II. Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer

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II.    Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer
                                                                                            Heilweisen

                                                                                     Homöopathie und Klerus. Zur Geschichte einer besonderen
                                                                                     Beziehung
                                                                                     Michael Stolberg

                                                                                     Summary
Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 07.06.2022 um 23:48 Uhr

                                                                                     Homeopathy and the Clergy: The Portrait of a Relationship
                                                                                     This study traces the attraction that 19th century homeopathy exerted on clergymen of all
                                                                                     three major Christian denominations, an appeal which is evidenced by the extensive ho-
                                                                                     meopathic activities of clerical healers and missionaries. Practical considerations, such as
                                                                                     the relatively easy acquisition of basic therapeutic skills, combined with and reinforced
                                                                                     philosophical and religious preferences for a healing system that stressed the unique prop-
                                                                                     erties of the body and the spiritual force of healing and remedies. The use of homeopathy
                                                                                     enabled the clergy, as professional experts in the realm of the supernatural and immaterial,
                                                                                     to refute the prevailing “mechanistic" and “materialistic" trends in contemporary academic
                                                                                     medicine. Accordingly, some of the clergy arrived at striking syncretisms, supplementing
                                                                                     homeopathy with sympathetic or religious healing methods.

                                                                                     Über Jahrhunderte hinweg stand die abendländische Geistlichkeit zur Heil-
                                                                                     kunde in einem besonders engen Verhältnis. So spielten die Klöster lange
                                                                                     Zeit eine wichtige Rolle als Träger und Vermittler der antiken medizini-
                                                                                     schen Tradition und waren oft auch in der medizinischen Versorgung der
                                                                                     umliegenden Bevölkerung tätig. Und obschon im Mittelalter Konzilien und
                                                                                     Synoden dem heilkundlichen Wirken Geistlicher gewisse Grenzen zu setzen
                                                                                     suchten, blieb die Tradition einer klerikalen Medizin auch in den folgenden
                                                                                     Jahrhunderten nahezu ungebrochen. Noch im 19. Jahrhundert sorgten sich
                                                                                     viele gewöhnliche Pfarrer neben dem spirituellen auch um das leibliche
                                                                                     Wohl ihrer Gemeinde, und mit dem Exorzismus verfügten insbesondere die
                                                                                     katholischen Geistlichen sogar über ein exklusives Heilritual von eindring-
                                                                                     licher Dramatik.1
                                                                                     Mit der wachsenden Professionalisierung des Ärztestandes und der Auswei-
                                                                                     tung der offiziellen Gesundheitsversorgung im Europa des 18. und 19.
                                                                                     Jahrhunderts kritisierten die Ärzte die pastoralmedizinischen Aktivitäten der
                                                                                     Geistlichen zwar zunehmend als Kurpfuscherei. Außerhalb der größeren
                                                                                     Städte griffen jedoch selbst die Obrigkeiten immer wieder gerne auf die Hil-
                                                                                     fe des Klerus zurück, denn daß die Geistlichen »den wesentlichsten Einfluß,
                                                                                     besonders auf dem Lande, auf den Gebrauch der Aerzte und der Arzneimit-

                                                                                     1     Zur Geschichte der Pastoralmedizin vgl. Delaunay (1948); Assion (1978); Pompey (1980);
                                                                                           zu den exorzistischen Aktivitäten auch mancher protestantischer Geistlicher vgl. Jütte:
                                                                                           Geschichte (1996), S. 78-90.

                                                                                     MedGG 17  1998, S. 131-148
                                                                                      Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart

                                                                                                                              Franz Steiner Verlag
132                                                                       Michael Stolberg

                                                                                     tel« hatten, war weithin unbestritten.2 So bediente man sich auch in der
                                                                                     Durchsetzung der Schutzpockenimpfung gerne ihrer Unterstützung oder
                                                                                     anläßlich der großen Choleraepidemien des 19. Jahrhunderts, als es darum
                                                                                     ging, überall eine möglichst rasche medikamentöse Versorgung der Opfer
                                                                                     zu gewährleisten und Assanierungsbemühungen voranzutreiben.
                                                                                     Über die Quellen, aus denen die Geistlichen früher ihr heilkundliches Wis-
                                                                                     sen bezogen, und über ihre medizinischen Überzeugungen wissen wir we-
                                                                                     nig. Manche mögen sich gängiger medizinischer Handbücher oder popu-
                                                                                     lärmedizinischer Darstellungen bedient haben. Andere scheinen medizini-
                                                                                     sche oder, im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, spezielle pastoralme-
                                                                                     dizinische Vorlesungen gehört zu haben.3 Zweifellos entsprachen ihre me-
Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 07.06.2022 um 23:48 Uhr

                                                                                     dizinischen Vorstellungen somit oft grob jenen der zeitgenössischen akade-
                                                                                     misch-ärztlichen Medizin. »Volksmedizinische« und volksfromme Konzep-
                                                                                     te und Heilverfahren spielten daneben aber ebenfalls eine beachtliche Rolle,
                                                                                     und manche Klöster waren berühmt für ihre Geheimmittel.
                                                                                     Im 19. Jahrhundert kam mit der Homöopathie ein Heilverfahren hinzu, das
                                                                                     gerade auf manche Geistliche eine ganz besondere Anziehungskraft ausübte.
                                                                                     Eine auffällige Nähe von Homöopathie und Geistlichkeit ist schon in der
                                                                                     Anfangszeit der Homöopathie erkennbar. Führende Vertreter der frühen
                                                                                     Homöopathie wie G. W. Groß, Moritz Müller, Rudolf Windelband, Ernst
                                                                                     Stapf, G. W. Sorge und W. E. Wislicenus kamen aus Pfarrersfamilien. Eini-
                                                                                     ge hatten sogar zunächst Theologie studiert - E. F. Rückert, C. G. Karl und
                                                                                     Joseph Buchner zum Beispiel.4 Auch in der Leipziger Klientel Samuel
                                                                                     Hahnemanns finden sich auffällig viele Pastoren und Theologiestudenten.5
                                                                                     Als Antragsteller und Redner spielten Abgeordnete aus dem geistlichen
                                                                                     Stand zuweilen sogar eine führende Rolle in den diversen Landtagsdebatten
                                                                                     über die Homöopathie. Gegen die wissenschaftliche Autorität »allopathi-
                                                                                     scher Ärzte« verteidigten sie hier das Recht der Homöopathen auf Selbst-
                                                                                     dispensierung und forderten homöopathische Lehrstühle oder Krankenhäu-
                                                                                     ser.6 Geistliche wirkten zudem als Multiplikatoren entscheidend an der
                                                                                     Verbreitung der Homöopathie unter der Bevölkerung mit.7 Eine beachtli-

                                                                                     2     Kampf (1834), S. 23, Redebeitrag des Abgeordneten Herr.
                                                                                     3     Vgl. Pompey (1980), S. 119-122, mit einer Aufstellung derartiger Vorlesungen zwischen
                                                                                           1780 und 1876.
                                                                                     4     Vgl. den biographischen Teil in Tischner (1939), S. 768-807.
                                                                                     5     Genneper (1991), S. 12-14; Jütte: Patientenschaft (1996), S. 35f.
                                                                                     6     Verhandlungen ([1844]), S. 35-38, Redebeiträge der Abgeordneten Dekane Götz und
                                                                                           Böckh; Verhandlungen: Beilagen ([1852]), S. 6-8, Antrag des Pfarrers Wolfsteiner vom
                                                                                           7.12.1851; Verhandlungen: Berichte ([1852]), Bd. 3, S. 9 und Bd. 4, S. 231-233 und S.
                                                                                           237, Redebeiträge Wolfsteiners; Kampf (1834), zur Debatte über den Antrag des Pfarrers
                                                                                           Herr.
                                                                                     7     Jütte: Patientenschaft (1996), S. 36.

