GRUNE BLATTER - Grüne Baden-Württemberg
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gb-012013-1 28.02.2013 16:23 Uhr Seite 1 ¨ BLATTER GRUNE ¨ Mitgliederzeitschrift Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg · 01.2013 Zeit für Familie INHALT Familie ist überall 2 Familienvielfalt leben 3 Bankrotterklärung für schwarz-gelbe Familienpolitik 4 Arbeitszeitsplitting statt Ehegattensplitting 5 Alleinerziehende nicht allein lassen 6 Kinder ohne Familie 7 Land der Rabenmütter 8
gb-012013-1 28.02.2013 16:23 Uhr Seite 2 Familie ist überall... Familie ist überall dort, wo Menschen mend anerkannt werden. Aber auch in gesellschaftspolitische Modernisierungs- verbindlich füreinander Verantwor- der Umweltpolitik und beim Verbrau- bremse. Sei es durch das Festhalten an tung übernehmen, insbesondere dort, cherschutz haben wir die Konzepte, die überkommenen Rollenbildern, die Einfüh- wo Kinder sind. Mit diesem Verständnis Familien überzeugen, denn gesundes rung des Betreuungsgeldes, die Reform- und Leitbild von Familie setzen wir Leben braucht eine gesunde Umwelt. Die verweigerung beim Ehegattensplitting Grünen uns in vielen Politikbereichen Anforderungen an Elternschaft, an die oder in der Debatte um Quotenregelun- seit Jahren für eine Modernisierung des Vereinbarkeit von Familie und Beruf, an gen: Schwarz-Gelb ist für viele Familien Familienbegriffs und damit für eine das Zusammenleben der Generationen längst zu einer Belastung geworden. Modernisierung der Politik für Fami- sind heute höher denn je. Hier brauchen lien ein. Nicht um eine eigene Vorstel- Familien menschengerechte finanzielle Dabei zeigen aktuelle Untersuchungen im lung von Familie durchzusetzen, son- und institutionelle Rahmenbedingungen, Auftrag der Bundesregierung (!), dass die dern schlicht um der Lebensrealität die Freiräume und Flexibilität zulassen familienpolitischen Rahmenbedingungen vieler Menschen gerecht zu werden; der und nicht das arbeitsmarktkonforme und Leistungen dringend reformiert wer- Realität einer vielschichtigen, offenen Kind oder die wettbewerbsfähige Familie den müssen. Denn auch jenseits der struk- Gesellschaft. formen wollen. turkonservativen Blockadepolitik von Schwarz-Gelb hat sich die deutsche Fami- Grüner Familienpolitik geht es darum, Weichen stellen für Familien lienpolitik mit dem Ansatz „viel Geld Benachteiligungen abzubauen und Kin- Die Grün-Rote Landesregierung hat bringt viel“ als wirkungslos, fehlgeleitet dern, Eltern und Paaren in den unter- gemeinsam mit den Kommunen den Pakt oder sogar kontraproduktiv erwiesen. schiedlichsten Varianten des Zusammen- für Familien geschlossen und die Zuwei- Politik beginnt mit dem Betrachten der lebens tatsächlich zu gleichen Chancen sungen des Landes für die Kleinkind- Wirklichkeit, auch in der Familienpolitik. zu verhelfen. Alle Familien müssen dem betreuung um jährlich 320 Millionen Wer sich hier den Realitäten verweigert, Staat gleich viel wert sein. Und ja: Grüne Euro aufgestockt. Ab 2014 wird sich das regiert an den Bedürfnissen der Familien Politik für Familien will auch dazu beitra- Land mit fast 70 Prozent an den Betriebs- vorbei. Damit muss Schluss sein – 2013 gen, dass sich wieder mehr Paare für Kin- kosten für die Kleinkindbetreuung betei- wird Grün! der entscheiden können. Moderne Fami- ligen. Damit haben wir eine wichtige Wei- lienpolitik hat den gesellschaftlichen chenstellung für Familien vorgenommen Realitäten zu folgen – nicht umgekehrt. in einem Bundesland, das unter Schwarz- Familien sind schon lange vielschichtiger, Gelb bei der Kinderbetreuung, wie bei der