Gute dumme Wagen - Spiegel
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Neuer Expresszug ICE 4 Gute dumme Wagen Verkehr Mit dem ICE der vierten Generation bringt die Bahn 130 neue Züge aufs Gleis. Es ist ein Neustart nach einer schier endlosen Pannenserie. Kann er gelingen? OLIVER LANG / DEUTSCHE BAHN AG 104 DER SPIEGEL 37 / 2016
Technik E r ist sauber, dieser Zug, noch unbe- Verteilte Kräfte Entwicklung des ICE-Antriebs nutzt; man wagt kaum, ihn zu betre- ten. An den Türen liegen Überzieher ICE 1, 1991 für die Schuhe. Innen leuchtet mildes Dio- Vollzug mit zwei Triebköpfen und zwölf Mittelwagen denlicht in wechselnden Farbtönen. ICE So bunt wird ihn künftig jeder Fahrgast erleben, den neuen ICE: Morgens emp- ICE 2, 1996 fängt er den Reisenden in kühlem Blau Weiterentwicklung des ICE 1, flexiblerer Halbzug mit nur einem Triebwagen und und hüllt ihn zu fortschreitenden Tages- einem Steuerwagen, zwei Halbzüge können gekoppelt werden zeiten in zunehmend warmes Grün und Rot. „Ich habe das am Anfang für Spiel- kram gehalten“, sagt Ulrich Höbel. „Jetzt gefällt es mir wirklich gut.“ ICE 3, 2000 Höbel ist „Projektmanager ICE 4“ bei Unterflurantrieb und Steuertechnik über den gesamten Zug verteilt, einzelne Wagen können der Deutschen Bahn, ein Ingenieur der nicht entnommen werden, sehr unflexibel Fahrzeugtechnik, der einst Autos konstru- ieren wollte und nun seit nahezu zehn Jah- ren die bedeutendste Eisenbahnentwick- ICE 4, 2017 lung der Republik betreut. Die Bahn Unterflurantrieb und Steuertechnik in Powercars zusammengefasst, Wagen dadurch leicht austauschbar, spricht vom „zukünftigen Rückgrat des viele Zuglängen möglich Fernverkehrs“. 130 neue Züge sollen in den kommen- den sieben Jahren von dem Generalunter- nehmer Siemens und seinem Hauptlie- gannen, den Zug zu hassen und nach Mög- 250 Kilometer pro Stunde, was konsequent feranten Bombardier produziert werden. lichkeit zu meiden. Der ICE 3 war zum In- erscheint angesichts einer auf Straßenbau Es ist der größte Auftrag in der Geschich- begriff einer pannenträchtigen, unzuver- fixierten Verkehrspolitik, die in Deutsch- te des deutschen Personenfernverkehrs; lässigen Bahn geworden. land bis heute kein Bahnnetz hat entstehen 5,3 Milliarden Euro sind dafür eingeplant. Dabei galt er in der Planung noch als lassen, in dem Züge durchgehend schnell Höbel sitzt im Speisewagen des ersten Sensation der Bahntechnik, über 300 Kilo- fahren können. ausgelieferten Exemplars. Es hat zwölf Wa- meter pro Stunde schnell mit modernen Wichtiger ist Höbel eine neuartige Fle- gen, 830 Sitzplätze und knapp zehn Mega- Unterflurmotoren und verschleißfreien xibilität: Züge verschiedener Längen zu- watt Antriebsleistung. Der Speisewagen Wirbelstrombremsen. Er hatte besonders sammenstellen und defekte Wagen schnell ist recht ansehnlich geraten: rotbraune leichte Antriebswellen aus hochfestem austauschen zu können. Wie sein Vorgän- Lederbezüge, eine gläserne Kuchentheke. Stahl, von denen die Passagiere erst Kennt- ger wird der ICE 4 die Antriebe verteilt ha- Auch hier, sagt Höbel, sei zunächst eine nis bekamen, als eine brach. Es folgten In- ben; allerdings tragen jetzt einzelne Wa- anspruchsvollere Beleuchtung geplant ge- spektionen auf Inspektionen; der