                                                                                                                              Franz Steiner Verlag
Homöopathie und Klerus                                                            133

                                                                                     che Zahl von Geistlichen praktizierte die Homöopathie persönlich,8 ja,
                                                                                     schon Zeitgenossen betonten, die Homöopathie werde »wie allgemein be-
                                                                                     kannt ist, mit besonderer Vorliebe von den Geistlichen gepflegt.«9
                                                                                     Auf den ersten Blick könnte man dabei vermuten, daß die Homöopathie
                                                                                     primär protestantische und insbesondere pietistische Kreise anzog. Die
                                                                                     meisten Homöopathen der ersten Generation waren Protestanten. Sachsen
                                                                                     und Württemberg, die geographischen Schwerpunkte der frühen Homöopa-
                                                                                     thie, und die Vereinigten Staaten, in denen sie sich später überaus erfolg-
                                                                                     reich ausbreiten und institutionalisieren konnte,10 waren stark protestantisch
                                                                                     geprägt, und auch in England fand die Homöopathie großen Anklang.11
                                                                                     Für Württemberg konnte Eberhard Wolff konkret eine auffällige geographi-
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                                                                                     sche Übereinstimmung zwischen den Zentren der Laienhomöopathie und
                                                                                     jenen des Pietismus nachweisen, die er in der Vermittlerrolle des pietisti-
                                                                                     schen Klerus begründet sieht.12
                                                                                     Bei näherer Betrachtung finden sich Hinweise auf eine besondere Nähe der
                                                                                     Geistlichen zur Homöopathie freilich nicht nur für den protestantischen
                                                                                     Bereich. Auch im vorwiegend katholischen Frankreich erwies sich der Kle-
                                                                                     rus als eine wichtige Stütze der Homöopathie.13 Der große französische
                                                                                     homöopathische Kongress in Bordeaux 1854 beispielsweise wurde von ho-
                                                                                     hen kirchlichen Würdenträgern ebenso besucht, wie von nahezu allen
                                                                                     Geistlichen der umliegenden Pfarreien.14 Im päpstlichen Rom fand in der
                                                                                     Zeit der Cholera der Vorschlag des Kanonikus Canali, ein eigenes homöo-
                                                                                     pathisches Krankenhaus einzurichten, die überwältigende Zustimmung der
                                                                                     zuständigen, mit geistlichen Würdenträgern besetzten Kommission. Mon-
                                                                                     signore Gioja, Komtur des Heilig-Geist-Ordens, regte sogar homöopathi-
                                                                                     sche Therapieversuche im großen Krankenhaus S. Spirito an.15 In Öster-
                                                                                     reich predigte J. E. Veith in der Cholerazeit die Homöopathie von der Kan-

                                                                                     8   Ein pastoralmedizinisches Handbuch der Zeit empfahl den Geistlichen neben der
                                                                                         herkömmlichen Medizin ausdrücklich auch die homöopathische Heilmethode: (Valenti
                                                                                         (1831), S. 105-110, »Von dem Verhältniß des Seelsorgers zur Homöopathie, und zu den
                                                                                         homöopathischen Aerzten«; der Autor war Arzt und bestritt ausdrücklich, selbst ein
                                                                                         »Homöopathiker« zu sein.
                                                                                     9   Majer (1880), S. 361.
                                                                                     10 Vgl. Kaufman (1971); Rogers (1996).
                                                                                     11 Vgl. den Überblick bei Nicholls (1988).
                                                                                     12 Wolff (1992), S. 207.
                                                                                     13 Faure (1996).
                                                                                     14 Catellan (1863), S. 195.
                                                                                     15 Bericht von Canali, vermutlich aus der Zeit um 1840, ohne nähere Angaben zitiert in
                                                                                        Negro (1988), S. 159-171; das Krankenhausprojekt kam nach massivem ärztlichem
                                                                                        Protest und dem skandalumwitterten Tod eines homöopathisch behandelten
                                                                                        Choleraopfers nicht mehr rechtzeitig vor Epidemieende zustande.

                                                                                                                           Franz Steiner Verlag
134                                                                      Michael Stolberg

                                                                                     zel des Stephansdoms und behandelte persönlich Choleraopfer.16 Auch in
                                                                                     Chile soll der Bischof von Concepciòn persönlich als einflußreicher Propa-
                                                                                     gandist der Homöopathie gewirkt haben.17
                                                                                     Für das Königreich Bayern mit seiner gleichfalls überwiegend katholischen
                                                                                     Bevölkerung sind die engen Beziehungen zwischen Klerus und Homöopa-
                                                                                     thie besonders gut dokumentiert.18 Franz Seraph Widnmann, der ehemalige
                                                                                     Leibarzt des Fürstbischofs von Eichstätt, Josef Reubel und Joseph Buchner,
                                                                                     die führenden Köpfe der Homöopathie im Königreich, hatten alle zunächst
                                                                                     Theologie studiert. Buchner hatte sogar die niederen Weihen empfangen.
                                                                                     Joseph Lindner, der Vorsitzende des ersten bayerischen homöopathischen
                                                                                     Vereins, war Stadtpfarrer in Erbendorf. Geistliche zählten auch zu den
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                                                                                     wichtigsten Fürsprechern der Homöopathie im bayerischen Landtag,19 und
                                                                                     in den Unterschriftenlisten, mit denen die bayerischen Homöopathen ihren
                                                                                     Gesuchen an die Regierung Nachdruck verliehen, bilden Geistliche wieder-
                                                                                     holt die stärkste Gruppe.20
                                                                                     Unter den homöopathischen Laienbehandlern in Bayern, die im ausgehen-
                                                                                     den 19. Jahrhundert nach Einführung der Kurierfreiheit alljährlich in einer
                                                                                     amtlichen »Kurpfuscher«-Statistik erfaßt wurden, stellten die Geistlichen
                                                                                     gleichfalls das größte Kontingent.21 45 geistlichen Laienhomöopathen stan-
                                                                                     den Ende 1873 insgesamt nur 24 homöopathisierende Laienbehandler aus
                                                                                     anderen Berufen gegenüber.22 Zahlenmäßig und mehr noch in ihrer geo-
                                                                                     graphischen Verteilung übertrafen die geistlichen Laienhomöopathen damit
                                                                                     selbst die homöopathischen Ärzte.23 Dabei erfaßte diese Zahl noch nicht
                                                                                     einmal alle homöopathisierenden Geistlichen, denn die Kreisbehörden

                                                                                     16 Drexler/Bayr (1996), S. 80; Veith hatte auch eine ärztliche Ausbildung.
                                                                                     17 Catellan (1863), S. 294.
                                                                                     18 Zu den bayerischen Entwicklungen insgesamt vgl. Stolberg (1996) und Stolberg:
                                                                                        Homöopathie (1999).
                                                                                     19 Verhandlungen ([1844]), S. 35-38, Verhandlungen: Beilagen ([1852]), S. 6-8; Ver-
                                                                                        handlungen: Berichte ([1852]), Bd. 3, S. 9 und Bd. 4, S. 231-233 und S. 237.
                                                                                     20 HStAM MInn 61965 und MInn 61966, z. B. Unterschriftenliste zu einem Gesuch von
                                                                                        Franz A. Ott vom August 1848; die Konfession der Geistlichen ist teilweise nicht sicher
                                                                                        auszumachen.
                                                                                     21 Ausführlich hierzu Stolberg: Alternative medicine (1999). Schon früher hatten die
                                                                                        Medizinalbehörden beklagt, daß »Geistliche theils mit homöopathischer Pfuscherei sich
                                                                                        viel beschäftigen, theils Morison’sche und Redlinger’sche Pillen [...] als Universalmittel
                                                                                        anpreisen und anwenden«, siehe Majer (1872), S. 106.
                                                                                     22 HStAM MInn 61355, 1874. Die Angaben beruhen auf einer regelmäßigen Befragung der
                                                                                        Ärzte in den einzelnen Gerichtsbezirken. Hinzu kamen 17 homöopathisierende Bader
                                                                                        und Wundärzte.
                                                                                     23 Die Zahl der homöopathischen Ärzte läßt sich anhand der zeitgenössischen homöo-
                                                                                        pathischen Adreßbücher und der Nennungen in der zeitgenössischen homöopathischen
                                                                                        Publizistik sowie in den Archivalien auf etwa 35 schätzen.

                                                                                                                          Franz Steiner Verlag
Homöopathie und Klerus                                                        135

                                                                                     mahnten teilweise, es sollten nur die »gewohnheits- und gewerbsmäßigen«
                                                                                     Pfuscher gemeldet werden. Die Berichte aus manchen Bezirken erwähnen
                                                                                     denn auch beiläufig das Wirken einiger weiterer geistlicher Laienbehandler,
                                                                                     ohne diese in der Statistik ausdrücklich aufzuführen.
                                                                                     Die Konfessionszugehörigkeit ist nur teilweise überliefert, doch sollen selbst
                                                                                     in den gemischt-konfessionellen Gebieten Bayerns »verhältnismässig mehr
                                                                                     die katholischen« Geistlichen eine Vorliebe für die Homöopathie gezeigt
                                                                                     haben.24 Auch Ordensgeistliche waren darunter, so der Dillinger Kapuzi-
                                                                                     nerpater Domenikus und der Franziskanerprior Aemilian in Dingolfing, der
                                                                                     die Homöopathie auch bei Viehkrankheiten anwandte.25
                                                                                     Während die Zahl der Laienhomöopathen in den folgenden Jahren zu-
Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 07.06.2022 um 23:48 Uhr

