Handbuch Dirigenten 250 Porträts - Julian Caskel Hartmut Hein (Hrsg.) - Bärenreiter - Bärenreiter Verlag
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Julian Caskel ■ Hartmut Hein (Hrsg.) Handbuch Dirigenten 250 Porträts Bärenreiter Metzler
Mehrere Register zum Buch finden Sie unter: https://www.baerenreiter.com/extras/bvk2174 Die im Buch angegebenen Websites können bequem auch auf dem folgenden Weg aufgerufen werden: ■ Aufruf der Website http://links.baerenreiter.com ■ Eingabe von »bvk2174-« und daran angehängt jeweils die Nummer, die hinter angegeben ist; für den ersten Link (S. 57 unten) also insgesamt: bvk2174-0001 Die hier hinterlegten Links werden in regelmäßigen Abständen auf ihre Aktualität überprüft. Wir freuen uns, wenn Sie uns auf der genannten Website Aktualisierungsbedarf melden. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Auch als eBook erhältlich (epub: isbn 978-3-7618-7027-3 ■ epdf: isbn 978-3-7618-7032-7) © 2015 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel Umschlaggestaltung: +christowzik scheuch design unter Verwendung folgender Fotos (von links oben nach rechts unten): René Jacobs, Gustavo Dudamel, Yannick Nézet-Séguin, Simon Rattle (alle akg-images / Marion Kalter), Andris Nelsons (Marco Borggreve), Simone Young (Klaus Lefebvre) Lektorat: Diana Rothaug Korrektorat: Daniel Lettgen, Köln Innengestaltung: Dorothea Willerding Satz: Dorothea Willerding und Christina Eiling, EDV + Grafik, Kaufungen Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza isbn 978-3-7618-2174-9 (Bärenreiter) ■ isbn 978-3-476-02392-6 (Metzler) www.baerenreiter.com ■ www.metzlerverlag.de
Inhalt Zur Einleitung 7 Essays Komponierende Kapellmeister und dirigierende Konzertmeister: Zur Vorgeschichte des »interpretierenden Dirigenten« 19 Dirigenten, Komponisten und andere Diktatoren 26 Der Dirigent »im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« 33 Dirigent und Probe 38 Aspekte einer Kultur- und Ideengeschichte des Dirigierens 42 »Werktreue« und die »Aura« des Dirigenten: Eine Einführung in ein ästhetisches Dilemma 46 Abkürzungsverzeichnis 52 Dirigenten A bis Z 53 Dirigenten-Essays_Druck.indd 5 27.07.2015 17:01:25
52 Abkürzungsverzeichnis AAM Academy of Ancient Music NZfM Neue Zeitschrift für Musik ABO Amsterdam Baroque Orchestra OAE Orchestra of the Age of Enlightenment ADM l’arte del mondo OCE Orchestre des Champs-Élysées ARSC Association for Recorded Sound Collec- OEC Orchestra of the Eighteenth Century tions OF Orchestra Filarmonica / Orquesta ASMF Academy of St Martin in the Fields Filarmónica BCS Bach-Collegium Stuttgart ONCT Orchestre National du Capitole de Tou- BNC Balthasar-Neumann-Chor louse BNE Balthasar-Neumann-Ensemble ONF Orchestre National de France / BNOC British National Opera Company ONRF Orchestre National de la Radiodiffusion BP h Berliner Philharmoniker Française / CBSO City of Birmingham Symphony Orchestra ONRTF Orchestre National de la Radio-Télévision Cl Classics Française CLS City of London Sinfonia OP Orchestre Philharmonique CMW Concentus Musicus Wien ORR Orchestre Révolutionnaire et Romantique CO Chamber Orchestra OS Orchestre Symphonique / Orchestra COE Chamber Orchestra of Europe Sinfonica CollA Collegium Aureum OSCC Orchestre de la Société des Concerts du DGG Deutsche Grammophon Gesellschaft Conservatoire DHM Deutsche Harmonia Mundi OSR Orchestre de la Suisse Romande DNSO Danish National Symphony Orchestra P hO Philharmonia Orchestra (London) DSO Deutsches Symphonie-Orchester (Berlin) PO Philharmonisches Orchester / Philhar EBS English Baroque Soloists monic Orchestra EC The English Concert R hK Rheinische Kantorei ECO English Chamber Orchestra RSB Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin ENO English National Opera RSNO Royal Scottish National Orchestra FO Festival Orchestra RSO Radio-Sinfonie-Orchester / Rundfunk- GäK Gächinger Kantorei (Stuttgart) Sinfonie-Orchester GÉ / C d R La Grande Écurie et la Chambre du Roy SBYO Simón Bolívar Youth Orchestra of GM JO Gustav Mahler Jugendorchester Venezuela HMF Harmonia Mundi France SCB Schola Cantorum Basiliensis HMV His Master’s Voice SO Sinfonieorchester / Symphony Orchestra IGNM Internationale Gesellschaft für Neue Musik WP h Wiener Philharmoniker IRCAM Institut de Recherche Coordination Acoustique / Musique K lK Das Kleine Konzert Autorenkürzel KO Kammerorchester ADO Andreas Domann KO / CPE Kammerorchester Carl Philipp AEH Andreas Eichhorn Emanuel Bach AFA Alberto Fassone LAF Les Arts Florissants AGU Alexander Gurdon LCA Le Concert d’Astrée AKH Annette Kreutziger-Herr LCP London Classical Players CHD Christina Drexel LCR La Chapelle Royale DGU Dieter Gutknecht LCS Le Concert Spirituel DWI David Witsch LPB La Petite Bande FKR Florian Kraemer LTL Les Talens Lyriques GFI Gesa Finke MAK Musica Antiqua Köln HAH Hartmut Hein MBC Münchener Bach-Chor HJH Hans-Joachim Hinrichsen MBO Münchener Bach-Orchester JCA Julian Caskel MC Monteverdi Choir MIS Michael Schwalb MdL Les Musiciens du Louvre (Grenoble) MST Michael Stegemann MGG Die Musik in Geschichte und Gegenwart MWE Michael Werthmann NGS National Gramophonic Society PEN Peter Niedermüller NO National Orchestra TOP Tobias Pfleger Dirigenten-Essays_Druck.indd 52 27.07.2015 17:01:29
