Holger Bär Malen mit Zahlen - Galerie Deschler Berlin - Artbutler
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Galerie Auguststraße 61, 10117 Berlin Deschler WEB: www.deschler-berlin.de Berlin MAIL: info@deschler-berlin.de TEL/FAX: +49 30 283 32 88/89 Holger Bär Malen mit Zahlen 14. Februar - 18. April 2020 Links: 1-179317 (Nahansicht von links unten), 2016. Acryl auf Leinwand, 300 x 200 cm. Nächste Seite: Blick in die Ausstellung. Rechts: Crunched Numbers, 2019. 200 x 300 cm.
Holger Bär, Malen mit Zahlen, oder die Herstellung von Wirklichkeit Martin Oskar Kramer Holger Bär arbeitet seit vielen Jahren mit selbst entwickelten, computergesteuerten Malmaschinen, die ent- sprechend aufbereitete Vorlagen Pixel für Pinselstrich auf die Leinwand übertragen. Dazu benutzt Bär zur Co- dierung seiner Bilder seit jeher Zahlen als Platzhalter für Farben, die nach bestimmten Algorithmen bildlich verarbeitet werden. In diesen gegenständlichen Bildern dienen Zahlen deshalb als Übersetzungswerkzeug in der Umwandlung einer bildlichen, oft fotografischen, Vorlage in das in Öl oder Acryl auf Leinwand maschinen- gemalte Bild. Diese Übersetzung ist nicht ganz einfach, denn die unzähligen Farbschattierungen der Vorlage müssen mit den wenigen Farben, die für die Umsetzung mit Malmaschine praktikabel sind, dargestellt werden. Im Gegensatz zu Tintenstrahldruckern sind die von der Malmaschine gesetzten Pinselstriche und Punkte auch nicht mikroskopisch klein, sondern klar erkennbar. In seinen von ihm selbst als „neo-pointillistisch“ bezeichne- ten Bildern arbeitet Bär deshalb mit dem Prinzip der optischen statt der in der Malerei sonst üblichen physi- schen Farbmischung. Reine Farbpunkte werden nebeneinander gesetzt und ergeben erst in der Zusammen- schau im Gehirn des Betrachters die gewünschte Farbschattierung. Bei der Arbeit an einem Musikprojekt, bei dem Noten in Farben umgesetzt wurden, waren Zahlen wieder ein notwendiger Zwischenschritt in der Codierung, aus der komplexe Bilder entstehen sollten, die jedoch in die- sem Fall nicht mehr gegenständlich, sondern abstrakt waren. Noch einen Schritt weitergehend kam Bär darauf, Bilder direkt auf der Grundlage von Zahlenfolgen zu generieren: Zahlen nun nicht mehr als Zwischenschritt in der Übertragung einer Vorlage in das Medium der Maschinenmalerei, sondern als Ausgangspunkt, als eigen- ständiges Sujet. Die ersten Arbeiten mit diesem Ansatz basierten auf Reihungen von Lottozahlen: alle Zahlen von 1 bis 49 wurden quantisiert und in zehn Farben umgesetzt. Diese Arbeiten, die auf den zufällig generierten Lottozahlen seit Beginn der Ziehungen beruhten, waren zunächst noch eingebettet in die Serie „Glück“, in dem die abstrakten Zahlenarbeiten neben gegenständlichen Bildern zum Thema standen, Darstellungen von Lottogewinnen, -gewinnern und -sendungen, Glückssymbolen, aber auch Rauschmitteln wie Ecstacy. Ausgehend davon begann Bär jedoch nun mit rein abstrakten Bilderserien, die ausschließlich dem Thema Zahlen gewidmet waren. In diesem Zusammenhang kann man drei bzw. vier Werkgruppen unterscheiden, die sich nach der Art der zugrunde liegenden Zahlen richtet. Diese Unterteilung hat auch eine grob chrono- logische Reihenfolge und soll in diesem Katalog als Ordnungsschema dienen. Die erste Gruppe von Arbeiten möchte ich mit dem Begriff „Gefundene Zahlenfolgen“ zusammenfassen. Hierbei handelt es sich um Zah- lensequenzen, die Holger Bär bestehenden Quellen entnommen hat: darunter fallen zunächst die Lottozah- len aus verschiedenen Ziehungen seit 1955, weiterhin Telefonbüchern entnommenen Telefonnummern, sowie Zahlen aus Geschäftsberichten. Diese Zahlenreihen sind teils rein zufällig, wie die Lottozahlen, teils haben sie eine kontextgegebene Struktur, die außerhalb des spezifischen Zusammenhangs nicht zu erkennen ist. Diese Bilder, wie auch die der folgenden beiden Gruppen, wurden in zehn Farben umgesetzt, wobei diesmal den Ziffern von 0 bis 9 jeweils eine Farbe zugewiesen wurde. Eine zweite Gruppe von Arbeiten beruhen auf mathe- matischen Zahlenfolgen, also solchen, die eine systematische, mathematisch klar definierte innere Struktur 6 Holger Bär bei der Eröffnung der Ausstellung vor 1-179317 und 179318-340251, 2016. Acryl auf Leinwand, je 300 x 200 cm.