                                                                                     nächst noch deutlich anstieg, blieb die Zahl der gemeldeten geistlichen
                                                                                     Laienhomöopathen zunächst ziemlich konstant und ging schließlich in den
                                                                                     1880er und 1890er Jahren rascher und deutlicher zurück als die der übrigen
                                                                                     Laienhomöopathen und der »Kurpfuscher« insgesamt. 1886 waren unter
                                                                                     112 Laienhomöopathen nur noch 27 Geistliche.26 Der Grund dürfte jedoch
                                                                                     nicht in einem schwindenden Interesse der Geistlichen liegen, sondern in
                                                                                     den massiven Disziplinarmaßnahmen der kirchlichen Behörden. Deren
                                                                                     Wirksamkeit wurde von den ärztlichen Berichterstattern wiederholt aus-
                                                                                     drücklich gewürdigt, und man staunte über die Beharrlichkeit der Geistli-
                                                                                     chen, die dennoch weiter praktizierten oder sich mancherorts gar an Zahl
                                                                                     vermehrten.27
                                                                                     Die Praxen der geistlichen Laienbehandler müssen teilweise recht umfang-
                                                                                     reich gewesen sein. 1600 Gulden will der unterfränkische Pfarrer Eckert
                                                                                     binnen eines halben Jahres mit seiner heilkundlichen Praxis verdient und
                                                                                     vom Erlös eine hübsche Kapelle errichtet haben; das jährliche Gehalt eines
                                                                                     Gerichtsarztes betrug 600 Gulden.28 In Niederbayern konnten die Geistli-
                                                                                     chen angeblich »durch Ausübung der Homöopathie manchen ihnen miß-
                                                                                     liebigen Arzt brach legen.«29 Auch in anderen Gegenden wird immer wie-
                                                                                     der ausdrücklich die »ausgedehnte« Praxis einzelner geistlicher Homöopat-
                                                                                     hen, der »große«, ja »ungeheure« Zulauf zu ihnen hervorgehoben.30

                                                                                     24 Majer (1875), S. 505.
                                                                                     25 HStAM MInn 61355, Verzeichnisse für Niederbayern und für Schwaben/Neuburg 1877.
                                                                                     26 Nach HStAM MInn 61358.
                                                                                     27 Beispielsweise HStAM MInn 61355, Niederbayern 1877; HStAM MInn 61358, Pfalz
                                                                                        1886.
                                                                                     28 HStAM MInn 61355, Unterfranken 1874.
                                                                                     29 HStAM MInn 61355, Begleitschreiben der Regierung von Niederbayern vom 30.3.1874;
                                                                                        Schwaben 1873, zu vier Pfarrern im schwäbischen Krumbach.
                                                                                     30 So etwa im Falle des Eichstätter Domvikars Weizenhofer und des Osterwarngauer
                                                                                        Priesters Max Schenk (HStAM MInn 61355, Verzeichnisse für Mittelfranken 1873 und
                                                                                        für Oberbayern 1878).

                                                                                                                        Franz Steiner Verlag
136                                                                      Michael Stolberg

                                                                                     Im östlichen Europa scheint die orthodoxe Geistlichkeit für die Ausbreitung
                                                                                     der Homöopathie im Zarenreich nicht minder zentral gewesen zu sein. Von
                                                                                     Hunderten von homöopathisierenden Geistlichen allein in den Provinzen
                                                                                     Ufa, Orenburg und Viatka ist im zeitgenössischen Schrifttum die Rede.
                                                                                     Von den drei homöopathischen Apotheken in St. Petersburg sollen mehr
                                                                                     als tausend orthodoxe Geistliche homöopathische Mittel bezogen haben.
                                                                                     Selbst die öffentliche Gesundheitsversorgung bediente sich homöopathisie-
                                                                                     render Geistlicher, um der ländlichen Bevölkerung eine besonders kosten-
                                                                                     günstige Behandlung zuteil werden zu lassen.31

                                                                                     Eine sanfte Alternative
Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 07.06.2022 um 23:48 Uhr

                                                                                     An diesem Punkt stellt sich natürlich die Frage nach den Gründen für diese
                                                                                     auffällige Anziehungskraft der Homöopathie auf die Geistlichen. Hält man
                                                                                     sich an die vereinzelt überlieferten Äußerungen der Geistlichen, so stößt
                                                                                     man zunächst auf ihre feste Überzeugung von der überlegenen Wirksamkeit
                                                                                     der homöopathischen Mittel. Mochten sich die Vertreter der offiziellen Me-
                                                                                     dizin auch auf Hunderten von Seiten über die theoretische Inkonsistenz, ja
                                                                                     Absurdität der Homöopathie auslassen: man hatte erlebt, wie sich selbst
                                                                                     scheinbar aussichtslose Fälle unter homöopathischer Behandlung besserten.
                                                                                     So verwies der katholische Pfarrer Franz Josef Herr aus Baden-Baden zu-
                                                                                     vörderst auf das, »was ich, ärztlicher Hülfe bedürftig, selbst erfahren habe«,
                                                                                     um vor dem badischen Landtag seine Unterstützung für die Homöopathie
                                                                                     zu begründen.32 »Thatsachen machen auf mich einen sehr tiefen Eindruck«,
                                                                                     erklärte 1843 im gleichen Sinne der evangelische Dekan Christian Friedrich
                                                                                     Böckh aus Schwabach vor dem bayerischen Landtag.33 Daß die Homöopa-
                                                                                     thie »Ausserordentliches zu leisten vermöge«, bestätigte auch Dekan Götz.34
                                                                                     Für den Pfarrer Wolfsteiner war nun einmal derjenige der beste Arzt, der
                                                                                     am erfolgreichsten heile. Jede Wissenschaft, so meinte er unter Hinweis auf
                                                                                     seine langjährigen seelsorgerischen Erfahrungen mit Ärzten aller Schulen,
                                                                                     müsse es sich gefallen lassen, »von dieser ihrer praktischen Seite sich von
                                                                                     solchen, die außer ihr stehen, beurtheilen zu lassen«.35 Daß die Besserung
                                                                                     des Krankheitsbildes auf einem bloß zufälligen Zusammentreffen beruhen
                                                                                     sollte, wie die »allopathischen« Gegner behaupteten, war für homöopathie-
                                                                                     begeisterte Laien nicht nachvollziehbar.
                                                                                     Der Glaube an die überlegene Wirksamkeit der Homöopathie verband sich
                                                                                     bei deren Anhängern allgemein mit der Wertschätzung der Sanftheit ho-

                                                                                     31 Kotok (1997).
                                                                                     32 Kampf (1834), S. 25.
                                                                                     33 Verhandlungen ([1844]), S. 36.
                                                                                     34 Verhandlungen [(1844)], S. 35; er führte dies allerdings eher auf ihre Unschädlichkeit und
                                                                                        die Wirkung der strengen homöopathischen Diät zurück.
                                                                                     35 Verhandlungen: Berichte ([1852]), Bd. 4, S. 231.

                                                                                                                          Franz Steiner Verlag
Homöopathie und Klerus                                                               137

                                                                                     möopathischer Mittel und des Verzichts auf jene drastischen, insbesondere
                                                                                     entleerenden und mit entsprechenden Nebenwirkungen verbundenen Mittel
                                                                                     der »allopathischen« Medizin, wie sie viele andere zeitgenössische Kranke
                                                                                     nach wie vor ausdrücklich erwarteten.36 Die Homöopathie wurde offenbar
                                                                                     dem Erleben einer besonderen körperlichen und seelischen Sensibilität ge-
                                                                                     recht, das unter den Mittel- und Oberschichten seit dem 18. Jahrhundert
                                                                                     zunehmendes Gewicht erlangt hatte.37 Sie war, wie es in den bayerischen
                                                                                     Landtagsdebatten hieß, »auf dem Principe der Mässigkeit gegründet«.
                                                                                     Durch die homöopathische Behandlung werde »der menschlichen Natur
                                                                                     nicht so schnell die Kraft benommen, ihr Recht zu behaupten«. Es sei eine
                                                                                     Therapie, die »den Körper schont«.38 Kein Wunder also »daß man sich
                                                                                     lieber zu dem Arzte wendet, der den Kranken mit den Plackereien, welche
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                                                                                     die Allopathie anwendet, verschont, als zu demjenigen, der sie dem Kran-
                                                                                     ken bereitet, daß man viel lieber zu der kleinen Dosis ohne üblen Ge-
                                                                                     schmack greift, als zu jener, die mit großen, massenhaften, mit widerlichs-
                                                                                     tem Geschmack versehenen Arzneien kurirt.«39
                                                                                     Inwieweit die eben genannten Faktoren auf die Geistlichen eine stärkere
                                                                                     Wirkung entfalteten als auf die bürgerlichen Mittelschichten insgesamt, de-
                                                                                     ren Kultur und Lebensstil viele von ihnen mehr oder minder teilten, ist al-
                                                                                     lerdings schwer auszumachen. Die Geschichte des wohl erfolgreichsten neu-
                                                                                     en »alternativen« Heilverfahrens des ausgehenden 19. Jahrhunderts legt
                                                                                     immerhin eine besondere Neigung der Geistlichen zu einem sanften Um-
                                                                                     gang mit dem Körper nahe: das Kneipp-Verfahren wurde nicht nur von
                                                                                     einem Geistlichen, dem Pfarrer Sebastian Kneipp in Wörishofen, begrün-
                                                                                     det. Es entwickelte sich, zeitgenössischen Berichten zufolge, neben der Ho-
                                                                                     möopathie auch bald zum bevorzugten Heilverfahren geistlicher Laienbe-
                                                                                     handler, und auch die Naturheilkunde soll, wenigstens in Bayern, Geistliche
                                                                                     in besonderem Maße angezogen haben.40
                                                                                     Vermutlich kam zudem die Notwendigkeit einer genauen und beständigen
                                                                                     Selbstbeobachtung und einer strengen Diät, wie sie die homöopathische
                                                                                     Behandlung erforderte, einer gerade unter den protestantischen, pietisti-
                                                                                     schen Geistlichen verbreiteten Tendenz zur Introspektion und starken
                                                                                     Selbstkontrolle entgegen.