Bahn- gen, sogenannte Powercars, die gesamte wesen. Mit Laserlicht und Reflektoren, die betrieb wurde zum Dauerchaos. Antriebs- und Steuertechnik. Andere rol- dann aber nicht die gewünschten Effekte Höbel steht jetzt in einer Halle des len nur mit. Die Konstrukteure nennen sie gebracht hätten. Hamburger ICE-Werks unter seinem ers- „dumme Wagen“, erreichen mit ihnen aber Nun hat Höbel nicht zehn Jahre lang ten ICE 4; der Zug ist auf einer Pfeilerkon- einen großen Spielraum beim Zusammen- nur über Lampen nachgedacht, aber eines, struktion geparkt. Er hat wieder dicke, stellen von Zügen. Die kürzeste Variante sagt er, sei ihm wichtig: „Der Zug muss ei- schwere Antriebswellen aus konventionel- könnte mit fünf Wagen fahren, die längste nen hochwertigen Eindruck machen, bis lem Stahl, aber es gibt eine neue Beson- mit 14. Die Bahn wird zunächst Zwölf- und ins Detail.“ derheit, allerdings nur an den Drehge- Siebenspänner einsetzen. Am besten soll er auch hochwertig sein – stellen ohne Antrieb: Die Wagenkästen Die ersten beiden Langversionen sollen und vom ersten Tag an verlässlich funk- sind innerhalb der Räder auf der Welle auf der Strecke Hamburg–München in die- tionieren. In diesem Sinne würde eine gelagert, nicht wie sonst üblich außen. sem Herbst den vorläufigen Probebetrieb neue Ära im deutschen Schienenverkehr „Das bringt Vorteile bei Gewicht und mit Fahrgästen aufnehmen. Die Nord-Süd- beginnen. Mit den ICEs der ersten drei Ge- Aerodynamik“, sagt Höbel. Risiken gebe Verbindung bedeutet noch immer sechs nerationen lief es nicht so gut, am schlech- es keine, behauptet er. Stunden Reisezeit, mithin ein guter Grund, testen mit Nummer drei, dem Vorgänger Der Passagier wird auf schlanke Drehge- den Zug wohnlich einzurichten. Es wird von Höbels Zug. stelle weniger Wert legen als auf zuverläs- kostenfreies WLAN geben, auch in der Als rollendes Beispiel für die techni- sige Klimaanlagen und Toiletten. Letztere zweiten Klasse bis zu einer bestimmten schen Risiken einer übereilten Bahnreform sollen dank robuster Gummiquetschventile Datenmenge, große Bildschirme mit de- war der ICE 3 zur Jahrtausendwende in im Abfluss nahezu jeden Missbrauch über- taillierten Informationen über Anschluss- den Betrieb gegangen. Teil des Privatisie- stehen, und in der Klimatisierungstechnik verbindungen, große Kofferfächer und rungsprojekts war der Übergang der Ent- soll der ICE 4 einen neuen Höhepunkt der sogar Stellplätze für acht Fahrräder – ein wicklungshoheit von der Bahn zu den Her- Bahnentwicklung markieren: Zwei getrenn- Novum. stellern. Siemens war erstmals nicht Liefe- te Systeme produzieren Kaltluft. Wenn ei- Einer Debatte um den Stauraum für Ge- rant, sondern verantwortlicher Produzent nes ausfällt, muss der Wagen nicht evaku- päck ist die einjährige Verspätung geschul- des Zuges, und dieser Aufgabe nicht auf iert werden. Die Anlage ist für Außentem- det, mit der der Zug nun zur Auslieferung Anhieb gewachsen. peraturen von bis zu 45 Grad ausgelegt. kommt. Im ersten Entwurf war der ICE 4 Der ICE 3 startete mit einer Serie denk- „Das war bisher der Standard für Südeuro- für eine maximale Passagierzahl konzi- würdiger Malheure: Mal flog eine Tür da- pa“, sagt Höbel. piert. Bahn-Vorstände blickten vor vier von, mal funktionierten die Kupplungen Im Übrigen spart der Zug mit Superlati- Jahren im Virtual-Reality-Labor von Sie- nicht, Klimaanlagen und Toiletten fielen ven. Er wird eher langsam sein, je nach mens durch klobige Spezialbrillen auf unentwegt aus. Leidgeprüfte Vielfahrer be- Ausführung schafft er maximal 230 oder das Phantom des Innenraums. Es gab noch DER SPIEGEL 37 / 2016 105
