I DER GEIST UND DIE GEISTER DES KONSTRUKTIVISMUS - Peter Lang Publishing

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I DER GEIST UND DIE GEISTER DES KONSTRUKTIVISMUS - Peter Lang Publishing
I.  DER GEIST UND DIE GEISTER
    DES KONSTRUKTIVISMUS

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2 Historische Konstellationen:
   Konkret-Konstruktivistisches in der
   Achse Rio de Janeiro – São Paulo (1948–1959)

Die künstlerischen Objekte und Praktiken der Neo-Periode besitzen in
ihrer Ausgestaltung eine Bandbreite, die größer kaum sein könnte. Den-
noch gibt es verbindende Elemente: Sie beziehen den Betrachter leib-
lich oder sogar haptisch-leiblich mit ein, während sich gleichzeitig die
Autoren dieser Werke auf die Prämissen der Konkreten Kunst berufen.
Dies mag einem europäischen Kunstkenner zunächst widersprüchlich
erscheinen. Tatsächlich gibt es jedoch konkrete, lokale und historische
Entwicklungen – insbesondere in der Geburtsstadt des Neokonkretis-
mus Rio de Janeiro und ihrer Nachbarmetropole São Paulo – aus denen
diese ungewöhnliche Verbindung hervorgegangen ist.
     In diesem Kapitel wird es daher um die historischen Konstellatio-
nen gehen, auf deren Grundlage sich die künstlerischen Manifestatio-
nen der Neo-Periode entfalteten. Dazu wird die institutionelle, politische
und philosophisch-ideengeschichtliche Entwicklung der Zeit unmittel-
bar bevor die konkrete Kunst in Brasilien ihren Höhepunkt erreichte
bis zur Entstehung des Neokonkretismus in Rio de Janeiro in den Blick
genommen. Daher wird zunächst die gleichzeitige Herausbildung der
Kunstinstitutionen und der Abstraktion in den Städten eruiert, die bereits
Auswirkungen auf die Art und Weise hatte, wie abstrakte Kunstobjekte
lokal verstanden werden. Im folgenden Unterkapitel (2.1) wird die Rolle
des Schweizer Künstlers Max Bill, der in der brasilianischen Kunstge-
schichtsschreibung eine prominente Stellung für die Entwicklung der
Konkreten Kunst in Brasilien einnimmt, einer Revision unterzogen. Im
darauffolgenden Unterkapitel (2.2) wird darüber hinaus die Ausstellung
der Modernos Argentinos in den Blick genommen und die besondere
Rolle des Kunstkritikers und Intellektuellen Mário Pedrosa herausge-
arbeitet. Pedrosa entwickelte, angeregt von verschiedenen westlichen

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Theoretikern und Philosophen, eine eigene Theorie des Lokalen in der
Kunst der Moderne, die jedoch gleichzeitg auf Beobachtungen der Pra-
xis beruhte. In einem letzten Schritt wird auf den Diskurs der beiden
konkret arbeitenden Künstlergruppen Frente (Rio) und Ruptura (São
Paulo) in der brasilianischen Kunstgeschichtsschreibung eingegangen
und die daraus resultierende Formierung der neokonkreten Bewegung
eruiert.

2.1 Institutionalisierung und Abstraktion

         Thus a cargo of abstract painting, leaving the country [France] assailed by
         communist propaganda and labor strikes, in a sense reenacted the European
         discovery of the continent. [Léon] Degand brought to the shores of the New
         World an aesthetic lingua franca. Full of excitement and missionary zeal, De-
         gand carried in his trunks the tablets of a new sign language that could repre-
         sent, in its radicalism, the essence of the modern world. (Guilbaut 2009, 173)

Die Geschichte der abstrakten Kunst in Brasilien ist praktisch nicht von
der Geschichte der Kunstinstitutionen zu trennen. Letztere wurden im
gleichen historischen Moment etabliert, in dem brasilianische Künstler
sich Ende der 1940er Jahre der Abstraktion zuwandten, zumindest in
den beiden Moderne-Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro. Die
großen Kunstmuseen (Museu de Arte São Paulo/ MASP, Museu de Arte
Moderna São Paulo/ MAM-SP, Museu de Arte Rio de Janeiro/ MAM-
Rio) in diesen Metropolen und die Biennale (1951) in São Paulo wur-
den nach europäischen und nordamerikanischen Vorbildern errichtet.
Da das Museum eine zentrale Rolle spielt in der „Institutionalisierung
von westlichen Annahmen darüber, wie wir Objekte durch kulturelle
Prozesse begreifen“ (Edwards, Gosden und Phillips 2006, 3), ist es un-
abdingbar, einen Blick auf die Genese der Kunstinstitutionen in Brasi-
lien zu werfen, um die konkrete Kunst und vor allem auch später die
neokonkreten künstlerischen Positionen zu verstehen.

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Erste abstrakt-geometrische Tendenzen traten in Brasilien bereits
gegen Ende der 1930er Jahre auf. Die historischen Bedingungen, unter
denen diese Tendenzen in Brasilien bis Ende der 1950er Jahre schließ-
lich eine breitere Anerkennung fanden, hatten jedoch zunächst eine
starke neokoloniale Ausrichtung, da dieser Wandel von europäischen
und nordamerikanischen Akteuren finanziert und forciert wurde. Die
Abhängigkeit der brasilianischen Institutionen und der sich herausbil-
denden Geschmackstendenzen der Oberschicht wird darin offenkundig.
Mit der finanziellen Hilfe des brasilianischen Großunternehmers Fran-
cisco Matarazzo Sobrinho brachte der belgische Kunstkritiker Léon
Degand 1947 eine gesamte Schiffsladung europäischer, überwiegend
(geometrisch)-abstrakter Meisterwerke nach Brasilien, um in São Paulo
ein neues Museum für moderne Kunst zu errichten. Seine gut gemeinten
Intentionen glichen tatsächlich aber eher einem Aufklärungsprojekt, da
er nichts weniger im Sinn hatte, als „ein ignorantes Publikum über die
Schönheit moderner Freiheit und Individualität zu belehren“ (Guilbaut
2009, 171). Matarazzo und Degand waren der Überzeugung, abstrakte
und insbesondere geometrisch-abstrakte Kunst würde den industriellen
Fortschritt Brasiliens als aufstrebende Wirtschaftsmacht passend bebil-
dern und zur Erziehung der Bürger zu modernen Menschen beitragen
(Guilbaut 1997, 2).
     Obwohl interne Diskrepanzen über die Museumskonzeption dazu
führten, dass Degand noch vor der Museumseröffnung wieder abreiste,
hielt er im Jahr zuvor noch eine Reihe von Vorträgen über abstrakte
Kunst und speziell über geometrische Abstraktion.26 Die White Cube
Galerie, die Degand als passendes Präsentationsformat für die geome­
trisch-abstrakten Werke im Sinn hatte, wurde von seinen brasilianischen
Mitarbeitern konterkariert, die während einer seiner Abwesenheiten die
Räume in einen „bunten Papagei“ (multi-colored Arara Parrot) verwan-
delten (Guilbaut 2009, 175). Sie strichen die Wände in verschiedenen
Farben und bezogen die Stühle mit Blumenmustern (ibid.).

26   Zwischen August und November 1948 hielt er in der Biblioteca Municipal fol-
     gende Vorträge: „Arte e público“, „O que é arte figurativa?“ und „O que é arte
     abstrata?“, vgl. Amaral (1998, 53) und Amaral (1984, 236).