aufweisen. Darunter fallen fortlaufende Zahlensequenzen, Primzahlen, mathematische Matrix, die der Schöpfung zugrunde liegt. Denn die Bil- die Zahl Pi π, sowie die Fibonacci-Folge. Diese Bilder unterscheiden sich der, einschließlich derer, die auf mehr oder weniger zufälligen Zahlen- visuell klar von der vorherigen Gruppe: während dort die Anordnung folgen beruhen, folgen trotz ihres abstrakten Äußeren einem strengen der Farbpunkte rein zufällig erschien, sind hier nun in der Regel ganz System, sind also in ihrer von Maschinen präzise durchgeführten Ge- klare, sich in Variationen wiederholende Strukturen erkennbar. Neben staltung alles andere als zufällig. Damit unterscheiden sie sich grund- den offensichtlichen horizontalen und vertikalen Mustern sind dabei legend von einem Großteil moderner und zeitgenössischer abstrakter bei genauerem Hinsehen auch diagonale Verlaufslinien auszuma- Kunst, die von humanistischen und/oder expressionistischen Ansätzen chen, die den Bildern zusätzliche Komplexität und visuelles Interesse geprägt ist. Die konsequente und festen Regeln folgende Umsetzung verleihen. Die dritte Gruppe von Arbeiten basiert auch auf systemati- einer grundlegend arbiträr gewählten Zahlenfolge ist in gewisser Hin- schen Zahlensequenzen, die jedoch in einem weiteren Schritt bestimm- sicht paradox: nach einer klaren Zuordnungsstruktur wird hier eine ten einfachen Algorithmen unterworfen wurden: dies ist die Gruppe beliebig gewähle Abfolge in eine andere übersetzt, die demnach je der „Manipulierten Zahlenfolgen“, von Bär als „Crunched Numbers“ nach Perspektive gleichzeitig willkürlich und nicht willkürlich ist. Damit betitelt. Die Algorithmen bewirken klar erkennbare visuelle Verwerfun- folgt dieser Ansatz einerseits dem Muster einer dekonstruktivistischen gen in den linearen Strukturen der Bilder. Besonders anschaulich wird Analyse, das bei philosophischen Systemen nicht die interne Logik des das in dem Diptychon Primzahlen + Crunched Numbers von 2020, wel- Systems selbst in Frage stellt, sondern die grundlegenden (und oftmals ches das regelmäßige Muster eines Primzahlenbildes einem Bild ge- unbewussten) Annahmen, auf welche das System in seiner ganzen genüberstellt, in dem die gleiche Zahlenfolge durch einen Algorithmus Komplexität aufgebaut ist, als letztendlich beliebig und unbeweisbar modifiziert wurde. Bei einer vierten Gruppe von Arbeiten handelt es sich entlarvt. Andererseits bildet es die Struktur mathematischer Systeme nicht um Gemälde, sondern um Zeichnungen, ebenfalls mit Maschine ab, die einen konzeptionellen Rahmen für die Erfassung der Wirklichkeit ausgeführt. In diesen hat Bär die „Crunched Numbers“ der vorherigen unter einem gewissen Aspekt liefern, nicht jedoch deren Inhalt bestim- Gruppe vektorisiert: statt der in zehn Farben ausgeführten Farbklekse men, also die Spielregeln festlegen, aber