Technik Und wie war das früher? Saßen da Leute mit dem falschen Schraubenschlüssel am falschen Teil? Das Werk Uerdingen soll nun nicht nur bessere, sondern auch mehr Züge bauen. 2010 verließen knapp 400 Waggons die Hal- len, im kommenden Jahr werden es wohl erstmals in der Geschichte dieses Standorts an die 600 sein. Eine eigene Fertigungs- straße wird ausschließlich für den Groß- auftrag ICE 4 eingerichtet. Ziel ist es, einen Wagen in anderthalb Tagen zu bauen. Beim Vorgängerzug dauerte das fünf Tage. Auch aus Sicht der Bahn kann es nicht FERDINAND KUCHLMAYR / DER SPIEGEL schnell genug gehen mit diesem Zug. Es gibt reichlich Ersatzbedarf. Der ICE 1 er- reicht 2021 sein definiertes Lebensalter, doch diese 59 Züge werden dann wahr- scheinlich noch weiterfahren, denn Massen von alten Intercity-Zügen müssen drin- gend vom Gleis. Die ältesten ihrer Wag- gons wurden gebaut, als der deutsche Bun- Innenraum des ICE 4: Die Bereitschaft der Bahn, ihr Fahrzeug zu lieben, ist erkennbar groß deskanzler Willy Brandt hieß und Züge Plumpsklos hatten. Inzwischen sind ge- keinen echten Zug, nur diese Animation, ten ist jetzt ein französisches Unternehmen. schlossene WC-Anlagen nachgerüstet, und und die DB nahm eine Korrektur vor. Der Siemens-Manager betont, dass er nichts eine CDU-Kanzlerin geht in die Schluss- Der ICE 4 war als „People Mover“ kon- Schlechtes über Knorr sagen wolle; er will kurve ihres Wirkens. Der Fuhrpark auf zipiert worden, mit Sitzreihen vollgepackt überhaupt nichts über Knorr sagen. deutschen Schienen ist mit dem Wort „mu- wie eine S-Bahn. Die Konstrukteure hatten Andere Erfahrungen hatten gezeigt, seal“ noch freundlich beschrieben. einen neuen deutschen Rekord angestrebt: dass es nicht sinnvoll ist, dem Eisenbahn- Wenn alles nach Plan läuft und Siemens 2,5 Passagiere pro Meter, also 1000 auf die Bundesamt erst kurz vor dem Zulassungs- in den kommenden sieben Jahren tatsäch- gängige Bahnsteiglänge von 400 Metern. termin eine Wagenladung Akten hinzu- lich 130 fehlerfreie ICEs der vierten Gene- Der Doppelstock-TGV der Franzosen er- werfen und dann über die Trägheit deut- ration ausliefert, kann der Auftrag noch er- reicht diese Sesseldichte. Der ICE 4 hätte scher Behörden zu meckern. Stattdessen weitert werden – auf insgesamt 300 Stück. es als eingeschossiger Zug geschafft, weil wurden sieben Vorserienzüge, mehr als Sie könnten dann ein durchaus attraktives er extrem lange Wagen von 28 Metern hat doppelt so viele wie früher, vorab gebaut Bild der Deutschen Bahn prägen mit ihren und so weniger Platz an Türräume verliert. und in die Prüfprozesse geschickt. Die polychromen LED-Lampen, den schicken Geschäftsleute mit leichtem Gepäck Bahn geht von einer amtlichen Zulassung Speisewagen und großen Gepäckfächern. können gut in einer solchen Fern-S-Bahn im Herbst aus. Projektmanager Höbel er- Durch den ersten in Hamburg