                                                                                     36 Stolberg (1986), S. 93-96.
                                                                                     37 Ähnlich auch Wolff (1989), S. 125.
                                                                                     38 Verhandlungen ([1838]), S. 315, Redebeitrag des Abgeordneten Jordan; Verhandlungen
                                                                                        ([1850]), S. 495, Redebeitrag des Abgeordneten Dr. Sepp.
                                                                                     39 Verhandlungen ([1851)], S. 391, Redebeitrag des ehemaligen Präsidenten des Isarkreises
                                                                                        und Mitglieds des katholischen Eos-Kreises, von Seinsheim.
                                                                                     40 General-Bericht (1901), S. 310; General-Bericht (1912), S. 225; als weiteres, nach 1900
                                                                                        recht populäres »alternatives« Heilverfahren, das von einem Geistlichen begründet und
                                                                                        erfolgreich verbreitet wurde, wäre die Lehmtherapie des Pastors Leopold Emanuel Felke
                                                                                        zu nennen, vgl. Regin (1995), S. 68f.

                                                                                                                             Franz Steiner Verlag
138                                                                 Michael Stolberg

                                                                                     Für sich allein genommen können diese Faktoren jedoch die besondere Nä-
                                                                                     he von Homöopathie und Geistlichkeit nur zum Teil erklären. Zwei wesent-
                                                                                     liche weitere Faktoren kamen hinzu: die besondere Eignung der Homöopa-
                                                                                     thie für die pastoralmedizinische (und missionarische) Laienpraxis und ihre
                                                                                     enge Verbindung mit bestimmten, für den Klerus insgesamt oder für Teile
                                                                                     desselben attraktiven weltanschaulichen Positionen.

                                                                                     Homöopathie und Pastoralmedizin
                                                                                     Für die heilkundliche Praxis, wie sie nicht wenige Geistliche in der eingangs
                                                                                     erwähnten Tradition einer pastoralmedizinischen Sorge auch um das leibli-
                                                                                     che Wohl ihrer Gemeinde pflegten, bot die Homöopathie unübersehbare
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                                                                                     Vorzüge. Wenn auch viele ärztliche Homöopathen dies bestreiten moch-
                                                                                     ten,41 so galt das homöopathische Heilverfahren doch als vergleichsweise
                                                                                     einfach und leicht erlernbar.42 Die Homöopathie verzichtete erklärtermaßen
                                                                                     auf jene komplizierten pathologischen und pathophysiologischen Modelle,
                                                                                     mit denen sich der gewöhnliche Medizinstudent vertraut machen mußte.
                                                                                     Und man mußte nicht unbedingt ein jahrelanges Studium hinter sich brin-
                                                                                     gen, um mit Hilfe der einschlägigen Listen aus der homöopathischen
                                                                                     Selbsthilfeliteratur, den Symptomen der Kranken die geeigneten homöopa-
                                                                                     thischen Mittel zuzuordnen. In einem nur 12tägigen Kurs bildete beispiels-
                                                                                     weise 1844 der französische Homöopath Perrussel 22 Schwestern des Drit-
                                                                                     ten Ordens im Konvent von Moulins aus. Anschließend wurden sie, jeweils
                                                                                     mit einer kleinen homöopathischen Apotheke ausgestattet, aufs Land ge-
                                                                                     schickt, wo sie in Gemeinden, in denen es keinen Arzt gab, die Kranken
                                                                                     homöopathisch versorgen sollten.43
                                                                                     Die Homöopathie eröffnete zudem die Möglichkeit, sich von den offiziellen
                                                                                     Apotheken unabhängig zu machen, die ihre Arzneien teilweise ohnehin nur
                                                                                     auf ärztliches Rezept abgeben durften. Da im Gegensatz zur »allopathi-
                                                                                     schen« Behandlung nur verhältnismäßig kleine Mengen der Grundsubstanz
                                                                                     benötigt wurden, konnte man ziemlich problemlos den Grundstock für
                                                                                     ganze Apotheken auf dem Postweg verschicken. Hahnemann wurde hier
                                                                                     schon in den 1830er Jahren vermittelnd tätig.44 Um 1850 klagten die baye-
                                                                                     rischen Behörden dann bereits über den »lukrativen Arzneihandel«, den die

                                                                                     41 Osterrieder (1837), Einleitung.
                                                                                     42 So beispielsweise Pfarrer Herr in Kampf (1834), S. 25.
                                                                                     43 Geoffroy (1995), S. 39.
                                                                                     44 So ließ Hahnemann 1832 unter anderem dem Baron de las Cases in Paris und über
                                                                                        diesen auch dem berühmten französischen Kliniker Broussais je eine Medikamentenkiste
                                                                                        zukom-men. Las Cases zufolge wollte Broussais damit zusammen mit seinen Schülern
                                                                                        homöo-pathische Heilversuche anstellen (HA, Bestand B 331337, Brief von Las Cases
                                                                                        vom 10.10.1832 mit dem Entwurf des Antwortschreibens von Hahnemann). Der Medika-
                                                                                        mentenkasten wurde, Hahnemann zufolge, von dem Apotheker Lappe in Neudietendorf
                                                                                        bei Erfurt zusammengestellt; s. a. Jütte (1998), S. 86, Anmerkung 45.

                                                                                                                          Franz Steiner Verlag
Homöopathie und Klerus                                                             139

                                                                                     Homöopathen nicht nur bei ihren eigenen Kranken, sondern auch »durch
                                                                                     Verschikung [sic] kleiner homöopathischer Handapotheken nach auswärts«
                                                                                     trieben.45 In den 1870er und 1880er Jahren hieß es von diversen Geistlichen
                                                                                     ausdrücklich, sie gäben Mittel aus einer Hausapotheke ab. Zwar war die
                                                                                     Abgabe oder der Verkauf von Arzneien durch Laien in der Regel verboten,
                                                                                     doch waren Verstöße gerade auf dem Land schwer nachweisbar. Von den
                                                                                     beiden schwäbischen Pfarrern Drummer und Stahl hieß es beispielsweise,
                                                                                     sie würden »durch die reservirte Haltung der Bevölkerung so sicher ge-
                                                                                     deckt«, daß man bisher kein brauchbares Beweismaterial gegen sie habe
                                                                                     sammeln können.46 Die weltlichen Behörden scheinen zudem mit drasti-
                                                                                     schen Sanktionen gegen geistliche Laienbehandler vorsichtig gewesen zu
                                                                                     sein. Offenbar zogen sie es vielfach vor, die Betreffenden an deren kirchli-
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                                                                                     che Vorgesetzte zu melden und setzten auf die Wirkung von Disziplinar-
                                                                                     maßnahmen. Jedenfalls wurden die geistlichen Homöopathen in Bayern
                                                                                     nur vereinzelt von weltlichen Gerichten als »Kurpfuscher« beziehungsweise
                                                                                     wegen verbotener Medikamentenabgabe verurteilt.47
                                                                                     Verlangten die Geistlichen, wie vielfach beklagt, Geld für ihre Hilfe und
                                                                                     ihre Mittel, so konnten sie daraus zudem einen nicht unerheblichen und
                                                                                     zumal in schlecht ausgestatteten Pfarreien höchst willkommenen Zuver-
                                                                                     dienst erzielen. Immerhin verlautete von anderen, nicht-geistlichen Laien-
                                                                                     behandlern, sie könnten ausschließlich von ihrer Medizin leben oder wür-
                                                                                     den gar zu reichen Männern.48 Manche Geistliche ließen sich auch »mit
                                                                                     Naturalien abfinden« oder »durch Victualien entschädigen«.49 Auch im
                                                                                     Zarenreich wurde der Verkauf der homöopathischen Mittel als eine will-
                                                                                     kommene zusätzliche Verdienstquelle für die Geistlichen geschildert.50
                                                                                     Gaben die Geistlichen ihre Mittel andererseits gänzlich kostenlos an die
                                                                                     Kranken ab, so konnten sie ihre Stellung in der Gemeinde festigen, bei-
                                                                                     spielhaft christliche Nächstenliebe vorleben oder den heilbringenden Cha-