55 Abbado, Claudio Abbado, Claudio 1990–2002 leitet er die Berliner Philharmoniker, lehnt eine Vertragsverlängerung aber bereits 1998 ab. Mit dem 1933 am 26. Juni in Mailand geboren als Sohn des Orchester etabliert er thematische Zyklen, die jede Sai- Violinisten Michelangelo Abbado und der Schriftstelle- son um ein einzelnes Sujet zentriert sind. rin Maria Carmela Savagnone. Er ist der Onkel des Diri- 1994 übernimmt er auch die künstlerische Leitung genten Roberto Abbado. der Salzburger Osterfestspiele. 1949 beginnt er sein Studium am Mailänder Konser- 2000 muss er wegen einer Krebserkrankung pausie- vatorium (u. a. bei Antonino Votto), das er in Klavier ren, bestreitet aber dennoch mit seinem Berliner Or- (1953), Orchesterleitung und Komposition (1955) mit Di- chester eine Japantournee. plom abschließt. Anschließend setzt er seine Studien bei 2003 begründet er das Lucerne Festival Orchestra, mit Hans Swarowsky in Wien fort. Durch das Mitsingen im dem er fortan alljährlich musiziert. Den Kern des Or- Chor des Musikvereins (zusammen mit seinem Studien- chesters bildet das Mahler Chamber Orchestra, zu dem freund Zubin Mehta) kann er die Probenarbeit zahl- sich berühmte Solisten an den ersten Pulten gesellen. reicher Dirigenten mitverfolgen. 2004 etabliert er zudem in Bologna das Orchestra 1958 gewinnt er in Tanglewood den Koussevitzky- Mozart. Preis, ebenso ist er im Jahr 1963 (zusammen mit u. a. Zde- 2013 wird er in Italien zum Senator auf Lebenszeit něk Košler) Preisträger beim New Yorker Mitropoulos- ernannt (zuvor erhält er im Jahr 1994 den Ernst von Wettbewerb. Siemens Musikpreis und im Jahr 2002 das Bundesver- 1961–1963 hat er eine Dozentenstelle für Kammer- dienstkreuz). musik am Konservatorium in Parma. 2014 stirbt er am 20. Januar in Bologna. 1965 dirigiert er die Wiener Philharmoniker (WPh) auf Einladung Herbert von Karajans bei den Salzburger Festspielen in Mahlers 2. Sinfonie. Das Konzert gilt als Robert Schumann hat einmal in einer berühmt entscheidender Durchbruch Abbados. gewordenen Verwechslung angenommen, die 1968 Debüt mit Verdis Don Carlo am Royal Opera House, Covent Garden. Schottische sei eigentlich die Italienische Sinfonie 1968–1986 ist er (mit verschiedenen offiziellen Posi- Mendelssohns. Dieser Fehler wäre ihm bei einer tionen und zeitweiligen Amtsniederlegungen) als leiten- Beschreibung von Claudio Abbado sicher nicht der Dirigent an der Mailänder Scala tätig. Er öffnet das Haus für das zeitgenössische Repertoire und etabliert ab unterlaufen – trotz Abbados eher asketischer 1982 das Orchestra Filarmonica della Scala. Statur und bisweilen »unitalienisch« wortkar- 1973 setzt er sich zusammen mit dem Komponisten ger Natur. Zu unverwechselbar erscheinen viele Luigi Nono und dem Pianisten Maurizio Pollini in Reg- gio Emilia mit »Musica / Realtà« benannten Konzert- Züge seines Dirigierens: die scheinbar leicht serien für Neue Musik ein. unterkontrollierte Probenarbeit, in der Abbado 1978 Gründung des European Community Youth Or- in verschiedenen Sprachen das Musizieren im- chestra, aus dem ab 1981 das Chamber Orchestra of Europe (COE) hervorgeht, das nicht nur mit Abbado, sondern mer wieder an die beiden Worte »zuhören« u. a. mit Nikolaus Harnoncourt wichtige sinfonische Zy- und »zusammen« anbindet; die Konzerte, in klen einspielen wird. denen die eingeforderte Spontaneität in der 1979–1987 leitet er das London Symphony Orchestra, dem er zuvor als Erster Gastdirigent verbunden war. Unabhängigkeit seiner linken Hand und den 1982–1985 ist er Erster Gastdirigent des Chicago Sym- mitzitternden Mundwinkeln sichtbar wird; die phony Orchestra. Karriere, in der Abbado Renommierensembles 1984 leitet er die Uraufführung von Luigi Nonos Pro- meteo. Tragedia dell’ascolto in Venedig. und neu begründete Jugendorchester zueinan- 1986 wechselt er als Musikdirektor an die Wiener der durchlässig hält, wie auch seine Diskografie Staatsoper (bis 1991), wo er mit dem Festival Wien Mo- zahlreiche Repertoirezyklen neben anspruchs- dern und dem Gustav Mahler Jugendorchester (GM JO) bleibende Initiativen setzt. vollste Neue Musik stellt (nicht zuletzt seines 1989 gilt seine Wahl am 8. Oktober zum Nachfolger Freundes Luigi Nono). Herbert von Karajans bei den Berliner Philharmonikern Doch Abbados Londoner Einspielung der (BPh) als Sensation, da andere Kandidaten durch den florierenden Tonträgermarkt stärker protegiert schei- Schottischen Sinfonie aus dem Jahr 1984 wirkt nen. beinahe wie eine nachträgliche Rechtfertigung
Abbado, Claudio 56 für Schumanns Verwechslung: Die nebelhafte die Anfangstakte der Auferstehungssinfonie aus, Einleitung nimmt er mit unerwartet vollem um das Bild von Abbado als striktem Analy- Klang, das Hauptthema dagegen sehr verhalten, tiker auch infrage zu stellen: Die von Mahler sodass bereits in den Anfangstakten die spätere vorgesehene Kontrastierung zweier stark von- Integration der Finale-Coda vorbereitet wird. einander abweichender Tempi wird weder in Dazwischen entfaltet sich nicht nur im Scherzo der Aufnahme aus Chicago umgesetzt noch in eine Kombination virtuoser Motorik und detail- den späteren aus Wien und Luzern, die ein- genauer Leichtigkeit, die in der Summe eine der zelne schroffe Momente in einem schmelzen- schönsten Ouvertüren ergibt, die Rossini nie den Klangbild bewahren (was in Chicago noch geschrieben hat. Eine derartige »Italianità« er- genau umgekehrt war). lebt man auch in Dvořáks Othello-Ouvertüre, Abbados Persönlichkeit verbindet im Grun- in der die stark profilierten Basslinien an die de einen weisen alten Mann und einen schalk- Sturmszene aus Verdis Oper erinnern. Eine sol- haft unernsten Jugendlichen, während ihm die che Herangehensweise ist aber für Abbado kei- Attitüden des seriös-kommerziellen Erwachse- nesfalls immer typisch und bleibt eingebettet in nen wenig zu bedeuten schienen. Eigentlich hat Attribute eines kammermusikalischen Klang- Abbado die allerletzten leisen Zweifel am Er- bilds. Ein erstes »Opfer« solcher Analytik ist folg seiner Berliner Jahre nicht in Berlin, son- Lady Macbeth: Im Vergleich mit Riccardo Mutis dern erst danach in Luzern ausräumen können: im selben Jahr entstandener Londoner Auf- Diese Luzerner Jahre stellen ein »vergeistigtes nahme – das persönliche Verhältnis der beiden Spätwerk« dar, das sich mit