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Degand never understood the complicated symbolic, political, and site-specific
      implications of Brazilian modernity. He never fully grasped that the establishment
      of a modern museum in São Paulo was bound to reinforce a traditional and colo-
      nized littoral culture geared, since the arrival of the Portuguese, toward commerce
      and toward Europe (Guilbaut 2009, 168).

Das Museum eröffnete schließlich 1949 mit der Ausstellung Da Figu-
ração à Abstração (Von der Figuration zur Abstraktion), die Degand kon-
zipiert hatte. Wie der Name bereits suggeriert, hatte Degand versucht, die
geometrisch-abstrakte Kunst als Höhepunkt einer chronologischen Ent-
wicklung der Malerei zu präsentieren, ganz im Sinne der Fortschrittslogik
der Moderne. Außerdem fand die Ausstellung zu einem Zeitpunkt statt,
an dem in São Paulo noch der Streit zwischen Verfechtern der Figuration
(wie etwa der modernistische Künstler Di Cavalcanti) und der Abstrak-
tion die Debatten in Intellektuellen- und Künstlerkreisen bestimmte und
zeigte insofern den offiziellen Kurs in diesem Streit an. Die Werkschau
bestand vornehmlich aus den eingeschifften europäischen Meisterwer-
ken.27 Dem brasilianischen Publikum wurde auf diese Weise implizit
suggeriert, dass der dernier cri in Europa abstrakte Kunst sei, figurative
Malerei hingegen altmodisch. Dies spiegelte jedoch vor allem Degands
eigene Sichtweise wieder. Dabei stand er, gerade in Frankreich, in dem die
Nouvelle Realité zu der Zeit en vogue war, als Verfechter (geometrisch)
-abstrakter Kunst ziemlich allein, während New York bereits dabei war,
Paris seine Vormachtstellung als Zentrum für moderne Kunst streitig zu
machen (García 2009a, 210). Dies war auch einer der Gründe, die ihn zu
dem Brasilien-Projekt bewogen hatten (Guilbaut 2009, 172).
     Die bereits seit den 1930er Jahren entstandene Szene der geome­
trisch-abstrakt malenden Künstler in Brasilien wurde auf der Eröff-
nungsausstellung vollkommen ignoriert. Lediglich drei junge brasiliani-
sche Künstler nahmen teil, Samson Flexor, Cícero Dias und Waldemar
Cordeiro mit jeweils einem einzigen Gemälde (Amaral 2006, 115).
„Brasilianisch“ ist hier jedoch ein dehnbarer Begriff, hatten sich Flexor

27    Insgesamt wurden 93 Werke gezeigt, darunter Arbeiten von Robert und Sonia
      Delaunay, Kandinsky, Kupka, Magnelli, Herbin, Vantongerloo, Hans Arp, Sophie
      Taeuber-Arp und Otto Freundlich.

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und Cordeiro doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg in São Paulo
niedergelassen.
     Im neuen Museu de Arte Moderna in Rio (MAM-RJ) machte
man sich um die Inklusion brasilianischer Künstler von vornherein
keine Gedanken. Die Eröffnungsausstellung war der europäischen
Malerei gewidmet. Die erste Nationale Ausstellung Abstrakter Kunst
(I. Exposição Nacional de Arte Abstrata) fand 1953 schließlich weder
in Rio noch in São Paulo statt, sondern in der kleinen Stadt Petrópolis
im bergigen Hinterland im Bundesstaat Rio de Janeiro.
     Eine wichtige Institution für die Professionalisierung der kunstbe-
zogenen Tätigkeiten in Brasilien war die Gründung der Biennale in São
Paulo 1951, ebenfalls mit Hilfe des einflussreichen italienisch-brasi-
lianischen Industriellen Francisco (Ciccillo) Matarazzo Sobrinho. Die
Biennale ermöglichte, dass erstmals im Land eine Vielzahl europäi-
scher und (nord)amerikanischer Kunstwerke gezeigt werden konnten.
Von vornherein als Großprojekt angelegt, wurde sie nach veneziani-
schem Vorbild konzipiert und ist die zweitälteste Biennale der Welt. Sie
sollte Brasilien als global player in der internationalen Kunstwelt28 und
die Stadt São Paulo als globales Kunstzentrum etablieren, das mit Paris
und New York konkurrieren kann (Morais 1990, 21).
     Die ersten Biennalen waren noch sehr stark an Europa ausgerich-
tet. Die ausgestellten Werke stammten überwiegend von europäischen
Künstlern und auch die Auszeichnungen gingen vor allem an Europäer.
In dem Maße, in dem die lateinamerikanischen Jurymitglieder zunah-
men und die zu Beginn fast ausschließlich europäischen ersetzten, wur-
de das Verhältnis ausgeglichener. Die lateinamerikanischen Künstler,

28   Der Begriff der (globalen) Kunstwelt wurde ausführlich von Katrin Sperling
     (2011) diskutiert. Grundsätzlich definiert Sperling die (globale) Kunstwelt als
     „das komplexe, diskursive Zusammenspiel verschiedener Faktoren aus unter-
     schiedlichen Bereichen wie wirtschaftlichen, politischen, sozialen, wissenschaft-
     lichen Kontexten, das das internationale Feld der Kunst […] bestimmt“ (2011,
     112). Dabei stellt die Kunstwelt sowohl ein „Institutionelles Gefüge“ dar, das
     sich durch „permanente Verhandlungsprozesse“ auszeichnet, als auch auf theo-
     retischer Ebene als „diskursives Netzwerk“, welches „durch die Bewegung von
     Objekten und Personen, vor allem aber durch die permanente, raumübergreifende
     Diskursführung“ entsteht (2011, 121).

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die auf den ersten Biennalen ausstellten, lebten zudem meist bereits im
Westen und waren ohnehin schon auf dem internationalen Kunstmarkt
etabliert. (Morais 1990, ibid.)
     Durch die ab 1951 durchgeführte Biennale von São Paulo eröffneten
sich den brasilianischen Künstlern auch neue Möglichkeiten, Original-
werke der konstruktivistischen Künstler aus Europa zu sehen. Die größ-
te Bandbreite konstruktivistischer Arbeiten war bereits auf der zweiten
Biennale 1953 zu sehen, die als gigantomanisches Projekt in die brasi-
lianische Geschichte einging. Der brasilianische Kurator Agnaldo Farias
behauptet in der Jubiläumsausgabe der Fundação Bienal fast 50 Jahre
später, dass diese Biennale nicht weniger als „die wichtigste Ausstellung
moderner Kunst aller Zeiten auf der ganzen Welt“ gewesen sei (Farias
2001, 80). Die französische Delegation hatte auf ausdrücklichen Wunsch
der Organisatoren der Biennale einen speziellen Salon zum Kubismus
eingerichtet, in dem unter anderem Arbeiten von George Braque, Robert
Delaunay, Auguste Herbin und Fernand Léger zu sehen waren. Zusätzlich
gab es einen speziellen Salon für Pablo Picasso, in dem auch Guernica
(1937) ausgestellt wurde. Die deutsche Delegation zeigte einen speziel-
len Salon zu Paul Klee und die holländische einen zu Piet Mondrian, in
dem auch das Bild Broadway Boogie-Woogie (1942/43) zu sehen war.
     Die brasilianische Selbstpräsentation auf den ersten Biennalen ver-
lief jedoch diametral entgegen den künstlerischen Praktiken im Land
(Lammert 2010, 64), auch wenn es eine gewisse Präsenz brasilianischer
konkreter Kunst auf den Biennalen zwischen 1951 und 1963 gab. Zwei
spezielle Pavillons wurden den konkreten (und später neokonkreten)
Künstlern Franz Weissmann und Amilcar de Castro gewidmet und vier
konkrete Künstler erhielten Auszeichnungen (Lygia Clark, Franz Weiss-
mann, Alexander Wollner, Abraham Palatnik). Ivan Serpa, Geraldo de
Barros und Lygia Clark wurden während dieser Jahre sogar mehrfach
ausgezeichnet. Eine breite Präsentation konkreter Kunstwerke aus Brasi-
lien fand jedoch erst auf der 4. Biennale 1957 statt, als sich das Panorama
konkreter Kunst in Brasilien bereits diversifiziert hatte und schließlich
zum Neokonkretismus führte. Auf jener Biennale wurde außerdem auf
Wunsch des Biennale-Direktors eine Bauhaus-Gruppenausstellung von
der deutschen Sektion präsentiert, an der unter anderen Kandinsky, Klee,
Schlemmer, Moholy-Nagy, Albers und Bill teilnahmen.