                                                                                     45 HStAM MInn 61966, unsignierter Aktenvermerk vom 10.3.1852 zu einer Bittschrift der
                                                                                        Homöopathen vom 25.2.1852.
                                                                                     46 HStAM MInn 61357, Oberfranken 1882.
                                                                                     47 MInn 61355-61361; so mußte Pfarrer Kinz im schwäbischen Bezirk Zusmarshausen
                                                                                        wegen der Abgabe homöopathischer Mittel vier Taler Strafe zahlen (HStAM MInn
                                                                                        61355, Schwaben 1873); in zahlreichen Fällen wird dagegen auf Bestrafungen von
                                                                                        anderen Laienbehandlern und pfuschenden Badern verwiesen, vor allem wegen
                                                                                        verbotener Arzneimittelabgabe.
                                                                                     48 Konkrete Preise sind leider nicht überliefert. Nur von dem Günzburger Pfarrer Müller
                                                                                        hieß es, er verlange für jedes Gläschen homöopathischer Medizin 15 kr oder 43 Pfennig
                                                                                        (HStAM MInn 61356, Schwaben und Neuburg 1878).
                                                                                     49 HStAM MInn 61358, Schwaben 1887, Eintragung über den katholischen Pfarrer J.
                                                                                        Wachter; HStAM MInn 61355, Unterfranken und Aschaffenburg 1877, Eintragung über
                                                                                        den protestantischen Pfarrer und Distriktschulinspektor Volkart.
                                                                                     50 Kotok (1997).

                                                                                                                          Franz Steiner Verlag
140                                                                     Michael Stolberg

                                                                                     rakter von Kirche und Religion ganz konkret unter Beweis stellen. Insbe-
                                                                                     sondere für die Mission besaß die Homöopathie deshalb wesentliche Vor-
                                                                                     züge. Die Ausbildungszeit war kurz, die Mittel billig und leicht transporta-
                                                                                     bel, die Gefahr behandlungsbedingter Komplikationen gering, und gleich-
                                                                                     zeitig konnten die Geistlichen gegenüber den Anders- oder Ungläubigen
                                                                                     mit günstigen Krankheitsverläufen die Überlegenheit ihrer Lehre und die
                                                                                     Güte und Allmacht ihres Gottes überzeugender und eindringlicher unter
                                                                                     Beweis stellen als durch manche Predigt. Homöopathiebegeisterte Zeitge-
                                                                                     nossen schrieben der Homöopathie sogar eine ähnliche Bedeutung für die
                                                                                     Mission zu, wie sie die exakten Naturwissenschaften für die Missionierung
                                                                                     Chinas gehabt hätten.51 Den zum Missionar bestimmten Johann D. Steines-
                                                                                     tel schickte die Basler Mission schon um 1830 zu einem Homöopathen in
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                                                                                     Ausbildung.52 Missionare trugen entscheidend dazu bei, die Homöopathie
                                                                                     in Südindien zu verbreiten.53 Aber auch katholische Missionare bedienten
                                                                                     sich ihrer. So wurde am Jesuitenkonvent in Rom um 1840 der Nachwuchs
                                                                                     in der homöopathischen Krankenbehandlung unterrichtet, ehe man ihn zur
                                                                                     Mission in ferne Länder schickte.54 Einer dieser Missionare berichtete später
                                                                                     von dem großen Nutzen, den er aus seinen so erworbenen homöopathi-
                                                                                     schen Fertigkeiten im Libanon gezogen habe.55 Im russischen Zarenreich
                                                                                     soll die praktische homöopathische Krankenbehandlung wiederum die Mis-
                                                                                     sionierung Sibiriens durch die orthodoxe russische Kirche wirksam voran-
                                                                                     getrieben haben.56

                                                                                     Die Homöopathie als Weltanschauung
                                                                                     Schließlich stand die Homöopathie auf einer grundsätzlichen Ebene für
                                                                                     bestimmte weltanschaulich-philosophische und zuweilen auch politische
                                                                                     Positionen, die sie selbst jenen Geistlichen sympathisch machen konnte, die
                                                                                     der Frage ihrer praktischen Anwendbarkeit oder Überlegenheit womöglich
                                                                                     eher gleichgültig gegenüber standen.57 Hier scheint zunächst die Betonung
                                                                                     der individuellen, spezifischen Heilkräfte der Arzneien eine wichtige Rolle
                                                                                     gespielt zu haben, die schon Samuel Hahnemann wiederholt ausdrücklich

                                                                                     51 Rapou (1847), S. 95, Bericht über den amerikanischen Missionar und Redemptoristen
                                                                                        Pater Bayer.
                                                                                     52 Häcker-Strobusch (1996), S. 138-140.
                                                                                     53 Jütte: Großmacht (1996).
                                                                                     54 Bericht des Kanonikus Canali, zit. in Negro (1988), S. 163f.
                                                                                     55 Negro (1988), S. 163f.; s. a. Rapou (1847), S. 95, zu dem ebenfalls homöopathisch tätigen
                                                                                        jesuitischen Missionar Chazel aus der Diözese Lyon.
                                                                                     56 Kotok (1997).
                                                                                     57 Mittelbar kommt dies selbst in der abschätzigen Kritik der Gegner zum Ausdruck, wenn
                                                                                        man den Erfolg der Homöopathie unter den Landgeistlichen damit erklärte, daß »dieses
                                                                                        seichte Heilsystem« deren »Bildungsstufe und Weltanschauung« ganz und gar entspreche
                                                                                        (BSB Cgm 6874/182, medizinische Topographie von Vilshofen).

                                                                                                                          Franz Steiner Verlag
Homöopathie und Klerus                                                                    141

                                                                                     auf die göttliche Vorsehung zurückgeführt hatte.58 Die Krankenheilungen
                                                                                     der Homöopathen gerieten damit zur Bestätigung göttlicher Gnade. Sie
                                                                                     führten die wundervollen Kräfte vor Augen, die Gott zum Wohle des Men-
                                                                                     schen den natürlichen Dingen eingegeben hatte. Die Krankheitsbehandlung
                                                                                     nach dem »contraria«-Prinzip, das den Körper und seine Säfte ohne Rück-
                                                                                     sicht auf spezifische Wirkkräfte in geradezu mechanistischer Weise in seinen
                                                                                     ursprünglichen gesunden Zustand zurückversetzen wollte, mußte aus dieser
                                                                                     Perspektive unerträglich reduktionistisch, wenn nicht gar blasphemisch
                                                                                     anmuten.59
                                                                                     In enger Beziehung zu solchen Vorstellungen von gottgegebenen, letztlich
                                                                                     okkulten und nur aus ihren Wirkungen erkennbaren Heilkräften stand die
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                                                                                     homöopathische Wertschätzung für das Geistige, Immaterielle in der Welt.
                                                                                     Gegen die verbreitete Tendenz zum »Mechanischen« in der herrschenden
                                                                                     Medizin gerichtet, kam sie in der homöopathischen Lehre der Entstehung
                                                                                     der Krankheiten durch eine Störung oder Schädigung der Lebenskräfte
                                                                                     ebenso zum Ausdruck wie in der Behandlung mit stark verdünnten Arz-
                                                                                     neimitteln und in der Potenzenlehre. Die Frage des Vorrangs von Geist (o-
                                                                                     der Kraft) und Materie war ein zentraler Streitpunkt nicht nur in der dama-
                                                                                     ligen Medizin, sondern in den zeitgenössischen politischen und weltan-
                                                                                     schaulichen Debatten überhaupt. Hier standen Grundpositionen zur Dis-
                                                                                     kussion. Vor allem im Blick auf die starken Verdünnungen der homöopa-
                                                                                     thischen Mittel bezichtigten die Gegner die Homöopathen des Irrationalis-
                                                                                     mus, des »Mystizismus«, der Therapie mit »bloßen Gedankendingen«, mit
                                                                                     dem »Abendroth eines vergangenen Etwas«, einem »im Nichtseyn noch
                                                                                     fortwürkende[n] Seyn.«60 Für die Homöopathen wiederum neigte die her-
                                                                                     kömmliche Medizin ihrer Natur nach »immer zum Mechanischen« und
                                                                                     war nicht in der Lage, das Wesen der Person angemessen zu begreifen.61
                                                                                     Diese Nähe der Homöopathie zu idealistischen Positionen eines Primats des
                                                                                     Geistigen war auch ein Hauptgrund für die enge Beziehung zwischen der
                                                                                     Homöopathie und den »Neuen Kirchen« der Swedenborgianer, besonders
                                                                                     in den Vereinigten Staaten und England.62 In Frankreich finden sich wiede-
                                                                                     rum Hinweise auf eine besondere Nähe der Homöopathie nicht nur zur
                                                                                     katholischen Kirche, sondern auch zum Saint-Simonismus. Dessen Vertre-
                                                                                     tern war es ein zentrales Anliegen, das Materielle und das Geistige unter

                                                                                     58 Schmidt (1990), S. 164-169.
                                                                                     59 Freilich gab es auch in der sogenannten »allopathischen« Medizin eine lange Tradition
                                                                                        der Behandlung mit Spezifika, die nicht dem »contraria«-Prinzip folgten, und die
                                                                                        Vorstellung der Medizin als einem göttlichen Geschenk.
                                                                                     60 Von Hoven (1835), S. 200 (der Brief ist fälschlich auf 1825 statt 1826 datiert); Eisenmann
                                                                                        (1836), S. 6 und S. 42f.
                                                                                     61 Buchner (1857), S. 6.
                                                                                     62 Campbell (1984), S. 90-85; Nicholls (1988), S. 263-266; Fuloler (1989), S. 24f. und S. 55f.;
                                                                                        Rogers (1996); s. a. Faure (1996), S. 61.

