RUHR TRIENNALE Im Freiraum Kunst - kultur.west

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RUHR TRIENNALE Im Freiraum Kunst - kultur.west
L
                                               SPECIA

                                              U H
                                             R ALER
                                             TRIENN9
       Im Freiraum Kunst                          201
      Drei Fragen an Stefanie Carp
Himmelschreiendes Vergnügen
Zu Besuch bei der Needcompany in Brüssel
    Verfemte Komponisten
      Uli Fussenegger im Gespräch

             VERLAGSSONDERVERÖFFENTLICHUNG
RUHR TRIENNALE Im Freiraum Kunst - kultur.west
Inhalt                         Ruhrtriennale Special 2019

RUHRTRIENNALE 2019
21. AUGUST – 29. SEPTEMBER

TICKETS UND INFORMATIONEN
WWW.RUHRTRIENNALE.DE

T +49 (0) 221 28 02 10
Mo – Fr: 8 – 20 Uhr
Sa: 9 – 18 Uhr | So: 10 – 16 Uhr

Wieder landet das Flugzeug auf dem Vorplatz der                                                                                                        MARTIN AMBARA
Jahrhunderthalle Bochum und bietet im Cockpit und
Innenraum wie auch draußen unter dem Schutz der                                                                                                        HEINER MÜLLER:
Flügel als Festivalzentrum Raum für Gespräche und                                                                                                      HAMLETMASCHINE
Begegnungen.
Foto: Daniel Sadrowski / Ruhrtriennale 2018                                                                                                            FR. 6. SEPTEMBER 2019       PREMIERE

                                                                                                                                                       SA. 7. SEPTEMBER 2019

                                   4        »Die Werte der Freiheitsstatue müssen erst noch
                                            eingelöst werden.«
                                            Drei Fragen an Intendantin Stefanie Carp

                                   5        Der eine Körper der Vielen
                                            Die israelische Choreografin Sharon Eyal und ihre
                                            Compagnie L-E-V zeigen »Chapter 3«                          I M P R E S S U M
                                                                                                        SONDERVERÖFFENTLICHUNG
                                   6        Hörsaal für verfemte Komponisten                            DES K-WESTVERLAGS
                                            Der Musikalische Leiter Uli Fussenegger über Christoph      Dinnendahlstr. 134 | 45136 Essen
                                                                                                        Geschäftsführung: Dr. Ludger Claßen
                                            Marthalers »Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend« zur      T.: 0201 / 49 068-14 | F.: 0201 / 49 068-15
                                            Eröffnung der diesjährigen Ruhrtriennale                    info@kulturwest.de
                                                                                                        www.kulturwest.de
                                   7        Programm-Empfehlungen
                                                                                                        IN KOOPERATION MIT
                                                                                                        DER KULTUR RUHR GMBH
                                   8        »Ich bin der letzte flämische Primitive«                    Gerard-Mortier-Platz 1
                                            Zu Besuch in Brüssel bei Jan Lauwers und der Needcompany,   44793 Bochum
                                            die »All the good« proben
                                                                                                        V .I.S.D.P.
                                                                                                        Ludger Claßen
                                   11       Wiederholung und Variation
                                            Kornél Mundruczós Musiktheater-Kreation »Evolution«         M I T A R B E I T E R
                                                                                                        D I E S E R A U S G A B E
                                                                                                        Honke Rambow (hora), Stefanie Stadel (stst),
                                   12       Programm-Empfehlungen                                       Michael Struck-Schloen (mss),
                                                                                                        Sascha Westphal (saw), Andreas Wilink (awi)

                                   12       »Wir sind alle Gefangene des Unglaublichen«                 M A R K E T I N G
                                            Faustin Linyekula spürt mit »Congo« der Geschichte des      MaschMedia, Oberhausen
                                            Kolonialismus nach
                                                                                                        L A Y O U T                                                  NIR DE VOLFF / TOTAL BRUTAL
                                                                                                                                                                     LOVE & LONELINESS IN
                                                                                                        Morphoria Design Collective
                                   13       Kein Kunstwerk ohne Playlist
                                            Tony Cokes »Mixing Plant«
                                                                                                        D R U C K
                                                                                                        Lensing-Druck, Dortmund                                      THE 21. CENTURY
                                   14       Berührt vom Bösen
                                                                                                        T I T E L                                                    SA. 28. SEPTEMBER 2019
                                                                                                        »Congo«, Faustin Linyekula.
                                            Robert Wienes Stummfilm »Orlac’s Hände« in restaurierter    Foto: Elise Fitte-Duval
                                            Fassung und mit neuer Musik von Johannes Kalitzke