bunter und formenreicher, als das in Gleichstellung und der Bildungsgerech- der überkommenen Familienpolitik von tigkeit, immer mehr den Anschluss an die Schwarz-Gelb Berücksichtigung findet. Entwicklung in anderen Bundesländern und in Europa verloren hatte. Gesellschaftspolitisch sind wir Grünen mit unserem Familienbild seit vielen Jah- Schwarz-Gelb im Bund geht hingegen seit ren Vorreiter. In der Bildungs- und Gleich- Jahren mehr Schritte zurück als vor. Die stellungspolitik greifen wir die Bedürf- Familienministerin und die sie unterstüt- von Thekla Walker und Chris Kühn, nisse von Familien auf und geben zenden Strukturkonservativen in der Landesvorsitzende Antworten, die von diesen auch zuneh- Union betätigen sich unbelehrbar als 02 · GRÜNE BLÄTTER 01.2013
gb-012013-1 28.02.2013 16:23 Uhr Seite 3 Familienvielfalt leben Die Pluralisierung der Lebensformen ist zu einem Kennzeichen unserer modernen Gesellschaft geworden und in der Folge haben sich auch die For- men des familiären Zusammenlebens verändert. Familie ist in Bewegung – in ihrem Alltag, in ihren Strukturen und in ihren Formen. So gibt es heute eine Vielzahl von Lebensentwürfen, in denen Menschen in sehr unterschied- lichen sozialen Konstellationen fürein- ander Verantwortung übernehmen: Ehepaare, nicht-eheliche Lebensge- meinschaften, Ein-Eltern-, Adoptiv-, Pflege-, Regenbogen- und Patchwork- Familien bis hin zu familiären Netzwer- ken, die über Generationengrenzen hinweg auch Menschen ohne verwandt- schaftliche Bindung einschließen. Neue Familienmodelle erfordern neue Ideen dafür, wie unterschiedlichen Lebensentwürfen Anerkennung ent- gegengebracht und wie allen Kindern ein stabiles und gleichberechtigtes Aufwachsen ermöglicht werden kann. Neue Familien falt heutiger Familienformen gerecht zu brauchen neue Ideen werden und tut gut daran, sich an der Wo Kinder gut aufwachsen und sich gut Das derzeitige Familien- und Kind- Lebenswirklichkeit der Menschen zu entwickeln können, ist es egal, ob sie mit schaftsrecht deckt weder die Vielfalt noch orientieren. Familienmodelle, die von tra- zwei verheirateten leiblichen Eltern die Wandelbarkeit des Familienlebens ab. ditionellen Vorstellungen abweichen, zusammenleben, ob sie zwei Väter bzw. Es wäre deshalb an der Zeit, den Fami- dürfen nicht als gesellschaftliche Ver- zwei Mütter haben oder ob soziale Eltern lienvertrag als flexibles neues Rechtsin- fallserscheinungen beurteilt werden, son- ihre Betreuung und Erziehung überneh- stitut einzuführen. Damit biologischen dern sind als eigenständige Lebensfor- men. Zahlreiche Studien belegen, dass und gegebenenfalls weiteren sozialen men anzuerkennen. Wer die Augen vor nicht die Zusammensetzung der Familie, Eltern die Möglichkeit eröffnet wird, rele- dem Wandel der Familie verschließt, ist sondern die Qualität der Beziehungen vante kindschaftsrechtliche Fragen (z.B. nicht nur weit weg vom echten Leben, innerhalb der Familie für das Kindeswohl elterliche Sorge, Aufenthaltsbestimmung, sondern verhindert damit zugleich auch, entscheidend ist. Die Unterstützung von Umgang) zum Wohl des Kindes verbind- dass die Modernisierung des Familienbe- Familien muss deshalb stärker als bisher lich miteinander zu regeln. Weil Familie griffs in der Gesellschaft endlich auch in auch Ein-Eltern-Familien, Regenbogen- da ist, wo Menschen füreinander Verant- Recht und Gesetz nachvollzogen wird. familien, Patchwork-Familien und familiä- wortung übernehmen, sollte ein solcher Das aber geht im Zweifel immer nur zu re Netzwerke, die nicht zwangsläufig eine Familienvertrag nicht das Vorhandensein