Human Enhancement: Einführung und Definition - WEITERE ORGANISATIONEN UND INSTITUTIONEN

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SAMW                                                                   W E I T E R E O R G A N I S AT I O N E N U N D I N S T I T U T I O N E N

 Human Enhancement: Einführung und Definition

 Nikola Biller-Andorno,           Unter dem Stichwort «Human Enhancement» wer­                        «Human Enhancement» bezeichnet medizini-
 Michelle Salathé                 den medizinische Interventionen diskutiert, die sich                sche oder biotechnologische Interventionen, de-
                                  nicht auf die Therapie von Krankheiten, sondern auf                 ren Zielsetzung nicht primär therapeutischer
                                  eine Verbesserung nichtpathologischer Merkmale                      oder präventiver Art, sondern eine «Verbesse-
                                  richten. Dabei werden zahlreiche Fragen aufge­                      rung» nichtpathologischer Merkmale ist. Eine
                                  worfen: Wo verläuft eigentlich genau die Grenze                     Arbeitsgruppe der Akademien der Medizini-
                                  zwischen Therapie und «Enhancement»? Ist «En­                       schen Wissenschaften (SAMW) und der Geistes-
                                  hancement» moralisch verwerflich oder vielmehr                      und Sozialwissenschaften (SAGW) hat die ethi-
                                  ein Teil unseres Alltags, auch des medizinischen?                   schen Fragen des Enhancements vertieft unter-
                                  Führt «Enhancement» dazu, dass diejenigen, die                      sucht und ihre Analysen und Empfehlungen in
                                  schon jetzt privilegiert sind, noch «schöner und                    der Broschüre «Medizin für Gesunde?» (www.
                                  reicher» werden, während andere immer mehr den                      akademien-schweiz.ch → Projekte und Themen)
                                  Anschluss an gesellschaftliche Chancen und Erwar­                   veröffentlicht. In loser Folge erscheinen in der
                                  tungen verlieren?                                                   SÄZ Auszüge aus dem Bericht.
                                      Der vorliegende Bericht wendet sich diesen
                                  gesellschaftlichen und ethischen Fragen zu. Dabei
                                  fokussiert er besonders auf die Rolle der Ärzteschaft.
                                  Sie sind die Berufsgruppe, die eine wichtige Rolle in              «Verbesserung» der menschlichen Spezies in den
                                  der Beschaffung, aber auch in der Bewertung von                    Blick nehmen, sondern auf eine graduelle Verschie­
                                  Enhancementprodukten spielen würde, durch Bei­                     bung der Leistungsgrenze mit heute oder in abseh­
                                  träge zur Grundlagen­ und klinischen Forschung,                    barer Zeit verfügbaren Mitteln. Was das pharmakolo­
                                  durch Beratungsgespräche mit Patienten und auch                    gische Enhancement betrifft, so gibt es bereits heute
                                  durch die Entwicklung berufsethischer Standards.                   ein breites Spektrum an Substanzen, die teils den
                                  Viele Wirkstoffe, die als Enhancer verwendet werden                Drogen und Dopingmitteln (z. B. Kokain), teils den
                                  können, sind verschreibungspflichtig, und so wer­                  Arzneimitteln (z. B. Methylphenidat) und teils Le­
                                  den Ärztinnen und Ärzte ganz unmittelbar mit der                   bens­ und Genussmitteln (z. B. Energydrinks) oder
                                  Frage konfrontiert, ob sie solche Produkte zugäng­                 Kosmetika (z. B. Anti­Aging­Cremes) zuzuordnen
                                  lich machen sollen oder nicht. Dabei gilt es, zwei                 sind [1b]. Manche Enhancer, wie Koffein oder Alko­
                                  Ebenen zu berücksichtigen: Zum einen geht es um                    hol, kommen in unserer Gesellschaft schon lange
                                  den individuellen Patienten – seine Präferenzen,                   zum Einsatz, während andere Substanzen (z. B. Moda­
                                  seinen Nutzen, sein Risiko. Zum anderen geht es um                 finil) erst in letzter Zeit verstärkt «off­label», also
                                  gesellschaftliche Auswirkungen des Einsatzes von                   jenseits des zugelassenen Gebrauchs für bestimmte
                                  Medikamenten zur Leistungssteigerung bei Gesun­                    Erkrankungen, eingesetzt werden.