                                                                                                                                                            Kulturpartner

                                                                                                                                                                                    www.ringlokschuppen.ruhr
RUHR TRIENNALE Im Freiraum Kunst - kultur.west
»Die Werte der                                         Drei Fragen an die Intendantin
                                                           der Ruhrtriennale: Stefanie
                                                                                                                       Ein                                                Auf leerer Bühne bewegen sich Körper wie ein
                                                                                                                                                                          einziger Organismus, mal im Halbdunkel, mal
                                                                                                                                                                          kalt angestrahlt. Pulsierende elektronische Musik
    Freiheitsstatue                                        Carp über ihr Festivalprogramm                              Körper                                             treibt die Bewegungen an, verdichtet sich, wird
                                                                                                                                                                          zu stampfendem Techno. Ein Körper löst sich aus

    müssen erst                                            und das Theater als Raum
                                                           der Auseinandersetzung.                                     der                                                der Gruppe und setzt eine neue Bewegungsfolge,
                                                                                                                                                                          die nach und nach von der Gruppe aufgenommen
                                                                                                                                                                          wird. Frauen und Männer in hautengen Bodys. Ge-
    noch eingelöst                                                                                                     Vielen                                             schlechterunterschiede schwinden, auch die Bewe-
                                                                                                                                                                          gungssprache macht in Flexibilität und Kraft keine

    werden.«                                                                                                           In der Bochumer Jahrhundert-
                                                                                                                                                                          Unterschiede. Schamanistisches Ritual und Tech-
                                                                                                                                                                          no-Rave mit dem Ziel: Erschöpfung und Ekstase.
                                                                                                                                                                          Die israelische Choreografin Sharon Eyal hat
                                                                                                                      halle zeigt Sharon Eyal mit                        schon vor der Gründung ihrer Compagnie L-E-V
                                                                                                                                                                          2013 mit ihrem Co-Choreografen Gai Behar
                                                                                                                       ihrer Compagnie L-E-V »Chapter                     und dem Musiker Ori Lichtik zusammengear-
                                                                                                                                                                          beitet. Beide sind verwurzelt in der Techno-Sze-
                                                                                                                       3« – eine Uraufführung über
                                                        1
                                                                                                                                                                          ne von Tel Aviv, aus deren Clubs ein großer Teil

                                                           kultur.west: Auf einer Fotografie in Ihrem aktuel-
                                                                                                                       die Frage: Können zerbrochene                      von Eyals Bewegungsvokabular stammt. Immer
                                                                                                                                                                          wieder greift sie aber auch auf Flamenco oder
                                                           len Programmbuch ragt eine Replik der Freiheits-            Beziehungen repariert und                          Voguing zurück. Es sind die lesbaren Spuren im
                                                           statue aus den Ruinen eines 2011 vom Tsunami                neu arrangiert werden?                             hermetischen Surren ihrer Tanzmaschine. Für
                                                           hinweggefegten Ortes in Japan – Sinnbild für die                                                               das Staatstheater Mainz hatte Eyal 2017 »Soul
                                                                                                                                                                          Chain« inszeniert, das fast durchgehend wie auf
                                                           Selbstzerstörung unserer Zivilisation. »Der einzige                                                            imaginären Highheels getanzt wird. Bilder eines
                                                           Ort, um in den heutigen Städten noch ein Theater                                                               absurden Militäraufmarschs mischen sich mit
                                                           zu bauen, wäre der Friedhof«, hat Michel Foucault                                                              einem Catwalk-Exerzitium für Models. Für Dior
                                                           gesagt. Wie stehen Sie zu dieser Aussage?                                                                      gestaltete Eyal die aktuelle Prêt-à-porter-Show.
                                                                                                                                                                          Bei der Ruhrtriennale zeigt sie nun »Chapter 3«.
                                                                 CARP: Ich weiß nicht, in welchem Kontext
                                                                                                                                                                          Nach »OCD Love« und »Love Chapter 2« der letz-
                                                           Michel Foucault das geschrieben hat. Da Schauspiel                                                             te Teil einer Trilogie über das Entstehen, Zerfal-
                                                           fast immer mit Geisterstunden und der Befragung                                                                len und Reparieren von Liebesbeziehungen. Auch
                                                           der Toten zu tun hat, und da die Theater in unseren                                                            wenn die Stücke von klaren thematischen Setzun-
    Foto: Daniel Sadrowski / Ruhrtriennale 2018                                                                                                                           gen ausgehen, fehlt ein erzählerisches Moment
                                                           Gesellschaften die letzten sakralen Räume direkter
                                                                                                                                                                          in ihren präzisen, soghaft energetischen Choreo-
                                                           Auseinandersetzung sind, ist der Friedhof als ima-                                                             grafien. Das macht es nicht einfach, das Faszinie-
    ginärer Ort der Fiktion nicht falsch, als Ort gelebter gesellschaftlicher Praxis aber zu einsam. Die Werte                                                            rende der Arbeiten zu erfassen. Dass es um das
    der Freiheitsstatue müssen erst noch eingelöst werden. Damit befasst sich Vieles, was zur Zeit im Theater                                                             Verhältnis von Gruppe und Einzelnem geht, ist
    verhandelt wird.                                                                                                                                                      eher eine triviale Wahrnehmung. Eyal sagt, sie