Lasten derer, die schon heute Familien- verwandtschaftliche Verbindung haben, von Kindern voraussetzen. So wird es für vielfalt leben. einschließen. Familie ist aber nicht nur Menschen in ganz unterschiedlichen For- dort, wo Kinder sind. Denkt man bei- men des Zusammenlebens möglich, Oliver Hildenbrand, spielsweise an Lebensgemeinschaften, Rechte und Pflichten des gemeinsamen 25, ist Mitglied im die – gewollt oder ungewollt – kinderlos Lebens verbindlich zu vereinbaren und Landesvorstand von bleiben oder auch an neue Formen des damit rechtlich abzusichern, was sie Bündnis 90/ Zusammenlebens (z.B. Wohngemein- schon heute leben. Die Grünen Baden- schaften in Mehrgenerationenhäusern) Württemberg und wird deutlich, dass Menschen heute auch Familien waren schon immer bunt und studiert Psycholo- in anderen Lebenszusammenhängen Ver- heute sind noch ein paar Farben mehr gie an der Univer- antwortung füreinander übernehmen dazu gekommen. Eine moderne Familien- sität Bonn. wollen. politik steht vor der Aufgabe, dieser Viel- GRÜNE BLÄTTER 01.2013 · 03
gb-012013-1 28.02.2013 16:24 Uhr Seite 4 Bankrotterklärung für schwarz-gelbe Familienpolitik 2009 hat die Bundesregierung eine das Kindergeld und -freibetragssystem liche Stringenz besitzt und die Entschei- Evaluation der Familienförderung in sowie die Eheförderung durch Ehegatten- dungen nach der jeweiligen Situation und Auftrag gegeben. Dies ist der zweite splitting und Beitragsfreiheit von Ehegat- parteipolitischen Interessenlagen trifft. Anlauf, nachdem schon ab 2006 eine ten in der Krankenversicherung. Was wir Zum anderen verfolgen die überzeugten breite Untersuchung der zentralen För- brauchen ist eine Strukturreform zu Gun- konservativen Kräfte noch immer das Ide- derinstrumente erfolgt war. Damals wie sten von Kindern. al Hausfrauenmodell, vermeiden jedoch, heute weist Schwarz-Gelb systemati- dies allzu offensiv zu vertreten. Beide sche Reformüberlegungen auch mit Viel Geld hilft nicht viel Gruppen rühren das Fördersystem im Verweis auf die noch anstehenden Schwarz-Gelb vermeidet eine solche Kern nicht an. Befunde zurück. Nun sind zentrale, aus Grundsatzdebatte. Stattdessen kapriziert Koalitionssicht unerfreuliche, Ergeb- man sich fortwährend auf das Postulat der Das Beharren auf einem überholten För- nisse der laufenden Evaluation durch- Wahlfreiheit. Vor allem die Union sugge- dersystem führt zu anhaltenden Missstän- gesickert. Die Regierung wird an einer riert, damit überwinde sie gegensätzliche den: Kinderarmut, mangelnde Bildungs- Grundsatzdebatte vor der Bundestags- familienpolitische Leitbilder und ziele auf und Teilhabechancen, Geschlechterung- wahl nicht mehr umhin kommen. das uneingeschränkte Wohl aller Familien. leicheit, niedrige Geburtenraten und so Diese Ausrufung von Wahlfreiheit ist aber weiter. Es ist Zeit für ein wirksameres, Die Evaluationsbefunde sind ein Schlag eine bloße Chimäre, hinter der sich direktes Fördersystem. Dazu gehört der ins Kontor von Konservativen und Libera- zweierlei verbirgt. Zum einen steckt eine Einstieg in eine armutsfeste Kindergrund- len. Damit kommt neue Fahrt in die völlig orientierungsarme Auffassung sicherung. Damit würde die bisherige Debatte um die Ehe- und Familienförde- dahinter, gemäß der jede beliebige Lei- Familienförderung mit ihren Um- und vor rung. Wir müssen den Hick-Hack um ein- stung schon sinnvoll ist, wenn sie nur allem Abwegen auf eine zielgenauere Kin- zelne Instrumente überwinden und end- Familien, Kindern oder Eheleuten zu Gute derförderung umgestellt werden. Und lich wieder den Kern des Fördersystems in kommt. So verhält sich etwa Familienmini- dazu gehört unbedingt die Stärkung von den Fokus rücken. Das sind namentlich sterin Schröder, deren Politik wenig fach- Bildung und Betreuung. Trotz aller 04 · GRÜNE BLÄTTER 01.2013