                                  den.                                                                   In der Medizinethik wird die Diskussion um das
                                      Zur Komplexität der Debatte trägt auch bei, dass               Enhancement bereits seit Jahrzehnten geführt, etwa
                                  Human Enhancement ein sehr heterogenes Phä­                        zu Bereichen wie der Keimbahntherapie, der kosme­
                                  nomen ist, das zudem verschiedenste Bereiche der                   tischen Chirurgie oder dem Anti­Aging. In den letz­
                                  Medizin tangiert, z. B. Reproduktionsmedizin, Neu­                 ten Jahren hat sich auch eine Reihe von politik
                                  rowissenschaften, Plastische Chirurgie oder Ernäh­                 beratenden Institutionen der Thematik zugewandt,
                                  rungsmedizin. Eingriffe unterscheiden sich u. a. mit
                                  Blick auf ihre Invasivität, Wirkungsweise, Effekte,
                                  Risiken und Nebenwirkungen sowie deren Dauer                        Mitglieder der Arbeitsgruppe
                                  und Reversibilität. So umfasst der Begriff «Enhance­                Prof. Dr. med. Dr. phil. Nikola Biller-Andorno (Vorsitz)
                                  ment» gleichermassen die Einnahme von Vitamin­                      Prof. Dr. med. Anne-Françoise Allaz
                                  pillen mit vorübergehenden Effekten und geringem                    Dr. phil. Gaia Barazzetti (bis 2010)
                                  Risiko wie das Einpflanzen eines Neurochips mit                     lic. ès lettres Nadja Birbaumer, SAGW
                                                                                                      PhD Susanne Brauer, NEK-CNE
 Korrespondenz:                   Auswirkungen auf die Gehirnfunktion des betreffen­
                                                                                                      Prof. Dr. med. Jürg Kesselring
 Schweizerische Akademie der      den Individuums oder die genetische Modifikation
 Medizinischen Wissenschaften                                                                         Prof. Dr. med. lic. phil. Iris Ritzmann
 (SAMW)                           der Keimbahn, die in nachfolgenden Generationen                     Dr. phil. Simone Romagnoli
 Petersplatz 13                   fortwirkt [1a].                                                     Dr. biol. Adrian Rüegsegger, TA-SWISS
 CH­4051 Basel                                                                                        lic. iur. Michelle Salathé, MAE, SAMW
                                      Der vorliegende Bericht fokussiert weniger auf
                                                                                                      PD Dr. theol. Markus Zimmermann-Acklin
 mail[at]samw.ch                  spekulative, zukunftsgerichtete Szenarien, die eine

                                  Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2013;94: 5                      168
Editores Medicorum Helveticorum
SAMW                                                                    W E I T E R E O R G A N I S AT I O N E N U N D I N S T I T U T I O N E N

                                   darunter der U.S. President’s Council [2], das Büro                    Das NEK­CNE­Gutachten kommt hingegen zum
                                   für Technikfolgen­Abschätzung beim Deutschen Bun­                  Schluss, dass keine nennenswerten rechtlichen
                                   destag [3], das niederländische Rathenau­Institut [4]              Lücken bestehen und sich für die unterschiedlichen
                                   und das Science­and­Technology­Options­Assess­                     betroffenen Bereiche (Medizinalberufe, Heilmittel
                                   ment­(STOA­)Büro des Europäischen Parlaments [5].                  usw.) folgende Grenzziehungen ableiten lassen:
                                       In der Tat wirft Enhancement interessante recht­               – Jegliche absichtliche genetische Veränderung
                                   liche Fragen auf, etwa bezüglich der Reichweite der                    oder Verbesserung von ungeborenen Kindern ist
                                   individuellen Autonomie über den eigenen Körper                        verboten.
                                   und der Gründe, die eine gesetzliche oder standes­                 – Genetische Analysen dürfen nicht zu Freizeit
                                   rechtliche Einschränkung rechtfertigen. Als weitere                    zwecken oder im Bereich der Arbeit eingesetzt
                                   Frage lässt sich beispielhaft anführen, inwieweit                      werden.
                                   medizinisch indizierte Behandlungen von Folgen,                    – Die Entnahme und Transplantation von Orga­
                                   die aus der Anwendung von Enhancement resultie­                        nen mit dem Ziel, die Leistung eines gesunden
                                   ren, von der obligatorischen Krankenversicherung                       Körpers zu verbessern, ist verboten.