demjenigen aller wurde bisweilen ebenso zum Shakespeare’schen großen Komponisten messen kann – vielleicht Königsdrama stilisiert – scheint tatsächlich auch, weil Abbado hier nun mit einem Orches- schon in den ersten paar Takten alles entschie- ter arbeitet, das sich umgekehrt immer seinen den. Muti dirigiert den »affektiven« Gehalt der Wünschen anzuschmiegen hat. Abbados »Spät- ostinaten Rhythmen, die so schon im Vorspiel stil« beginnt aber bereits mit seinem zweiten die folgende Hexenszene abbilden, Abbado eher Beethoven-Zyklus (der erste entsteht Ende der deren »effektiven« Gehalt – noch näher an der 1980er-Jahre in Wien, der zweite ab 1999 in Notation, aber auch etwas neutraler. Die Hand- Berlin). Im Abgleich mit Leonard Bernstein lung des Macbeth wird bei Muti zur Schauer- und Simon Rattle, die jeweils ein Jahrzehnt vor oper, bei Abbado hingegen sozusagen zur »Zu- und nach Abbado ebenfalls einen »Wiener« schaueroper«, indem die vielen Dreiklänge, die Zyklus produzierten, zielt vor allem Abbados oft als unpassend zum Sujet empfunden wur- »Berliner« Zyklus nicht darauf, unerwartete den, wie unbeteiligte Beobachter wirken, die zur interpretatorische Entscheidungen hörbar zu Szene immer etwas Distanz bewahren. machen, sondern eher darauf, genau diese Ent- In der großen Masse seiner Aufnahmen vor scheidungen zu verbergen. Die Aufnahmen allem der 1980er-Jahre dominiert jedoch ein verbinden einen schlanken Klang mit einer manchmal auch leicht unpersönlicher Kompro- ruhigen und traditionellen Klangauffassung: So missklang aus Karajan und Kammerorchester. wird die 5. Sinfonie von der stark wechselnden Abbados multiple Versionen einzelner Mahler- Länge der jeweiligen Legatobögen her gedeutet, Sinfonien bilden nicht eine gleichbleibende in- wodurch das »Schicksalsmotiv« beständig in dividuelle Stilistik ab, sondern die Anpassung neuen Phrasierungskontexten einsetzen kann. an den jeweils spezifischen Orchesterklang und In den Luzerner Konzerten etabliert sich Abbado die Übernahme der gerade zeitaktuellen Trends auch endgültig als der erste und eigentliche der Tempogestaltung (das Adagietto der 5. Sin- Dirigent des DVD-Zeitalters: Wovon Karajan fonie ist in der späteren Berliner Einspielung immer nur träumte, das gelingt Abbado ganz rund drei Minuten rascher). Wieder reichen mühelos, nämlich die visuelle Präsenz des Di-
57 Abbado, Claudio rigenten als unverzichtbar empfundene Kom- Klavierkonzerte Nr. 1 & 2 (Maurizio Pollini, Chicago SO; ponente des Konzerterlebnisses zu vermitteln. DGG) ■ 1977/79 Prokofjew: Skythische Suite / Leutnant- Kije-Suite / Alexander Nevsky (Elena Obraztsova, Chi- Abbado besitzt eine unnachahmliche Fähig- cago SO, London SO & Chorus; DGG) ■ 1984/85 Men- keit, im »Laut« das »Leise« zu bewahren, und delssohn: Sinfonien Nr. 1–5 (London SO; DGG) ■ 1986 gerade darum bleibt er ein Spezialist für den Schubert: Messe Es-Dur D 950 (Mattila, Lipovšek, Hadley, Pita, Holl, Wiener Staatsopernchor, WPh; DGG) ■ archetypischen sinfonischen Weg vom »Leise« 1989 Rossini: Ouvertüren: Il barbiere di Siviglia / Semi- zum »Laut«. Musikhistorisch stellt sich dies ramide / L’italiana in Algeri / Guillaume Tell / La gazza wohl so dar: Die langsame Einleitung wird in ladra etc. (COE; DGG) ■ 1992 Nono: Il canto sospeso / Mahler: Kindertotenlieder etc. (Ganz, Lothar, Bonney, der Geschichte der Sinfonie von der Einweg- Otto, Torzewski, Lipovšek, Rundfunkchor Berlin, BPh; zur Mehrwegverpackung; die geheimnisvollen Sony) ■ 1993 Mussorgsky: Boris Godunow [Fassung Ruinen und Fanfaren, die leise etabliert werden, 1872] (Kotcherga, Larin, Lipovšek, Slovak Philharmonic Chorus Bratislava, Rundfunkchor Berlin, BPh; Sony) ■ können dadurch auch noch die lauten Schlüsse 1994 Mozart: Le nozze di Figaro (Gallo, McNair, grundieren. Bei Abbado hören sich diese gro- Skovhus, Studer, Bartoli, WPh; DGG) ■ 1994 Kurtág: ßen Feiermusiken der Romantik immer etwas Grabstein für Stephan / Stele / Stockhausen: Gruppen (Ruck, Goldman, Creed, BPh; DGG) ■ 1997 Dvořák: an wie der verträumte Jüngling, der abwesend Sinfonie Nr. 9 »Aus der Neuen Welt« / Othello (BPh ; dabeisitzt und das Fest später literarisch ver- DGG) ■ 1999/2000 Beethoven: Sinfonien Nr. 1–9 (BPh; ewigen wird. Dies gilt im Kleinen für den Mittel- DGG) ■ 2010 Berg / Beethoven: Violinkonzerte (Isa- belle Faust, Orchestra Mozart; HMF) ■ 2012 Schumann: teil der »Fêtes« aus Debussys Nocturnes, den Sinfonie Nr. 2 / Ouvertüren: Manfred / Genoveva (Or- Abbado in einer Kindheitserinnerung als Initial- chestra Mozart; DGG) zündung seines Dirigierwunsches angegeben Bildmedien hat und der noch in seiner Berliner Aufnahme 2003 Mahler: Sinfonie Nr. 2 »Auferstehungssinfonie« ungewöhnlich leise beginnt und ungewöhnlich (Gvazava, Larsson, Orfeón Donostiarra, Lucerne FO ; laut endet. Es gilt aber auch für den Gesamtver- EuroArts) ■ 2006 Schönberg: Pelleas und Melisande / Mahler: Sinfonie Nr. 4 (Juliane Banse, GM JO; Medici lauf von Schumanns 2. Sinfonie: Die Anfangs- Arts) ■ 2011 Bruckner: Sinfonie Nr. 5 [Ed. Nowak] takte kombinieren zwei Urtypen der langsamen (Lucerne FO; Accentus) Einleitung, die Fanfare und die »Nebelmusik«. Das klingende Haus (Film von Daniele Abbado; Sony 1994) ■ A Trail on the Water. Abbado – Nono – Pollini Dies nutzt Abbado, um bis in das Finale hinein (Dokumentation von Bettina Ehrhardt; EuroArts 2001) ■ alle Zitate dieser Fanfare durch eine gleichzeiti- Claudio Abbado – Die Stille hören (Dokumentation von ge Reminiszenz an die Nebelschleier abzutönen. Paul Smaczny; EuroArts 2003) Claudio Abbado war immer auch ein Diri- Schriften gent für Leute, die Dirigenten nicht mögen. Er Das Haus voll Musik, Illustrationen von Paolo Cardoni, hat das charismatische Bild des Berufsstandes so übs. von Maja Pflug, Zürich 1986 ■ Meine Welt der