zeitwort. Da steht bloß „Liebe“ und „echt“.
Statt „echt“ könnten wir auch „ungeheuchelt“ sagen, oder wir könnten sagen: „ohne Schauspielerei“. Wir können uns auch
ein „ist“ dazudenken, denn das wird im Griechischen (wie im Lateinischen) oft nicht niedergeschrieben, auch wenn es mit
gemeint ist. Also: „Die Liebe ist echt“, oder aber: „Die echte Liebe ist …“ Viele Bibelübersetzungen schreiben: „Die Liebe sei
echt“. Das wäre sprachlich möglich. Aber ich vermute, dass Paulus hier am Beginn dieses Abschnittes bewusst anders
schrieb als im Folgenden, dass er hier also auf ein Zeitwort bewusst verzichtete – weil er hier am Beginn eine Überschrift
setzen wollte: „Die echte Liebe“.
Leider haben wir ja in den Urschriften des NTs keine Überschriften, auch keine Satzzeichen. Ob der Beginn eines – von uns aufgrund des Inhaltes
als solcher wahrgenommenen - Abschnittes als eine Art Überschrift gemeint war, können wir also nur vermuten.

Ich übersetze also: „Die echte Liebe ist“ oder „Die echte Liebe bedeutet“. Das folgende ist dann die konkretere
Beschreibung von Liebe.
Manche Übersetzungen haben hier statt „Die Liebe“ stehen: „Eure Liebe“. Aber das entspricht nicht dem griechischen
Original. Damit tragen Übersetzer ihre Deutung hinein. Das gilt auch für das Folgende, denn die Übersetzungen schreiben
durchgängig Befehlsformen (Imperative), also: „Eure Liebe sei ungeheuchelt, verabscheut das Böse …“ usw. Aber im
Griechischen stehen keine Befehlsformen, sondern Partizipien, z.B. „verabscheuend“. Eine solche Form ist im Deutschen
ungebräuchlich (anders im Englischen, dort ist sie gebräuchlich), wir könnten sinngemäß aber auch auf das D am Schluss
verzichten und schreiben: „Das Böse verabscheuen“, oder „Das Böse verabzuscheuen“. Jedenfalls handelt es sich um eine
Beschreibung.
Wer dieses Kapitel als „Ermahnung“ liest, neigt dazu, hier eine Reihe von Aufforderungen zu lesen, in folgendem Sinne:
Paulus ermahnt die Römer, und gibt ihnen Verhaltensanweisungen. Wenn wir Römer 12,1 dagegen „neutral“ übersetzen
(etwa „ich lade euch ein“), dann sind wir auch hier nicht auf die Befehlsform fixiert, und nehmen leichter wahr, dass es
sich hier eigentlich um eine Beschreibung handelt. Falls meine Deutung des ersten Satzes als Überschrift stimmt, ist es

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eine Beschreibung der Liebe – hier haben wir also ein „Hohelied der Liebe“! Ein solches finden wir auch in 1.Kor 13 – der
dortige Abschnitt (ein sehr kurzes Kapitel) ist etwa 2,5mal so lange wie hier der Abschnitt 12,9-13.
Die Lektüre als „Hohelied der Liebe“ verändert die Betrachtungsweise. Das Endziel bleibt natürlich bestehen, dass nämlich
die Römer die hier beschriebene Liebe in ihrem Leben umsetzen können (und ähnlich gilt das auch für uns als die
heutigen Leser). Aber es ist ein Unterschied, ob wir mit einer Serie von Forderungen konfrontiert werden, oder (vorerst)
mit einer Beschreibung. Vielleicht löst dieser Abschnitt, als Beschreibung der Liebe gelesen, (vorerst) etwas anderes in mir
aus: Vielleicht Dankbarkeit über die in der Gemeinde erlebte Gastfreundschaft.