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Im gleichen Jahr – kurz vor der Eröffnung der Biennale – wurde
die 1. Nationale Ausstellung Konkreter Kunst (I. Exposição Nacional
de Arte Concreta) in São Paulo gezeigt, die Anfang des darauffolgenden
Jahres nach Rio de Janeiro reiste. In dieser Werkschau stellten erstmals
konkret arbeitende Künstler aus Rio und São Paulo gemeinsam aus und
erhielten so selbst einen Überblick über die Arbeiten der Gruppe aus
der jeweils anderen Stadt. Doch die Ausstellung markierte bereits den
Beginn des Endes einer einheitlichen Bewegung Konkreter Kunst in
Brasilien (sofern man jemals davon sprechen konnte), da durch ihr ge-
meinsames Auftreten die Differenzen zwischen den in São Paulo und in
Rio arbeitenden Künstlern zu Tage traten.
     Obwohl die Präsentation brasilianischer geometrisch-abstrakter
Kunst auf den ersten Biennalen eher gering war, kam der neuen Institu-
tion und auch den neu etablierten Kunstmuseen (MASP 1947, MAM-SP
1948 und MAM-RJ 1949) als Bildungseinrichtungen und unterstützende
Strukturen mit internationalen Kontakten von Beginn an eine zentrale
Rolle in Brasilien zu. Dazu gehörte einerseits das Ausbilden eines Ver-
haltenskodex für die Museumsräume, wie das „respektvolle Verhalten in
Galerien, Theatern“ und Museen, sowie „disinterested contemplation“
als Modus ästhetischer Wertschätzung (Coleman 2005, 64). Doch die
Durchsetzung des Verhaltensregimes des White Cube hatte bereits zu
Spannungen und Unstimmigkeiten geführt (Guilbaut 1997, 2009).
     Andererseits hatten die brasilianischen Künstler erstmals die
Möglichkeit, eine solche Bandbreite an Werken im Original zu se-
hen, die sie sonst nur aus Abbildungen oder Berichten kannten. Einige
Künstler konnten zwar nach Europa reisen und dort auch studieren, doch
selbst eine solche Reise bot nicht immer die Möglichkeit, europaweit
Kunstmuseen zu besuchen. Das MASP, das MAM-SP und das MAM-RJ
führten außerdem systematisch breit angelegte retrospektive Ausstellun-
gen durch, die explizit dazu dienen sollten, das brasilianische Publikum
mit der europäischen Moderne vertraut zu machen.29 Die Tageszeitung
Diário da Noite in São Paulo kündigte die im MASP gezeigte Retros-

29   Z. B. MAM-RJ: Pintura Européia Contemporânea (1949), Exposição de
     esculturas británnicas und Ben Nicholson (1958), Exposição de Alexander Calder
     (1959).

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pektive von Max Bill 1950 als „eine Individualausstellung an, die in
ihrer Wichtigkeit auf der gleichen Ebene rangiert, wie die geplanten
Ausstellungen von Le Corbusier, Lasar Segall und anderen, da sie effi­
zient dazu beitrage, eine historisch erklärende Vision der großen künst-
lerischen Strömungen unserer Epoche zu geben“ (Paiva 2011, 14)30.
     Die Kunstinstitutionen in Brasilien führten von Anfang an auch
ein Bildungsprogramm als Begleitung der Ausstellungen ein, in dessen
Rahmen internationale Künstler und Kritiker eingeladen wurden, Vorträ-
ge zu halten. Auch in der praktischen Kunstausbildung waren sie tätig,
insbesondere bevor die Hochschule für Industriedesign (ESDI- UERJ)
1962 in Rio und die Fakultät für Kommunikation und Kunst 1966 an der
Universität von São Paulo (ECA-USP) gegründet wurden. Am MAM-RJ
eröffnete der Künstler Ivan Serpa Malklassen für Erwachsene und Kin-
der, die eine moderne Art des Malens vermittelten und sich didaktisch
vom Unterrichtsstil der Escola Nacional de Belas Artes31 unterschieden.
Es ist kein Zufall, dass die konstruktivistisch-konkreten Künstlergrup-
pen Ruptura (1952, São Paulo) und Frente (1954, Rio) sich nur kurze
Zeit nach der ersten Biennale formierten. Die Frente Gruppe ging direkt
aus Serpas Malklasse, dem Atelier Livre, hervor.
     Außerdem organisierten die Museen für moderne Kunst in São
Paulo und Rio in den 1950er und 1960er Jahren gemeinsam mit der
Botschaft und/ oder Partnerinstitutionen im jeweiligen Land auch erst-
mals Ausstellungen brasilianischer (geometrisch)-abstrakter Kunst in
Frankreich, Deutschland und der Schweiz.32

30    „Trata-se portanto de mais uma mostra individual que deve ser colocada no mes-
      mo plano de importâcia da programada para Le Corbusier, Lasar Segall, e outros,
      por contribuir de maneira eficiente para dar uma visão histórica explicativa das
      grandes correntes artísticas de nossa época“, „Max Bill no Museu de Arte“, in:
      Diário da Noite, 14.01.1050, zitiert nach Paiva (2011, 14).
31    Die Escola Nacional de Belas Artes war das republikanische Pendant (angeglie-
      dert an die Universidade Federal do Rio de Janeiro) zur Escola Imperial de Belas
      Artes, die 1816 von Pedro II. von Brasilien und unter der Aufsicht der französi-
      schen Mission gegründet wurde. Hier wurde ein an europäischen Vorbildern des
      Neoklassizismus geschulter akademischer Stil unterrichtet.
32    Städtisches Museum Leverkusen Schloß Morsbroich 1959 und Kasseler Kunst-
      verein 1962. Paris 1955 und Neuchatel 1956.