Mu- sik. Orchester und Instrumente entdecken, Illustratio- modifiziert, dass eine jüngere Generation sich nen von Paolo Cardoni, übs. von Claudia Theis-Passaro, sowohl in ihrem Bemühen um etwas weniger München 2012 offenkundig äußerliches Machtgehabe wie in Literatur den bewahrten Spielräumen für Eitelkeit, Eigen- Das Berliner Philharmonische Orchester mit Claudio willigkeit und Ehrgeiz an Abbado ausrichten Abbado, Beiträge von Helge Grünewald u. a., Fotografien kann. Abbado steht nicht nur alphabetisch zu von Cordula Groth, Berlin 1994 ■ Frithjof Hager, Clau- dio Abbado. Die Anderen in der Stille hören, Frankfurt Recht ganz am Anfang jeder Kompilation gro- a. M. 2000 ■ Lidia Bramani, Claudio Abbado. Musik über ßer Dirigentennamen – mit Abbado als »An- Berlin, übs. von Agnes Dünneisen und Beatrix Birken, fangstakt« muss man sich auch um die Zukunft Frankfurt a. M. 2001 ■ Christian Försch, Claudio Abbado. Die Magie des Zusammenklangs, Berlin 2001 ■ Ulrich des Dirigierens keine Sorgen machen. Eckhardt (Hrsg.), Claudio Abbado. Dirigent, Berlin 2003 Tonträger Webpräsenz 1969 Bruckner: Sinfonie Nr. 1 [Linzer Fassung, 1866] www.abbadiani.it (0001) (WPh; Decca) ■ 1976 Verdi: Macbeth (Cappuccilli, Ver- www.ne.jp/asahi/claudio/abbado/discography/disco- rett, Domingo, Teatro alla Scala; DGG) ■ 1977 Bartók: graphy_frame.html (0002) JCA
Abravanel, Maurice 58 derum Konrad Adenauer, der ehemals mit ihm Abendroth, Hermann befreundet war, gegen Gastdirigate Abendroths 1883 am 19. Januar in Frankfurt am Main geboren. 1901–1905 studiert er im Anschluss an eine Buch- im Westen strikt vorzugehen. händlerlehre Komposition bei Ludwig Thuille und Di- Abendroths diskografische Hinterlassen- rigieren bei Felix Mottl an der Münchner Königlichen schaft, vor allem für den Rundfunk aufgenom- Akademie der Tonkunst. 1905–1911 Tätigkeit als Städtischer Kapellmeister in men, engt sein musikalisches Profil zwar auf die Lübeck, daneben ist er Assistent Felix Mottls bei Wagner- Schlachtrösser des sinfonischen Betriebs ein, Aufführungen in München und Bayreuth. zeigt ihn aber gleichwohl als Dirigenten einer 1911 geht Abendroth als Städtischer Musikdirektor nach Essen. älteren Tradition in einer historischen Um- 1915–1934 ist Abendroth – als Nachfolger von Fritz bruchszeit: Abendroth hatte mit Felix Mottl und Steinbach – Kölner Gürzenich-Kapellmeister. Er wird Fritz Steinbach noch die Hausdirigenten von 1918 zum Generalmusikdirektor ernannt, außerdem lei- tet er gemeinsam mit Walter Braunfels das Konservato- Wagner und Brahms erlebt, die ihm die Tradi- rium, das 1925 von Oberbürgermeister Konrad Adenauer tionen des 19. Jahrhunderts in lebendiger Hand- zur Staatlichen Musikhochschule aufgewertet wird. reichung vermitteln konnten. Anschaulich wird 1934–1945 wird er – nachdem ihn die Kölner Natio- nalsozialisten mit massiver Opposition bedrängt hat- dies in der flexiblen, mit den feinsten dynami- ten – Gewandhauskapellmeister und Dirigierprofessor schen Prozessen korrespondierenden Tempo- in Leipzig. Diese Position macht ihn aufgrund der von gestaltung seiner Brahms-Interpretationen, bei- den Nationalsozialisten unterdrückten Mendelssohn- Tradition angreifbar. spielsweise im Andante sostenuto der 1. Sinfo- 1937 tritt er der NSDAP bei. Zudem ist er Leiter der nie: Abendroth rückt immer wieder motivische Fachschaft Musikerziehung in der Reichsmusikkammer. Einzelheiten und Themenübergänge verlang- 1945 wird Abendroth in Leipzig wegen seiner NSDAP- Mitgliedschaft entlassen; er zieht nach Weimar und wird samt aus dem Grundtempo heraus und legt die dort Leiter der Staatskapelle und Professor an der Musik- großen Bläserpassagen beinahe rhapsodisch an, hochschule. indem er den Solisten umfassende agogische 1949 erhält Abendroth den Nationalpreis der DDR und übernimmt – neben seinem Weimarer Dirigenten- Freiheiten lässt. amt – das Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig. 1953 wird er Weimarer Ehrenbürger; als drittes Or- Tonträger chester leitet er das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin 1927 Brahms: Sinfonie Nr. 4 (London SO; Biddulph) ■ (RSB). 1941 Brahms: Sinfonie Nr. 1 (BPh; Iron Needle) ■ 1955 1956 stirbt er am 29. Mai in Jena. Schumann: Sinfonie Nr. 1 »Frühlingssinfonie« (RSB ; Tahra) Das künstlerische Schicksal von Hermann Literatur Abendroth ist ohne den Seitenblick auf die Jörg Clemen, Hermann Abendroth und das Gewand- hausorchester, in: Thomas Schinköth (Hrsg.), Musik- deutsche Geschichte nicht denkbar, sein An- stadt Leipzig im NS-Staat. Beiträge zu einem verdräng- denken leidet an deren Konsequenzen: 1933 war ten Thema, Altenburg 1997, S. 250–260 ■ Irina Lucke- Abendroth zunächst ein Opfer nationalsozia- Kaminiarz, Hermann Abendroth – Ein Musiker im Wechselspiel der Zeitgeschichte, Weimar 2007 ■ Markus listischer Agitation; dass er 1937 der NSDAP Gärtner, »Kein Wort von Erfüllung meiner Bedingun- beigetreten war und eine herausgehobene Po- gen!« Der Briefwechsel zwischen Hermann Abendroth sition in der Reichsmusikkammer eingenom- und Hans Pfitzner, in: Die Tonkunst 2 (2008), S. 229–240 MIS men hatte, wurde ihm wiederum 1945 zum Ver- hängnis, als ihm deswegen nach elf Jahren am Gewandhaus in Leipzig gekündigt wurde. Der immerhin 62-jährige Dirigent war froh um die Abravanel, Maurice Chance eines nochmaligen Neubeginns in Wei- 1903 am 6. Januar geboren in Thessaloniki (Griechen- mar, auch wenn er für die dortigen Verhältnisse land) als Sohn spanischer Eltern mit sephardischen Wur- eine Nummer zu groß war. Weimar hat es ihm zeln, wächst er in der Schweiz in Lausanne auf, wo Er- nest Ansermet ein früher Mentor ist. treu gedankt, doch Abendroths Anpassung an 1922 zieht er nach Berlin und ist kurzzeitig Schüler die Verhältnisse der DDR veranlasste nun wie- von Kurt Weill.