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                                                                                                                                                                          würde vor allem instinktiv arbeiten, sie wolle »die
                                                                                                                                                                          Seele sehen«. Das Künstler-Ich darf sich im zeitge-
    kultur.west: Sie richten in Ihrer zweiten Ruhrtriennale-Saison den Blick in den Spiegel: auf unsere eige-                                                             nössischen Ballett und mehr noch im zeitgenössi-
    ne privilegierte europäische Existenz, auch als Erbe des Kolonialismus. Wie bewerten und gewichten Sie                                                                schen modernen Tanz ohnehin individualisieren
    das nicht selten als schwierig wahrgenommene Verhältnis von sozialem Impuls und politischem Einsatz                                                                   und gewissermaßen aus der Reihe tanzen.
                                                                                                                                                                          Angesichts der maschinenhaften Choreografien
    und dem Ästhetischen und der künstlerischen Gestaltung?
                                                                                                                                                                          ist Eyals Einschätzung des Psychologischen den-
             CARP: Kunst, die Thesen oder Erklärungen formuliert ohne erweiterte Wahrnehmung und Ambi-                                                                    noch überraschend. Das Geheimnis ihrer Arbeit
    guität, ist bekanntlich öde, aber Kunst, die nur ihr eigenes Kunstsein feiert, eben auch. Alle Künstler*innen                                                         liegt in einer perfekten Balance zwischen der
    gehen mit ihren subjektiven Erfahrungen in den Parametern ihrer jeweiligen Formensprache um. Da aber                                                                  Präzision innerhalb der Gruppe und den Emo-
                                                                                                                                                                          tionen jedes Einzelnen. Gerade wenn sich das
    nun die Erfahrungen kollektiv und zeithistorisch sind, würde es doch heute schwerfallen, soziale Verwer-
                                                                                                                                                                          gesamte Ensemble zu einem großen Körper zu-
    fungen aus dem eigenen Leben und Wahrnehmen auszublenden.                                                                                                             sammenfügt, dem monotonen Beat von Lichtiks

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                                                                                                                                                                          Musik ausgeliefert, bringt jeder Tänzer seine ei-
    kultur.west: Wenn die Zeiten gefährlich sind, muss Kunst in die Gefahrenzone gehen und selbst gefähr-                                                                 gene Empfindung mit ein – in den gemeinsamen
    lich sein im Sinne von riskant, radikal und provokant. Es wäre aufschlussreich zu erfahren, durch welche                                                              Rausch auf der Bühne. HORA

    Künstler und Kunstwerke die Intendantin der Ruhrtriennale unter dieser Prämisse geprägt wurde?                                                                                              »CHAPTER 3«
            CARP: Ich habe mir nie Prämissen oder Gesetze für die Kunst oder das Theater gegeben. Von so einer                                                                           26. BIS 29. SEPTEMBER 2019,
    Kunst-Ideologie, die behauptet, was sein darf und was nicht sein darf, habe ich nie etwas gehalten. AWI            Szene aus »Love Chapter 2«. Foto: André Le Corre                 JAHRHUNDERTHALLE BOCHUM