                                   übernommen werden sollen. Nachfolgend soll kurz                    – Die Möglichkeiten, Forschungsvorhaben zur
                                   der aktuelle rechtliche Rahmen in der Schweiz skiz­                    Entwicklung von neuen Methoden und Produk­
                                   ziert werden. Die Ausführungen stützen sich wesent­                    ten zur Verbesserung des Menschen durchzufüh­
                                   lich auf das von der Nationalen Ethikkommission                        ren, sind eingeschränkt durch das Erfordernis
                                   (NEK­CNE) in Auftrag gegebene Gutachten [6] (nach­                     einer Risiko­Nutzen­Analyse.
                                   folgend NEK­CNE­Gutachten) und die rechtliche                      – Ärzte und weitere Fachpersonen im Gesund­
                                   Beurteilung im Rahmen der TA­SWISS­Studie [1c].                        heitsbereich sind in ihrer Aktivität an die Regeln
                                       Auf Verfassungsebene stehen diverse Grund­                         der ärztlichen Berufspflicht gebunden, das heisst,
                                   rechte in einem Bezug zum Enhancement, nament­                         sie können Interventionen und Produkte nicht
                                   lich die Menschenwürde (Art. 7 BV), das Recht auf                      ohne medizinische Indikation einsetzen.
                                   Leben und auf persönliche Freiheit (Art. 10 BV) oder               – Swissmedic darf die Einführung von Medi­
                                   der Schutz der Kinder und Jugendlichen (Art. 11 BV).                   kamenten, die weder der Diagnose noch der Prä­
                                   Relevant ist die Frage, inwieweit sich aus der Ver­                    vention oder Behandlung einer Krankheit, son­
                                   fassung Grundrechtsansprüche (z. B. Recht der Kon­                     dern ausschliesslich dem Enhancement dienen,
                                   sumenten auf Nutzung von Enhancement, der For­                         nicht zulassen.
                                   schenden auf Durchführung von Forschungsprojek­                    – Das Verschreiben von Medikamenten für den
                                   ten zu Enhancement usw.) und Schranken ableiten                        Off­Label­Use ist nur unter strengen Vorausset­
                                   lassen. Im Bereich der Erlasse auf gesetzlicher Ebene                  zungen erlaubt; Interventionen im Bereich des
                                   empfiehlt der TA­Bericht eine Unterscheidung nach                      Enhancements fallen nicht a priori darunter.
                                   Handlungsbereichen: Behandlungsverhältnis (insb.                   – Das Arbeitsrecht verpflichtet den Arbeitgeber
                                   Aufklärungs­ und Sorgfaltspflichten), Forschung, Be­                   dazu, die Arbeitsbedingungen den Arbeitneh­
                                   rufszulassung, Marktzulassung sowie sozialer Aus­                      mern anzupassen (und nicht umgekehrt) und ver­
                                   gleich. Er setzt sich mit der Frage auseinander, in                    bietet explizite oder stillschweigende Forderun­
                                   welchen Bereichen bereits spezifische Regeln für                       gen nach Enhancements bei den Arbeitnehmern.
                                   Enhancementbehandlungen bestehen oder ableit­                      – Die ärztlichen Interventionen im Bereich des
                                   bar sind und wo solche fehlen. Zusammenfassend                         Enhancements erfüllen die Kriterien für die
                                   kann festgehalten werden, dass der TA­Bericht                          Übernahme dieser Leistungen im Bereich der
                                   durchaus Regelungsbedarf für den Gesetzgeber sieht.                    Sozialversicherungen, KVG oder UVG nicht.
                                   So hält er es für wünschbar, dass dieser sich aus­
                                   drücklich zum Behandlungszweck des Enhance­                        Aufgrund dieser Analyse empfiehlt das NEK­CNE­
                                   ments äussert und Klarheit darüber schafft, ob Perso­              Gutachten, dass die in diesen Bereichen tätigen
                                   nen, die Enhancement anbieten, einer Berufszulas­                  Personen und die Öffentlichkeit, namentlich die
                                   sung bedürfen. Ausserdem müsste eventuell geklärt                  Patienten und Konsumenten, klar über die bestehen­
                                   werden, inwieweit das Heilmittelrecht zur Anwen­                   den Regelungen und deren Grenzen zu informieren
                                   dung kommt und welche Regeln bei der Verschrei­                    seien.