       10   in der Geschwisterliebe einander herzlich liebend, an Ehre einander höher achtend,
       11   nicht zögernd im Eifer, brennend im Geist, dem Herrn dienend,
       12   fröhlich in Hoffnung, geduldig in Bedrängnis, ausdauernd im Gebet,
       13   sich der Nöte der Heiligen annehmend, Gastfreundschaft gewährend.
Wenn es um Charismen geht, kommt auch die Liebe zur Sprache. Ohne Liebe haben Charismen wenig Bedeutung – das
wird oft betont. Und wie ist es umgekehrt: Liebe ohne Charismen? Auch da gibt es Schwierigkeiten: Unser Bemühen zu
lieben greift oft zu kurz, es geht uns schnell die Kraft aus, und es passieren uns Fehler, es kommt zu Missverständnissen
… Damit Liebe gelingt, ist nicht nur guter Wille nötig, sondern auch Gottes Mithilfe.
Wo wir mit einem Idealbild vom christlichen Leben konfrontiert werden, neigen wir zu zwei Extremen. Das eine Extrem
konzentriert sich auf den Menschen, der sich anstrengen soll. Das ist die traditionelle, katholische Sicht: Gutestun als ein
Weg, um Sünden wiedergutzumachen. Gottes Rolle wird dabei auf die eines Zuschauers reduziert: Gott als Schiedsrichter,
der den Menschen streng beobachtet, und Punkte verteilt (meistens Minuspunkte). Das ist durchaus nicht die Sicht aller
Katholiken der Gegenwart, keineswegs. Aber vor Jahrhunderten, und auch vor Jahrzehnten, wuchsen viele Katholiken mit
diesem Bild auf. Das andere Extrem konzentriert sich auf Gott, und betont Gottes Majestät und Souveränität: Demnach
liegen alle wesentlichen Entscheidungen bei Gott, einschließlich der Vorherbestimmung zum Heil oder zum Verderben. Das
ist die calvinistische Sicht. Hier wird der Mensch als Sünder angesehen, der zu nichts Gutem fähig sei. Lediglich Gott
selbst kann Gutes tun, der Mensch solle am Besten lediglich als leeres Gefäß für das Wirken Gottes zur Verfügung
stehen. Aber Gott will uns nicht entleeren, um uns zu gebrauchen, sondern er will uns als „lebendes Opfer“. Er will uns so
wie wir sind – allerdings sollen wir umgestaltet werden, indem wir eine „Metamorphose“ an uns geschehen lassen.
Die ausgewogene Sicht liegt, wie auch sonst oft, in der Mitte. Gott will mit uns zusammenarbeiten. Weder kommt es nur
auf den Menschen an, noch will Gott der alleinige Akteur sein.
Nach dem v.13 kommt ein kleiner Einschnitt: Im Folgenden geht es hauptsächlich (aber nicht nur) um die Umwelt der
Christen, und es kommen auch mehrere Befehlsformen. Insofern ist der folgende Abschnitt etwas anders. Ich erwähne hier
nur noch den Anfang des folgenden Abschnittes:

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       14   Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht.

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Gott will mit uns zusammenarbeiten. Es liegt an uns, dass wir uns ihm zur Verfügung stellen – als „lebendes Opfer“. Dann
kann Gott eine Metamorphose an uns vornehmen, wir sind dann in der Lage, Gottes Willen zu erkennen. Gott kann uns
Charismen anvertrauen, und diese Charismen helfen uns dabei, Gottes Vorstellungen von „Liebe“ umzusetzen.
Gott sagt: „Ich habe viel mit dir vor!“
Und er sagt auch zu dir: „Gehen wir es gemeinsam an“.
Das ist quasi die Überschrift, wenn wir an das Thema Charismata denken:
Gott arbeitet mit uns zusammen.
Amen.

(Von Franz Graf-Stuhlhofer am Pfingstmontag, 28.Mai 2007, in Weikersdorf bei Gallneukirchen im Rahmen der
Gemeindefreizeit der Baptistengemeinde Mollardgasse gehaltene Predigt.)

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