                                                                                                                             Franz Steiner Verlag
142                                                              Michael Stolberg

                                                                                     dem Primat des Letzteren um ein neues Christentum auszusöhnen.63 »Fast
                                                                                     nie widmen sich materialistisch denkende Aerzte der Homöopathie«, mein-
                                                                                     te auch in Deutschland F. Karl Gerster, ein guter Kenner der homöopathi-
                                                                                     schen Szene. Meist seien es vielmehr »feiner empfindende, zum Psychismus
                                                                                     oder Spiritualismus neigende Männer, die zu ihren meist materialistisch
                                                                                     denkenden allopath. Collegen in schroffem Gegensatz stehen.« Und die
                                                                                     spezielle Anziehungskraft der Homöopathie auf den Klerus (wie auch auf
                                                                                     den Adel) sah er insbesondere darin begründet, daß man dort »dem Mate-
                                                                                     rialismus und Rationalismus am meisten abhold« sei.64
                                                                                     Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die Heilverfah-
                                                                                     ren, die manche Geistliche mit der Homöopathie verbanden. Diese zielten
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                                                                                     nämlich meist noch stärker auf das geistige, spirituelle Element im Krank-
                                                                                     heitsgeschehen oder suchten geistige, spirituelle Kräfte in Dienst zu nehmen.
                                                                                     Pfarrer Lindner, immerhin Vorsitzender des »Homöopathischen Vereins
                                                                                     für Bayern«, soll beispielsweise neben der Homöopathie auch das soge-
                                                                                     nannte »An-« oder »Wegblasen« von Zahnweh praktiziert haben. Von dem
                                                                                     Strahlfelder Hilfsgeistlichen Martin Wittmann hieß es, er betreibe die Ho-
                                                                                     möopathie »sehr ausgedehnt und verstärkt seine Streukügelchen mit Segens-
                                                                                     sprüchen«.65 Mit »Beten und Homöopathie« heilte der oberpfälzische Pfar-
                                                                                     rer Pietl,66 und Pfarrer Franz Anton Stiegeler in Schwaben befaßte sich
                                                                                     gleichermaßen mit homöopathischen Heilversuchen wie mit »Benediciren
                                                                                     und Exorciren« und soll dabei einen »ungeheuren Zulauf« genossen ha-
                                                                                     ben.67 Pfarrer Hasenwehrl im niederbayerischen Bezirk Griesbach wiede-
                                                                                     rum ergänzte sein homöopathisches Arsenal mit Wasser aus Lourdes, und
                                                                                     Pfarrer Eckert bediente sich neben seinen homöopathischen Mitteln auch
                                                                                     »geweihter Gegenstände«.68 Eine ähnliche Synthese von homöopathischer
                                                                                     Therapie und magischen/volksfrommen Heilritualen beschreibt Alexander
                                                                                     Kotok für die heilkundliche Praxis orthodoxer Geistlicher.69 Womöglich
                                                                                     sahen insbesondere katholische und orthodoxe Geistliche in der homöopa-
                                                                                     thischen Krankenbehandlung zugleich auch ihre Kompetenz im Umgang
                                                                                     mit intermediären, spirituellen Gewalten jeglicher Art bestätigt. Noch in der
                                                                                     Spezialisierung des Neuhauser Pfarrers Ignaz Steiger »namentlich« auf die
                                                                                     homöopathische Behandlung »hysterischer weiblicher Personen« werden

                                                                                     63 Faure (1996), S. 52f.
                                                                                     64 Gerster (1892).
                                                                                     65 HStAM MInn 61355, Verzeichnisse für Oberbayern und für Regensburg und Oberpfalz
                                                                                        1873; Majer (1876), Fußnote S. 367.
                                                                                     66 HStAM MInn 61357, Regensburg und Oberpfalz 1882.
                                                                                     67 HStAM MInn 61356, Schwaben und Neuburg 1878; übrigens soll er sich obendrein
                                                                                        auch mit Frauenkrankheiten und Geburtshilfe befaßt haben.
                                                                                     68 HStAM MInn 61356 und 61357, Verzeichnisse für Unterfranken 1879 und Niederbayern
                                                                                        1882.
                                                                                     69 Kotok (1997).

                                                                                                                      Franz Steiner Verlag
Homöopathie und Klerus                                                     143

                                                                                     solche Zusammenhänge ein Stück weit greifbar, zielte er doch auf Krank-
                                                                                     heitsformen, die herkömmlich eher der dämonenaustreibenden Kompetenz
                                                                                     des Geistlichen als der medikamentösen Behandlung des Arztes zufielen.70
                                                                                     Eng verbunden mit der Vorstellung der gottgegebenen Wirksamkeit homö-
                                                                                     opathischer Arzneien war zudem der Glaube, die homöopathische Lehre
                                                                                     selbst sei ein göttliches Geschenk, eine göttliche Botschaft, ja eine göttliche
                                                                                     Eingebung, wie sie, im Gegensatz zu den Vertretern der etablierten Kirchen,
                                                                                     vor allem die Nonkonformisten als Quelle von Wahrheit anerkannten.
                                                                                     Gott, so die zugrundeliegende Vorstellung, hatte trotz seiner Güte zugelas-
                                                                                     sen, daß die Menschen Krankheiten erlitten - vielleicht als Folge der Erb-
                                                                                     sünde oder zur Strafe für gegenwärtige moralische Verfehlungen. Aber er
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                                                                                     wollte den Menschen auch klar und deutlich den Weg zu ihrer Heilung
                                                                                     weisen. Damit rückte die Homöopathie zum einen noch mehr als ohnehin
                                                                                     schon in die Nähe einer religiösen Heilslehre, eine Nähe, wie sie etwa auch
                                                                                     in den quasireligiösen Begriffen eines Bekehrungserlebnisses zum Ausdruck
                                                                                     kam, als das die Hinwendung zur Homöopathie immer wieder beschrieben
                                                                                     wurde.71 Dieser im Wortsinn »evangelikale« Charakter der Homöopathie
                                                                                     als »froher Botschaft« mag freilich mehr für verhinderte Theologen und
                                                                                     »Weltverbesserer« bedeutsam gewesen sein als für Geistliche in Amt und
                                                                                     Würden. Arthur Lutze beispielsweise, einer der bekanntesten und erfolg-
                                                                                     reichsten deutschen Laienhomöopathen, der seinen ursprünglichen
                                                                                     Wunsch, Theologie zu studieren, nicht hatte verwirklichen können, hielt
                                                                                     später in seiner privaten homöopathischen Heilanstalt Gottesdienste ab. In
                                                                                     ihnen trat er selbst mit Prophetenbart als Prediger auf, und gefiel sich, Au-
                                                                                     genzeugen zufolge, »ungemein als Geistlicher«.72 Der streng pietistisch erzo-
                                                                                     gene Laienhomöopath Eugen Wenz, der seine Ausbildung zum Prediger
                                                                                     der Evangelischen Synode Nordamerikas hatte abbrechen müssen, hielt
                                                                                     sich gar für von Gott auserwählt und identifizierte sich mit Christus.73
                                                                                     Zentral für die Bedeutung der Homöopathie auch innerhalb des Klerus o-
                                                                                     der doch jedenfalls in Teilen desselben war, daß der Weg zur homöopathi-
                                                                                     schen Wahrheitserkenntnis nicht über theoretische Spekulation, sondern
                                                                                     über die unmittelbare Beobachtung auf der Basis des Simile-Prinzips führte.
                                                                                     Diese aber war jedem einigermaßen verständigen Laien möglich. So ver-
                                                                                     standen wohnte diesem »göttlichen« Simile-Prinzip eine deutliche anti-
                                                                                     professionelle, anti-hierarchische, nonkonformistische Tendenz inne. Seine
                                                                                     Erkenntnis und Anwendung bedurfte keines esoterischen Wissens und
                                                                                     schon gar nicht der Zugehörigkeit zum privilegierten Ärztestand. Ähnlich
                                                                                     den religiösen Glaubensinhalten war prinzipiell jedermann dieser göttlichen
                                                                                     »Erleuchtung« zugänglich.

                                                                                     70 HStAM MInn 61357, Niederbayern 1882.
                                                                                     71 Vgl. Gijswijt-Hofstra (1997).
                                                                                     72 Streuber (1996).
                                                                                     73 Faltin (1996).

