RUHR TRIENNALE Im Freiraum Kunst - kultur.west
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L SPECIA U H R ALER TRIENN9 Im Freiraum Kunst 201 Drei Fragen an Stefanie Carp Himmelschreiendes Vergnügen Zu Besuch bei der Needcompany in Brüssel Verfemte Komponisten Uli Fussenegger im Gespräch VERLAGSSONDERVERÖFFENTLICHUNG
Inhalt Ruhrtriennale Special 2019 RUHRTRIENNALE 2019 21. AUGUST – 29. SEPTEMBER TICKETS UND INFORMATIONEN WWW.RUHRTRIENNALE.DE T +49 (0) 221 28 02 10 Mo – Fr: 8 – 20 Uhr Sa: 9 – 18 Uhr | So: 10 – 16 Uhr Wieder landet das Flugzeug auf dem Vorplatz der MARTIN AMBARA Jahrhunderthalle Bochum und bietet im Cockpit und Innenraum wie auch draußen unter dem Schutz der HEINER MÜLLER: Flügel als Festivalzentrum Raum für Gespräche und HAMLETMASCHINE Begegnungen. Foto: Daniel Sadrowski / Ruhrtriennale 2018 FR. 6. SEPTEMBER 2019 PREMIERE SA. 7. SEPTEMBER 2019 4 »Die Werte der Freiheitsstatue müssen erst noch eingelöst werden.« Drei Fragen an Intendantin Stefanie Carp 5 Der eine Körper der Vielen Die israelische Choreografin Sharon Eyal und ihre Compagnie L-E-V zeigen »Chapter 3« I M P R E S S U M SONDERVERÖFFENTLICHUNG 6 Hörsaal für verfemte Komponisten DES K-WESTVERLAGS Der Musikalische Leiter Uli Fussenegger über Christoph Dinnendahlstr. 134 | 45136 Essen Geschäftsführung: Dr. Ludger Claßen Marthalers »Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend« zur T.: 0201 / 49 068-14 | F.: 0201 / 49 068-15 Eröffnung der diesjährigen Ruhrtriennale info@kulturwest.de www.kulturwest.de 7 Programm-Empfehlungen IN KOOPERATION MIT DER KULTUR RUHR GMBH 8 »Ich bin der letzte flämische Primitive« Gerard-Mortier-Platz 1 Zu Besuch in Brüssel bei Jan Lauwers und der Needcompany, 44793 Bochum die »All the good« proben V .I.S.D.P. Ludger Claßen 11 Wiederholung und Variation Kornél Mundruczós Musiktheater-Kreation »Evolution« M I T A R B E I T E R D I E S E R A U S G A B E Honke Rambow (hora), Stefanie Stadel (stst), 12 Programm-Empfehlungen Michael Struck-Schloen (mss), Sascha Westphal (saw), Andreas Wilink (awi) 12 »Wir sind alle Gefangene des Unglaublichen« M A R K E T I N G Faustin Linyekula spürt mit »Congo« der Geschichte des MaschMedia, Oberhausen Kolonialismus nach L A Y O U T NIR DE VOLFF / TOTAL BRUTAL LOVE & LONELINESS IN Morphoria Design Collective 13 Kein Kunstwerk ohne Playlist Tony Cokes »Mixing Plant« D R U C K Lensing-Druck, Dortmund THE 21. CENTURY 14 Berührt vom Bösen T I T E L SA. 28. SEPTEMBER 2019 »Congo«, Faustin Linyekula. Robert Wienes Stummfilm »Orlac’s Hände« in restaurierter Foto: Elise Fitte-Duval Fassung und mit neuer Musik von Johannes Kalitzke Kulturpartner www.ringlokschuppen.ruhr
»Die Werte der Drei Fragen an die Intendantin der Ruhrtriennale: Stefanie Ein Auf leerer Bühne bewegen sich Körper wie ein einziger Organismus, mal im Halbdunkel, mal kalt angestrahlt. Pulsierende elektronische Musik Freiheitsstatue Carp über ihr Festivalprogramm Körper treibt die Bewegungen an, verdichtet sich, wird zu stampfendem Techno. Ein Körper löst sich aus müssen erst und das Theater als Raum der Auseinandersetzung. der der Gruppe und setzt eine neue Bewegungsfolge, die nach und nach von der Gruppe aufgenommen wird. Frauen und Männer in hautengen Bodys. Ge- noch eingelöst Vielen schlechterunterschiede schwinden, auch die Bewe- gungssprache macht in Flexibilität und Kraft keine werden.« In der Bochumer Jahrhundert- Unterschiede. Schamanistisches Ritual und Tech- no-Rave mit dem Ziel: Erschöpfung und Ekstase. Die israelische Choreografin Sharon Eyal hat halle zeigt Sharon Eyal mit schon vor der Gründung ihrer Compagnie L-E-V 2013 mit ihrem Co-Choreografen Gai Behar ihrer Compagnie L-E-V »Chapter und dem Musiker Ori Lichtik zusammengear- beitet. Beide sind verwurzelt in der Techno-Sze- 3« – eine Uraufführung über 1 ne von Tel Aviv, aus deren Clubs ein großer Teil kultur.west: Auf einer Fotografie in Ihrem aktuel- die Frage: Können zerbrochene von Eyals Bewegungsvokabular stammt. Immer wieder greift sie aber auch auf Flamenco oder len Programmbuch ragt eine Replik der Freiheits- Beziehungen repariert und Voguing zurück. Es sind die lesbaren Spuren im statue aus den Ruinen eines 2011 vom Tsunami neu arrangiert werden? hermetischen Surren ihrer Tanzmaschine. Für hinweggefegten Ortes in Japan – Sinnbild für die das Staatstheater Mainz hatte Eyal 2017 »Soul Chain« inszeniert, das fast durchgehend wie auf Selbstzerstörung unserer Zivilisation. »Der einzige imaginären Highheels getanzt wird. Bilder eines Ort, um in den heutigen Städten noch ein