                                   bung für den Off­Label­Use gelten. Schliesslich stelle                 Eine Schwierigkeit in der aktuellen kontroversen
 * So wurde z. B. im NEK­CNE­
   Gutachten eine eigene, weite    sich die Frage, ob es Regelungen in anderen Wettbe­                Diskussion zum Regulierungsbedarf auf nationaler
   Definition für Aktivitäten im   werbsbereichen als dem Sport, namentlich in der                    wie auf internationaler Ebene ist das Fehlen einer
   Bereich des Human Enhance­      Bildung und der Arbeit, braucht. Zu diskutieren wäre               Einigung bezüglich der Definition von Enhance­
   ment entwickelt und diese
   unter dem Begriff «développe­
                                   für die Verfasser auch die aktuell bestehende Ver­                 ment*. Auch weitere zentrale Begriffsbestimmungen
   ment humain artificiel»         pflichtung zur Übernahme der Kosten durch die                      wie z. B. «Gesundheit – Krankheit», die der Abgren­
   gefasst. Die TA­SWISS­Studie    obligatorische Krankenversicherung, die durch eine                 zung von Therapie und Enhancement zugrunde lie­
   hingegen hat die von der
                                   medizinisch­indizierte Behandlung eines Folgescha­                 gen, werden je nach Rechtsbereich unterschiedlich
   Arbeitsgruppe entwickelte
   und nachfolgend vorgestellte    dens von Enhancementanwendungen entstehen                          verwendet und erschweren damit eine rechtswissen­
   Definition aufgegriffen.        würden.                                                            schaftliche Debatte der Gesamtentwicklung [7].

                                   Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2013;94: 5           169
Editores Medicorum Helveticorum
SAMW                                                                    W E I T E R E O R G A N I S AT I O N E N U N D I N S T I T U T I O N E N

                                       Wenn normative Fragen mit Blick auf «Human                         Debatte zu Fragen des Enhancements bei ande­
                                   Enhancement» verhandelt werden sollen, ist eine                        ren Spezies ihre Berechtigung.
                                   geeignete Definition eine Voraussetzung. Nicht nur                 –   in ihren Fähigkeiten oder in ihrer Gestalt: Es geht
                                   weil sie das Feld der Untersuchung absteckt, sondern                   nicht nur um Fähigkeiten, sondern auch um
                                   auch, weil sie erkenntnistheoretische Prämissen be­                    andere physische Aspekte, die in der betreffen­
                                   züglich der Möglichkeit einer «neutralen», objekti­                    den Gesellschaft positiv konnotiert sind, z. B.
                                   ven Grenzziehung zwischen gesund und krank, nor­                       Körpergrösse, Körperproportionen, «Schönheit».
                                   mal und anormal, Enhancement und Therapie bzw.                     –   in einer Weise zu verändern, die in den jeweiligen
                                   Prävention widerspiegelt.                                              soziokulturellen Kontexten als eine Verbesserung
                                       Die Arbeitsgruppe ging zunächst von der ein­                       wahrgenommen wird: Was eine Verbesserung ist,
                                   schlägigen Definition von Eric Juengst – «Eingriffe,                   kann nicht allgemein formuliert werden, da
                                   die die menschliche Gestalt oder Leistungsfähigkeit                    Enhancement immer auch den Grad der Passung
                                   über das Mass hinaus verbessern sollen, das für die                    bzw. des Übertreffens spezifischer gesellschaft­
                                   Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit                        licher Erwartungen und Bewertungen reflektiert.
                                   erforderlich ist» [8] – aus, fand sie jedoch in verschie­              Was als Enhancement wahrgenommen wird, ist
                                   dener Hinsicht nicht zufriedenstellend.                                also vom jeweiligen soziokulturellen Kontext
                                       Die in der Arbeitsgruppe angestellten Überlegun­                   abhängig; dies soll nicht suggerieren, dass in
                                   gen führten zu folgendem Definitionsvorschlag**:                       einer Gesellschaft bestimmte Präferenzen und
                                                                                                          Wertungen von allen Individuen geteilt würden.