eingetrof- sitzen, in Urlaubszeiten wäre diese Bestuh- wartet „keine bösen Überraschungen“. fenen ICE 4 schreitet ein Mann in tadello- lung der Albtraum. Der Zug wurde um- Deutschland sieht kaputt aus in Krefeld- ser blauer Uniform und mit tadellosem Ha- möbliert. Es war und blieb die einzige Ver- Uerdingen. Inmitten einer Siedlungsbrache bitus. Wiegand Lenhardt bildet seit einigen zögerung des Projekts. aus verlassenen Häusern und zugenagelten Wochen angehende Zugbegleiter im neuen „Auf den Tag genau“ halte Siemens die Trinkhallen baut Siemens seine Züge. Ein Ambiente aus. Er sagt, die künftigen Kon- Termine ein, sagt Martin Offer, der Pro- frühes Produkt dieser Fabrik war der „Uer- trolleure seien „sehr angetan“, und er jektdirektor des ICE 4 bei Siemens. Es dinger Schienenbus“, eine tiefrote Nahver- selbst sei es auch. klingt etwas hochtrabend angesichts eines kehrsikone der Wirtschaftswunderjahre. Im Führerstand schwärmt Lokführeraus- Projekts, dessen Entwicklung zehn Jahre Verantwortlich für die aktuellen Zugpro- bilder Markus Paetow von der punktgenau gebraucht hat, und zeugt von einer nahezu jekte ist Rüdiger Mangler, ein junger Inge- dosierbaren Bremse und dem geschmeidi- religiösen Bedeutung der neuen Termin- nieur aus dem sächsischen Freiberg. Er hat gen Fahrwerk: „Man schwebt gewisserma- disziplin dieses Konzerns. Die letzte Ver- halblanges Lockenhaar und spricht mit ßen durch die Lande.“ Die Bereitschaft sion des ICE 3 war mit zwei Jahren Ver- messianischem Wohlklang von den jüngs- der Bahn, ihr neues Fahrzeug zu lieben, spätung ausgeliefert worden. Siemens ten industriellen Fortschritten. Das Werk, ist erkennbar groß. musste 360 Millionen Euro zurückstellen sagt er, sei nun in der Lage, fehlerfreie Wer dem ICE der vierten Generation und einen ganzen Zug gratis drauflegen – Züge auszuliefern. Es herrsche „mehr Ord- ins Gesicht blickt, sieht Luftschlitze ober- als Entschädigung an die Bahn. nung in den Prozessen“. halb der Scheinwerfer, die wie Wimpern Differenzen mit dem Eisenbahn-Bundes- Wie das? Hier ist von Siemens die Rede, aussehen, und darunter einen mundartigen amt hatten die Misere ausgelöst. Es ging einem Meister deutscher Verlässlichkeit. roten Strich. Ein Bahnmanager verrät, dass in der Hauptsache um einen verzögerten Sicher, es gab Korruption, aber wie hatte es schon einen internen Kosenamen gibt. Einsatz der Betriebsbremse und um reich- je Unordnung Einzug halten können? Wahrhaftig, sie nennen diesen Zug „An- lich Streit mit dem Lieferanten Knorr. Mangler zeigt auf eine Gruppe von etwa gelina Jolie“. Christian Wüst Siemens hat die gesamte Bremssteuerung zehn Monteuren, die aus der Mittagspause Mail: christian.wuest@spiegel.de des ICE 4 nun selbst entwickelt. „Die Er- zu einem Waggon im Rohbaustadium zu- fahrung hat uns gelehrt, dass es besser ist, rückkehren. Der Produktionsleiter beob- Video: solche komplexen, sicherheitsrelevanten achtet sie und zeigt sich zufrieden. Jeder, Testfahrt mit dem neuen ICE Systeme selbst unter Kontrolle zu haben“, sagt er, sei am richtigen Platz und wisse, spiegel.de/sp372016ice sagt Offer. Zulieferer der Bremskomponen- was zu tun sei. oder in der App DER SPIEGEL 106 DER SPIEGEL 37 / 2016
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