Theater absurden Militäraufmarschs mischen sich mit zu bauen, wäre der Friedhof«, hat Michel Foucault einem Catwalk-Exerzitium für Models. Für Dior gesagt. Wie stehen Sie zu dieser Aussage? gestaltete Eyal die aktuelle Prêt-à-porter-Show. Bei der Ruhrtriennale zeigt sie nun »Chapter 3«. CARP: Ich weiß nicht, in welchem Kontext Nach »OCD Love« und »Love Chapter 2« der letz- Michel Foucault das geschrieben hat. Da Schauspiel te Teil einer Trilogie über das Entstehen, Zerfal- fast immer mit Geisterstunden und der Befragung len und Reparieren von Liebesbeziehungen. Auch der Toten zu tun hat, und da die Theater in unseren wenn die Stücke von klaren thematischen Setzun- Foto: Daniel Sadrowski / Ruhrtriennale 2018 gen ausgehen, fehlt ein erzählerisches Moment Gesellschaften die letzten sakralen Räume direkter in ihren präzisen, soghaft energetischen Choreo- Auseinandersetzung sind, ist der Friedhof als ima- grafien. Das macht es nicht einfach, das Faszinie- ginärer Ort der Fiktion nicht falsch, als Ort gelebter gesellschaftlicher Praxis aber zu einsam. Die Werte rende der Arbeiten zu erfassen. Dass es um das der Freiheitsstatue müssen erst noch eingelöst werden. Damit befasst sich Vieles, was zur Zeit im Theater Verhältnis von Gruppe und Einzelnem geht, ist verhandelt wird. eher eine triviale Wahrnehmung. Eyal sagt, sie 2 würde vor allem instinktiv arbeiten, sie wolle »die Seele sehen«. Das Künstler-Ich darf sich im zeitge- kultur.west: Sie richten in Ihrer zweiten Ruhrtriennale-Saison den Blick in den Spiegel: auf unsere eige- nössischen Ballett und mehr noch im zeitgenössi- ne privilegierte europäische Existenz, auch als Erbe des Kolonialismus. Wie bewerten und gewichten Sie schen modernen Tanz ohnehin individualisieren das nicht selten als schwierig wahrgenommene Verhältnis von sozialem Impuls und politischem Einsatz und gewissermaßen aus der Reihe tanzen. Angesichts der maschinenhaften Choreografien und dem Ästhetischen und der künstlerischen Gestaltung? ist Eyals Einschätzung des Psychologischen den- CARP: Kunst, die Thesen oder Erklärungen formuliert ohne erweiterte Wahrnehmung und Ambi- noch überraschend. Das Geheimnis ihrer Arbeit guität, ist bekanntlich öde, aber Kunst, die nur ihr eigenes Kunstsein feiert, eben auch. Alle Künstler*innen liegt in einer perfekten Balance zwischen der gehen mit ihren subjektiven Erfahrungen in den Parametern ihrer jeweiligen Formensprache um. Da aber Präzision innerhalb der Gruppe und den Emo- tionen jedes Einzelnen. Gerade wenn sich das nun die Erfahrungen kollektiv und zeithistorisch sind, würde es doch heute schwerfallen, soziale Verwer- gesamte Ensemble zu einem großen Körper zu- fungen aus dem eigenen Leben und Wahrnehmen auszublenden. sammenfügt, dem monotonen Beat von Lichtiks 3 Musik ausgeliefert, bringt jeder Tänzer seine ei- kultur.west: Wenn die Zeiten gefährlich sind, muss Kunst in die Gefahrenzone gehen und selbst gefähr- gene Empfindung mit ein – in den gemeinsamen lich sein im Sinne von riskant, radikal und provokant. Es wäre aufschlussreich zu erfahren, durch welche Rausch auf der Bühne. HORA Künstler und Kunstwerke die Intendantin der Ruhrtriennale unter dieser Prämisse geprägt wurde? »CHAPTER 3« CARP: Ich habe mir nie Prämissen oder Gesetze für die Kunst oder das Theater gegeben. Von so einer 26. BIS 29. SEPTEMBER 2019, Kunst-Ideologie, die behauptet, was sein darf und was nicht sein darf, habe ich nie etwas gehalten. AWI Szene aus »Love Chapter 2«. Foto: André Le Corre JAHRHUNDERTHALLE BOCHUM 4 RUHRTRIENNALE SPECIAL KULTUR.WEST 7_8/ 19 KULTUR.WEST 7_8/19 RUHRTRIENNALE SPECIAL 5
Hörsaal für TIPPS verfemte EVERYTHING THAT Komponisten HAPPENED AND WOULD HAPPEN Der Musikalische Leiter Uli Fussenegger über Christoph Wenig mehr als zwanzig Minuten haben sich von einem der infamsten Propagandafilme der Nationalsozialisten erhalten, der das Konzentrationslager und Ghetto im gearbeitet hat und seit kurzem die Abteilung für zeitge- nössische Musik, Performance und Improvisation an der Basler Musikhochschule leitet. Mit dieser monumentalen Produktion über die blutige Geschichte Europas seit dem Ersten Weltkrieg kehrt nicht nur der ehemalige Ruhrtriennale-Intendant Hei- Marthalers »Nach den letzten tschechischen Theresienstadt (Terezín) ›dokumentiert‹. Andererseits ist Theresienstadt nicht primär ein musikge- ner Goebbels an seine alte Wirkungsstätte zurück. Auch Teile des Bühnenbildes aus Für den Besuch einer Delegation des Internationalen schichtliches Phänomen, sondern die Folge krasser politi- Tagen. Ein