                                                                                                                        Franz Steiner Verlag
144                                                          Michael Stolberg

                                                                                     Vor allem die englischen Entwicklungen werden zum Teil überhaupt erst
                                                                                     vor diesem Hintergrund verständlich. Hier bildeten sich gegen Mitte des 19.
                                                                                     Jahrhunderts zwei große, nationale homöopathische Gesellschaften, die
                                                                                     stark miteinander rivalisierten. Die von Ärzten dominierte und politisch
                                                                                     strukturkonservative, den Whigs nahestehende »British Homoeopathic
                                                                                     Society« zielte auf eine wissenschaftliche Fundierung der Homöopathie
                                                                                     nach dem Modell der herkömmlichen, akademischen Medizin. Organisato-
                                                                                     risch orientierte sie sich am elitären Royal College of Physicians. Heilkunde
                                                                                     und Religion wollten ihre Vertreter streng getrennt wissen. Dieser Gesell-
                                                                                     schaft stand mit einem ausgeprägt antiautoritären, egalitären Anspruch die
                                                                                     von Laien dominierte »English Association of Homoeopathy« gegenüber.
                                                                                     1845 von John Epps gegründet, versammelte sie führende Vertreter des re-
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                                                                                     ligiösen Nonkonformismus. Ihr Widerstand gegen den Monopolanspruch
                                                                                     der etablierten Medizin verband sich mit dem Widerstand gegen die Macht
                                                                                     der anglikanischen Staatskirche und deren Anspruch auf privilegierten Zu-
                                                                                     gang zu den religiösen Wahrheiten. Ihre Mitglieder bevorzugten höhere
                                                                                     Verdünnungen, betonten das geistige, spirituelle Element und wollten die
                                                                                     Wahl des bevorzugten Heilverfahrens — wie die des rechten Glaubens —
                                                                                     dem einzelnen überlassen.74 Selbst progressive, liberale Anglikaner wie der
                                                                                     Erzbischof Richard Whateley tendierten in diese Richtung und unterstütz-
                                                                                     ten die Homöopathie allein schon aus ihrer Ablehnung jeglichen staatlichen
                                                                                     Schutzes überkommener korporativer Privilegien heraus.75
                                                                                     Für den katholischen Bereich lassen sich vergleichbare Zusammenhänge
                                                                                     bisher nicht nachweisen. In Bayern war die Homöopathie vielmehr primär
                                                                                     im konservativ klerikalen Milieu verortet und fand parlamentarische Unter-
                                                                                     stützung vor allem unter den Rechten. Auch der Saint-Simonismus in
                                                                                     Frankreich betonte das hierarchische Prinzip.76

                                                                                     Schluß
                                                                                     Für eine besondere Nähe von Homöopathie und Klerus, so hat dieser kleine
                                                                                     Überblick gezeigt, gibt es vielerlei Indizien, in den Biographien ihrer Prota-
                                                                                     gonisten und in den politischen Auseinandersetzungen mit den »Allopat-
                                                                                     hen« ebenso wie in der laienhomöopathischen, pastoralmedizinischen Pra-
                                                                                     xis und in der Mission. Konfessionelle Differenzen spielten dabei allem An-
                                                                                     schein nach keine überragende Rolle. Die Homöopathie fand bei katholi-
                                                                                     schen, protestantischen und orthodoxen Geistlichen Anklang. Praktische
                                                                                     Gründe, einschließlich der zuweilen recht handfesten finanziellen Interessen
                                                                                     mancher geistlicher Laienhomöopathen, standen neben günstigen persönli-
                                                                                     chen Erfahrungen, erlebt am eigenen Leibe im privaten und beruflichen
                                                                                     Kontakt, der Vorliebe für eine möglichst sanfte, den Körper schonende Be-

                                                                                     74 Rankins (1988).
                                                                                     75 Rankins (1988), Anm. S. 62.
                                                                                     76 Faure (1996), S. 52.

                                                                                                                      Franz Steiner Verlag
Homöopathie und Klerus                                                  145

                                                                                     handlung, aber auch neben weltanschaulichen Präferenzen. Allenfalls dürfte
                                                                                     die homöopathietypische Forderung nach genauer Selbstbeobachtung eher
                                                                                     der ausgeprägt introspektiven und selbstkontrollierenden Haltung mancher
                                                                                     protestantischer Gruppierungen entgegengekommen sein. Die Betonung des
                                                                                     geistigen, immateriellen Wirkprinzips der homöopathischen Arzneien fügte
                                                                                     sich dagegen besonders gut ein in die privilegierte Vermittlerposition, wel-
                                                                                     che vor allem katholischen und orthodoxen Geistlichen im Umgang mit
                                                                                     dem Übernatürlichen zugeschrieben wurde.
                                                                                     Die Bevölkerung scheint sich an dieser Verbindung zwischen geistlichem
                                                                                     Amt und homöopathischen Heilversuchen in keiner Weise gestört zu ha-
                                                                                     ben. Im Gegenteil, es waren gerade die geistlichen Laienhomöopathen, de-
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                                                                                     nen immer wieder ein besonders großer Zulauf zugeschrieben wurde. Of-
                                                                                     fensichtlich bildeten sie aus Sicht der Bevölkerung eine willkommene Berei-
                                                                                     cherung des medizinischen Versorgungsangebots.

                                                                                                                     Franz Steiner Verlag
146                                                                     Michael Stolberg

                                                                                     Bibliographie

                                                                                     Archivalien

                                                                                     Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (HStAM)
                                                                                     MInn 61355
                                                                                     MInn 61356
                                                                                     MInn 61357
                                                                                     MInn 61358      Verzeichnisse derjenigen Personen, welche die Heilkunde
                                                                                     MInn 61359      ausüben, ohne approbirt zu sein (1874-1895)
                                                                                     MInn 61360
                                                                                     MInn 61361
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                                                                                     MInn 61965      Homöopathie
                                                                                     MInn 61966
                                                                                     Bayerische Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung (BSB)
                                                                                     Cgm 6874                 Medizinische Ethno- und Topographien
                                                                                     Hahnemann-Archiv der Robert Bosch Stiftung Stuttgart (HA)
                                                                                     Bestand B 331337        Brief des Barons de Las Cases

                                                                                     Gedruckte Literatur
                                                                                     Assion, Peter: Geistliche und weltliche Heilkunst in Konkurrenz. Zur Interpretation der
                                                                                     Heilslehren in der älteren Medizin- und Mirakelliteratur. In: Bayerisches Jahrbuch für
                                                                                     Volkskunde 1976/77. Volkach 1978, 7-23.
                                                                                     Buchner, Joseph: Galenus und Lycus. Rede gehalten am 10. August in der 29. Versamm-
                                                                                     lung des Centralvereins homöopathischer Ärzte Deutschlands. München 1857.
                                                                                     Campbell, Anthony: The two faces of homoeopathy. London 1984.
                                                                                     Catellan, Frères: Annuaire homoeopathique. Paris 1863.
                                                                                     Delaunay, Paul: La médecine et l’église. Contribution à l’histoire de l’exercice médical par
                                                                                     les clercs. Paris 1948.
                                                                                     Dinges, Martin (Hg.): Homöopathie. Patienten, Heilkundige und Institutionen. Von den
                                                                                     Anfängen bis heute. Heidelberg 1996.
                                                                                     Dinges, Martin (Hg.): Weltgeschichte der Homöopathie. Länder – Schulen – Heilkundige.
                                                                                     München 1996.
                                                                                     Drexler, Leopold; Bayr, Georg: Die wiedergewonnene Ausstrahlung des früheren Vielvöl-
                                                                                     kerstaates: Österreich. In: Dinges, Martin (Hg.): Weltgeschichte, 74-101.
                                                                                     Eisenmann, Gottfried: Die Prüfung der Homöopathie. Erlangen 1836.
                                                                                     Faltin, Thomas: »Kranke Menschen zum Lichte des Lebens zurückführen«. Der Laienheil-
                                                                                     kundige Eugen Wenz (1856-1945) und die Stellung der homöopathischen Laienheiler um
                                                                                     1900. In: Dinges, Martin (Hg.): Homöopathie, 185-209.
                                                                                     Faure, Olivier: Eine zweite Heimat für die Homöopathie: Frankreich. In: Dinges, Martin
                                                                                     (Hg.): Weltgeschichte, 48-73.
                                                                                     Fuller, Robert C.: Alternative medicine and American religious life. New York 1989.
                                                                                     General-Bericht über die Sanitäts-Verwaltung im Königreiche Bayern. Bd. 30, das Jahr
                                                                                     1899 umfassend. München 1901.