59 Abravanel, Maurice 1931 debütiert er nach Engagements bei Popular- vanel Brahms’ mittlere Sinfonien, als wären es musikorchestern und in der deutschen Provinz (in Neu- die frühen Schuberts. Besonders bewährt sich strelitz, Zwickau, Altenburg und Kassel) an der Berliner Staatsoper mit Verdis La forza del destino. dieser Ansatz als »Bombast-Bremse«, in Orato- 1933 Exil in Paris, wo er als Assistent von Bruno Wal- rien des 20. Jahrhunderts wie Honeggers Judith ter und für die Ballets russes von George Balanchine und Le Roi David ebenso wie in Schaustücken der arbeitet, und später in Australien, wo er auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nochmals dirigiert. Romantik (großartig lakonisch z. B. die Marche 1936 tritt er als bis dato jüngster Dirigent an der Met- slave Tschaikowskys und auch der Marschsatz ropolitan Opera in New York auf. in dessen 2. Sinfonie). Unzweifelhaft ist dabei 1938 leitet Knickerbocker Holiday die erneute Zusam- menarbeit mit Kurt Weill am Broadway ein. die Herkunft dieser Ästhetik aus der Moderne: 1947–1979 ist er Chefdirigent des Utah Symphony In Prokofjews 3. Sinfonie lässt Abravanel die Orchestra, das er als Teilzeitorchester mit einem Ein- bruitistischen und melodischen Elemente der jahresvertrag übernommen hat. 1950 erhält er für die Broadway-Produktion von Marc Partitur sich gegenseitig verstärken, und das Blitzsteins Regina einen Tony Award. wohltuend wenig zurückhaltende Schlagwerk 1954–1980 ist er Musikdirektor der Music Academy verbindet Leroy Andersons The Typewriter mit of the West in Santa Barbara. 1966 führt die erste internationale Tournee das Utah Edgard Varèses Amériques. Symphony Orchestra nach Deutschland und auch nach Vor diesem Hintergrund überrascht Abra- Griechenland. vanels Neigung zu manchmal durchaus willkür- 1981 beginnt er, Dirigierkurse in Tanglewood abzu- halten. lichen Tempoentscheidungen: Das gemächliche 1993 stirbt er in Salt Lake City am 22. September. Allegro im Kopfsatz und das Accelerando am Ende des Scherzos der Pathétique sind hierfür Maurice (de) Abravanels langer Weg nach Wes- prototypisch. Gegen veraltete klangtechnische ten bleibt klanglich nur an den amerikanischen Standards gelingen zugleich immer wieder origi- Wegstationen dokumentiert. So sind aus seiner nelle Phrasierungsdetails (vor allem durch abge- Zeit in New York Rundfunkmitschnitte von schliffene oder verlängerte und so unberechen- Broadway-Produktionen Kurt Weills und von bar gehaltene Endnoten einzelner Motive). Aufführungen der Metropolitan Opera erhal- Abravanels Mahler-Zyklus ist in Deutschland ten. Untrennbar verbunden ist sein Name je- der ewige Geheimtipp geblieben, wobei der kna- doch mit dem Utah Symphony Orchestra, des- benhafte Sopran von Netania Davrath in der sen Heimat in Salt Lake City heute die Abrava- Vierten und der gut getroffene Grundklang der nel Hall ist. Seine Klangästhetik jedoch behält Siebten besonders eindrücklich bleiben. Seine eine frühe europäische Prägung durch die Neue umfangreiche Diskografie mit Zyklen der Sin- Sachlichkeit und den Songstil Kurt Weills. So- fonien auch von Brahms, Tschaikowsky und Si- listische Farbwerte erhalten den Vorrang vor belius sowie Referenzaufnahmen einiger selten der Homogenität des Gesamtklangs, sodass die gehörter Werke des 20. Jahrhunderts könnte Partituren gleichsam von oben nach unten statt heute als Vorläufer der Independent-Kultur des vom Streicherfundament aus gelesen werden. Plattenmarkts neu entdeckt werden. Wie bei einem guten Cartoonisten bekommen Tonträger so ganz verschiedene Protagonisten ein immer 1967 Bloch: Schelomo / Sinfonie »Israel« (Zara Nelsova, gleiches spezifisches Merkmal zugewiesen: Was Utah SO ; Vanguard) ■ 1968 Mahler: Sinfonie Nr. 4 bei Loriot die Knollennase ist, sind in Abravanels (Netania Davrath, Utah SO; Vanguard) ■ 1972 Bern- stein: Candide-Ouvertüre / Gould: American Salute / Aufnahmen die Haifischzähne der Dreigroschen- Siegmeister: Western Suite (Utah SO; VOX) ■ 1972/73 oper. Der stilisierte Sound eines Spelunken- Tschaikowsky: Sinfonien Nr. 1–6 / Marche slave etc. orchesters passt nicht nur zum Scherzothema (Utah SO; VOX) von Tschaikowskys Pathétique, der beinahe spöt- Literatur tische Duktus kann an überraschenden Orten Lowell Durham, Abravanel!, Salt Lake City 1989 zu subtilen Ergebnissen führen: So spielt Abra- JCA
Albrecht, Gerd 60 Albrecht, Gerd an Albrecht als Dirigenten pauschal zu proji- 1935 am 19. Juli in Essen geboren als Sohn eines Mu- zieren. Es besteht aber wohl auch das Problem, sikwissenschaftlers und einer Pianistin, studiert er zu- dass eine solche Einschätzung nicht in allen Fäl- nächst u. a. Musikwissenschaft an den Universitäten in len ganz falsch sein dürfte: Zemlinskys Ballett Hamburg und Kiel. Früh macht er als Preisträger beim Dirigierwettbewerb in Besançon auf sich aufmerksam. Triumph der Zeit belegt zwar beispielhaft, dass 1963 wird er – nach ersten Anstellungen in Stuttgart Albrecht die süß-schwelgerischen Klangbilder und Mainz – Generalmusikdirektor in Lübeck, der von ihm so geschätzten spätromantischen 1966–1972 arbeitet er in gleicher Position in Kassel. 1972 wird er Chefdirigent an der Deutschen Oper Werke geradezu süffisant umzusetzen vermag. Berlin. In Beethovens zweiter Leonore-Ouvertüre wirkt 1975–1980 ist er Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters aber nicht nur das dynamische Spektrum der in Zürich. 