Spätabend« zur Roten Kreuzes wurde das Lager im Juni 1944 ›verschö- scher Fehlentwicklungen, verursacht durch nie verschwun- seiner 2012 entstandenen Inszenierung von John Cages »Europeras 1 & 2« tauchen Eröffnung der diesjährigen nert‹. Fassaden wurden aufgehellt, die Häftlinge besser dene nationalistische Gesinnungen und das Scheitern wieder auf und schlagen eine Brücke von der politischen Historie zur Kunst- eingekleidet, viele kranke und arbeitsunfähige Inhaf- demokratischer Neuansätze nach dem Ersten Weltkrieg, Ruhrtriennale tierte nach Auschwitz deportiert, um die permanente was in Österreich in den Bürgerkrieg und den Ständestaat geschichte. John Browns und Goebbels’ Lichtregie zaubert zu teils schroffen In- Überfüllung zu kaschieren. Im Film, der nach der Vi-si- mündete. dustrialklängen gewaltige Bilder in den Raum der Jahrhunderthalle, die sich zu te gedreht wurde, wird ein fast normales Stadtleben vor- Für die Wiener Festwochen 2013 hat Christoph Marthaler einem alles umschließenden apokalyp- gegaukelt. Handwerker drechseln und schleifen zu Mu- mit der Dramaturgin Stefanie Carp und dem Musiker Uli tischen Szenario ausweiten. sik des Juden Jacques Offenbach, die Belegschaft spielt Fussenegger eine Aktion für den historischen Sitzungssaal Fußball, abends trifft man sich im Konzert, das vom im Wiener Parlament erfunden und entwickelt. 23. BIS 26. AUGUST, (nachmals berühmten) Dirigenten Karel Ančerl geleitet »Für uns war das Wiener Parlament ein Mahnmal dafür, wie JAHRHUNDERTHALLE BOCHUM wird ‒ von Drangsalierungen oder Mangelerscheinun- Demokratie misslingen kann. Trotzdem haben wir damals gen keine Spur. das Projekt ›Letzte Tage. Ein Vorabend‹ eigentlich als singu- Obwohl die Insassen in Wahrheit brutal schikaniert, ge- läre Sache betrachtet, die auch stark an diesen schönen, holz- demütigt und ermordet wurden wie in jedem KZ, hat- te Theresienstadt tatsächlich einen Sonderstatus, denn getäfelten Raum im Parlament gebunden war. Leider ist das Thema jetzt wieder so aktuell in unserer Gesellschaft, dass GEFÄHRLICHE hier war Kultur als sogenannte »Freizeitgestaltung« aus- wir uns in Bochum ein weiteres Mal mit dem Thema ausein- OPERETTE. EINE drücklich erlaubt. Es bildeten sich Ensembles verschie- dener Couleur, die Jazz, Volksmusik und Klassik bis hin ander setzen.« Jetzt stellt man das Gegenüber von Bürger*in- nen (= Publikum) und Abgeordneten im Audimax komplett WIEDERBELE- zu Giuseppe Verdis Requiem aufführten, Instrumente neu auf ‒ in einem Raum, der nicht den altertümlich-mon- BUNG verhafteter und getöteter Juden wurden in Theresien- archischen Charme des Wiener Parlamentssaals hat, dafür stadt gesammelt, Komponisten arbeiteten auch wäh- aber umso näher an unserer politischen Realität ist. Im Jahr des 200. Geburtstages von Jacques Offenbach ist es an der Zeit, sich an die rend der Haft weiter. Drei von ihnen ‒ Victor Ullmann, Die räumliche Disposition und die Zusammenstellung der einst subversive Kraft der Operette zu er- Pavel Haas und Hans Winterberg ‒ stehen auf dem Pro- Texte werden ‒ wie zumeist bei Marthaler ‒ im Laufe der innern. Werke, die heute als verkitschte gramm der Ruhrtriennale: zusammengestellt für Chris- Proben fixiert; aktuelle Erweiterungen um die besorgniserre- Publikumsschlager das Repertoire der Oper ergänzen, wurden einst von der Obrigkeit toph Marthalers szenisches Projekt »Nach den letzten genden politischen Trends in Deutschland, den USA, Ungarn beargwöhnt und nicht selten von Zensur Tagen. Ein Spätabend« im Audimax der Ruhr-Univer- oder Russland dürften unvermeidlich sein. »Ein beträchtli- bedroht. An diese vergessene Tradition sität Bochum. cher Bestandteil des Textes«, so Fussenegger, seien »aktuelle versucht der Komponist Gordon Kampe mit seiner Musiktheater-Revue anzuschließen. »Das Lager Theresienstadt ist ein extremes Beispiel für Politikerstatements, Pressemeldungen, Betrachtungen aus Songtexte von Autoren wie Schorsch die Verfolgung von Künstlern, aber dadurch musikge- der Zukunft auf unsere Zeit ‒ sprich: aus einer postdemokra- Kamerun und Wiglaf Droste geben der schichtlich eines der erschütterndsten Phänomene, die es tischen Perspektive.