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In der Gründungsphase der Museen für moderne Kunst in Rio und
São Paulo spielten außerdem Nelson Rockefeller und das New Yor-
ker Museum of Modern Art (MoMa) eine bedeutende Rolle. Bereits
1945 hatte Rockefeller begonnen, mit brasilianischen Industriellen
(Matarazzo in São Paulo und Raymundo Ottoni di Castro Maya in Rio)
über die mögliche Eröffnung von Filialen des MoMa in den beiden Städ-
ten Verhandlungen aufzunehmen (Sant’Anna 2011, 147). Matarazzo
und Castro Maya sahen in einer solchen Zusammenarbeit einen Schritt
für ihr „Zivilisationsprojekt für Brasilien“ (149), während Rockefellers
Ambitionen als Teil der amerikanischen Expansion verstanden werden
müssen (Guilbaut 2009, 163). Beide Museen wurden letztendlich als
eigenständige Institutionen aufgebaut, nicht zuletzt, da es an „finanziel-
ler Unterstützung und politischem Willen“ seitens der Nordamerikaner
mangelte (Sant’Anna 2011, 152).
     Eine Besonderheit der brasilianischen Museen ist ihr spezielles
Verhältnis zur lokalen Avantgarde. Zwar sind Museen und Avantgarde-
Bewegungen „traditionell als gegensätzliche Pole definiert“ (Sant’Anna
2011, 198), nicht zuletzt, weil erstere angeblich als lieu de mémoire
(Nora 1986) konzipiert sind, die „Objekte in Zeit und Raum kristallisie-
ren“ (Sant’Anna 2011, 198), während letztere – ihrer Zeit vorauseilend –
für Beweglichkeit und Erneuerung stehen. In Brasilien jedoch dienten
die Museen als „Ort[e] von Moderne und Wandel“ (2011, 198), die die
Avantgarde-Bewegungen vielmehr unterstützten.
     Ao pensar o museu como narrativa e gesto de modernização – modernidade em
     movimento de fazer-se –, o MAM incorporava a crítica das vanguardas como
     sintoma positivo de concretização do moderno. E não apenas sintoma, mas, como
     forma geradora de novas percepções, também germe de modernidade. (Sant’Anna
     2011, 203)33

33   „Das Museum als Narration und Geste der Modernisierung verstehend, – Moder-
     ne im Entstehungsprozess – inkorporierte das MAM die Kritik der Avantgarde als
     positives Symptom der Konkretisierung des Modernen. Und nicht nur als Symp-
     tom, sondern auch als generierende Form von neuen Wahrnehmungsmöglichkei-
     ten, als Keim der Moderne“.

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Statt eines langwierigen Prozesses der Musealisierung der Avantgarden,
wie er in Europa stattgefunden hat, passierte in Brasilien oftmals nahe-
zu das Gegenteil, indem das Museum zu einem der wichtigsten Förde-
rer der Avantgarde schlechthin wurde (2011, 204). Insbesondere in Rio
de Janeiro führte diese Tendenz zu einer untrennbaren Verquickung des
MAM-RJ mit den konkret-konstruktivistisch arbeitenden Künstlern.
Die Institution wuchs gleichermaßen zu einem professionell arbeiten-
den Großmuseum heran, wie die konkreten Künstler sich formierten.
Obwohl es bereits 1949 eröffnet wurde, residierte es zunächst proviso-
risch im Gebäude der Boavista Bank und ab 1952 im Ministerium für
Bildung und Gesundheit, bis es schließlich 1958 in ein eigens für das
MAM entworfene Gebäude umziehen konnte. Seit diesem Zeitpunkt
ist das Museum lokaler Brennpunkt künstlerischer Transformation und
„Sitz des Neokonkretismus“ (Homepage des Museums).

2.2 Max Bill: Zur Dekonstruktion eines Mythos

Der Schweizer Architekt, Künstler und Designer Max Bill (1908–1994)
wurde Ende der 1930er Jahre zu einem der wichtigsten Vertreter der
Zürcher Konkreten Kunst. Generell wird ihm in der brasilianischen For-
schungsliteratur eine zentrale Rolle in der Herausbildung der Konkre-
ten Kunst in Brasilien zugeschrieben (Amaral 1998; Varela 2012).
      Sessenta anos após a visita de Max Bill, ao estudarmos a História da Arte no Brasil
      relativa ao período concreto e neoconcreto, percebemos como os historiadores
      […] coloca[m]-o [Max Bill] como um dos „marcos” do período de transição do
      então Modernismo Brasileiro de temática nacionalista para o abstracionismo, no
      início da década de 1950. Na formação teórica do concretismo e neoconcretismo,
      mais uma vez, Bill aparece como referência, junto a nomes como Piet Mondrian,
      Theo Van Doesburg e Kasimir Malevitch. (Varela 2012, 530/531)34

34    „Sechzig Jahre nach dem Besuch von Max Bill stellen wir fest, wenn wir die
      Kunstgeschichte im Brasilien der Zeit des Konkretismus und Neokonkretis-
      mus betrachten, wie die Historiker […] ihn [Max Bill] als einen ‘Marker’ der

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Tatsächlich waren seine Werke und Ideen zu Beginn der 1950er Jahre
in Brasilien sehr präsent, ein Zustand, der sich aus einer zufälligen Be-
gegnung ergeben hatte. Bill wurde 1951 eine große Retrospektive im
Museu de Arte in São Paulo (MASP) gewidmet, die nur wenige Monate
vor der ersten Biennale ihre Tore öffnete. Die Retrospektive war das
Ergebnis der persönlichen Beziehung zwischen Max Bill und dem da-
maligen Direktor des MASP, Pietro Maria Bardi. Sie hatten sich 1945 in
Italien kennengelernt, bevor Bardi definitiv nach Brasilien emigrierte.
Die Ausstellung präsentierte Bill in seiner Bandbreite als Künstler, In-
dustriedesigner und Architekt. (Bonet 2010, 11)
     Auf der ersten Biennale wurde Bill dann mit dem Skulpturenpreis
ausgezeichnet und 1953 kam er selbst nach Brasilien, um einige Vorträge
an den Museen für Moderne Kunst in Rio und São Paulo zu halten. Er war
jedoch nicht der einzige Künstler, der zu diesem Zeitpunkt durch Werke
oder persönlich in den beiden Metropolen präsent war und die dort arbei-
tenden Künstler inspirierte. Seine zentrale Stellung in der brasilianischen
Kunstgeschichte ist ihm, meines Erachtens, nachträglich zugeschrieben
worden35 und beruht weniger auf seinen Werken als auf seiner Vermittler-
funktion, sowohl eines Modernekonzepts europäischer Provenienz, das
auf konstruktivistischem Ideengut basierte und zu diesem Zeitpunkt in
Brasilien fruchtbaren Boden fand, als auch von institutionellen Struktu-
ren. Insbesondere für die konkret arbeitenden Künstler in Rio de Janeiro,
die später den Neokonkretismus erfanden, ist die Rolle Max Bills zu re-
lativieren. In diesem Kapitel soll daher Bills Präsenz in Brasilien, sowohl
in Persona als auch durch seine Werke, noch einmal genauer untersucht
werden und zum Schluss auch Bills Lateinamerika-Erfahrung im Kon-
text der europäischen Kunstlandschaft verortet werden.

     Transitionsperiode des damaligen brasilianischen Modernismo mit seiner natio-
     nalistischen Thematik zur Abstraktion zu Beginn der 1950er Jahre platzieren. In
     der theoretischen Formierung des Konkretismus und Neokonkretismus taucht Bill
     wieder als Referenz neben Namen wie Piet Mondrian, Theo van Doesburg und
     Kasimir Malevich auf “.
35   (Merklinger 2008; Lammert 2010; Amaral 1977a).