                                   «Medizinische oder biotechnologische Interventio-
                                                                                                          Vielmehr ist in diesen Fragen von einer gesell­
                                   nen, deren Zielsetzung nicht primär therapeu-
                                                                                                          schaftlichen Heterogenität auszugehen, daher
                                   tischer oder präventiver Art ist und die darauf ab-
                                                                                                          die Formulierung «in den jeweiligen soziokultu­
                                   zielen, Menschen in ihren Fähigkeiten oder in ihrer
                                                                                                          rellen Kontexten» im Plural.
                                   Gestalt in einer Weise zu verändern, die in den je-
                                                                                                      –   (eine Verbesserung,) deren Zielsetzung nicht primär
                                   weiligen soziokulturellen Kontexten als Verbesse-
                                                                                                          therapeutischer oder präventiver Art ist: Wiederum
                                   rung wahrgenommen wird.»
                                                                                                          geht es um die Intention; die Tatsache, dass die
                                   –   Medizinische oder biotechnologische Interventionen:                Motivation vielfach nicht eindeutig dem Enhan­
                                       Diese können sich in mehrfacher Hinsicht unter­                    cement einerseits oder den Bereichen «Therapie»
                                       scheiden: Sie können u. a. dauerhaft oder zeit­                    und «Prävention» andererseits zuzuordnen ist
                                       weise, reversibel oder nicht reversibel, mehr oder                 (z. B. im Falle von Stimmungsschwankungen oder
                                       weniger risiko­ und nebenwirkungsbehaftet sein.                    eines «mild cognitive impairment»), wird durch
                                       Es geht nicht allein um medikamentöse Mass­                        die Qualifikation «primär» Rechnung getragen.
                                       nahmen, doch beschränkt sich die Definition
                                       auf solche, die sich im medizinisch­biologischen               Die von der Arbeitsgruppe entwickelte Definition
                                       Bereich bewegen. Soziale Interventionen würden                 von «Enhancement» bezieht sich somit nicht in

                                   Ärzte sind die Berufsgruppe, die eine wichtige Rolle in der Beschaffung,
                                   aber auch in der Bewertung von Enhancementprodukten spielen würde.

                                       damit nicht unter die Definition «Enhance­                     deskriptiv­objektivistischer, naturalistischer Weise
                                       ment» fallen. Gezielte verhaltenstherapeutische                auf die menschliche Natur bzw. auf objektiv be­
                                       Massnahmen könnten hingegen durchaus als                       stimmbare Begriffe von «Gesundheit», «Krankheit»
                                       medizinische Interventionen verstanden wer­                    und «Normalität». Die Arbeitsgruppe ist nicht der
                                       den. Die Grenze ist allerdings fliessend.                      Ansicht, man könne unabhängig von soziokultu­
                                   –   die darauf abzielen: Es geht um die Intention; über            rellen Kontexten bestimmen, was als Verbesserung
                                       die Wirksamkeit wird zunächst noch keine Aus­                  oder gar als relevante Verbesserung zu bewerten sei.
                                       sage gemacht. Damit trägt die Definition dem                   Enhancement als realitäts­ und alltagsnahes Phäno­
                                       Umstand Rechnung, dass Interventionen, die                     men (unbeachtet der Transhumanismusdebatte) be­
 ** Die TA­SWISS­Studie [1] hat
                                       heutzutage als Enhancement definiert werden,                   zieht sich in der Regel nicht auf Funktionen oder
    sich in einem gemeinsamen          bislang vielfach in ihrer Wirksamkeit umstritten               Charakteristika, bei denen eine kulturunabhängige
    Abstimmungsprozess mit             sind.                                                          Definition von gesund und krank bzw. normal und
    Blick auf die Komplementari­
                                   –   Menschen: Eingrenzung für den Zweck des Ar­                    anomal möglich wäre. So wird z. B. das Körperge­
    tät zum vorliegenden Bericht
    diese Arbeitsdefinition zu         beitsauftrags auf «Human Enhancement»; sicher­                 wicht in ästhetischer Hinsicht historisch und kultu­
    eigen gemacht.                     lich hat darüber hinaus auch eine tierethische                 rell sehr unterschiedlich bewertet. Auch welche Eigen­

                                   Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2013;94: 5            170
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                                  schaften relevant sind, mag von Zeit zu Zeit und von               einher. Der Fokus wurde so gewählt, weil die Arbeits­
                                  Gesellschaft zu Gesellschaft variieren. Während                    gruppe sich vor allem den ethischen Fragen zuwen­
                                  heute bei uns Jugendlichkeit, Dynamik, Wettbe­                     det, die sich Ärzten und anderen im Gesundheits­
                                  werbsfähigkeit, körperliche und vor allem kognitive                wesen tätigen Berufsgruppen stellen.