« Die akustische Folie zu diesen Schre- Operette etwas von ihrem ursprünglichen Gestus zurück. Möglichkeiten, die bürger- je gegeben hat«, sagt der Kontrabassist, Komponist und ckensszenarien bilden Werke von Ullmann, Schulhoff, Er- liche Gesellschaft zur Kenntlichkeit zu ver- Arrangeur Uli Fussenegger, der für den »Spätabend« Mu- nest Bloch und anderen. Uli Fussenegger hat die Besetzung zeichnen, gibt es auch heute genügend. sik verfolgter und getöteter Komponisten recherchiert bewusst auf sechs Instrumente reduziert, um die Lücken und und bearbeitet hat. Nicht alle waren in Theresienstadt: Verletzungen aufzuzeigen, welche der Kunst und den Künst- 4. & 5. SEPTEMBER, Erwin Schulhoff starb in einem bayerischen Lager, Józef lern durch den Faschismus zugefügt wurden. Hoffen wir, dass MASCHINENHAUS ESSEN Koffler in einem polnischen Ghetto, andere wie Szymon »nach den letzten Tagen« wenigstens die Kunst und ihr Appell Laks oder Pjotr Leschtschenko überlebten den Krieg. an die Menschlichkeit nicht verstummen werden. MSS Gemeinsam ist ihnen, dass ihre Werke nach 1945 fast vergessen waren und damit eine faszinierende Ent- wicklung der neuen Musik seit den 20er Jahren abrupt »NACH DEN LETZTEN TAGEN. EIN SPÄTABEND«, abgeschnitten wurde. »Es war erschreckend für mich, 21., 22., 24., 25., 28. BIS 31. AUGUST, SOWIE 1. SEPTEMBER 2019 wie stark die Auslöschung dieser Epoche bis in unsere AUDIMAX DER RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM Zeit wirkt«, sagt Fussenegger, der drei Jahrzehnte als Audimax Ruhruniversitaet Bochum, Foto: Joerg Brueggemann, Ruhrtriennale Musiker und Dramaturg für das »Klangforum Wien« 6 RUHRTRIENNALE SPECIAL KULTUR.WEST 7_8/ 19 KULTUR.WEST 7_8/19 RUHRTRIENNALE SPECIAL 7
Probenbesuch in Brüssel: Jan Lauwers und seine »Ich bin der letzte weltweit gefeierte Needcompany bereiten für flämische Primitive« die Ruhrtriennale den politischen Kunstdiskurs »All the good« vor. Foto: ©PhileDeprez 8 RUHRTRIENNALE SPECIAL KULTUR.WEST 7_8/ 19 KULTUR.WEST 7_8/19 RUHRTRIENNALE SPECIAL 9
Es kann nicht am Himmelfahrtstag liegen, dass das schlecht beleumundete Molenbeek friedlich scheint, als ich die Büro- Unbekannten. 2012 inszenierten sie in Bochum »Marketplace 76« – ein Schmerz-Dorf bei seiner Trauerarbeit, das Erinne- Wiederholung und Probenräume der Needcompany aufsuche. Sie haben die Etage einer ehemaligen Fabrik bezogen, nachdem sich rungsmüll beseitigt und dem Tod um des Lebens willen keine Herrschaft einräumt. 2014 gastierten sie bei der Fidena mit und Variation 2016 die Bombenattentate am Brüsseler Flughafen und am ihrem weltweit gefeierten Klassiker »Isabella’s room«, der Le- U-Bahnhof Maalbeek ereignet hatten. Auch ein politisches benschronik einer blinden alten Lady. Statement. Aber mit dem Begriff Politik ist es nicht einfach »All the good«, sagt Lauwers, sei für ihn »ein Selbstporträt bei Jan Lauwers und seinem Theater. in Denkfiguren«, eine »entscheidende Markierung« und so In ihren Projekten geht es buntscheckig und bildsatt zu, »delikat«, dass er jedes Wort im Text ständig hin und her lässig und lustig, unartig inbrünstig, theatral, musikalisch, wende. Tochter, Sohn, Frau und er selbst – dargestellt von ei- skulptural. Man möchte es »mänschlich« mit ä ausspre- nem Schauspieler-Kollegen – stehen auf der Bühne, die sein chen, wie Clawdia Chauchat, die Dame auf dem »Zauber- Haus in Molenbeek sein könnte. Erzählt wird eine fiktive berg«, es tut: weich, gedehnt, empfindsam. Die Needcom- Liebesgeschichte, die ihre Anfänge in Israel hat und aus der pany erzählt Geschichten, schöne und böse. Ihr forciertes Begegnung von Lauwers mit dem ehemaligen Elitesoldaten In Kornél Mundruczós Entertainment kann ironisch grundierter blühender Un- und Friedensaktivisten Elik Niv entstand, der nach schwe- sinn sein. Der Spieltrieb ist ermunternd, ihre Impulse sind rer Verwundung zum Tänzer wurde. In Hebron habe man Musiktheater-Kreation heilsam. Noch das Schwerwiegende, Katastrophale hebt bei dem Glasbläser Mahmoud 800 Behältnisse bestellt, die »Evolution« erklingt leicht ab vom Boden. Himmelschreiendes Vergnügen: »a Teil des Bühnenbildes in der Gladbecker Halle Zweckel sein human form of theatre«, so der 1957 in Antwerpen gebo- werden. Gewalt, Hass, der Riss durch ein Land, Verlust von dreimal György Ligetis rene Jan Lauwers. Hoffnung, wie darauf reagiert wird und wie sich für westliche »Requiem«. Der Regisseur, »der den roten Teppich knüpft, über den die Künstler ferne Konflikte darstellen, die plötzlich ganz nahe Copyright: Sabrina Richmann / Ruhrtriennale 2019 Akteure laufen«, will Schönheit in die Politik bringen. Das sind und ein Gesicht haben, auch damit beschäftigt sich »All gehöre für ihn zur dringenden Neudefinition der Künste. the good«. Politische Kunst würde häufig auf sich selbst zerstörerisch Wir sitzen an einem langen Tisch, dahinter ein Foto aus wirken. Er finde es »gefährlich«, wenn dabei der Marke- Lauwers’ erster Opern-Inszenierung, Monteverdis »Poppea« Die Erinnerung an Kornél Mundruczós szenische Vor dem Hintergrund von Ligetis Komposition, in die sich ting-Charakter die Kunst überlagere. »Beauty is Freedom 2018 in Salzburg. Die Bühne zitiert »Das Jüngste Gericht« Einrichtung von Hans Werner Henzes Oratorium die Erfahrung der Shoa ebenso wie die des Lebens unter in Appearance. Fr Schiller.