4           RUHRTRIENNALE SPECIAL                                                                KULTUR.WEST 7_8/ 19   KULTUR.WEST 7_8/19                                                          RUHRTRIENNALE SPECIAL        5
RUHR TRIENNALE Im Freiraum Kunst - kultur.west
Hörsaal für                                                                                                                                                                                                   TIPPS

    verfemte
                                                                                                                                                                                                                  EVERYTHING THAT
    Komponisten                                                                                                                                                                                                   HAPPENED AND
                                                                                                                                                                                                                  WOULD HAPPEN
      
    Der Musikalische Leiter Uli
    Fussenegger über Christoph
                                                                              Wenig mehr als zwanzig Minuten haben sich von einem
                                                                              der infamsten Propagandafilme der Nationalsozialisten
                                                                              erhalten, der das Konzentrationslager und Ghetto im
                                                                                                                                          gearbeitet hat und seit kurzem die Abteilung für zeitge-
                                                                                                                                          nössische Musik, Performance und Improvisation an der
                                                                                                                                          Basler Musikhochschule leitet.
                                                                                                                                                                                                                  Mit dieser monumentalen Produktion
                                                                                                                                                                                                                  über die blutige Geschichte Europas seit
                                                                                                                                                                                                                  dem Ersten Weltkrieg kehrt nicht nur der
                                                                                                                                                                                                                  ehemalige Ruhrtriennale-Intendant Hei-
    Marthalers »Nach den letzten                                              tschechischen Theresienstadt (Terezín) ›dokumentiert‹.      Andererseits ist Theresienstadt nicht primär ein musikge-               ner Goebbels an seine alte Wirkungsstätte
                                                                                                                                                                                                                  zurück. Auch Teile des Bühnenbildes aus
                                                                              Für den Besuch einer Delegation des Internationalen         schichtliches Phänomen, sondern die Folge krasser politi-
    Tagen. Ein Spätabend« zur                                                 Roten Kreuzes wurde das Lager im Juni 1944 ›verschö-        scher Fehlentwicklungen, verursacht durch nie verschwun-
                                                                                                                                                                                                                  seiner 2012 entstandenen Inszenierung
                                                                                                                                                                                                                  von John Cages »Europeras 1 & 2« tauchen
    Eröffnung der diesjährigen                                                nert‹. Fassaden wurden aufgehellt, die Häftlinge besser     dene nationalistische Gesinnungen und das Scheitern                     wieder auf und schlagen eine Brücke
                                                                                                                                                                                                                  von der politischen Historie zur Kunst-
                                                                              eingekleidet, viele kranke und arbeitsunfähige Inhaf-       demokratischer Neuansätze nach dem Ersten Weltkrieg,
    Ruhrtriennale                                                             tierte nach Auschwitz deportiert, um die permanente         was in Österreich in den Bürgerkrieg und den Ständestaat
                                                                                                                                                                                                                  geschichte. John Browns und Goebbels’
                                                                                                                                                                                                                  Lichtregie zaubert zu teils schroffen In-
                                                                              Überfüllung zu kaschieren. Im Film, der nach der Vi-si-     mündete.                                                                dustrialklängen gewaltige Bilder in den
                                                                                                                                                                                                                  Raum der Jahrhunderthalle, die sich zu
                                                                              te gedreht wurde, wird ein fast normales Stadtleben vor-    Für die Wiener Festwochen 2013 hat Christoph Marthaler                  einem alles umschließenden apokalyp-
                                                                              gegaukelt. Handwerker drechseln und schleifen zu Mu-        mit der Dramaturgin Stefanie Carp und dem Musiker Uli                   tischen Szenario ausweiten.
                                                                              sik des Juden Jacques Offenbach, die Belegschaft spielt     Fussenegger eine Aktion für den historischen Sitzungssaal
                                                                              Fußball, abends trifft man sich im Konzert, das vom         im Wiener Parlament erfunden und entwickelt.                                         23. BIS 26. AUGUST,
                                                                              (nachmals berühmten) Dirigenten Karel Ančerl geleitet       »Für uns war das Wiener Parlament ein Mahnmal dafür, wie                        JAHRHUNDERTHALLE BOCHUM
                                                                              wird ‒ von Drangsalierungen oder Mangelerscheinun-          Demokratie misslingen kann. Trotzdem haben wir damals
                                                                              gen keine Spur.                                             das Projekt ›Letzte Tage. Ein Vorabend‹ eigentlich als singu-
                                                                              Obwohl die Insassen in Wahrheit brutal schikaniert, ge-     läre Sache betrachtet, die auch stark an diesen schönen, holz-