nicht den Spielverlauf. entstehen in der geometrischen Darstellung arithmetischer Sequen- zen nun (mit Kugelschreiber gezeichnete) Richtungslinien, die wie eine Gleichzeitig spielt Bär mit den Themen Codierung/Dekodierung und strukturelle Blaupause der Gemälde wirken. der Präsenz tiefer liegender Strukturen, die an der Oberfläche – und ohne den entsprechenden Schlüssel – nicht ohne weiteres erkennbar Im Gegensatz zu Bärs meist gegenständlichen Arbeiten klingt in die- oder erklärbar sind. Bärs Arbeiten sind absolut zeitgemäß und folge- sen abstrakten Werken durch die Verwendung des Zufallsprinzips oder richtig in unserer zunehmend digital vernetzten Welt, in der auch KI mathematischer Reihungen als Kompositionsmethode John Cages (Künstliche Intelligenz) eine immer größere Rolle im Alltag spielt. Viele Versuch der Vermeidung persönlichen Geschmackes an. Doch schon Errungenschaften und Optimierungen unserer Informations-, Kommu- in Bärs gegenständlichen Arbeiten ging es von Anfang an immer min- nikations- und Produktionstechnik wären ohne diese Fortschritte nicht destens ebenso sehr um den Prozess der Bildschaffung selbst wie um denkbar, so wie auch Bärs Bilder längst eine Komplexität erreicht ha- den gegenständlichen Inhalt. Das kam unter anderem dadurch zum ben, die ohne seine programmierten Malmaschinen nicht mehr rea- Ausdruck, dass Bär nicht selten mit gefundenem Bildmaterial arbeitete, lisierbar wäre. Als Bär in den 1980er Jahren mit der Arbeit an seinen so wie in diesen Arbeiten mit vorgefertigten Zahlensequenzen (ob die- Malmaschinen begann, noch vor der allgemeinen Zugänglichkeit des se nun Lottoziehungen oder mathematischen Sequenzen entnommen Internet, steckte die dem Künstler zugängliche Computertechnik noch wurden). Visuell sind die Arbeiten teils von einer rein zufälligen Folge in den Kinderschuhen und war von einem großen und oft utopischen von Farbpunkten nicht zu unterscheiden, in anderen Fällen lassen sich Fortschrittsglauben geprägt. Heute wissen wir, dass sich die Entwick- klare visuelle Muster ausmachen, deren Gesetze aber nicht ohne Erklä- lungen unerwartet schnell vollzogen haben und vieles Alltagsrealität rung, ohne Schlüssel, verständlich sind. In beiden Fällen verschwindet geworden ist, was man sich damals noch kaum vorstellen konnte. Es ist der gegenständliche nun vollends zugunsten eines abstrakt-systemati- deshalb konsequent, dass Bär die Zahlensequenzen und Algorithmen, schen Inhaltes, und der generative und konzeptionelle Prozess tritt noch die von Anfang an der Umsetzung seiner Gemälde dienten, nun selbst mehr in den Vordergrund. Es ist wie ein Blick unter die Haube, wie ein zum Thema seiner Arbeiten macht. Blick auf die Maschinensprache unter der grafischen Oberfläche von Computerprogrammen, oder, wenn man so will, auf die fundamentale Statistisches Bundesamt, 2015. 300 x 200 cm.