« Der Satz steht im Bildband der Sixtina. »Besser als Michelangelo«, scherzt er. Und zählt »Das Floß der Medusa« während Stefanie Carps erster dem kommunistischen Ungarn eingeschrieben hat, spürt »Silent Stories« über und von Lauwers. Er steht geschrie- auf, was in »All the good« an Bildzitaten auftaucht: Cour- Ruhrtriennale-Intendanz 2018 ist noch lebendig. Die Mundruczó dem nach, »was es zu verschiedenen Zeiten be- ben auf einer Holzkiste, die Teil war seiner gleichnamigen bets berühmter Akt »Der Ursprung der Welt«, Goyas »Pin- schlichte Eleganz der Bilder und Zeichen wirkt nach: deutet, jüdisch zu sein«. Wie er betont, blicke er gezielt auf Ausstellungs-Installation in Shanghai. turas Negras«, Picassos »Guernica« und der alte flämische Tilo Werner, der barfuß in einer angedeuteten Dünen- »zwischenmenschliche Beziehungen zwischen zwei, drei Freiheit ist ein weiterer Begriff – und Schönheit. Lauwers Meister Rogier van der Weyden. Gelegenheit für Lauwers landschaft stand, die Hosenbeine des Smokings hoch- nahen Verwandten und auf mikroskopische Probleme, die bringt es bei unserem Gespräch so auf den Punkt: »Ein anzufügen: »Ich bin der letzte flämische Primitive« – im gekrempelt; das über ihm hängende, Wasser gefüllte dem Betrachter aber größere Dimensionen eröffnen«. Künstler sagt: Hab’ keine Angst vor der Freiheit. Ein Poli- Sinn von ursprünglich und naiv. Aus diesem Geist heraus Plexiglasbecken und das sich in ihm brechende Licht, Die Zeiten, in denen Mundruczó mit ausufernden, oft tiker sagt: be afraid of Freedom.« Ein Dreiklang: Freiheit entwickelt sich auch die Probe mit den ungemein herzli- das auf die Szenerie Wellenbilder zeichnete; schließ- von brutalen Gewaltakten akzentuierten Bühnenarbei- – Schönheit – Politik. Er kennzeichnet die Needcompany. chen – shake hands und Vorname – zwölf Mitwirkenden: lich das Verschwinden des Sandes, das den Blick auf ten gegen die politischen und gesellschaftlichen Zustän- Und dann noch mal Drei. Denn drei Fragen würden sich ihre Parallelhandlungen, die die Rolle des Künstlers, seine unzählige Skelette freigab. Mit einfachen Mitteln hat- de wütend protestiert hat, sind vorbei. »Zum jetzigen ihm bei jeder neuen Arbeit stellen: »Was – Wie – Warum«? Wahrheit und die Wahrheit des Kunstwerks, das den Künst- te der ungarische Theater- und Filmregisseur so nicht Zeitpunkt bin ich davon überzeugt, dass es revolutio- Dabei sei das »Wie« die wesentliche: die nach der Form, ler überlebt, befragen. Sie spielen auf den Gast an, als würde nur Henzes Abrechnung mit dem europäischen Kolo- närer ist, die Perspektive vom Äußeren auf das Innere der Inszenierung, der Übertragung des Stoffes, wie man die vierte (Zuschauer-)Wand geschleift. Es gibt fliegende nialismus bebildert. Zugleich deutete sich ein Bogen zu verschieben.« Angesichts des nicht nur in Ungarn die Illusionsmaschine Theater betätigt, wie »das Persönli- Kostümwechsel, Tiermasken, das Sich-Zwängen in Trikots, an, der über die Gegenwart Europas in die Zukunft mächtiger werdenden Populismus muss sich die Kunst che metaphorisch« wird. Rede und Gegenrede, Kopf- und Körper-Theater, Livemu- einer langsam im Wasser versinkenden Welt führte. auf ihre ureigene Fähigkeit besinnen, den Menschen in ›Undiszipliniert‹ sind sie, als Mischwesen, die Gattungen sik. Frau und Mann treffen sich zu einem intimen Liebesdi- Die Verbindungen zwischen Vergangenem und Gegen- seinen Widersprüchen zu porträtieren. Nur so könne und Disziplinen kreativ unordentlich ineinander ver- alog; die Gruppe tanzt sich in Rage, bildet einen Reigen wie wärtigem, zwischen dem, was war, und dem, was kom- sie für Mundruczó dem allgegenwärtigen Hass und der schränken. Mitte der 1980er Jahre war das radikal neu. bei Matisse, jemand rührt die Trommel. Ein großer Kunst- men könnte, werden auch »Evolution« prägen, Mund- Manipulation »eine neue Liebe« entgegensetzen. Gegründet von Jan Lauwers und Grace Ellen Barkey, sind diskurs und eine Selbstbefragung: »Was tun wir, wenn sich ruczós zweite – erneut von seiner freien ungarischen Die Form, die Mundruczó für »Evolution« wählt, weist die Mitglieder der Needcompany Schauspieler, Tänzer, die Welt in die Kunst mischt? Dann bist Du, wenn Du Dich Gruppe, dem »Proton Theater« produzierte – Ruhrtri- ihn als Avantgardisten aus. »Der erste Teil hat etwas Musiker, Installations-Artisten. Alleskönner. Und wie bei anpasst, wehrlos.