                                                                                                                         Franz Steiner Verlag
Homöopathie und Klerus                                                                147

                                                                                     General-Bericht über die Sanitäts-Verwaltung im Königreiche Bayern. Bd. 38, die Jahre
                                                                                     1908, 1909 und 1910 umfassend. München 1912.
                                                                                     Genneper, Thomas: Als Patient bei Samuel Hahnemann. Die Behandlung Friedrich
                                                                                     Wiecks in den Jahren 1815/16. Heidelberg 1991.
                                                                                     Geoffroy, Daniel: 1840. Nantes découvre l’homéopathie. Nantes 1995.
                                                                                     Gerster F. Karl: Der Suggestionismus und die Homöopathie. In: Allgemeine homöopathi-
                                                                                     sche Zeitung 124 (1892), 54-57.
                                                                                     Gijswijt-Hofstra, Marijke: Conversions to homoeopathy in the nineteenth century. The
                                                                                     rationality of medical deviance. In: dies.; Marland, Hilary; de Waardt, Hans (Hg.): Illness
                                                                                     and healing alternatives in Western Europe. London 1997, 161-182.
                                                                                     Häcker-Strobusch, Elisabeth: Johann David Steinestel (1808-1849). Drechsler - Missionar -
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                                                                                     Homöopath: ein Beruf, zwei Berufungen. In: Dinges, Martin (Hg.): Homöopathie, 135-159.
                                                                                     Hoven, F. W. von: Brief vom 5.1.1826. In: Allgemeine Zeitung von und für Bayern 2
                                                                                     (1835), 199f.
                                                                                     Jütte, Robert: Eine späte homöopathische Großmacht: Indien. In: Dinges, Martin (Hg.):
                                                                                     Weltgeschichte der Homöopathie, 355-381.
                                                                                     Jütte, Robert: Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkon-
                                                                                     ventionellen Therapien von heute. München 1996.
                                                                                     Jütte, Robert: Samuel Hahnemanns Patientenschaft. In: Dinges, Martin (Hg.): Homöopa-
                                                                                     thie, 23-44.
                                                                                     Jütte, Robert: The paradox of professionalisation: Homeopathy and hydropathy as unor-
                                                                                     thodoxy in Germany in the 19th and early 20th century. In: Ders.; Risse, Guenther B.;
                                                                                     Woodward, John (Hg.): Culture, knowledge, and healing. Historical perspectives of home-
                                                                                     opathic medicine in Europe and North America. Sheffield 1998, 65-88.
                                                                                     Kampf und Sieg der Homöopathie oder Reinarzneilehre bei den Badischen und Hessen-
                                                                                     darmstädtischen Stände-Versammlungen. Leipzig 1834.
                                                                                     Kaufman, Martin: Homeopathy in America. The rise and fall of a medical heresy. Bal-
                                                                                     timore 1971
                                                                                     Kotok, Alexander: Homoeopathy and the Russian orthodox clergy. Russian homoeopathy
                                                                                     in search of allies in the second part of the 19th and beginning of the 20th centuries. In:
                                                                                     Medizin, Gesellschaft und Geschichte 16 (1997), 171-193.
                                                                                     Majer, Carl: General-Bericht über die Sanitäts-Verwaltung im Königreiche Bayern. Bd. 7,
                                                                                     die Jahre 1868 und 1869 umfassend. München 1872.
                                                                                     Majer, Carl: Statistik der zur Ausübung der Heilkunde in Bayern nicht approbirten Perso-
                                                                                     nen. In: Aerztliches Intelligenz-Blatt 22 (1875), 503-505.
                                                                                     Majer, Carl: Statistik der zur Ausübung der Heilkunde in Bayern nicht approbirten Perso-
                                                                                     nen. In: Aerztliches Intelligenz-Blatt 23 (1876), 365-368.
                                                                                     Majer, Carl: Statistik der zur Ausübung der Heilkunde nicht approbirten Personen. In:
                                                                                     Aerztliches Intelligenz-Blatt. Münchener Medicinische Wochenschrift 27 (1880), 357-361.
                                                                                     Negro, Francesco: Colera e omeopatia. In: ders.; Teodonio, Marcello: Colera, omeopatia
                                                                                     et altre storie. Roma 1837. Rom 1988, 139-174.
                                                                                     Nicholls, Phillip A.: Homoeopathy and the medical profession. London 1988.
                                                                                     Osterrieder, Benedikt: Über die vorzüglichsten Formen der Syphilis und deren allopathi-
                                                                                     sche und homöopathische Behandlung. Diss. med. Augsburg 1837.

                                                                                                                           Franz Steiner Verlag
148                                                                    Michael Stolberg

                                                                                     Pompey, Heinrich: Pastoralmedizin - der Beitrag der Seelsorge zur psycho-physischen
                                                                                     Gesundheit. Eine bibliographisch-historische Analyse. In: Imhof, Arthur E. (Hg.): Mensch
                                                                                     und Gesundheit in der Geschichte. Husum 1980, 115-134.
                                                                                     Rankin, Glynis: Professional organisation and the development of medical knowledge:
                                                                                     Two interpretations of homoeopathy. In: Cooter, Roger (Hg.): Studies in the history of
                                                                                     alternative medicine. Basingstoke 1988, 46-62.
                                                                                     Rapou, Auguste: Histoire de la doctrine médicale homoeopathique. Son état actuel dans
                                                                                     les principales contrées de l’Europe. Bd. 1. Paris 1847.
                                                                                     Regin, Cornelia: Selbsthilfe und Gesundheitspolitik. Die Naturheilbewegung im Kaiser-
                                                                                     reich (1889 bis 1914). Stuttgart 1995.
                                                                                     Rogers, Naomi: Ärzte, Patienten und Homöopathie in den USA. In: Dinges, Martin (Hg.):
Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 07.06.2022 um 23:48 Uhr

                                                                                     Weltgeschichte der Homöopathie, 269-300.
                                                                                     Schmidt, Josef M.: Die philosophischen Vorstellungen Samuel Hahnemanns bei der Be-
                                                                                     gründung der Homöopathie (bis zum Organon der rationellen Heilkunde, 1810). Mün-
                                                                                     chen 1990.
                                                                                     Stolberg, Michael: Heilkunde zwischen Staat und Bevölkerung. Angebot und Annahme
                                                                                     medizinischer Versorgung in Oberfranken im frühen 19. Jahrhundert. Diss. med. Mün-
                                                                                     chen 1986.
                                                                                     Stolberg, Michael: Die Homöopathie im Königreich Bayern. In: Medizin, Gesellschaft und
                                                                                     Geschichte 14 (1996), 173-194.
                                                                                     Stolberg, Michael: Die Homöopathie im Königreich Bayern (1800-1914). Heidelberg 1999
                                                                                     [im Druck].
                                                                                     Stolberg, Michael: Alternative medicine, irregular healers, and the medical market in
                                                                                     19-th-century Bavaria. In: Eklöf, Motzi und Jütte, Robert (Hg.): The history of unconven-
                                                                                     tional medicine. [1999, im Druck]
                                                                                     Streuber, Ingeborg: Ein Macher: Arthur Lutze (1813-1870). »Der Mensch kann, was er will,
                                                                                     doch muß er glauben und vertrauen.« In: Dinges, Martin (Hg.): Homöopathie, 160-184.
                                                                                     Tischner, Rudolf: Geschichte der Homöopathie. Teil 4. Leipzig 1939.
                                                                                     Valenti, Dr. de: Medicina clerica oder: Handbuch der Pastoral-Medizin, für Seelsorger,
                                                                                     Pädagogen und Aerzte; nebst einer Diätetik für Geistliche. Teil 1, Leipzig 1831.
                                                                                     Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten der Ständeversammlung des Königreichs
                                                                                     Bayern im Jahre 1837, Bd. 15. [München 1838]; Verhandlungen der Kammer der Abge-
                                                                                     ordneten der Ständeversammlung des Königreichs Bayern im Jahre 1843, Bd. 18. [Mün-
                                                                                     chen 1844]; Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten der Ständeversammlung des
                                                                                     Königreichs Bayern im Jahre 1849/50, Bd. 6. [München 1850]; Verhandlungen der Kam-
                                                                                     mer der Abgeordneten des bayerischen Landtags im Jahre 1851. Stenographische Berichte.
                                                                                     [München 1852]; Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Land-
                                                                                     tags im Jahre 1851, Beilagen Bd. 4. [München 1852]; Verhandlungen der Kammer der
                                                                                     Reichsräthe des Königreichs Bayern vom Jahre 1850, Bd. 8. [München 1851].
                                                                                     Wolff, Eberhard: Gesundheitsverein und Medikalisierungsprozeß. Der Homöopathische
                                                                                     Verein Heidenheim/Brenz zwischen 1886 und 1945. Tübingen 1989.
                                                                                     Wolff, Eberhard: Le rôle du mouvement des non-médecins dans le développement de
                                                                                     l’homéopathie en Allemagne. In: Faure, Olivier (Hg.): Praticiens, patients et militants de
                                                                                     l’homéopathie aux XIXe et XXe siècles (1800-1940). Lyon 1992, 197-230.

                                                                                                                         Franz Steiner Verlag
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