1978 leitet er in München die Uraufführung von Ari- Aufnahme abgeflacht, auch die rhythmische bert Reimanns Oper Lear. Gestaltung lässt doch einiges an Eleganz und 1988–1997 wirkt er als Generalmusikdirektor an der Energie vermissen. Albrechts beispiellose Be- Oper Hamburg (im Zusammenspiel mit dem Komponis- ten Peter Ruzicka, der als Intendant fungiert). Hier begrün- schäftigung mit Werken jenseits etablierter Tra- det er die Jugendmusikstiftung und das Klingende Mu- ditionen gehorcht zugleich einer traditionalis- seum, das Kinder mit Musikinstrumenten vertraut macht. tisch durchsetzten Klangvorstellung: Als gerade 1993 übernimmt er als vom Orchester gewählter und erster nicht-tschechischer Chefdirigent die Tschechische darin dezidiert »deutscher« Dirigent interessie- Philharmonie in Prag, gibt aber angesichts anhaltender ren ihn auch in Mendelssohns Violinkonzert Intrigen und Kritik das Amt bereits im Jahr 1996 wieder eher die dunklen Farben als die spielerische auf. Im Jahr 2004 markiert eine gemeinsame Tournee die »Versöhnung« mit dem Orchester. Leichtigkeit. Daher scheint die Prognose kaum 1996 dirigiert er die Uraufführung von Alexander Zem- ganz verfehlt, dass viele Aufnahmen Gerd Al- linskys letzter Oper Der König Kandaules in Hamburg. brechts bald derselben mühevollen Wiederent- 1998–2007 leitet er das Yomiuri Nippon Symphony Orchestra, ebenso deckung bedürfen werden wie die in diesen 2000–2004 das Danish National Symphony Orches- Aufnahmen dokumentierten, »zu Unrecht un- tra (DNSO). terschätzten« Werke. 2014 stirbt er am 2. Februar in Berlin. Tonträger Gerd Albrecht hat als Dirigent alles richtig ge- 1978 Reimann: Lear (Fischer-Dieskau, Dernesch, Lo- macht: Er hat sich früh und umfassend für Wer- rand, Varady, Boysen, Bayerische Staatsoper; DGG ) ■ ke jenseits des traditionellen Repertoires einge- 1985 Mendelssohn: Violinkonzerte e-Moll & d-Moll (Frank Peter Zimmermann, RSO Berlin; EMI) ■ 1990 setzt, sodass die Wiederentdeckung von Franz Schreker: Der ferne Klang (Moser, Schnaut, Nimsgern, Schreker und Alexander Zemlinsky an deut- RSO Berlin; Capriccio) ■ 1991 Dvořák: Svatební košile schen Opernhäusern ebenso wie die diskogra- [Die Geisterbraut] (Ághová, Protschka, Kusnjer, Prager Philharmonischer Chor, Philharmonisches Staatsorches- fische Präsenz wenig bekannter Werke von ter Hamburg; Orfeo) ■ 1992 Zemlinsky: Symphonische Hindemith und Dvořák eng mit seinem Namen Gesänge / Triumph der Zeit [Drei Ballettstücke] / Der verbunden bleibt. Er hat ebenfalls früh und König Kandaules [Auszüge] (Franz Grundheber, Phil- harmonisches Staatsorchester Hamburg; Capriccio) ■ umfassend die Notwendigkeit einer intensiven 2001/03 Brahms: Schicksalslied / Nänie / Triumphlied / musikpädagogischen Arbeit erkannt und in ver- Ave Maria (Bo Skovhus, DNSO & Choir; Chandos) schiedensten Medien umgesetzt. Eine angemes- Schriften sene Würdigung Gerd Albrechts hingegen hat Mein Opernbuch, Hamburg 1988 ■ Musikinstrumente es nicht leicht, alles richtig zu machen: Auf- und wie man sie spielt, Zürich / Mainz 2003 grund der oft eingeschränkten Klangqualität Literatur dürften Albrechts Pionierversionen gegen ihre Herbert Glossner, Oper in Hamburg 1988–1997. Ein zwar meist wenigen, aber doch vorhandenen Rückblick auf die Amtszeit von Gerd Albrecht und Peter neueren Konkurrenten oft einen eher schlech- Ruzicka, Hamburg 1997 ten Stand besitzen. Es besteht die Gefahr, sol- Webpräsenz che äußeren Abnutzungen auf die Erinnerung www.gerd-albrecht.com (0003) JCA
61 Alessandrini, Rinaldo Albrecht, Marc nicht das metaphysische Todessymbol dumpfer 1964 in Hannover geboren. Auf ein Studium in seiner Tamtam-Schläge, sondern das barock-obszöne Heimatstadt folgen Tätigkeiten als Assistent an der Ham- des Kontrafagotts (und tatsächlich hat Mahler burger Staatsoper und bei Claudio Abbados Gustav Mah- nur für dieses Instrument ein Sforzato notiert). ler Jugendorchester. Sein Vater ist der Dirigent George Alexander Albrecht (dieser wiederum ist ein Bruder des Zugleich vermittelt die Aufnahme trotz aller Politikers Ernst Albrecht), der für mehrere Jahrzehnte Wachheit im Detail den Eindruck, dass die Leiter der Niedersächsischen Staatsoper gewesen ist. Musik gleichsam zauberisch verträumt vom an- 1995–2001 ist er Generalmusikdirektor am Staatsthea- ter Darmstadt. deren Seeufer herübergeweht wird (ein Grund, 2001–2004 arbeitet er als Erster Gastdirigent an der warum gerade in diesem Stück ältere Aufnah- Deutschen Oper Berlin. men durch die schlechtere Klangtechnik ihre 2003–2006 Dirigate von Der fliegende Holländer in Bayreuth. Aura entfalten). Man möchte diesem Dirigen- 2006–2011 hat er die Position des Chefdirigenten ten dringend eine Wunschliste zukommen las- beim Orchestre Philharmonique de Strasbourg inne. sen, was er als nächstes aufnehmen könnte. 2011 tritt er die Leitung der Nederlandse Opera und des Netherlands Philharmonic Orchestra an. Tonträger 2010 Korngold: Sinfonie in Fis / Much Ado About Der musikalische Klang lässt sich nach Kon- Nothing op. 11 [Suite] (OP de Strasbourg; Pentatone) ■ 2011 sonanten sortieren: Im Fall von Marc Albrecht Strauss: Elektra (Herlitzius, Schuster, Nylund, Gro- chowski, Netherlands PO; Challenge) ■ 2012 Mahler: drängen sich Wagner’sche Wortgebilde wie Das Lied von der Erde (Alice Coote, Burkhard Fritz, »wallen« oder »wogen« zur Beschreibung der Netherlands PO; Pentatone) besonderen Qualität seiner Aufnahmen und Bildmedien Konzerte auf. Das analytisch präzise Dirigieren 2011 Berg: Lulu (Petibon, Baumgartner, Volle, Grund- verwirklicht sich bei ihm eher mit gehöriger heber, WPh; EuroArts) Attacke als mit vorsichtiger Askese. Korngolds JCA