gb-012013-1 28.02.2013 16:24 Uhr Seite 5 Arbeitszeitsplitting statt Ehegattensplitting Nur weil die Geburtenrate nicht wie könnte man die gesetzliche Rentenversi- gewünscht reagiert, werden alle fami- cherung ganz in Frage stellen, weil sie lienpolitischen Leistungen in Frage doch Altersarmut nicht verhindert. In bei- gestellt? Dabei war klar: Elterngeld für den Fällen wäre das Ergebnis einer Strei- die ersten 14 Monate und für die näch- chung aber das gleiche, nämlich noch sten 22 Monate kein Rechtsanspruch mehr Bedürftigkeit. auf einen Kitaplatz war der zweite – wenn auch richtige – Schritt vor dem Lust auf Kinder machen ersten. Das finanzielle Loch, in das Das Kindergeld und andere familienpoli- Eltern fallen, wurde damit nicht zuge- tische Instrumente wurden doch nicht vor schüttet, sondern nur ein wenig nach Jahrzehnten eingeführt, damit die Men- hinten verschoben. Denn ohne Kita- schen Kinder bekommen. Familien erhal- platz muss spätestens nach Auslaufen ten Unterstützung, weil sie den entschei- des Anspruchs auf Elterngeld ein denden Beitrag zum Fortbestand unseres Elternteil ohne finanziellen Ausgleich Gemeinwesens leisten und weil ohne diese ganz aus dem Job aussteigen. Übrigens sozialpolitischen Errungenschaften sich sind dies nachwievor fast immer die mittlerweile weite Teile der Bevölkerung Frauen – trotz der Vätermonate. Familie gar nicht mehr leisten könnten. Ohne Kinder gibt es keine Zukunft. Finan- Erst wenn es eine qualitativ gute und ver- ziell rechnen werden sich Kinder aber nie. lässliche Betreuung gibt und Arbeitsplät- Zum Glück ist Geld auch nicht der Grund, ze, die Beruf und Familienarbeit wirklich warum Frauen und Männer eine Familie vereinbaren lassen, sowie eine Entloh- gründen. Machen wir den jungen Men- nung, die ein Auskommen für eine Familie schen stattdessen Lust auf Kinder. Indem gewährleistet und vor allem unbefristete wir Bedingungen schaffen, in denen Kin- Jobs, die Frauen und Männern überhaupt der wieder eine Bereicherung sind und erst die Chance geben, eine Entscheidung nicht ein Armutsrisiko. Zum Beispiel auch mit jahrzehntelanger Konsequenz zu tref- durch eine gerechtere Aufteilung der fen, fallen bewusste Entscheidungen für bezahlten und unbezahlten Arbeit zwi- Bekenntnisse fehlt es hier noch immer an Kinder. schen Frauen und Männern. Dann haben allen Ecken und Enden. Wer diesen Weg beide Elternteile mehr vom Leben und von konsequent einschlägt, kann guten Gewis- Gerne darf bei den familienpolitischen ihren Kindern. sens die bestehende Eheförderung redu- Leistungen ordentlich ausgemistet wer- zieren. Denn sie zielt eben nicht auf eine den: Weg mit dem Ehegattensplitting, weg Unabhängig von allen sozialpolitischen bestmögliche Unterstützung von Kindern. mit höheren Leistungen bei steigenden materiellen Leistungen brauchen wir Und sie trägt mit zig Milliarden Euro dazu Einkommen, weg vor allem mit dem zudem ein Umdenken beim Thema bei, traditionelle Rollenmodelle immer Betreuungsgeld. Und das gewonnene Arbeitszeiten. Erst, wenn es in Deutsch- wieder neu aufzulegen. Wen wundert es, Geld dann bitte nicht auf dem Altar der land normal ist, dass die Führungskraft um dass nach wie vor so viel über die man- Schuldenbremse opfern, sondern dort 16:00 Uhr geht, weil der Sprössling von gelnde Vereinbarkeit von Beruf und Fami- einsetzen wo es dringend gebraucht wird: der