Im Jahr 2020 ist es allerdings unmöglich, den Einsatz digitaler Tech- nik mit der gleichen Unbefangenheit zu betrachten wie noch vor zwanzig oder auch nur zehn Jahren. Die zunehmende Vernetzung erfasst alle unsere Lebensbereiche und dringt immer weiter in unse- ren Alltag ein. Dabei beeinflussen und prägen Algorithmen immer stärker unsere wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entschei- dungen. Die große Befreiung und Demokratisierung, die das Inter- net anfangs verspochen hatte, ist nur zum Teil eingetreten. Im Zeital- ter von post-fact, Fake News, alternativer Fakten, gezielter Werbung und Wählerbeeinflussung, der Dominanz von Google, Facebook, Twitter, Instagram und anderer sozialer Medien, Cybermobbing, Trolling, Darknet, Datenschutzskandalen, Bildbearbeitungsfiltern und Deep-fake Videos kennen wir neben den umfassenden Vortei- len der digitalen Vernetzung längst auch ihre Schattenseiten, die Macht von Algorithmen und die Formbarkeit von Wirklichkeit. Die Geister, die wir riefen, werden wir nun nicht mehr los. Um so wichti- ger wird es, dass wir uns mit diesen Prozessen beschäftigen und sie verstehen lernen. Denn ihre Macht ist dann am größten, wenn sie unentdeckt, unter der Oberfläche, unbewusst bleiben, mit anderen Worten: wenn sie uns, während sie uns fernsteuern, gleichzeitig die Illusion des freien Willens vorgaukeln. Durch die gezielte Auswahl der Informationen, die sie uns präsentieren, prägen sie entschei- dend unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit, unser ganzes Weltbild. Wenn man diesen Zustand dystopisch ausdrücken wollte, könn- te man sagen, dass der in Science Fiction vielfach beschworene Übergang zur Herrschaft intelligenter Maschinen längst eingeleitet wurde, wenn auch nicht mit einem großen Knall, einem dramati- schen Aufstand der Maschinen, sondern als schleichender, immer weiter vordringender Prozess. Die Auswirkungen sind aber bereits ganz real und spürbar. Bärs maschinengemalte Bilder tragen die- ser neuen Erfahrung Rechnung: hier wird der innere Mechanismus nicht nur der Wirklichkeit und ihrer grundlegenden Struktur zum Thema gemacht und offengelegt, sondern auch wie sie konstru- iert und manipuliert werden kann. Wir werden Zeugen dessen, wie allein aus Zahlensequenzen und ihrer Auswahl und Manipulation komplexe visuelle Welten entstehen. Gleichzeitig bleiben Bärs Ar- beiten aber streng „inhaltslos“ im mathematischen Sinne, nämlich dahingehend, dass er keinen Kommentar zu diesen Prozessen ab- gibt, sondern uns ihr Wirken lediglich bildlich vor Augen führt. Was wir dem entnehmen bzw. da hineinlesen wollen, ob wir es utopisch, dystopisch, nüchtern realistisch oder post-faktisch verstehen, über- lässt er ganz uns, dem jeweiligen Betrachter. 340000-520389 (Nahansicht), 2016. Acryl auf Leinwand, 300 x 200 cm.
Zahlen aus dem Geschäftsbericht der Dürr AG von 1998 bis 2013, 2015. Acryl auf Leinwand, 300 x 200 cm. Unten: Detail in Originalgröße. Vorherige Seite: PI, 2014. Acryl auf Leinwand, 100 x 100 cm. Fibonacci-Zahlen, 2014. Acryl auf Leinwand, 100 x 100 cm. Primzahlen, 2014. Acryl auf Leinwand, 100 x 150 cm. Nächste Seite: 1-179317, 179318-340251, 340252-502525, 340000-520389, 2016. Acryl auf Leinwand, je 300 x 200 cm.
Primzahlen + Crunched Numbers, 2020. Acryl auf Leinwand, 2 x 150 x 200 cm. Nächste Seite links: Crunched Numbers, 2020. Acryl auf Leinwand, 200 x 300 cm. Übernächste Seite: Nahansicht.
Crunched Numbers, 2019. 200 x 150 cm. Unten: Detail in Originalgröße.
Crunched Numbers, 2020. 200 x 300 cm.
Oben: Crunched Numbers vektorisiert, 2020. Kugelschreiber auf Leinwand, 100 x 150 cm. Vorherige Seite links: Crunched Numbers, 2020. Kugelschreiber auf Vlies, 213 x 300 cm. Rechts: Holger Bär in seinem Atelier.
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