« ennale-Inszenierung. Im Zentrum der experimentellen von einem Konzert mit drei Spielern, der zweite ist Live-, Life- und Performance-Gruppen gilt auch für sie: Der Gedanke der Teilhabe ist der Needcompany einge- Musiktheater-Kreation, die, wie der in Budapest proben- fast schon Schauspiel, der dritte wird einer Installation »Bring the beauty to the mundane«. Mundane meint im schrieben. »Need to know« hieß ihr erstes Stück. Aber das de Künstler festststellt, so »weder an einem Opernhaus gleichkommen.« Die Wiederholung ermöglicht es ihm, Englischen Alltagsweltliches und schließt nicht, wie im Manifeste daran ist nicht bohrend oder gar verbohrt, son- noch an einem Schauspieltheater möglich wäre«, steht verschiedene Genres zu kombinieren und ein komple- Deutschen, das Mondäne mit Luxus kurz. dern gelöst und locker. Als wir uns verabschieden, sagt man György Ligetis zwischen 1963 und 1965 entstandenes xes Spiegelbild der Wirklichkeit zu entwerfen, in der Tom Stromberg hatte die Avantgardisten in ihren Anfän- mir, ich sei der erste Journalist gewesen, der in 35 Jahren »Requiem«. Dreimal wird es im Lauf der Inszenierung »eine völlig andere Welt immer nur einen einzigen gen ans Frankfurter TAT (Theater am Turm) gebracht, eine Probe hätte besuchen dürfen – Need to know. AWI erklingen und zur Brücke zwischen den Zeiten werden. Klick entfernt ist«. SAW das Wiener Burgtheater sie viel später als Ensemble in Re- Zugleich erzählt die Autorin Kata Wéber, mit der Mun- sidence eingebunden. Aber lieber sind sie von Brüssel aus »ALL THE GOOD« druczó kontinuierlich zusammenarbeitet, die Geschich- »EVOLUTION« mobil. Der Spirit der Company ist frisch wie eh und je. Bei 22. BIS 24. AUGUST SOWIE 6. UND 7. SEPTEMBER 2019, te einer 1944 geborenen Jüdin, ihrer heute 40-jährigen 5., 7., 8., 12., 13. & 14. SEPTEMBER 2019, der Ruhrtriennale und im Revier überhaupt sind sie keine MASCHINENHALLE ZWECKEL, GL ADBECK Tochter und ihres elfjährigen Enkelsohns. JAHRHUNDERTHALLE BOCHUM 10 RUHRTRIENNALE SPECIAL KULTUR.WEST 7_8/ 19 KULTUR.WEST 7_8/19 RUHRTRIENNALE SPECIAL 11
»Wir sind alle Kein Gefangene des Kunstwerk ohne Unglaublichen« Playlist Faustin Linyekula spürt Industrie, Popmusik und Club- mit »Congo« der Geschichte kultur an der Ruhr: Tony Cokes des Kolonialismus nach. schafft für die Kokerei auf Zeche Zollverein die Großinstallation TIPPS »Congo« (Pasco Losanganya, Faustin Linyekula, Moranda Daddy Kamono von links nach rechts). »Mixing Plant«. Copyright: Agathe Poupeney DIDO AND AENEAS, Tony Cokes »Den Kongo, den gibt es nicht.« Diese simple, doch folgenreiche Seine Arbeit schaffe »einen Raum der Theorie, in dem man REMEMBERED Feststellung aus Éric Vuillards »Congo« schwebt fortwährend über Faustin Linyekulas Bühnenadaption der 2012 erstmals erschiene- tanzen kann«, sagte ein Kollege. Eine Formulierung, die Tony Cokes sich gerne zu eigen macht. Griffig beschreibt sie jenes KUNST–TIPP Eine Neuentdeckung ist Henry Purcells Barock- nen Erzählung. »Da ist nur ein Strom und ein großer Wald«, heißt eigenartige Miteinander, das sein Werk seit über 30 Jahren oper »Dido and Aeneas« nicht, auch wenn Chris- es weiter bei Vuillard. Als Staat ist der Kongo also ein rein europä- prägt und nun auch den künstlerischen Beitrag zur Ruhrtri- tian Friedländers Bühnenbild das anzudeuten isches Produkt und Zeugnis des Kolonialismus in seiner Anma- ennale interessant macht. Tanz und Theorie – wie kann das BERGAMA STEREO scheint. Aber in David Martons Inszenierung wird sie zu einer Art Fundstück, einem Artefakt, ßung und Gier. Der belgische König Leopold, ein konstitutioneller, zusammengehen? Im Prinzip sind es immer Montagen. Wie das in neuem Kontext erscheint. Gemeinsam an die Weisungen des Parlaments gebundener Monarch, wollte ein DJ sampelt der Künstler in seinen Multimedia-Installati- mit dem finnischen Jazzmusiker Kalle Kalima unbedingt Kolonialherr sein. Mit Hilfe von Abenteurern und Ge- onen vorgefundenes Material: Bilder, Filmsequenzen und Zi- hat Marton eine Überschreibung erarbeitet, Er ist kein Unbekannter im internationalen Kunst- die Purcells Musik verfremdet und das Libretto schäftemachern, Militärs und Beamten hat er 1885 als Privatper- tate aus unterschiedlichen Texten; von politisch bis poetisch. zirkus. 