Grossbaustelle im Grenzgebiet - Bulletin.ch
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WA S S E R K R A F T | D O S S I E R Mit dem Hosenrohr in der Zentrale Prutz wird das Wasser auf die beiden Grossbaustelle Turbinen geleitet. im Grenzgebiet Gemeinschaftskraftwerk Inn | Zwischen Martina im Engadin und Prutz im Tirol entsteht ein grosses Hochdruck-Laufwasserkraftwerk. Nebst geologischen und technischen Herausforderungen ist das Projekt von einem umfangreichen, inter- nationalen Genehmigungsverfahren geprägt. Die Engadiner Kraftwerke AG kann mit diesem Kraftwerk ihrer Pflicht zur Schwall-Sunk-Sanierung nachkommen. M I C H A E L R OT H ereits in den Zwanzigerjahren beiden Staaten einigen, inwieweit öster- 53 Jahre später, im Jahr 2005, war es B des vergangenen Jahrhunderts tauchten erste Pläne für ein Kraftwerk zur Nutzung des Inns im reichisches bzw. schweizerisches Recht anzuwenden ist, oder ob alternative Regeln zur Anwendung gelangen sollen. dann so weit: Der ausgehandelte Staats- vertrag wurde durch die Eidgenossen- schaft genehmigt. schweizerisch-österreichischen Grenz- Besonders anspruchsvoll waren die Fra- Unter Beteiligung von EKW wurde gebiet auf. 1952 bildeten Österreich und gen zur notwendigen Restwassermenge 2006 die Gemeinschaftskraftwerk Inn Bilder: Engadiner Kraftwerke AG die Schweiz eine Kommission zur Nut- sowie der Konzessions- bzw. Bewilli- GmbH (GKI) gegründet, die ein Jahr zung der gemeinsamen Innstrecke. gungsdauer. Beteiligt an diesen Arbei- später bereits die für den Bau notwendi- Diese Kommission hatte die Aufgabe, ten waren die beiden Staaten Österreich gen Gesuchsunterlagen eingereicht die regulatorischen Rahmenbedingun- und Schweiz, das Land Tirol, der Kanton hatte. Das aufwendige Gesuch, an dem gen zu definieren, um ein grenzüber- Graubünden sowie die potenziellen 4 Planungsbüros und 20 Umweltgut- schreitendes Kraftwerk bauen zu kön- Investoren, unter anderen auch die achter mitgearbeitet hatten, umfasste nen. Insbesondere mussten sich die Engadiner Kraftwerke AG (EKW). Erst 5400 Seiten in 11 Bundesordnern. Das bulletin.ch 2 / 2020 21
D O S S I E R | WA S S E R K R A F T Gesuch war an verschiedene nationale 2-3)(-0 und regionale Amtsstellen in der 8/" * '2*330'7> " % & '> :+'+ 8/"5 * Schweiz und in Österreich einzurei- 9,"" * :22 ++3'#)30'7> 8?"9 * %*)>(-0 949" * '> 7 9? * # $ chen. Die Prüfung der Gesuchsunterla- # 7:2:* :+ gen sowie die Bearbeitung verschiede- %2 ') /?9,!? * 3+(>') /?9!!? * ner Rechtsmittelverfahren liessen -+ +37237-))+ 2' 7'+ :+3 ,4? * " weitere Jahre verstreichen, bis 2013 end- 2'732# .3+3 %.+## 2' 7'+ 2 :3 /"9, * 2+3 lich eine rechtskräftige Projektgeneh- " 2'7%3)% ,8? * /"8 * '33 migung vorlag und 2014 ein Bauent- % " 7'+2;(+ # " '332 . 2:(37-))+ 71 %2'37'+ +)3 scheid gefällt werden konnte. /8!9 * +++&X 1 ! * ,"? * " 2:+3 Eckwerte des neuen Kraftwerks ' Mit dem neuen Gemeinschaftskraft- 45 * '7+ 3323%)-33 werk Inn (GKI, Bild 1) entsteht ein /?!,? * " + 33 72 $ 37)3 0027(**2 : grenzüberschreitendes, grösstenteils ,54?? * + % 3 :#+#37:++) 2 7%:3 unsichtbares Kraftwerk auf dem Gebiet %2#3%%7 #0+>27 +++&X 8 * )%372( :2'++%3 58? * ;11 +72=332(+) +# "/!4 * der Schweizer Gemeinde Valsot und +++&X 8 * +# 8?? * +# "?8 * ;(#:=2( 27')2-%2)'7:+# sieben weiteren Gemeinden im oberen :073%:) 2:7>&' '3 Inntal des Tirols. Das Kraftwerk staut 2 7=2( mittels einer 15 m hohen Wehranlage in :+27) Ovella das aus dem Inn und aus dem 2:7> # oberliegenden EKW Kraftwerk Mar- Bild 1 Übersichtsschema GKI mit der Wehranlage Ovella, dem Fensterstollen Maria Stein tina zufliessende Wasser. Maximal sowie der Zentrale in Prutz. 