                                  Leistungsfähigkeit betont werden, muss dies nicht                       Insgesamt soll die Definition dazu dienen, das
                                  für andere Gesellschaften gelten. Insofern kann eine               Arbeitsgebiet zu erfassen – sie ist nicht per se taug­
                                  Analyse der «Enhancement»­Angebote bzw. ­Ver­                      lich als moralisches Kriterium. Sie ist als deskriptives
                                  suche aufzeigen, welche Prioritäten und Schwer­                    und analytisches, nicht aber als normatives Instru­
                                  punkte die jeweiligen Gesellschaften setzen. Die                   ment zu verstehen. Für eine ethische Bewertung des
                                  Definition macht sich somit eine subjektivistisch­                 heterogenen Feldes von Enhancementinterventio­
                                  kulturalistische Perspektive zu eigen: Enhancement                 nen müssen die moralisch relevanten Kriterien iden­
                                  ist das, was die jeweiligen Gesellschaften als solches             tifiziert werden, die sich unter anderem auf Aspekte
                                  erachten.                                                          wie Art der Intervention (Reversibilität, Risiko, Ver­
                                       Enhancement ist in diesem Sinne auch kein                     schieben der individuellen Leistungsgrenze vs. der
                                  neues Phänomen, das durch Biotechnologie ermög­                    Speziesnorm usw.) und die Umstände der Anwen­
                                  licht worden wäre, sondern ein menschliches Bestre­                dung (Urteilsfähigkeit des Betreffenden, Freiwillig­
                                  ben, mithalten oder besser sein zu können. En­                     keit vs. sozialer Zwang) beziehen werden.
                                  hancement als solches ist nicht historisch einzigar­                    Dieses Verständnis von Enhancement ist in Ein­
                                  tig, sondern Ausdruck dessen, was die jeweilige                    klang mit den Schlussfolgerungen der Experten­
                                  Gesellschaft als erwünschte und wichtige Merkmale                  gruppe «Zukunft Medizin Schweiz», die in ihrer Aus­
                                  erachtet und was den Betreffenden somit einen                      einandersetzung mit dem Krankheitsbegriff betont,
                                  Wettbewerbsvorteil bringt, wenngleich entspre­                     dass nicht allein biologische Funktionsparameter,
                                  chende Anliegen erst in der Moderne an die Medizin                 sondern auch subjektive, psychosoziale und kultu­
                                  herangetragen wurden. Auch wenn Enhancement                        relle Faktoren zu berücksichtigen sind und die Über­
                                  medizinisch gesehen als irrelevanter «Luxus» be­                   gänge zwischen Gesundheit und Krankheit Grau­
                                  trachtet werden kann, mögen entsprechende Inter­                   bereiche bleiben [9]. Was wir als Krankheit verste­
                                  ventionen in bestimmten sozialen Kontexten als                     hen, hängt – ähnlich wie beim Enhancement – nicht
                                  dringendes Desiderat erachtet werden, weil dem be­                 nur von den Funktionseinschränkungen und der
                                  treffenden Merkmal dort so hohe Relevanz zu­                       subjektiven Befindlichkeit ab, sondern auch vom
                                  kommt – wie z. B. der Sauerstoffaufnahmefähigkeit                  Umfeld, mit dem das betroffene Individuum inter­
                                  des Bluts bei Radrennen oder der Fähigkeit, mit we­                agiert, und von einem sozialen Aushandlungspro­
                                  nig Schlaf zu «funktionieren», bei Piloten oder Sol­               zess, wer die Leistungen, die Kranken gewährt wer­
                                  daten. Je nach Umfeld können Enhancementinter­                     den (Zuwendung, Versicherungsleistungen usw.),
                                  ventionen also zwischen «überflüssiger Spielerei»                  für sich in Anspruch nehmen darf.