Kita abzuholen ist, sind wir wirklich lie geklagt werden muss? Für den Ausbau einer qualitativ hochwer- auf dem richtigen Weg. tigen und flächendeckenden Kinderbe- Ekin Deligöz ist treuung mit anständig bezahlten Erziehe- Leni Breymaier stellvertretende rinnen und Erziehern. ist Landesbezirks- Fraktionsvorsitzen- leiterin von Ver.di de von Bündnis 90/ Gefährlich ist es, wenn nun Leistungen Baden-Württem- Die Grünen im auf den Prüfstand kommen, weil die berg und stellver- Bundestag und Lei- gewünschte Lenkungsfunktion nicht ein- tretende Landes- terin des Arbeits- tritt, nach dem Motto: Wenn die Gebur- vorsitzende der kreises V – Wissens- tenrate weiter sinkt und die wachsende SPD Baden-Würt- gesellschaft und Kinderarmut nicht verhindert werden temberg. Generationen. kann, brauchen wir auch kein Geld mehr dafür auszugeben. Mit der gleichen Logik GRÜNE BLÄTTER 01.2013 · 05
gb-012013-1 28.02.2013 16:24 Uhr Seite 6 Alleinerziehende nicht alleine lassen Die Familienform „Alleinerziehend“ nimmt stetig zu. Fast ein Fünftel der Familien in Deutschland lebt heute so. Die Landtagsabgeordnete Petra Häffner war viele Jahre selbst alleinerziehend. Heute sind ihre beiden Kinder 26 und 23 Jahre alt. Die heutige Situation vieler Alleinerziehender sieht sie sehr kritisch, auch weil sich innerhalb von zwanzig Jahren so wenig geändert hat. Ihr Abgeordnetenkollege Thomas Poreski kann das nur bestätigen. Die beiden Grünen-Politiker sagen zwar, dass die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber Alleinerziehenden zugenommen hat. Sie sind aber besonders armutsgefährdet und stoßen nur selten auf die Struk- turen, die sie in ihrem Alltag unterstützen würden. Das gilt besonders für die Ver- einbarkeit von Familie und Beruf. Grüne Blätter: Petra, wie hast Du den Spa- ben übernehmen. Hochschulen und die Petra Häffner, 1964 geboren, ist gat zwischen berufstätiger Frau und Polizei haben große Mühen, Frauen für verwitwet und lebt mit ihren alleinerziehender Mutter hinbekommen? leitende Positionen zu finden. zwei Kindern in Schorndorf. Ihr beruflicher Weg begann als Petra Häffner: Für mich war es immer Thomas Poreski: Die Familienform Allein- Sportlehrerin. Später absolvierte wichtig, zu arbeiten und für meinen erziehend ist ein stetig wachsendes Fami- sie eine Physiotherapie- und Heil- Lebensunterhalt selbst zu sorgen. Als ich lienmodell – in der Regel nicht geplant, praktikerausbildung. Im März alleinerziehend war, merkte ich schnell, oft nach einer schmerzhaften Trennung, 2011 wurde Petra Häffner zum dass die Betreuungszeiten in keiner Weise gefolgt von finanziellen Einschnitten. Der ersten Mal in den Landtag ausreichen. Ich musste mir also selbst aktuelle Familienreport zeigt das ganz gewählt. Dort ist sie die Spreche- etwas überlegen. Gerade in der Zeit, als deutlich. Die Armutsgefährdung von rin für das Thema Polizei und ich meine zweite Ausbildung begann oder Familien in Baden-Württemberg liegt ins- Sport der Fraktion Grüne. später, als ich in einer Klinik leitende gesamt bei 15 Prozent, sehr viel höher Physiotherapeutin wurde, benötigte ich jedoch bei Alleinerziehenden und Fami- Thomas Poreski, 1963 geboren, eine Ganztagsbetreuung für meine Kin- lien mit drei und mehr Kindern. Darüber lebt mit seiner Familie mit zwei der. Privat organisiert und mit einem Au- hinaus bleibt ein großer Teil der Allein- Kindern in Reutlingen. Er wurde Pair sowie Unterstützung meiner Eltern erziehenden dauerhaft armutsgefährdet. 