75 m3 davon können pro Sekunde gefasst und über einen 23 km langen, mit zwei Tunnelvortriebsmaschinen ausgebrochenen Triebwasserweg zu den beiden Francis-Maschinen in der Zentrale Prutz geleitet werden, bevor das Wasser bei Prutz wieder dem Inn zurückgegeben wird. Dank der verfügbaren Bruttofall- höhe von 161 m erzielen die beiden Maschinen eine elektrische Leistung von insgesamt 89 MW und eine Jahres- produktion von über 400 GWh. Die produzierte Energie steht den Gesell- schaftern der GKI gemäss ihrem Betei- ligungsverhältnis zur Verfügung. Basierend auf dem Staatsvertrag zur Nutzung des Inns im Grenzgebiet hat die Schweiz und damit EKW als Inves- torin Anrecht auf 14 % der produzierten Energie. Über die restlichen 86 % kön- nen die österreichischen Investoren Bild 2 Der Betrieb der Wehrbaustelle muss bei schneereichen Wintermonaten einge- verfügen. Bei Baubeschluss waren dies stellt werden, weil die mit Schnee verfüllten Steinschlagschutznetze die Sicherheit auf die Verbund AG sowie die Tiwag AG. der Baustelle nicht mehr garantieren können. Nachdem sich die Situation an den Strommärkten dermassen verschlech- tert hatte, sah sich die Verbund AG die aufwendigen Abstimmungen mit selbst unwesentliche Änderungen an der jedoch gezwungen, aus dem Projekt den nationalen und regionalen Behör- Wehranlage zu einem komplizierten und auszusteigen und ihren Anteil der den sowie die schwierige geologische langwierigen Unterfangen. Tiwag AG zu verkaufen. Situation auf der Baustelle, direkt am Ungewohnt für die Schweizer Inves- Fuss der 600 m hohen, extrem steilen toren ist zudem die Rolle der von den Geologie und und instabilen Felswand auf der öster- österreichischen Behörden bestimm- Genehmigungsverfahren reichischen Seite des Inns (Bild 2). ten Sachverständigen, mit denen viele Die anspruchsvollste Baustelle zur Die beiden Staaten einigten sich, dass technische Details abzustimmen sind. Errichtung des GKI befindet sich bei für die Wehrbaustelle die österreichi- Während in der Schweiz im Wesentli- der Wehranlage in Ovella. Anspruchs- schen Normen anzuwenden sind. Trotz- chen der Bauherr für die ordnungsge- voll sind bei dieser auf der Landes- dem sind sämtliche Vorhaben mit beiden rechte Umsetzung eines Projekts auf grenze liegenden Baustelle einerseits Staaten abzustimmen. Dadurch werden sich alleine gestellt ist, werden in Öster- 22 bulletin.ch 2 / 2020
WA S S E R K R A F T | D O S S I E R nahme der Bauarbeiten wieder instand gestellt werden. Nebst der Instandstel- lung sind zusätzliche Felssicherungs- arbeiten notwendig, weil sich die Stabi- lität des über der Baustelle liegenden Felspakets zusehends verschlechtert hat. Da es sich bei der Wehrbaustelle um die zeitkritische Baustelle handelt, füh- ren diese Verzögerungen zu einer ver- späteten Inbetriebnahme, schätzungs- weise Ende 2022. Dieser Termin ist jedoch stark abhängig von den kom- menden Wintermonaten, denn bei grossen Schneemengen muss die Bau- stelle aus Gründen der Personensicher- heit geschlossen werden. Modell des Allianzvertrags bewährt sich Bild 3 Doppelschildmaschine für den Vortrieb zwischen Maria Stein und Ovella. Für den 23 km langen, auf der rechten Talseite verlaufenden Triebwasserstol- len, der einen Innendurchmesser von 5,8 m aufweist, wurden zwei Doppel- schild-Tunnelvortriebsmaschinen ein- gesetzt (Bild 3). Beide je 200 m langen und 1000 t schweren Maschinen star- teten ungefähr in der Mitte des aufzu- fahrenden Triebwasserwegs ab dem Ort Maria Stein zwischen den Tiroler Gemeinden Pfunds und Tösens. Auf der vor dem Stollenfenster angelegten Installationsfläche wurde eine Fabrik zur Herstellung der rund 50 000 Tüb- binge für die Schalung des Stollens auf- gebaut. Der Start der Vortriebsarbeiten ver- lief schleppend und auch nach einem Jahr gelang es der für den Vortrieb engagierten Unternehmung nicht, die vorgesehenen Vortriebsleistungen zu erreichen. Das Bauunternehmen und Bild 4 Die