2012 war Cevdet Erek auf der Documen- durch Passagen aus Vergils »Aeneis« ergänzt. son Land, das achtzig Mal so groß ist wie Belgien, in seinen per- Hinzu kommt als wesentliches Element Popmusik aus Laut- ta in Kassel zu Gast, 2017 präsentierte er im Der Blick auf die einstündige Oper verschiebt sönlichen Besitz gebracht und ein Gebilde erschaffen, das keinerlei sprechern oder Kopfhörern – jede Arbeit beginnt für Cokes türkischen Pavillon der Venedig Biennale eine sich in der gut zweistündigen Bearbeitung, in Arbeit, die subtil auf die Situation in der Türkei deren Zentrum nun die Frage steht: Was wird staatliche Institutionen besaß. Leopolds Kongo war nichts als eine mit einer eigens zusammengestellten Playlist. anspielte. Zur Ruhrtriennale zieht der 1974 in einst von Europa bleiben? riesige Handelsgesellschaft. Ein privates Unternehmen mit dem Mal geht es ihm um die Rolle afroamerikanischer Akteure im Istanbul geborene Künstler und Musiker nun maßlosen König, den Vuillard »als eine Art Mammut« beschreibt, Hollywood-Kino, mal um die Rassenunruhen der 60er Jahre mit seiner Architektur- und Soundinstallation 28. BIS 31. AUGUST, KRAFTZENTRALE, an der Spitze. Die Konstruktion sicherte ihm und seinen Handlan- in den USA – zu schwarzer Wut und Polizeigewalt gesellt sich »Bergama Stereo« in die Turbinenhalle Bochum ein, die auch zur Bühne für Konzerte und Per- LANDSCHAFTSPARK DUISBURG-NORD gern uneingeschränkte Macht über die Bevölkerung. Wäre es nicht hier der experimentell-elektronische Sound der Band Skinny formances werden soll. Bergama ist der heutige so schaurig, müsste man fast lachen. Puppy. Auch die Folter von Terrorverdächtigen in Guantána- türkische Name des historischen Pergamon. Das Dieses bittere, sich kaum auszudrücken wagende Lachen erfüllt mo Bay oder Abu Ghraib durch unerträglich laut aufgedrehte passt, denn die Installation geht um mit der Gestalt und Geschichte des berühmten Perga- Faustin Linyekulas Choreografie, die zugleich Schauspiel und Popsongs wird zum Thema. »Disco isn’t dead. It has gone to (.....) monaltars – an die Stelle der dort im Hochre- Konzert ist. Gemeinsam mit der Sängerin Pasco Losanganya war« heißt es in einem der Zitate, die Cokes dazu in der typisch lief miteinander ringenden Götter und Gigant- und dem Schauspieler Moranda Daddy Kamono arbeitet sich klaren Typografie auf monochrom farbigem Grund zeigt. en tritt bei Erek eine Reihe monumentaler Laut- Ein Titel, der eigentlich keiner ist, eine leere sprecher. der kongolesische Choreograf und Theatermacher an Vuillards Mit solchen Arbeiten machte der 63-Jährige zuletzt 2018 auf Bühne, die zunächst im lange anhaltenden Dunkel nicht zu erkennen ist, drei Spieler, Porträt des zynischen Kolonialismus ab. Auf einer fast leeren der Berlin Biennale von sich reden. Dort wurde auch Britta Pe- 24. AUGUST BIS 29. SEPTEMBER, die sich mit ihren Vornamen anreden und be- Bühne erklingt der Text der Erzählung und gebiert in den Köp- ters, Leiterin von Urbane Künste Ruhr, auf ihn aufmerksam haupten, Teenager zu sein. All das kommt ei- BOCHUMER TURBINENHALLE fen der Zuschauer groteske Bilder von westlicher Hybris und und konnte den US-Künstler für die Ruhrtriennale gewinnen. ner Verweigerung gleich, einem absurden Spiel, EINTRITT ZUR INSTALLATION FREI das selbst Beckett noch übertrumpft. Nach und Gewalt, Leid und Schmerz. »Wir sind alle Gefangene des Un- Für die frühere Mischanlage der Kokerei auf Zollverein ent- nach zeigt sich aber, dass Jetse Batelaans Ju- glaublichen, dem Schatz entrissen«, schreibt Vuillard und meint wickelt er nun eine speziell auf den Raum zugeschnittene Ar- gendtheater-Produktion vielleicht »ein Stück damit uns alle, die europäischen wie afrikanischen Erben des beit mit Großprojektionen auf den riesigen Trichtern. Diesmal ist, dem es scheißegal ist, dass sein Titel vage ist«, das jedoch das Theater sehr ernst nimmt. Kolonialismus, der auch im 21. Jahrhundert alte Wunden nicht soll es um das Verhältnis von Industrie, Popmusik und Club- Batelaan spielt mit den essentiellen Mitteln der verheilen lässt und neue Verletzungen provoziert. Faustin Li- kultur an der Ruhr gehen. »Mixing Plant« nennt Cokes sein Bühne, dem Licht und den Körpern, Stimmen nyekula findet für den traurigen Befund eine grandiose Form. Werk, eben »Mischanlage«. Doch bezeichnet der Titel nicht und Kostümen, um die Magie der Imagination zu feiern. Drei schwarze Künstler präsentieren einem weitgehend weißen nur den besonderen Schauplatz. Er beschreibt Cokes’ Kunst- Publikum auf spielerische, aber nie verharmlosende Weise die werk gleichzeitig als Maschine: Durch die ständig wechseln- weißen Protagonisten, die durch ihre Raubzüge nicht nur den den Kombinationen von Sound, Text, Bild, Farbe generiert sie 18. BIS 22., 27. & 28. SEPTEMBER, Kongo erschaffen haben. SAW fortwährend neue Bedeutungen. STST MASCHINENHAUS ESSEN »CONGO« 23. AUGUST BIS 29. SEPTEMBER 2019, DI – SO 12 – 20 UHR 28. BIS 31. AUGUST 2019, MISCHANLAGE, WELTERBE ZOLLVEREIN ESSEN, EINTRITT FREI 12 RUHRTRIENNALE SPECIAL KULTUR.WEST 7_8/ 19 KULTUR.WEST 7_8/19 RUHRTRIENNALE SPECIAL 13