                                                                              demütigt und ermordet wurden wie in jedem KZ, hat-
                                                                              te Theresienstadt tatsächlich einen Sonderstatus, denn
                                                                                                                                          getäfelten Raum im Parlament gebunden war. Leider ist das
                                                                                                                                          Thema jetzt wieder so aktuell in unserer Gesellschaft, dass             GEFÄHRLICHE
                                                                              hier war Kultur als sogenannte »Freizeitgestaltung« aus-    wir uns in Bochum ein weiteres Mal mit dem Thema ausein-                OPERETTE. EINE
                                                                              drücklich erlaubt. Es bildeten sich Ensembles verschie-
                                                                              dener Couleur, die Jazz, Volksmusik und Klassik bis hin
                                                                                                                                          ander setzen.« Jetzt stellt man das Gegenüber von Bürger*in-
                                                                                                                                          nen (= Publikum) und Abgeordneten im Audimax komplett                   WIEDERBELE-
                                                                              zu Giuseppe Verdis Requiem aufführten, Instrumente          neu auf ‒ in einem Raum, der nicht den altertümlich-mon-                BUNG
                                                                              verhafteter und getöteter Juden wurden in Theresien-        archischen Charme des Wiener Parlamentssaals hat, dafür
                                                                              stadt gesammelt, Komponisten arbeiteten auch wäh-           aber umso näher an unserer politischen Realität ist.                    Im Jahr des 200. Geburtstages von Jacques
                                                                                                                                                                                                                  Offenbach ist es an der Zeit, sich an die
                                                                              rend der Haft weiter. Drei von ihnen ‒ Victor Ullmann,      Die räumliche Disposition und die Zusammenstellung der                  einst subversive Kraft der Operette zu er-
                                                                              Pavel Haas und Hans Winterberg ‒ stehen auf dem Pro-        Texte werden ‒ wie zumeist bei Marthaler ‒ im Laufe der                 innern. Werke, die heute als verkitschte
                                                                              gramm der Ruhrtriennale: zusammengestellt für Chris-        Proben fixiert; aktuelle Erweiterungen um die besorgniserre-            Publikumsschlager das Repertoire der Oper
                                                                                                                                                                                                                  ergänzen, wurden einst von der Obrigkeit
                                                                              toph Marthalers szenisches Projekt »Nach den letzten        genden politischen Trends in Deutschland, den USA, Ungarn               beargwöhnt und nicht selten von Zensur
                                                                              Tagen. Ein Spätabend« im Audimax der Ruhr-Univer-           oder Russland dürften unvermeidlich sein. »Ein beträchtli-              bedroht. An diese vergessene Tradition
                                                                              sität Bochum.                                               cher Bestandteil des Textes«, so Fussenegger, seien »aktuelle           versucht der Komponist Gordon Kampe mit
                                                                                                                                                                                                                  seiner Musiktheater-Revue anzuschließen.
                                                                              »Das Lager Theresienstadt ist ein extremes Beispiel für     Politikerstatements, Pressemeldungen, Betrachtungen aus                 Songtexte von Autoren wie Schorsch
                                                                              die Verfolgung von Künstlern, aber dadurch musikge-         der Zukunft auf unsere Zeit ‒ sprich: aus einer postdemokra-            Kamerun und Wiglaf Droste geben der
                                                                              schichtlich eines der erschütterndsten Phänomene, die es    tischen Perspektive.« Die akustische Folie zu diesen Schre-             Operette etwas von ihrem ursprünglichen
                                                                                                                                                                                                                  Gestus zurück. Möglichkeiten, die bürger-
                                                                              je gegeben hat«, sagt der Kontrabassist, Komponist und      ckensszenarien bilden Werke von Ullmann, Schulhoff, Er-                 liche Gesellschaft zur Kenntlichkeit zu ver-
                                                                              Arrangeur Uli Fussenegger, der für den »Spätabend« Mu-      nest Bloch und anderen. Uli Fussenegger hat die Besetzung               zeichnen, gibt es auch heute genügend.
                                                                              sik verfolgter und getöteter Komponisten recherchiert       bewusst auf sechs Instrumente reduziert, um die Lücken und
                                                                              und bearbeitet hat. Nicht alle waren in Theresienstadt:     Verletzungen aufzuzeigen, welche der Kunst und den Künst-                            4. & 5. SEPTEMBER,
                                                                              Erwin Schulhoff starb in einem bayerischen Lager, Józef     lern durch den Faschismus zugefügt wurden. Hoffen wir, dass                        MASCHINENHAUS ESSEN
                                                                              Koffler in einem polnischen Ghetto, andere wie Szymon       »nach den letzten Tagen« wenigstens die Kunst und ihr Appell
                                                                              Laks oder Pjotr Leschtschenko überlebten den Krieg.         an die Menschlichkeit nicht verstummen werden. MSS
                                                                              Gemeinsam ist ihnen, dass ihre Werke nach 1945 fast
                                                                              vergessen waren und damit eine faszinierende Ent-
                                                                              wicklung der neuen Musik seit den 20er Jahren abrupt                       »NACH DEN LETZTEN TAGEN. EIN SPÄTABEND«,
                                                                              abgeschnitten wurde. »Es war erschreckend für mich,               21., 22., 24., 25., 28. BIS 31. AUGUST, SOWIE 1. SEPTEMBER 2019
                                                                              wie stark die Auslöschung dieser Epoche bis in unsere                      AUDIMAX DER RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM
                                                                              Zeit wirkt«, sagt Fussenegger, der drei Jahrzehnte als
    Audimax Ruhruniversitaet Bochum, Foto: Joerg Brueggemann, Ruhrtriennale   Musiker und Dramaturg für das »Klangforum Wien«