Zentrale in Prutz ist bereit für die Betriebsaufnahme. GKI kamen überein, sich einvernehm- lich zu trennen, wobei GKI Eigentü- merin der beiden Vortriebsmaschinen reich zahlreiche Freigaben für einzelne sende Neuprojektierungen während und der Baustelleninstallation wurde. Projektschritte benötigt. Im Rahmen der Bauphase unumgänglich wurden. GKI verpflichtete sodann drei andere der Projektabwicklung sind dafür Insbesondere musste für die Erstellung Unternehmen, den Stollen mit den vor- grosszügige zeitliche und finanzielle des Wehrs eine deutlich aufwendigere handenen Installationen fertigzustel- Reserven einzurechnen. Baugrubenumschliessung gebaut wer- len. Dabei kam ein Allianzmodell zum Unterschätzt in der Projektierung den als erhofft. Ähnlich stellt sich die Einsatz, das im europäischen Raum wurden die geologischen Verhältnisse Situation auf der anderen Talseite dar, bisher kaum bekannt war, wonach der Felswand oberhalb der Baustelle wo in der nächsten Bauetappe das Ein- sämtliche Kosten und die einkalkulier- sowie des Untergrunds der Wehran- laufbauwerk, die Fischauf- und Fisch- ten Risiken offengelegt und mit der lage. Die schwierige Zugänglichkeit abstiegshilfen sowie das Dotierkraft- Bauherrin abgestimmt werden. Zudem vor Baubeginn verleitete zu einer zu werk gebaut werden. Diese Bauetappe wird ein angemessener Gewinn wenig fundierten Beprobung des Fels- kann erst im Winter 2019/20 in Angriff gemeinsam festgelegt. Die Bauherrin verlaufs. Die auf Beprobungen und auf genommen werden, weil ein Felssturz verpflichtet sich, alle Kosten, die detail- Modellen basierenden Annahmen im Frühjahr 2019 diverse, von GKI liert offenzulegen sind, zu tragen. wichen stark von der letztlich vorge- installierte Steinschlagschutznetze Diese kostenbasierte Abrechnung fundenen Situation ab, so dass umfas- zerstört hat. Letztere müssen vor Auf- wird mit einem Anreizmechanismus bulletin.ch 2 / 2020 23
D O S S I E R | WA S S E R K R A F T überlagert. Gelingt es der Unterneh- Vortriebsarbeiten konnten die Bauar- unnatürlichen Anstieg des Innpegels merin, die erwarteten Kosten oder den beiten in Prutz innerhalb des ursprüng- führt, nicht mehr durch den Inn, son- erwarteten Zeitplan zu unterschreiten, lichen Zeitplans fertiggestellt werden dern durch den neuen GKI-Triebwas- wird der Gewinn zugunsten der Unter- (Bild 4). serweg geleitet. Dadurch, und kombi- nehmerin angepasst. Umgekehrt muss Die Zentrale ist von aussen kaum niert mit einer grosszügigen Rest- sie auf einen Teil des Gewinns bzw. auf sichtbar. Lediglich 4,5 m des Gebäudes wasserabgabe, kann die neue Restwas- den ganzen Gewinn verzichten, sofern ragen über das Geländeniveau. Die serstrecke naturnah gestaltet und damit die Arbeiten länger dauern, oder die Turbinen und Generatoren hingegen ökologisch aufgewertet werden. Kostenerwartung nicht eingehalten verstecken sich im 26 m tiefen unterir- Das überarbeitete eidgenössische werden kann, und dies unabhängig dischen Teil des Gebäudes. Für die Gewässerschutzgesetz sieht vor, dass davon, wer die Verzögerung oder die optimale landschaftliche Einbindung von Wasserkraftwerken verursachte, Mehrkosten zu verantworten hat. Das der Zentrale konnte das Ausbruchsma- künstliche Abflussschwankungen zu im Allianzvertrag stipulierte Zusam- terial des im Sprengvortrieb erstellten sanieren sind, wobei die damit verbun- menarbeitsmodell verhindert damit Schrägschachts verwendet werden. denen Kosten durch den Bund mittels Diskussionen zu Nachforderungen. eines Zuschlags auf dem Netznut- Auf ein sonst sehr aufwendiges Wirtschaftlichkeit und Ökologie zungsentgelt finanziert werden. Indem Claim-Management kann verzichtet im Einklang EKW als Schweizer Gesellschafter den werden, weil die Lose-Win-Situationen Anlässlich des Baubeschlusses