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Es ist bemerkenswert, dass die Max Bill-Retrospektive 1951 offen-
bar kaum Resonanz in der Kunstkritik fand. So behauptet der brasilia-
nische Designer Alexander Wollner, der beim Aufbau der Bill-Retros-
pektive half, dass „kein Kunstkritiker in jener Zeit über die Ausstellung
gesprochen oder geschrieben“ hätte (Wollner 2005, 37). Der argentini-
schen Kunsthistorikerin María Amália García zufolge gab es nur eine
kurze Ankündigung der Ausstellung in den Tageszeitungen Diário de São
Paulo und Folha da Manhã. Nur Geraldo Ferraz publizierte in O Jornal
in Rio de Janeiro eine etwas ausführlichere Studie (García 2009b, 61).
Der Direktor der Biennale, Francisco (Ciccilo) Matarazzo, war von der
Ausstellung jedoch so angetan, dass er sie auf der Biennale noch einmal
wiederholen wollte. Diese Idee missfiel Max Bill jedoch – die Retros-
pektive wurde schließlich nur wenige Monate zuvor in der gleichen Stadt
gezeigt – und so kamen sie überein, dass er nur die Skulptur Dreiteilige
Einheit (1948) einschickte (Abb. 1), für die er den Skulpturenpreis ge-
wann (Kudielka 2010, 57)36. Obwohl es sich nicht um einen Akquisiti-
onspreis handelte, kaufte das Museu de Arte Moderna in São Paulo, das
zu diesem Zeitpunkt noch die Biennale durchführte37, ein Jahr später die
Skulptur. Im Jubiläumskatalog der Biennale, der den 50. Geburtstag der
Institution würdigt, wird Bills Skulptur zum „Symbol und Paradigma der
geometrischen Abstraktion“ in Brasilien erhoben und sein Schöpfer als
„Referenz für die Intellektuellen des Landes“ bezeichnet (Farias 2001,
75). Vor dem Hintergrund dieser geradezu fetischistischen Bewunderung
ist es wenig überraschend, dass die Nominierung der Dreiteiligen Einheit
für den Skulpturenpreis als „Markstein für die Entwicklung der moder-
nen Kunst“ und „manifestierte[r] Anfang des Konkretismus in Brasilien“
betrachtet wird (Merklinger 2008, 144/145).

36    Diese Information stammt aus einem Briefwechsel zwischen Pietro Maria Bardi
      (Direktor des MASP) und Max Bill im Vorfeld seiner Ausstellung in São Paulo,
      7.5.1951.
37    1963 wurde die Fundação Bienal gegründet. Zur Umstrukturierung des Museums
      für Moderne Kunst (MAM-SP, des MASP und des neu gegründeten Museu de
      Arte Contemporânea (MAC)) vgl. die Disseration von Bottallo (2011).

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Abb. 1: Max Bill, Dreiteilige Einheit, 1948. In Max-Bill-Ausstellung im MASP 1951.
         Foto: Peter Scheier, Instituto Moreira Salles, Rio de Janeiro (Quelle: Kudielka
         2010, 193).

Es ist allerdings auffällig, dass Max Bill nicht zusammen mit den an-
deren Schweizer Konkreten auf der Biennale wahrgenommen wurde.
Seine Skulptur wurde auch nicht im Schweizer Pavillion ausgestellt, da
er sie auf eigene Kosten und auf direkte Einladung von Matarazzo ein-
geschickt hatte (García 2008, 201). Obwohl der Schweizer Pavillion auf
der ersten Biennale mit Arbeiten von Richard Paul Lohse, Leo Leuppi
und Sophie Taeuber-Arp durchaus eine starke konkrete Präsenz zeigte,
wurde keines ihrer Werke prämiert und keiner der Künstler auf spä-
teren Biennalen erneut ausgestellt. Die einzige Ausnahme ist Sophie
Taeuber-Arp. Ihr wurde auf der dritten Biennale (1955) ein speziel-
ler Salon gewidmet, in dem allerdings überwiegend Arbeiten aus den
1920er und 1930er Jahren gezeigt wurden. Im entsprechenden Katalog
wird sie daher auch nicht mit den konkreten Künstlern in Verbindung
gebracht, sondern als „unabhängig aber parallel zu de Stijl arbeitende
Künstlerin“ dargestellt, die „die Probleme der konkreten Kunst atta-
ckierte“ (Museu de Arte Moderno São Paulo 1951, 245).

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Bill war selbst überrascht über die Nominierung seiner Skulptur auf
der ersten Biennale, vor allem im Vergleich mit den anderen nominier-
ten Werken, die meisten davon italienische und französische informelle
Abstraktion (Paiva 2011, 54). In einem Brief an Wolfgang Pfeiffer, der
damals als Assistent im MASP arbeitete, schrieb Bill, dass entweder
er oder alle anderen irrtümlicherweise nominiert worden sein mussten
(ebd: 54)38. Tatsächlich löste die Nominierung von Bills Skulptur kon-
troverse Debatten zwischen Kunstkritikern aus. Bills Kunst wurde als
„ornamentalistisch“ und „dekorativ“ bezeichnet, ein Vorwurf, der oft in
dieser Zeit an geometrisch-abstrakte Kunst in Brasilien herangetragen
wurde (Campofiorito 1953, 22).
     All das lässt darauf schließen, dass die Prämierung der Dreiteiligen
Einheit letztendlich wenig mit werkimmanenten Qualitäten der Skulp-
tur zu tun hatte. Vielmehr war es die moderne Aura, die die Skulptur
umgab und die dafür sorgte, dass dem Werk ein so zentraler Stellen-
wert für die moderne Kunst in Brasilien zugeschrieben wurde und zum
Teil noch immer wird. „More than a mere award [to Bill’s sculpture],
it was the confirmation that finally, almost 30 years after the celebrated
Modern Art Week, Brazil was modern“ (Farias 2001, 75), ist schließ-
lich im Jubiläumskatalog der Biennale zu lesen. Die Dreiteilige Einheit
wurde damals als „Symbol für die Transformation der nationalen künst-
lerischen Kultur“ und als „Ausdruck der brasilianischen Zeitgenossen-
schaft“ wahrgenommen (Paiva 2011, 56). In einem Aufsatz über Max
Bills Rolle für die konkrete Kunst schreibt der deutsche Kunsthistoriker
Markus Zehentbauer dem Künstler durch seine exzellenten kommuni-
kativen Fähigkeiten die Verankerung des Begriffs konkrete Kunst in der
Kunstgeschichte zu.
      Eine solche Kontinuität der Moderne [die Weiterentwicklung der Bauhaus-Idee]
      konnte nur jemand wie Bill vermitteln, und vielleicht war das auch seine bedeu-
      tendste, entscheidendste Rolle innerhalb der Konkreten Kunst: die des Vermittlers
      (Zehentbauer 2012, 47).

38    Paiva zitiert aus einem Brief Max Bills an Wolfgang Pfeiffer vom 8.12.1951.

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Diese von Bill propagierte Kontinuität der künstlerischen Moderne fiel
im Brasilien der 1950er Jahre auf fruchtbaren Boden und fügte sich
sehr gut in die Diskurslandschaft um Modernisierung und Fortschritts-
glauben ein, von dem Brasilien in jenem Jahrzehnt erfasst wurde.
     Max Bill besuchte Brasilien auch persönlich, jedoch erst 1953, als
er vom brasilianischen Außenministerium eingeladen wurde, eine Reihe
von Vorträgen zu halten39. Dieses Mal wurde im Vorfeld seines Besuches
ausführlich über ihn und sein Schaffen in den Tageszeitungen in Rio und
São Paulo berichtet, sodass die Erwartungen an seinen Besuch relativ
hoch waren (García 2010, 150–52). Dennoch löste er schließlich erneut
kontroverse Debatten in Brasilien aus, die davon zeugen, wie sowohl Bill
als auch seine brasilianischen Kritiker und Kritisierten von unterschied-
lichen Rahmenbedingungen bzw. Konstituierungen der Moderne in Bra-
silien ausgingen.40 Der Vortrag in São Paulo, in dem Bill über Architektur
sprach, erlangte in Brasilien große Berühmtheit, da er die brasilianische
moderne Bauweise stark kritisierte. Bills Kritik an der brasilianischen
Architektur hatte auch deshalb einen so enormen Nachhall gefunden,
weil er seine Ansichten in einem Interview für die Zeitschrift Manchete
wiedergab, das später auch in der international zirkulierenden Zeitschrift
Architectural Review (1954) gedruckt wurde. Bill warf den Bauten von
Oscar Niemeyer, dem Stararchitekten der Moderne in Brasilien, fehlen-
de soziale Funktion vor. Seine Gebäude seien nicht an den kollektiven
Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet, sondern an einem „übertriebe-
nen Individualismus“, der sich in unnützen Bauelementen zeige und in
einer Art „exzessiven Barockismus“ münde, der „weder zur Architektur
noch zur Skulptur“ gehöre (Varela 2012, 521). Dass später gerade der
Neobarock als spezifisch lateinamerikanische Bauweise der Moderne
gewertet wurde, konnte Bill zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen. Die
modernen Gebäude, die Bill in São Paulo gesehen hatte, zeigten für ihn