2011 erstmals in den Landtag hat das dann geklappt. Deshalb brauchen wir neben guter Kin- gewählt und ist dort sozialpoliti- derbetreuung und einer kinderfreund- scher Sprecher der Fraktion Grü- Thomas Poreski: Die Strukturen fehlen licheren Arbeitswelt auch besondere ne. Zuvor war er Geschäftsführer heute immer noch in vielen Regionen. Möglichkeiten zur Qualifikation von in der Behindertenhilfe und in Viele Alleinerziehende können deswegen Alleinerziehenden. Grün-Rot im Land der Wohnungslosenhilfe, arbeite- nur in Teilzeit arbeiten oder nicht den fördert daher intensiv die Teilzeitausbil- te in der mobilen Jugendarbeit beruflichen Weg einschlagen, den sie ger- dung. und der politischen Bildung. ne würden. Außerdem war er wissenschaft- Petra Häffner: Die Alleinerziehenden licher Mitarbeiter im Bundestag Petra Häffner: Viele Alleinerziehende stemmen eine Situation, die sich Paare mit den Schwerpunkten Inneres, bleiben weit unter ihren Möglichkeiten. teilen können. Haushalt, Kinder und Job, Migration, Armuts- und Reich- Oft sind die Bedingungen am Arbeitsplatz das ist nicht leicht. Weiter erschwert wird tumsbericht, Kinder- und Fami- zu starr. Damit sind sie in ihren Karriere- es, wenn die gesellschaftliche Anerken- lienpolitik. planungen deutlich eingeschränkt. Wir nung fehlt. Ich war damals eine Exotin benötigen eine umfassende Kinderbe- und wurde hin und wieder auch schief treuung, aber auch ein Umdenken in der angeschaut. Da hat sich viel getan. Den- trotzdem geht ihnen nichts verloren. Dar- Gesellschaft. Gerade Flexibilität ist für noch herrscht heute noch in den meisten auf bin ich stolz. Alleinerziehende wichtig. Es gibt aber Köpfen das Bild von einer klassischen auch viele Alleinerziehende, die ihr Familie, dass das die Norm ist und alles Thomas Poreski: Was Alleinerziehende Leben fest im Griff haben und wirtschaft- andere weicht ab. Ich glaube, meine Kin- leisten ist enorm. Oft bleiben die eigenen lich stabil sind. Aus meinem näheren der haben auch viel gelernt und auch Bedürfnisse dabei leider auf der Strecke. Umfeld könnte ich spontan drei Frauen profitiert von der Zeit, als ich alleinerzie- nennen. Frauen sollen auch ihre Chance hend war. Sie haben eine Mutter erlebt, Petra Häffner: Ich fand das nicht nutzen und Verantwortung im Berufsle- die arbeitet und eine eigene Welt hat und schlimm. Es ging ja um meine Kinder. 06 · GRÜNE BLÄTTER 01.2013
gb-012013-1 28.02.2013 16:24 Uhr Seite 7 Das Wohl des Kindes steht im Mittelpunkt Nicht alle Kinder haben das Glück, und Jugendliche, die aus unterschied- bereit sind, die aus Sicht des Jugendam- geborgen aufzuwachsen bei Menschen, lichen Gründen zeitweise oder auf Dauer tes notwendige Hilfe zum Schutz des Kin- die sich liebevoll um sie kümmern. Eini- nicht mehr in ihren Herkunftsfamilien des anzunehmen. Das Jugendamt muss ge werden vernachlässigt oder haben leben können. Es gibt ganz unterschiedli- dazu das Familiengericht einschalten. keine Eltern, die für sie sorgen. Wie es che stationäre Einrichtungen, beispiels- Nur dieses darf über eine Hilfe, mit der diesen Kindern ergeht und wie sie weise therapeutische oder familienähnli- die Eltern nicht einverstanden sind, ent- beschützt werden, haben wir den Leiter che Heime, Wohngruppen oder Ein- scheiden. des Stuttgarter Jugendamtes, Bruno richtungen, die zur Verselbstständigung Pfeifle, gefragt. von Jugendlichen und Heranwachsenden GB: Welche Unterstützungsmaßnahmen führen. Welche Einrichtung in Frage gibt es in dem Fall für Kinder, die bei Grüne Blätter: Was passiert in Deutsch- kommt, hängt von der individuellen Situ- ihren eigenen Eltern bleiben? land mit Kindern ohne Eltern? ation des jungen Menschen und seiner Familie ab. Bruno Pfeifle: Es gibt zahlreiche soge- Bruno Pfeifle: Sie erhalten einen Vor- nannte ambulante Angebote der Jugend- mund als Personensorgeberechtigten, GB: Sie betreuen auch Kinder, die bei hilfe, beispielsweise Erziehungsberatung, zum Beispiel aus der Verwandtschaft, dem ihren Eltern leben, aber trotzdem Familienberatung oder Unterstützung bei Freundeskreis der Familie oder einen Unterstützung brauchen. Wie wird das der Haushaltsführung. Auch Familienhe- Amtsvormund. Er oder sie bestimmt dann Jugendamt auf entsprechende Familien bammen, Schulbegleitung und vieles auch über den Aufenthaltsort der Kinder. aufmerksam und wann greifen Sie ein? mehr gehören dazu. Welche Hilfe zum Auch eine Adoption kommt in Frage. Die Tragen kommt, hängt vom jeweiligen Ein- Entscheidung darüber liegt beim Fami- Bruno Pfeifle: In vielen Fällen wenden zelfall ab. liengericht und das Jugendamt wird zuvor sich Mütter oder Väter selbst an das um eine Stellungnahme gebeten. Jugendamt und bitten um Unterstützung. GB: Welche Themen beschäftigen Sie Andere Zugänge laufen über Empfehlun- zur Zeit und müssen in Zukunft ange- GB: In der allgemeinen Wahrnehmung gen, Vermittlung oder auch Drängen gangen werden? klingt Kinderheim oft nach abschie- anderer Institutionen: anderer Bera- ben und vernachlässigen. Ist das über- tungsstellen, Schulen und Kindertages- Bruno Pfeifle: Zentraler Arbeitsschwer- haupt so? stätten, Nachbarn oder die Polizei. punkt des Jugendamtes ist kurz- und Das Jugendamt hat die Pflicht zu interve- mittelfristig die Umsetzung des seit die- Bruno Pfeifle: Heime sind stationäre Ein- nieren, wenn das Kindeswohl gefährdet sem Jahr geltenden neuen Kinderschutz- richtungen der Jugendhilfe für Kinder ist und die Sorgeberechtigten nicht gesetzes. Gleichzeitig entwickeln wir die Hilfen für unterstützungsbedürftige Eltern und Kinder weiter, auf der Grund- lage neuer fachlicher Erkenntnisse und sich verändernder Rahmenbedingungen. Derzeit steht dabei unter anderem ein neues Modell der Elternaktivierung bei Hilfen zur Erziehung im Vordergrund. Bruno Pfeifle ist seit 1991 Leiter des Jugendamts der Landeshauptstadt Stuttgart. Er ist 1950 in Ulm gebo- ren und hat an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Stuttgart studiert. GRÜNE BLÄTTER 01.2013 · 07
gb-012013-1 28.02.2013 16:24 Uhr Seite 8 [...] auf der kulturellen Ebene immer noch Land der Rabenmütter? das Leitbild der guten Mutter vor, die für ihre Kinder den Beruf aufgibt, um sich ganz deren Fürsorge zu widmen“, wie es Eltern bereits ein Kind haben, entschei- Ruckdeschel formuliert. In der deutschen den sie sich wahrscheinlich auch für ein Wahrnehmung scheint es also nicht mög- Zweites. Es ist allerdings nicht so, dass die lich zu sein, eine gute Mutter und berufs- kinderlosen Frauen grundsätzlich keine tätig zu sein: Berufstätige Mütter gelten Kinder haben wollen. Laut Martin Bujard noch immer als Rabenmütter. Und vor die vom Bundesinstitut für Bevölkerungsfor- Entscheidung „Rabenmutter“ oder „Heim- schung ist bei rund 90 Prozent der jungen chen am Herd“ gestellt, entscheiden sich Menschen ein grundsätzlicher Kinder- immer mehr Frauen gegen ein Kind oder wunsch vorhanden. Das Problem scheint schieben ihren Kinderwunsch auf – oft also zu sein, dass Frauen zwar gerne Kin- bis es zum Problem wird, sich den Kinder- der bekommen würden, sich diesen wunsch auch zu erfüllen. In Frankreich Wunsch aber nicht erfüllen. dagegen ist auch die erwerbstätige Mutter gesellschaftlich akzeptiert. Die Folge ist Kind oder Karriere laut Ruckdeschel, dass „Kinder unabhän- Der Grund liegt häufig nicht darin, dass gig von der jeweiligen Erwerbskonstella- der richtige Mann fehlt. Vielmehr müssen tion eine selbstverständliche Lebens- sich Frauen in Deutschland scheinbar zwi- option sind.