rechne- Bau von GKI ermöglicht, kann die im Wesentlichen eliminiert sind. Bei ten die Gesellschafter mit Investitions- gesetzliche Pflicht einer sogenannten Schwierigkeiten sind beide Parteien kosten von 460 Mio. Euro. Unter Schwall-Sunk-Sanierung erfüllt wer- interessiert, rasch eine kosteneffiziente Berücksichtigung der gravierenden den. Entsprechend wird EKW dafür Lösung zu finden, damit das Bauwerk Probleme bei der Wehrbaustelle in entschädigt, so dass ein wesentlicher möglichst günstig und frühzeitig fer- Ovella sowie in der ersten Phase des Teil der Investitionskosten durch den tiggestellt werden kann. Vortriebs musste die Kreditsumme auf Bund finanziert wird. Nur dank dieser Nach Abschluss des Allianzvertrags 604 Mio. Euro erhöht werden. Es Unterstützung war es EKW möglich, und verschiedenen Anpassungen an handelt sich somit um ein teures Kraft- einen positiven Bauentscheid zu fällen. der Baustelleninfrastruktur konnte das werksprojekt, das im aktuellen Markt- Somit lässt sich festhalten, dass nur neue Konsortium beachtliche Fort- umfeld kaum gewinnbringend betrie- dank der Pflicht einer Schwall-Sunk- schritte beim Vortrieb vermelden. Im ben werden kann. Sanierung bald ein neues Wasserkraft- Juli 2019 wurden die Vortriebsarbeiten Nebst der Energieproduktion dient werk mit einer jährlichen Produktion erfolgreich abgeschlossen. Aus Sicht das Kraftwerk allerdings auch der öko- von über 400 GWh erneuerbarer Ener- der Parteien hat sich die Abwicklung logischen Aufwertung des Inns zwi- gie in Betrieb gehen wird. Das Projekt mit dem Allianzvertrag sehr bewährt. schen Martina und Prutz, denn der heu- GKI stellt somit eine Win-win-Situa- tige Betrieb der bestehenden Kraft- tion für die Natur sowie für die wirt- Zentrale gemäss Terminplan werkskaskade der Engadiner Kraft- schaftliche Tragbarkeit des neuen fertiggestellt werke AG vom Stausee Livigno bis nach Kraftwerks dar. Zwischen den Tiroler Gemeinden Prutz Martina führt zu grossen, unnatürli- und Ried endet der Triebwasserweg chen Abflussschwankungen im Inn Autor mit einem gepanzerten Schrägschacht unterhalb der Ortschaft Martina. Dank Michael Roth ist Direktor der Engadiner Kraftwerke AG. J Engadiner Kraftwerke AG bei der Kraftwerkszentrale. Im Unter- der neuen GKI-Stufe wird das soge- J 7530 Zernez schied zur Baustelle in Ovella und den nannte Schwallwasser, das zu einem RÉSUMÉ Grand chantier dans la région frontalière La Gemeinschaftskraftwerk Inn, une centrale commune sur l’Inn Une grande centrale au fil de l’eau à haute pression est en vice. Outre les défis géologiques et techniques, le projet est cours de construction entre Martina, en Basse-Engadine, caractérisé par une vaste procédure d’approbation inter- et Prutz, dans le Tyrol. Elle utilisera un barrage de 15 m de nationale. haut à Ovella pour retenir l’eau provenant de l’Inn et de la Comme EKW, en tant que partenaire suisse, rend possible centrale électrique Martina de la société Engadiner Kraft- la construction de la centrale GKI (Gemeinschaftskraftwerk werke AG (EKW), située en amont. Au maximum 75 m3 Inn), l’obligation légale relative aux mesures d’assainisse- pourront être collectés et acheminés par seconde jusqu’aux ment des éclusées peut être remplie. EKW est par consé- deux turbines Francis de la centrale de Prutz par le biais quent indemnisée de sorte qu’une partie substantielle des d’un chemin d’amenée de 23 km de long. Grâce à une hau- coûts d’investissement est financée par la Confédération. teur de chute brute de 161 m, les machines atteindront une Ce n’est que grâce à ce soutien qu’EKW a pu prendre une puissance électrique totale de 89 MW après la mise en ser- décision en faveur de la construction. NO 24 bulletin.ch 2 / 2020
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