späte Sinfonie in Fis beispielsweise prescht mit den ersten dissonanten Akkorden ungestüm vorwärts, als ob das Image des Hollywood- Filmkomponisten mit allen Mitteln zertrüm- Alessandrini, Rinaldo mert werden soll. In Richard Strauss’ Elektra 1960 am 25. Januar in Rom geboren, kommt er erst zeichnet das Orchester ebenso vom ersten Mo- mit 14 Jahren zum Klavier, später mit 18 Jahren auch zum Cembalo; außerdem singt er im Chor, wo er erst- ment an jede noch so kleine bildliche Qualität malig mit Alter Musik in Berührung kommt. des Textes nach. Ein »konsonantisch« zugespitz- 1978–1979 nimmt er an Kursen bei Ton Koopman am ter Klang entfaltet das Hündische, Wühlende, Konservatorium in Amsterdam teil. 1984 gründet er das Ensemble Concerto Italiano, das Züngelnde, das im Libretto beständig aufgeru- auf historischen Instrumenten spielt, aber auch Voka- fen wird, derart plastisch, dass selbst der »vo- listen einbezieht. Es debütiert mit der Oper La Calisto kale« Moment des Orchesters, die Erkennungs- von Francesco Cavalli. In den folgenden Jahren etabliert Alessandrini das Concerto Italiano als führendes italie- szene mit ihren »Orest«-Rufen im Streicher- nisches Ensemble für die italienische Musik des Barock. Legato, von brodelnd tiefen Klängen beinahe Auftritte bei allen bedeutenden Festivals und Konzerte überlagert bleibt. Nicht zuletzt einzelne »Sor- weltweit folgen. 1998 beginnt seine intensive Beteiligung an der – inter- genkinder« des CD-Markts profitieren von einer national regelmäßig ausgezeichneten – Vivaldi-Edition solchen wie Gischt aufgewühlten Klangober- des Labels Opus 111 (zuletzt: Naïve), die eine Vielzahl fläche. In Mahlers Lied von der Erde überschat- geistlicher Werke, Opern und Concerti umfasst (viele davon als Tonträger-Premieren). tet der Nimbus legendärer Sänger die meisten 2007 wird Alessandrini an der Norske Opera in Oslo Neuaufnahmen, sodass in Albrechts (mit mehr zum Ersten Gastdirigenten berufen. Zudem tritt er in als akzeptablen Sängern besetzter) Version den letzten Jahren verstärkt als Gastdirigent mit größeren Formationen (nicht nur) der Barockmusik-Szene auf. schon die Schärfe des digitalen Klangs über- 2009 beginnt seine Serie mit Aufführungen von Monte- rascht: Zu Beginn des »Abschieds« dominiert verdis Operntrilogie an der Mailänder Scala.
Alsop, Marin 62 Rinaldo Alessandrini gehört als Cembalist, Schriften Hammerklavierspieler und Dirigent seines En- Performance Practice in the Seconda Prattica Madrigal, in: Early Music 27/4 (1999), S. 632–639 ■ Monteverdiana, sembles Concerto Italiano, das er zumeist vom Palermo 2006 Cembalo aus leitet, mit zu den Begründern eines »neuen italienischen Stils« in der Alte- Literatur Alles Zufall [Interview mit Johannes Jansen], in: Con- Musik-Bewegung, der die Dominanz der eng- certo, Heft 160 (2001), S. 18–20 lischen Ensembles ablöste. Dieser italienische DGU Stil, den er nicht nur auf die Musik seines Hei- matlandes anwendet, zeichnet sich vor allem durch ein hohes Maß an Virtuosität aus, sowohl auf vokalem wie auf instrumentalem Gebiet. Alsop, Marin Ferner fällt die Betonung rhythmischer Fines- 1956 am 16. Oktober in New York geboren, absolviert sie ihr Studium mit Hauptfach Violine in Yale und an sen auf, der plötzliche dynamische Wechsel bis der Juilliard School. Anschließend spielt sie als Geigerin hin zur Attacke, wodurch zumeist ein äußerst in verschiedenen Orchestern in New York. spannungsreiches Musizieren entsteht. Ales- 1979 beginnt sie ihre Ausbildung als Dirigentin bei Carl Bamberger und setzt diese dann fort bei Harold sandrini bewahrt aber in allen seinen Interpre- Farberman, Leonard Bernstein, Gustav Meier und Seiji tationen das gesangliche Moment – vielleicht Ozawa. ein Beleg dafür, dass er stark von seinen frühen 1981 gründet sie die Formation String Fever, eine Swingband für Streicher, die bis heute besteht. Chorerfahrungen geprägt wurde. Da sämtliche 1989 ist sie Preisträgerin des Stokowski-Wettbewerbs italienischen Ensembles erst in den 1980er- und gewinnt im selben Jahr den Koussevitzky-Preis. Jahren oder noch später auf der Bühne der Re- Daraufhin erhält sie ihre ersten Anstellungen als Diri- gentin beim Eugene Symphony Orchestra (Oregon) und konstruktionsbewegung erschienen, konnten beim Long Island Philharmonic Orchestra. sie einerseits auf dem aufbauen, was deutsche, 1990 begleitet sie Leonard Bernstein nach Sapporo niederländische und englische Ensembles erar- (Japan), als dieser das Pacific Music Festival gründet. 1993 gibt sie ihr Europa-Debüt beim Schleswig- beitet hatten, fügten aber andererseits als eine Holstein Musik Festival. wesentliche neue Komponente ihre virtuose 1993–2005 ist sie Chefdirigentin des Colorado Sym- Spielkultur hinzu – die vor allem in der Dar- phony Orchestra. 2002–2008 leitet sie das britische Bournemouth Sym- stellung des Repertoires italienischer Barock- phony Orchestra und seit komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts wie- 2007 das Baltimore Symphony Orchestra, wo ihr Ver- derum die etablierten Ensemblekulturen zum trag bis mindestens 2021 verlängert wurde. 