39   Ursprünglich sollte und wollte Bill bereits zum Aufbau seiner Retrospektive 1951
     anreisen, war aber durch den Aufbau der Hochschule für Gestaltung in Ulm so
     eingebunden, dass er davon absah.
40   Dies formuliert Angela Lammert bereits in ihrem Aufsatz (2010) zu Max Bill und
     der Moderne in Brasilien als Frage („Um welchen Modernebegriff [wird] ange-
     sichts der Globalisierung gerungen?“, 56).

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„das ende der modernen architektur“ und „völlige anarchie“ an (Andreas
und Niemeyer 2003, 118). In dem Satz, mit dem seine Rede berühmt
wurde, benutzte er ausgerechnet eine Allegorie, die symbolisch für die
Tropen steht, um seinen Schrecken über die brasilianische moderne Ar-
chitektur zum Ausdruck zu bringen: „das ist der urwald im bauwesen im
schlimmsten sinne“ (2003, 118). Es mag ironisch klingen, den Urwald
als Sinnbild für Chaos und Anarchie in einer Metropole wie São Paulo
anzuführen, einem Ort, der vom „Urwald“ umgeben ist – jener Vege-
tation also, die in der europäischen Imagination eng mit dem Bild der
Tropen verbunden ist. Obwohl seine Kritik darauf abzielte, dass eine „zu
akademische“ (Andreas und Niemeyer 2003, 116/117), also zu direkte
Adaption von Le Corbusiers architektonischen Ideen in den brasiliani-
schen Bauwerken erfolgt sei, ohne dass eine Anpassung an die brasilia-
nischen landschaftlichen Gegebenheiten vorgenommen wurde, verfehlte
sie damit jedoch gerade die gesellschaftliche Realität des Landes. Denn
„die konservative brasilianische Moderne“, so schreibt die brasilianische
Kunsthistorikerin Sônia Salzstein, hielt „einen sicheren Abstand zu den
entfesselten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Kräften, die auf
den Spuren der bürgerlichen, aufgeklärten und republikanischen Tradi-
tion die europäische Moderne im 18. Jahrhundert vorwärtsgebracht hat-
ten“ (Salzstein 2010, 50). Das Wirtschaftswunder in Deutschland hatte in
den 1950er Jahren begonnen, eine breite Mittelschicht hervorzubringen,
die kaufkräftig war und für die modernes Industriedesign in Form von
Massenware zugänglich war. Dazu gehörte auch eine soziale Architek-
tur, die Bill in seinem Vortrag in São Paulo propagierte. In Brasilien hin-
gegen war die Kluft zwischen den Ärmsten und Reichsten so groß wie
an kaum einem anderen Ort. Modernes Industriedesign war nur einer
kleinen Elite zugänglich und die moderne Architektur richtete sich an
dieser Gesellschaftsschicht aus. Ein nicht geringer Teil der städtischen
Bevölkerung lebte stattdessen in Favelas (Elendsvierteln)41. Besonders
pointiert ist diese Kluft fotografisch von Tomaz Farkas beim Bau der

41    1950 lebten bereits 7% der Bevölkerung Rio de Janeiros in Favelas, diese Zahl
      hat sich bis 2010 sogar mehr als verdoppelt (22%). Die Zahlen stammen aus einer
      Studie von 2010 des Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE). Eine
      Favela zeichnet sich vor allem durch unzureichende sanitäre Versorgung und den

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neuen Hauptstadt Brasília dokumentiert worden (Derenthal und Titan
2013), die die ärmlichen Lebensbedingungen in den Baracken der Bau-
arbeiter im Kontrast zu den modernen Gebäuden des Architekten Lucio
Costas zeigt, an deren Konstruktion sie arbeiteten. Bills Unverständ-
nis der sozialen Bedingungen in Brasilien wird beispielsweise auch in
seiner Kritik an der an einigen Gebäuden verwendeten Wandmalereien
(berühmter meist modernistischer brasilianischer Künstler) deutlich. Er
behauptete, diese hätten heute ihre „narrative Funktion“ verloren, da es
nun „andere Medien“ gäbe – wie beispielsweise „Zeitungen, Zeitschrif-
ten und Kino“, um soziale und moralische Werte zu vermitteln (Matoso
Macedo 2000). Bill hatte dabei sicher nicht daran gedacht, dass die An-
alphabeten-Rate in Brasilien um ein vielfaches höher lag als in Europa42.
Und letztendlich lässt sich Bills Kritik an der brasilianischen Architektur
auch als indirekte Kritik an Le Corbusier lesen, dessen radikale Verbin-
dung von Kunst und Architektur er nicht teilte (García 2010, 159).
     Diese Kritik führte schließlich dazu, dass man ihn aus der Jury der
2. Biennale im Bereich Architektur, zu der man ihn zunächst eingeladen
hatte, wieder ausschloss und in der Jury für Malerei einsetzen wollte.
Bill war jedoch auch kein Unterstützer der Konkreten Kunst, die er bis-
her in Brasilien zu Gesicht bekommen hatte. Stattdessen fand er Gefal-
len an den modernistischen Bildern von Cândido Portinari, die nur allzu
gut das europäische Imaginarium der Tropen befruchteten. Er erklärte
nun, dass Portinari wesentlich bedeutender für die Kunst sei, als er vor
seiner Reise angenommen hatte (Varela 2012, 528).
     In seinen Vorträgen am Museu de Arte Moderna in Rio sprach Bill
über die Funktion des Künstlers in der Gesellschaft, den schöpferischen
Prozess in der Konkreten Kunst anhand seiner eigenen Werkbeispiele
sowie über das Bauhaus und die neue Hochschule für Gestaltung (HfG)
in Ulm, an deren Konzeption er wesentlich mit beteiligt war. Die Hoch-
schule war alles andere als unbekannt in den brasilianischen Metropolen.

     Nicht-Anschluss ans städtisch finanzierte Verkehrsnetz aus, sowie durch rechtlich
     unklare oder prekäre Eigentumsverhältnisse.
42   1950 betrug die Analphabeten-Quote in Brasilien noch 50,5 %, 1960 war sie auf
     39,7 % gesunken (gemessen bei über Fünfzehnjährigen), Ministerio de Educação
     (2000, 6).