                                  und «überlebenswichtig» variieren.                                      Wichtig für die Beschäftigung mit dem Thema
                                       Die Definition bietet keine scharfe Abgrenzung                «Enhancement» ist die Einsicht, dass der Krankheits­
                                  zu Therapie bzw. Prävention, und die Arbeitsgruppe                 begriff interessengeleiteten Ausweitungen bzw. Ein­
                                  geht auch nicht davon aus, dass eine solche scharfe                schränkungen unterliegt. So hat zum Beispiel in den
                                  Abgrenzung hinsichtlich alltagsrelevanter Interven­                letzten Jahrzehnten im Zuge der Entwicklung von
                                  tionen möglich ist. Die Interventionen, die an dieser              Psychopharmaka eine deutliche Ausweitung der psy­
                                  Stelle vor allem in den Blick genommen werden                      chiatrischen Diagnosen stattgefunden [10]. Kritiker
                                  sollen, befinden sich im Grenzbereich dessen, was                  verweisen auf eine zunehmende Medikalisierung
                                  bei uns heute als «normal» oder «gesund» wahrge­                   z.B. von Befindlichkeiten oder Persönlichkeitsmerk­
                                  nommen wird: Psychopharmaka bei Verstimmun­                        malen wie Schwermut oder Schüchternheit, mit der
                                  gen, die das «Funktionieren» der Betreffenden im                   Konsequenz einer zunehmenden Standardisierung
                                  Alltag beeinträchtigen, aber nicht notwendiger­                    und dem Verlust persönlicher Identität und Authen­
                                  weise als Depression zu diagnostizieren sind, oder                 tizität [11]. Die Unterscheidung «medizinische Indi­
                                  die helfen sollen, eine (allzu?) grosse Schüchternheit             kation – Therapie» und «keine Indikation vorliegend
                                  in sozialen Kontakten zu überwinden.                               – Enhancement» mag zwar in formal­rechtlicher
                                       Die Definition zielt zudem darauf ab, diejenigen              Hinsicht nützlich sein; die zugrunde liegenden ethi­
                                  Eingriffe in den Fokus zu nehmen, die derzeit in                   schen, medizintheoretischen und gesundheitssozio­
                                  ethischer Hinsicht diskutiert werden, also gezielte                logischen Fragen werden dadurch nicht gelöst.
                                  medizinische und biotechnologische Interventio­                         Wenn es darum geht, den Begriff des Enhance­
                                  nen und weniger alltägliche Interventionen oder                    ments im weiteren Begriffsumfeld von Gesundheit
                                  unspezifischere Massnahmen wie z. B. die Erziehung                 und Krankheit zu situieren, so stellt sich auch die
                                  von Kindern. Mit dieser Eingrenzung geht jedoch                    Frage nach der Beziehung zum Begriff der Präven­
                                  keine moralische Bewertung von medizinisch­bio­                    tion. Auch hier gibt es relevante Bezüge: Die Abgren­
                                  logischen Interventionen als problematischer bzw.                  zung von Prävention und Enhancement ist ebenso
                                  von sozialen Interventionen als unproblematischer                  unscharf wie die Grenzziehung zur Therapie: Sind

                                  Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2013;94: 5             171
Editores Medicorum Helveticorum
SAMW                                                                   W E I T E R E O R G A N I S AT I O N E N U N D I N S T I T U T I O N E N

                                  synthetisch hergestellte Bakterien, die Arterien von               Literatur
                                  Kalkeinlagerungen säubern, Prävention oder Enhan­                   1 Eckhardt A, Bachmann A, Marti M, Rütsche B,
                                  cement? Diese Frage verliert allerdings an Relevanz,                  Telser H. Human Enhancement. TA­SWISS 56, vdf
                                                                                                        Hochschulverlag ETH Zürich; 2011. [1a] S. 14–18; [1b]
                                  wenn man von der Zuteilung zur einen oder anderen                     S. 19–20; [1c] S. 191–234.
                                  Kategorie nicht erwartet, dass sie die normative
                                                                                                      2 President’s Council on Bioethics. Beyond Therapy:
                                  Frage nach der moralischen Zulässigkeit löst. Eine                    Biotechnology and the pursuit of happiness. New
                                  Antwort auf die Frage, was Enhancement ist und was                    York: Dana Press; 2003.
                                  nicht, löst keineswegs die normative Frage nach der                 3 Sauter A, Gerlinger K. Der pharmakologisch verbes­
                                  moralischen Zulässigkeit.                                             serte Mensch: Pharmakologische Interventionen zur
                                      Ein weiterer Bezug ist hingegen von grosser                       Leistungssteigerung als gesellschaftliche Herausforde­
                                  Bedeutung: Wenn Enhancement als eine bisweilen                        rung. Studien des Büros für Technikfolgen­Abschät­
                                                                                                        zung beim Deutschen Bundestag, Bd. 34. Berlin:
                                  medizinisch problematische gesellschaftliche Praxis
                                                                                                        edition sigma; 2011.