6        RUHRTRIENNALE SPECIAL                                                                                      KULTUR.WEST 7_8/ 19   KULTUR.WEST 7_8/19                                                                         RUHRTRIENNALE SPECIAL       7
RUHR TRIENNALE Im Freiraum Kunst - kultur.west
Probenbesuch in Brüssel: Jan Lauwers und seine
    »Ich bin der letzte                           weltweit gefeierte Needcompany bereiten für
      flämische Primitive«                         die Ruhrtriennale den politischen Kunstdiskurs
                                                   »All the good« vor.

      Foto: ©PhileDeprez

8    RUHRTRIENNALE SPECIAL   KULTUR.WEST 7_8/ 19   KULTUR.WEST 7_8/19                           RUHRTRIENNALE SPECIAL   9
RUHR TRIENNALE Im Freiraum Kunst - kultur.west
Es kann nicht am Himmelfahrtstag liegen, dass das schlecht
     beleumundete Molenbeek friedlich scheint, als ich die Büro-
                                                                     Unbekannten. 2012 inszenierten sie in Bochum »Marketplace
                                                                     76« – ein Schmerz-Dorf bei seiner Trauerarbeit, das Erinne-
                                                                                                                                                   Wiederholung
     und Probenräume der Needcompany aufsuche. Sie haben
     die Etage einer ehemaligen Fabrik bezogen, nachdem sich
                                                                     rungsmüll beseitigt und dem Tod um des Lebens willen keine
                                                                     Herrschaft einräumt. 2014 gastierten sie bei der Fidena mit
                                                                                                                                                   und Variation
     2016 die Bombenattentate am Brüsseler Flughafen und am          ihrem weltweit gefeierten Klassiker »Isabella’s room«, der Le-
     U-Bahnhof Maalbeek ereignet hatten. Auch ein politisches        benschronik einer blinden alten Lady.
     Statement. Aber mit dem Begriff Politik ist es nicht einfach    »All the good«, sagt Lauwers, sei für ihn »ein Selbstporträt
     bei Jan Lauwers und seinem Theater.                             in Denkfiguren«, eine »entscheidende Markierung« und so
     In ihren Projekten geht es buntscheckig und bildsatt zu,        »delikat«, dass er jedes Wort im Text ständig hin und her
     lässig und lustig, unartig inbrünstig, theatral, musikalisch,   wende. Tochter, Sohn, Frau und er selbst – dargestellt von ei-
     skulptural. Man möchte es »mänschlich« mit ä ausspre-           nem Schauspieler-Kollegen – stehen auf der Bühne, die sein
     chen, wie Clawdia Chauchat, die Dame auf dem »Zauber-           Haus in Molenbeek sein könnte. Erzählt wird eine fiktive
     berg«, es tut: weich, gedehnt, empfindsam. Die Needcom-         Liebesgeschichte, die ihre Anfänge in Israel hat und aus der
     pany erzählt Geschichten, schöne und böse. Ihr forciertes       Begegnung von Lauwers mit dem ehemaligen Elitesoldaten                        In Kornél Mundruczós
     Entertainment kann ironisch grundierter blühender Un-           und Friedensaktivisten Elik Niv entstand, der nach schwe-
     sinn sein. Der Spieltrieb ist ermunternd, ihre Impulse sind     rer Verwundung zum Tänzer wurde. In Hebron habe man
                                                                                                                                                   Musiktheater-Kreation
     heilsam. Noch das Schwerwiegende, Katastrophale hebt            bei dem Glasbläser Mahmoud 800 Behältnisse bestellt, die                      »Evolution« erklingt