Berührt Robert Wienes Stummfilm »Orlac‘s zwanzig Hände« von 1924 wird in der Essener vom Lichtburg in restaurierter Fassung Bösen und mit neuer Musik von Johannes Kalitzke gezeigt. museen elf In fremden Händen: Conradt Veidt als Orlac. bühnen ein Foto: Filmarchiv Austria/ZDF Deformation ist das große Motiv des deutschen expressionisti- hingerichteten Raubmörder. Aug in Aug: Hohn und Schrecken schen Stummfilms und seiner Magie von Licht und Schatten: die liegen in der Begegnung der Blicke. Vasseur wird ihm im Traum der Räume, die der Körper und der Seelen. Über »Die dämoni- erscheinen, ihn mit geballter Faust bedrohen und sich seiner sche Leinwand« – Titel der film- und kunsthistorischen Studie Hände bemächtigen, so glaubt Orlac. kulturgebiet von Lotte H. Eisner – huschen Wahnsinnige, Schlafwandler, Conradt Veidt, im früher gedrehten »Caligari« das Medium Ces- Phantome, Doppelgänger, der Vampir Nosferatu, der Verbrecher are, erreicht als Orlac – die Augen wild geschminkt, das Gesicht Mabuse, Faust und Mephisto, Siegfried und Hagen, Menschen zur Maske schmerzverzerrt – den intensivsten Ausdruck des im Taumel des Schreckens. Frankreich nennt den Stil dieses Unheimlichen: ein Ballett-Tänzer seiner Trance und Traumata, Kinos und seine psychologischen Untiefen »Caligarisme« nach Qualen und Wahnbilder. Er empfindet seine Hände als Fremd- Robert Wienes Film »Das Cabinet des Dr. Caligari« (1919/20), körper, feindliche Träger des Bösen und autonome Werkzeuge in dem sich Halluzination, Traum und Wirklichkeit zusam- seines inneren Konflikts bis zum Schizoiden. menschieben und das Dunkle, Gefährliche und Gefährdete zur Die Ruhrtriennale zeigt »Orlac‘s Hände« (1924) in restaurierter Metapher deutschen Wesens wird. Siegfried Kracauer wiederum Fassung mit neu komponierter Musik des in Köln und Wien le- zeichnet soziologisch den Weg »Von Caligari zu Hitler« nach, benden Johannes Kalitzke für drei Pianisten und Streicher (En- hebt das Moment des Terroristischen hervor und deutet die Linie semble Resonanz). Im Film spielt Orlac Nocturne Op. 55. Nr. 2. als zwangsläufig, was selbst wiederum eine Art schicksalsverses- Der Umgang mit dem Chopin-Material verweist stilistisch nicht sener Schwarzer Romantik ist. nur auf dessen Herkunft, sondern verwandelt sich ebenso in ex- Dieser Expressionismus ist das Gegenteil von Naturalismus: pressionistische, avantgardistische oder der ars nova entstam- malerisch überhöht, mimisch gesteigert, dramatisiert, ringend, mende Klangszenarien. Als Stilzitate stützen sie die Bildsprache fiebernd, schreiend. Die Welt erscheint als Laboratorium trieb- (etwa in Referenz an die gotische Architektur) und die Stadien hafter Kräfte, wissenschaftlicher Versuche und des betäubten der Selbstentfremdung Orlacs. Kalitzke behandelt das Nocturne Humanen. Auf die Erzählstoffe antwortet visuell das Film-Dekor wie eine durchgehende »idee fixe«, lässt es situativ und in illus- mit Diagonalen, spitzen Kurven, perspektivischen Brechungen, trativen wie auch in deutenden und unabhängigen Sequenzen scharfen Kontrasten, schwarzen Löchern, Lichtflecken, Spiegeln. changieren. Basis für deren elektronische Metastasierung ist der Chaos und Disharmonie allenthalben. Klavier-Innenraum bzw. sind Klänge, die durch perkussive Ef- Eine Frau liest einen Liebesbrief. Der Virtuose Paul Orlac sitzt fekte darin entstehen. Wie Orlacs Hirn auch sind sie ein Zent- am Flügel, seine Hände gleiten über die Tasten, so wie sie Haar rum von Angst und Schrecken: die Musik als klirrende Kopfge- und Haut der Frau berühren wollen. Auf der Fahrt zu ihr rast der burt. AWI ru h rku nst museen.com ru h rbueh nen.de Zug gegen einen entgegenkommenden, Orlac wird schwer ver- letzt. Er bekommt neue Hände transplantiert. Von seinem Kran- »ORLAC’S HÄNDE« kenlager aus sieht er einen Moment lang Vasseur, einen später 22. SEPTEMBER, ENSEMBLE RESONANZ, LICHTBURG ESSEN 14 RUHRTRIENNALE SPECIAL KULTUR.WEST 7_8/ 19
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