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Bereits im Jahr 1951 war eine Schülerin aus Brasilien (Mary Vieira)
nach Ulm gegangen, um dort zu studieren. Nach Bills Besuch in Brasili-
en begannen auch Almir Mavignier und Alexandre Wollner ein Studium
an der HfG in Ulm. Während Viera und Mavignier bis heute in Europa
leben, kehrte Wollner als einziger nach dem Studium nach Brasilien zu-
rück. Er hatte sich verpflichtet, in Rio an der Eröffnung einer Hochschu-
le für Industriedesign nach dem Ulmer Modell mitzuarbeiten. Obwohl
das Projekt eine Reihe internationaler Unterstützer hatte (Tomás Maldo-
nado und Otl Aicher reisten extra an, Karl-Heinz Bergmiller war bereits
im Land), traf es in Brasilien auf starken Widerstand (Wollner 2005,
50–52). Wollner setzte sich vehement gegen die Aufnahme der Vermitt-
lung traditionellen Kunsthandwerks indigenen Ursprungs ein, das er für
rückständig hielt (Bachmann 2011). Mit diesem Handeln wird deutlich,
dass die Grenzen zwischen Populärkultur und Hochkunst in Brasilien
ganz anders gelagert sind als in Europa, wo sich das Industriedesign erst
als kulturell hochwertig beweisen musste. Industriedesign wurde in Bra-
silien stattdessen zum visuellen Ausdruck von Zivilisation und Moderne
umgewertet und in die entsprechenden dichotomen Diskursformationen
eingespeist, wie auch der deutsche Philosoph und Linguist Max Bense
beobachtete, der in den 1950er Jahren mehrere Gastaufenthalte in Bra-
silien verbrachte und eine enge Beziehung zu den konkreten Künstlern
und Dichtern der beiden Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro
unterhielt.
      Design als ein zwischen technischer Konstruktivität, künstlerischer Konzeption
      und industrieller Fertigung vermittelnder Modus äußerer Weltgestaltung bedeutet
      für die brasilianische Intelligenz einen wesentlichen Teil der Vorstellung von der
      zukünftigen Zivilisation. Indem Design Zukunft suggeriert, verabschiedet es Ver-
      gangenheit.[…] Design wird methodisch und intuitiv verallgemeinert und erreicht
      den Umfang des Begriffs Zivilisation. (Bense 1965, 22)

An dieser Stelle soll kurz erwähnt werden, dass, obwohl brasilianische
Künstler bereits vorher mit geometrischer Abstraktion experimentier-
ten, die Ideologie der Konkreten Kunst vor Bills Retrospektive 1951 in
Brasilien praktisch unbekannt war. Bill wurde in den wenigen Kritiken
rund um die Ausstellung sowohl mit den Futuristen und Marinetti in

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Verbindung gebracht als auch als „direkter Nachkomme Malevitchs“
bezeichnet, der fälschlicherweise als führender Künstler der konstruk-
tiven Kunst in der Schweiz seit 1915 dargestellt wurde43 (Paiva 2011,
9; 18). Die Verbreitung konkreten Ideenguts ist also in großen Teilen
durchaus Max Bill zuzuschreiben. Allerdings war seine Rezeption in
São Paulo weitaus nachhaltiger als in Rio de Janeiro und die Basis,
auf die diese Ideen trafen unterschied sich so von der in Europa, dass
die Bewertungskategorien von Populär- und Hochkultur, wie eben be-
schrieben wurde, ausgehebelt werden.
     Sowohl die Biennale als auch die Retrospektive Max Bills fanden
in São Paulo statt. Bill hatte zwar Ambitionen, die Ausstellung auch
nach Rio zu transferieren (und sogar nach Argentinien), diese scheiter-
ten aber am bürokratischen Aufwand. Das MAM-RJ zeigte eine einzige
Skulptur Max Bills (Metallkonstruktion, 1937) auf der Eröffnungsaus-
stellung des Museums 1958. Zwar hatte das MAM-RJ nach der Akqui-
sition der Dreiteiligen Einheit durch das MAM-SP auch zwei von Bills
Skulpturen gekauft44 (Paiva 2011, 54; Bonet 2010, 11), aber von einer
so breiten Präsentation von Bills Werken wie in São Paulo kann nicht
die Rede sein. Das rechtfertigt die stärkere Orientierung der Gruppe
konkret arbeitender Künstler Ruptura in São Paulo an Max Bills Ide-
engut. Die Ruptura-Gruppe stellte sich noch 1960 in Bills Tradition,
als sie ihn den einführenden Text im Katalog zu einer Retrospektive
Konkreter Kunst im MAM-Rio schreiben ließ45. Zu diesem Zeitpunkt
existierte in Rio bereits der Neokonkretismus, in dem die beteiligten
Künstler Bills Erbe offen kritisierten.
     Wie stark die Künstler der Frente-Gruppe in Rio tatsächlich von
Bills Ideen Gebrauch machten, ist allerdings nicht abschließend ge-
klärt. Aussagen der Künstler selbst widersprechen sich zum Teil.

43   Der Zeitungsartikel, der die frappante Fehlinformation verbreitete, basierte an-
     geblich auf einem Interview mit Pietro Maria Bardi, der das mit Sicherheit besser
     gewusst hat.
44   Die damalige Direktorin des MAM-RJ, Niomar Moniz Sodré, reiste dafür 1952
     eigens nach Zürich.
45   „Afirmações sobre a arte concreta“, Exposição de Arte Concreta: retrospectiva
     1951–1959. Unter anderem waren Werke von Waldemar Cordeiro, Kázmer Fejér,
     Judith Lauand, Maurício Nogueira Lima und Luiz Sacilotto zu sehen.

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Beispielsweise erklärte Franz Weissmann, später einer der Mitbegrün-
der des Neokonkretismus, dass er seine Skulptur Cubo Vazado (1951)
(Abb. 2) ohne Wissen über bzw. von Max Bill entworfen hatte.46 Die
Arbeit gilt heute als eine der ersten konstruktivistischen Skulpturen in
Brasilien, wurde jedoch auf der 1. Biennale in São Paulo von der Jury
zurückgewiesen. Dennoch widersprach er sich, als er zu einem späteren
Zeitpunkt erklärte, er hätte Bills Arbeiten sehr gemocht und sich von
ihnen zum Cubo Vazado inspirieren lassen (Pinakotheke 2011, 217).
Die Künstlerin Lygia Pape, die Bill 1953 auch persönlich traf, gab an,
dass die Mitglieder der Frente-Gruppe sich durchaus mit Bills Texten
auseinandersetzten (Morais 1984). Offenbar war die Bill-Rezeption in
Rio weitaus textlastiger als in São Paulo, wo man mehr Möglichkeiten
hatte, seine Werke zu begutachten. Der erste Text von Max Bill wur-
de 1951 im Zuge seiner Retrospektive in der Zeitschrift Habitat publi-
ziert („Schönheit aus Funktion und als Funktion“47). Dennoch blieb die
Anzahl der Texte Bills, die in Brasilien publiziert wurden, erstaunlich
gering. Die meisten wurden bereits in den 1940er Jahren zuerst in Ar-
gentinien verlegt. Texte und Abbildungen seiner Werke erschienen in
den wichtigsten Zeitschriften, die sich mit konstruktivistischer Kunst in
Buenos Aires auseinandersetzten48. Auch die Monographie (Max Bill,
1955), die ursprünglich in São Paulo im Zuge der Bill-Retrospektive
erscheinen sollte, wurde schließlich von dem Künstler Tomás Maldona-
do in der Zeitschrift Nueva Visión in Buenos Aires publiziert.

46    Interview mit Weissmann in Gávea, Revista de Historia da Arte e Arquitetura,
      Vol. 14, Nr. 14, September 1996. Nachdruck in: Weissmann, Ohtake und Paixão
      (2008): Franz Weissmann, São Paulo: Instituto Tomie Ohtake, 199.
47    Dieser Aufsatz wurde erstmals 1949 auf Deutsch in der Zeitschrift Das Werk
      (Heft 8, 272–274) gedruckt.
48    Arte Madi Universal, verlegt von Gyula Kosice, Ciclo von Aldo Pellegrini, Ver y
      Estimar von Jorge Romero Brest, Contemporánea von Juan Jacobo Bajarlía und
      Nueva Visión von Tomás Maldonado (Vgl. Bonet 2010, 12).