                                  verstanden wird, muss auch über eine Prävention
                                                                                                      4 Zonneveld L, Dijstelblowem H, Ringoir D (Hrsg.).
                                  von Enhancement – in gewisser Hinsicht vergleich­
                                                                                                        Reshaping the Human Condition: Exploring human
                                  bar dem Umgang mit Suchtmitteln – nachgedacht                         enhancement. The Hague: Rathenau Institute; 2008.
                                  werden. Somit spielt Enhancement nicht nur mit
                                                                                                      5 Science and Technology Options Assessment (STOA)
                                  Blick auf das Individuum und seine Präferenzen eine                   European Parliament, Human Enhancement (IP/A/
                                  Rolle, sondern ist auch aus einer Public­Health­Pers­                 STOA/FWC/2005­28/SC35, 41 & 45). Brussels; 2009.
                                  pektive zu betrachten.                                              6 Sprumont D, Monbaron S­P. Le développement
                                                                                                        humain artificiel communément appelé «human
                                  Fazit                                                                 enhancement»: Législation actuelle et besoins de
                                  1. Enhancement – im Sinne der Verbesserung                            réglementation, survol de la problématique. Etude
                                                                                                        juridique préliminaire, mandatée par la Commission
                                     nichtpathologischer Merkmale – hat vielfach
                                                                                                        nationale d’éthique pour la médecine humaine
                                     die Konnotation des Überflüssigen oder mora­                       (NEK­CNE); 2010.
                                     lisch Fragwürdigen und ist doch zugleich ein All­
                                                                                                      7 Beck S. Die fehlende rechtliche Debatte einer
                                     tagsphänomen, in das auch verschiedene Berei­                      gesellschaftlichen Entwicklung. MedR. 2006; 26(2):
                                     che der Medizin involviert sind. Was als Verbes­                   95–102.
                                     serung verstanden wird, hängt dabei von den                      8 Juengst ET. Was bedeutet Enhancement. In: Schöne­
                                     Erwartungen und Präferenzen der jeweiligen Ge­                     Seifert B, Talbot D (Hrsg.). Enhancement – die ethische
                                     sellschaft ab.                                                     Debatte. Paderborn: mentis; 2009: 25–45.
                                  2. Enhancementinterventionen sind vielgestaltig                     9 Schweizerische Akademie der Medizinischen
                                     und unterscheiden sich in ethisch relevanter                       Wissenschaften (SAMW) in Zusammenarbeit mit
                                     Hinsicht u. a. mit Blick auf die Invasivität der                   Experten und Expertinnen der Verbindung der
                                                                                                        Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) und der
                                     Eingriffe, die Irreversibilität sowie die Risiken für              Medizinischen Fakultäten. Projekt «Zukunft Medizin
                                     die individuelle und öffentliche Gesundheit. Die                   Schweiz»: Ziele und Aufgaben der Medizin zu Beginn
                                     Zuordnung einer Intervention zu Enhancement                        des 21. Jahrhunderts. Basel; 2004.
                                     löst somit nicht bereits die Frage nach der mora­               10 Angell M. The Epidemic of Mental Illness: Why?
                                     lischen Zulässigkeit.                                              The New York Review of Books, June 23; 2011.
                                  3. Enhancement wirft interessante rechtliche Fra­                  11 Elliott C. Better than well: American medicine meets
                                     gen auf (etwa bezüglich der Einschränkung des                      the American dream. New York: Norton & Company;
                                     Zugangs zu Substanzen oder bezüglich der Er­                       2003.
                                     stattungsfähigkeit von Kosten durch die obli­
                                     gatorische Krankenversicherung), doch ist der
                                     aktuelle gesetzliche Regelungsbedarf in der
                                     Schweiz umstritten.
                                  4. Den Analysen und Empfehlungen zum Umgang
                                     mit Enhancement müssen eine Definition zu­
                                     grunde liegen, damit der Rahmen abgesteckt
                                     und erkenntnistheoretische Prämissen offenge­
                                     legt werden. Eine solche Definition muss der
                                     Relevanz des soziokulturellen Kontexts Rech­
                                     nung tragen.

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