2012 tritt sie die Stelle der Chefdirigentin des São Teil stark beeinflusst hat. Paulo Symphony Orchestra an (mit Vertrag bis 2019). Tonträger 1997 Vivaldi: Gloria RV 589 / Magnificat RV 611 / Marin Alsop stammt aus einer New Yorker Concerti RV 128 & 563 (York, Biccire, Mingardo, Aka- Musikerfamilie: Ihre Mutter Ruth arbeitete als demia, Concerto Italiano; Opus 111) ■ 2000 Händel: Cellistin, der Vater LaMar als Konzertmeister Il trionfo del tempo e del disinganno (York, Bertagnolli, Mingardo, Sears, Concerto Italiano; Opus 111 / Naïve) ■ im NYC Ballet Orchestra. Sie erlernte ebenfalls 2001 Rossini: Arien / Ouvertüren: Il barbiere di Sivi- Violine, entschied sich aber nach dem Besuch glia / La scala di seta (María Bayo, Concerto Italiano; von Leonard Bernsteins Young People’s Con- Astrée / Naïve) ■ 2005 Bach: Brandenburgische Konzerte Nr. 1–6 (Concerto Italiano; Naïve) ■ 2009 Vivaldi: Ar- certs dafür, Dirigentin zu werden. Von ihm wur- mida al campo d’Egitto (Milanesi, Zanasi, Comparato, de sie unterrichtet und gefördert, sie bezeichnet Mingardo, Concerto Italiano; Naïve) ■ 2011 »1600« ihn als ihren Mentor (und ihre Körperhaltung, [Werke von Frescobaldi, Gabrieli, Marini, Torelli u. a.] (Concerto Italiano; Naïve) Schlagtechnik und Konzertmoderationen las- sen ihn durchaus auch als Vorbild erkennen). Editionen Alsops Karriereweg scheint geradlinig und Claudio Monteverdi, Il ritorno d’Ulisse in patria, Kassel 2007 ■ Claudio Monteverdi, L’Orfeo, Kassel 2012 zeigt wie im Fall Simone Youngs, dass es zu Be- ginn des 21. Jahrhunderts vereinzelt Dirigentin-
63 Alsop, Marin nen möglich ist, die Spitze renommierter Or- Musikvermittlung zu verknüpfen. Als Leiterin chester zu erreichen. Im Gegensatz zu Young des Baltimore Symphony Orchestra rief sie 2008 spricht sie öffentlich über ihre Erfahrung, bei vie- das Education-Programm OrchKids ins Leben, len Orchestern als »erste Frau« aufzutreten. Sie das in Kooperation mit Schulen Kindern und ist sich ihrer Rolle als Vorbild bewusst und setzt Jugendlichen Musikunterricht und über meh- diese auch aktiv ein, wie im Rahmen des Taki rere Jahre intensiven Kontakt mit dem Orches- Concordia Conducting Fellowship für junge ter ermöglicht. Die Gründung der OrchKids Dirigentinnen. Im Jahr 2013 dirigiert sie die Last war nicht zuletzt eine Reaktion auf die tief- Night of the Proms (erneut 2015), womit erst- greifenden sozialen Probleme der Stadt, die vor malig eine Frau eines der prestigeträchtigsten allem durch die HBO-Serie The Wire in den Dirigate des internationalen Konzertbetriebs Blick geraten waren. Die Suite der Filmmusik übernimmt. In der für dieses Event verpflichten- Leonard Bernsteins zum Film On the Waterfront den, aber von ihr bewusst eher ernsthaft als (1954) zeigt konzentriert Alsops Qualitäten als launig gehaltenen Ansprache kommentierte sie Interpretin: Im Mittelbereich angesiedelte Tem- dies mit den Worten: »I am exceedingly proud pi und eher kontrollierte als exaltierte Phrasie- to be ›the first‹ but I am also a bit shocked there rungen vertreten eine sachbezogene musika- can still be firsts for women in 2013!« lische Ästhetik. Das starke Pathos der letzten Bei den Proms erlebte man Alsop in ihrem Steigerung allerdings wirkt hier einmal ganz Element: als unkonventionelle, unbefangene organisch mit dem Vorangehenden verbunden, und enthusiastische Vermittlerin klassischer ähnlich verliert der Choreinsatz nach dem Solo Musik an ein breites Publikum. Sie legt sich des Knabensoprans in den Chichester Psalms stilistisch dabei nicht fest, bedient den Kanon alles Kitschige. In Marin Alsops Einspielungen spätromantischer Sinfonien (Brahms, Dvořák) bleibt so auch ein Repertoire bedeutsam, das und hat mit dem São Paulo Symphony Orches- ein eher traditionell optimistisches Amerika- tra einen Zyklus der Sinfonien Sergej Prokof- Bild zeichnet. jews begonnen. Sie widmet sich aber ebenso Tonträger intensiv amerikanischen Komponistinnen und 2000–2002 Barber: Klavierkonzert / Die Natali / Me- Komponisten des 20. Jahrhunderts und der dea’s Meditation and Dance of Vengeance etc. (Stephen Gegenwart (u. a. Libby Larsen, Mark O’Connor, Prutsman, RSNO; Naxos) ■ 2002 Daugherty: Phila- delphia Stories / UFO (Evelyn Glennie, Colorado SO; Philip Glass und Michael Daugherty). Ihren Naxos) ■ 2003 Bernstein: On the Waterfront [Suite] / diskografischen Durchbruch erzielte sie mit Chichester Psalms / On the Town [Three Dance Episodes] der Einspielung der gesamten Orchesterwerke (Thomas Kelly, Bournemouth Symphony Chorus & SO; Naxos) ■ 2006/07 Turnage: Twice Through the Heart / Samuel Barbers für Naxos (bis heute ihr »Haus- Hidden Love Song / Torn Fields (Sarah Connolly, Mar- label«, das in der Repertoire- und Cover- tin Robertson, Gerald Finley, London PO; LPO) ■ 2007 Auswahl Alsops wachsende Reputation doku- Dvořák: Sinfonie Nr. 9 »Aus der Neuen Welt« / Sinfo- nische Variationen (Baltimore SO; Naxos) ■ 2008 Bern- mentiert). stein: Mass (Sykes, Wulfman, Morgan State Univer- Bereits 1984 erfolgte in New York auf ihre sity Choir, Peabody Children’s Chorus, Baltimore SO; Initiative die Gründung des Concordia Orches- Naxos) ■ 2008 Adams: Nixon in China (Orth, Kanyova, Hammons, Heller, Dahl, Opera Colorado Chorus, Colo- tra, das »Crossover« zwischen Neuer Musik, rado SO ; Naxos) ■ 2010 Glass: Violinkonzert Nr. 2 Jazz und Pop spielt. Für dieses Orchester gab »The American Four Seasons« (Robert McDuffie, Lon- sie eine Jazz-Gospel-Version von Händels Mes- don PO ; OMM ) ■ 2012 Prokofjew: Sinfonie Nr. 4 [Version 1947] / The Prodigal Son (São Paulo SO; Naxos) sias in Auftrag, die unter dem Titel Too Hot to Handel auch auf CD erschienen ist. Das stilisti- Webpräsenz sche »Crossover« setzt sie ähnlich wie Leonard www.marinalsop.com (0004) http://takiconcordia.org/ [Conducting Fellowship] Bernstein auch dazu ein, ihre Tätigkeit als Di- (0005) rigentin eng mit der Nachwuchsförderung und GFI
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