“ Das heißt, in Frankreich schen Kind und Karriere entscheiden. Das treffen potentielle Eltern ihre Entschei- ist vor allem der mangelnden Vereinbar- dung für oder gegen Kinder losgelöst von keit von Familie und Beruf geschuldet, wie ihrer beruflichen Situation. Im Jahr 2011 hat in Deutschland jede die Soziologin Kerstin Ruckdeschel in Frau durchschnittlich 1,36 Kinder ihrem Aufsatz „Rabenmutter contra Mère Wenn in Deutschland mehr Kinder zur bekommen. Das ist einer der niedrig- Poule: Kinderwunsch und Mutterbild im Welt kommen sollen, müssen wir dafür sten Werte in Europa. Zum Vergleich: In deutsch-französischen Vergleich“ fest- sorgen, dass sich auch hier junge Paare Schweden oder Frankreich bekommt stellt. Denn immer mehr Frauen sind bes- ihren Kinderwunsch erfüllen – und zwar jede Frau durchschnittlich zwei Kinder. ser gebildet und haben höhere Abschlüs- ohne Angst vor einem Ende ihrer Karriere. Damit liegen sie deutlich näher an se als früher. Durch ein Studium befinden Dafür muss in der gesamten Gesellschaft einem Wert von 2,1 Geburten pro Frau. sich Frauen länger in der Ausbildung und ein Umdenken stattfinden, hin zu einer So viele sind nötig, um die Bevölke- beenden diese hoch qualifiziert. Die lan- positiven Sicht auf berufstätige Mütter. rungsgröße konstant zu halten. Warum ge Ausbildungsdauer soll sich nun auch aber klappt das in Deutschland nicht? auszahlen. Junge Akademikerinnen legen Eine Antwort steckt in der unschönen nach Abschluss ihres Studiums zunächst Julia Link hat Rede von den „Rabenmüttern“ – wäh- größeren Wert auf ihren Beruf und schie- Soziologie und rend es in Skandinavien oder Frank- ben den Kinderwunsch auf. Wollen sie Politik in Mann- reich selbstverständlich ist, dass Mütter dann allerdings auch Kinder bekommen, heim und Tampe- berufstätig sind, haben sie bei uns steht die Familiengründung im Konflikt re (Finnland) stu- noch immer mit einem schlechtem Ima- mit ihrer Karriere. diert. Sie hat für ge zu kämpfen. den Tagesspiegel Zeit für ein Umdenken und die Rhein- Infolge dessen bekommen viele Frauen gar Neben der geringen Akzeptanz berufstäti- pfalz geschrieben keine Kinder. Das heißt Schuld an dem ger Mütter in deutschen Betrieben und und arbeitet im niedrigen deutschen Wert ist eher dir Tat- den noch immer fehlenden Betreuungs- Bundestagswahlkampf in der Landes- sache, dass einige Frauen gar nicht erst möglichkeiten, insbesondere für Klein- geschäftstelle von Bündnis 90/ Mütter werden und nicht etwa, dass viele kinder, gibt es auch einen normativen Die Grünen Baden-Württemberg. Frauen nur ein Kind hätten. Denn wenn Aspekt. Denn „in Deutschland herrscht IMPRESSUM: Redaktion: Seite 4: flickr RocketScientistJan Danyal Bayaz, Julia Ebling, Seite 5: Leni Breymeier: Lopata Herausgeber: Patrick Klaiber, Florian Krebs, Seite 7: flickr 55Laney69 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Christina Schindler, Heike Wagner, Seite 8: flickr Douglas Brown Baden-Württemberg Dirk Werhahn Königstraße 78 · 70176 Stuttgart Layout&Satz: Telefon 0711-99 35 90 Mitarbeit: gerhard@fontagnier.de Telefax 0711-99 35 999 Julia Link, Carsten Preiss landesverband@gruene-bw.de Druck: www.gruene-bw.de Bilder: auf Umweltpapier bei Dierichs Seite 1: flickr Perspektivet Museum Druck+Media GmbH & Co KG, Kassel Seite 2: flickr Takashi(aes256) (Auflage 8.250 Exemplare) Seite 3: iStockphoto
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