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Abb. 2: Franz Weissmann, Cubo vazado, 1951. Goldenes Metall, 45 x 45 x 45 cm
         (Quelle: Pinakoteke Rio de Janeiro 2011, 155).

Neueste Forschungsansätze aus Lateinamerika richten nun ihren Fokus
darauf, die Bedeutung von Max Bills Lateinamerika-Erfahrung (vor-
nehmlich Brasilien und Argentinien) für die Entwicklung des Künstlers
zu untersuchen (García 2009a, 2009a, 2008, 2010) und damit gewisser-
maßen die Perspektive umzudrehen bzw. diese „Auslassungen“ der „ge-
nerellen Geschichten der modernen Kunst“ zu beheben (García 2009a,
209). Es ist tatsächlich auffällig, dass seine Präsenz in Brasilien und Ar-
gentinien sowohl persönlich als auch die seiner Werke und Texte in Mo-
nographien über Max Bill weitgehend unbeachtet bleibt (García 2009a,
210)49. Dabei eröffnete sich in diesen Ländern für Bill ein Aktionsraum,
der in diesem Maße in Europa für seine Ideen zum gleichen Zeitpunkt
nicht vorhanden war. Im Gegensatz zum abstrakten Expressionismus ver-
fügte die Schweizer konkrete Kunst über wenig Popularität im europäi-
schen künstlerischen Panorama der Nachkriegszeit (2009a, 209). Auch
die generelle Abwesenheit Schweizer Konkreter Kunst auf den frühen

49   Anker (1979); Bill, Buchsteiner und Ackermann (2005), Bill, Alviani und Fast
     (2008). Eine rezente Ausnahme bildet der Katalog der Max Bill-Ausstellung in
     Madrid 2015, in dem ein Text von García auf Bills Präsenz in Brasilien und Ar-
     gentinien eingeht, Toledo (2015).

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São-Paulo-Biennalen zeugt davon. Die argentinische Kunsthistorikerin
María Amalia García nennt diesen Umstand als zentralen Grund für das
Auslassen von Bills Präsenz in Lateinamerika in europäischen Publika-
tionen. Dem brasilianischen Kunstkritiker Mário Pedrosa war schon in
den 1950er Jahren aufgefallen, dass in Europa und den USA die konkrete
Kunst wenig Beachtung fand und stattdessen entgegengesetzte Tenden-
zen populär wurden (Pedrosa 1975a, 26). Daher warnte er auch vor einer
zu orthodoxen Rezeption Max Bills und der Schweizer Konkreten Kunst
in Brasilien (ibid.).
     Die von Max Bill organisierte breite Retrospektive konkreter Kunst
1960 in Zürich Konkrete Kunst. 50 Jahre Entwicklung, zu der er auch
einige Werke brasilianischer Künstler50 in die Stadt holte, wird heute
als kulturpolitische Strategie seitens Bill betrachtet, um die Dynamik
und Aktualität der Konkreten Kunst gegenüber anderen künstlerischen
Tendenzen zu beweisen (Neubauer 2009).
      Concrete Art was now becoming extinct. The group that Bill brought together was
      so fractured that it was almost impossible to reconstruct the coherence to which
      the idea of Concrete art aspired (García 2009b, 66).

Bereits der Einleitungstext der Ausstellung von Max Bill weist eine
stark defensive Haltung auf und setzt die Ausstellung explizit von der
Dokumenta 1955 in Kassel ab (Bill 1960, 8). Obwohl Bill sein Konzept
der Konkreten Kunst für diese Ausstellung sehr stark erweiterte und
öffnete, sodass er sogar die Malerei Jackson Pollocks (Lammert 2010,
65) und verschiedene Magazine und Manifeste (u. a. das Manifest der
Futuristen) darin unterbringen konnte, sind die neuesten Tendenzen
aus Rio de Janeiro, also der Neokonkretismus, nicht präsent (Neubauer
2009). Zwar sind einige der Künstler, die sich dem Neokonkretismus
zuwandten, mit Werken vertreten, jedoch wurden solche ausgewählt,
die in ihrer materiellen Präsenz noch nicht eindeutig neokonkreten

50    Insgesamt umfasste die Ausstellung 168 Werke, die zwischen 1910 und 1960 ent-
      standen sind. Aus Brasilien waren Arbeiten von Waldemar Cordeiro, Alexandre
      Wollner, Mary Viera, Almir Mavignier, Franz Weissmann, Hércules Barsotti, Dé-
      cio Vieira, Amilcar und Willys de Castro, Hélio Oiticica, Lygia Pape und Lygia
      Clark zu sehen.

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Gestaltungsprinzipien folgten.51 Zudem war auch das Neokonkrete Ma-
nifest, das bereits 1959 entstanden war, nicht in der Ausstellung präsent.
Der Schweizer Kunsthistorikerin und Kuratorin Susanne Neubauer zu-
folge lag diese Auslassung allerdings auch daran, dass das Manifest
„gegen jede Art von ‚konkret-rationalistischer‘ Kunst“ geschrieben
war und damit auch gegen Max Bills Konzeption von konkreter Kunst
(2009).
     In diesem Kapitel ist zunächst die überhöhte Darstellung der Rol-
le Max Bills für die Entwicklung der Konkreten Kunst in Brasilien
weitgehend widerlegt worden. Dabei ist der Fokus sowohl auf die Re-
trospektive Bills 1951 in São Paulo und deren Rezeption in Brasilien
gerichtet worden als auch auf die Prämierung der Dreiteiligen Einheit
auf der ersten Biennale in São Paulo. Demgegenüber ist Bills zentra-
le Bedeutung als Vermittler der von ihm erweiterten Bauhaus-Lehre,
seines Ideenguts zur konkreten Kunst und der Konzeption moderner
Industriedesign-Ausbildung (nach dem Vorbild der HfG Ulm) hervor-
gehoben worden, ebenso wie seine Bedeutung im Aushandlungsprozess
verschiedener Konzeptionen von Moderne. Zuletzt wurde auf Bills La-
teinamerika-Erfahrungen im Kontext der europäischen künstlerischen
Tendenzen hingewiesen und auf die Auslassung der neuesten Entwick-
lungen in Brasilien, der neokonkreten Kunst, in seiner breit angeleg-
ten Ausstellung Konkrete Kunst. 50 Jahre Entwicklung 1960 in Zü-
rich. Inwiefern sich die neokonkreten Künstler von Max Bill absetzten
und welche anderen Künstler und theoretischen Strömungen auf diese
Entwicklung Einfluss hatten, soll im nächsten Unterkapitel erläutert
werden.

51   Von Franz Weissmann war eine der wenigen Skulpturen zu sehen. Entgegen den
     charakteristischen neokonkreten Skulpturen, die keinen Sockel oder Untergrund
     mehr hatten, besitzt diese Skulptur jedoch noch eine Platte als Basis. Von Lygia
     Pape war ein Holztafeldruck zu sehen (Xilographie, 1959), Lygia Clark war durch
     ein Contra-Relevo (Nr. 7, 1960) repräsentiert und Hélio Oiticica durch ein Bild
     der Gelben Serie (Nr. 3, 1959). Weder waren Werke der Serie der Bilaterais noch
     der Relevos Espacias von Oiticica zu sehen, die bereits ganz eindeutig neokon-
     krete Prämissen umsetzen. Von Lygia Clark vermisst man vor allem Werke aus der
     Serie der Bichos, die sie ab 1960 begann.

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