     leicht ab vom Boden. Himmelschreiendes Vergnügen: »a            Teil des Bühnenbildes in der Gladbecker Halle Zweckel sein
     human form of theatre«, so der 1957 in Antwerpen gebo-          werden. Gewalt, Hass, der Riss durch ein Land, Verlust von
                                                                                                                                                   dreimal György Ligetis
     rene Jan Lauwers.                                               Hoffnung, wie darauf reagiert wird und wie sich für westliche                 »Requiem«.
     Der Regisseur, »der den roten Teppich knüpft, über den die      Künstler ferne Konflikte darstellen, die plötzlich ganz nahe                                                                            Copyright: Sabrina Richmann / Ruhrtriennale 2019
     Akteure laufen«, will Schönheit in die Politik bringen. Das     sind und ein Gesicht haben, auch damit beschäftigt sich »All
     gehöre für ihn zur dringenden Neudefinition der Künste.         the good«.
     Politische Kunst würde häufig auf sich selbst zerstörerisch     Wir sitzen an einem langen Tisch, dahinter ein Foto aus
     wirken. Er finde es »gefährlich«, wenn dabei der Marke-         Lauwers’ erster Opern-Inszenierung, Monteverdis »Poppea«                      Die Erinnerung an Kornél Mundruczós szenische             Vor dem Hintergrund von Ligetis Komposition, in die sich
     ting-Charakter die Kunst überlagere. »Beauty is Freedom         2018 in Salzburg. Die Bühne zitiert »Das Jüngste Gericht«                     Einrichtung von Hans Werner Henzes Oratorium              die Erfahrung der Shoa ebenso wie die des Lebens unter
     in Appearance. Fr Schiller.« Der Satz steht im Bildband         der Sixtina. »Besser als Michelangelo«, scherzt er. Und zählt                 »Das Floß der Medusa« während Stefanie Carps erster       dem kommunistischen Ungarn eingeschrieben hat, spürt
     »Silent Stories« über und von Lauwers. Er steht geschrie-       auf, was in »All the good« an Bildzitaten auftaucht: Cour-                    Ruhrtriennale-Intendanz 2018 ist noch lebendig. Die       Mundruczó dem nach, »was es zu verschiedenen Zeiten be-
     ben auf einer Holzkiste, die Teil war seiner gleichnamigen      bets berühmter Akt »Der Ursprung der Welt«, Goyas »Pin-                       schlichte Eleganz der Bilder und Zeichen wirkt nach:      deutet, jüdisch zu sein«. Wie er betont, blicke er gezielt auf
     Ausstellungs-Installation in Shanghai.                          turas Negras«, Picassos »Guernica« und der alte flämische                     Tilo Werner, der barfuß in einer angedeuteten Dünen-      »zwischenmenschliche Beziehungen zwischen zwei, drei
     Freiheit ist ein weiterer Begriff – und Schönheit. Lauwers      Meister Rogier van der Weyden. Gelegenheit für Lauwers                        landschaft stand, die Hosenbeine des Smokings hoch-       nahen Verwandten und auf mikroskopische Probleme, die
     bringt es bei unserem Gespräch so auf den Punkt: »Ein           anzufügen: »Ich bin der letzte flämische Primitive« – im                      gekrempelt; das über ihm hängende, Wasser gefüllte        dem Betrachter aber größere Dimensionen eröffnen«.
     Künstler sagt: Hab’ keine Angst vor der Freiheit. Ein Poli-     Sinn von ursprünglich und naiv. Aus diesem Geist heraus                       Plexiglasbecken und das sich in ihm brechende Licht,      Die Zeiten, in denen Mundruczó mit ausufernden, oft
     tiker sagt: be afraid of Freedom.« Ein Dreiklang: Freiheit      entwickelt sich auch die Probe mit den ungemein herzli-                       das auf die Szenerie Wellenbilder zeichnete; schließ-     von brutalen Gewaltakten akzentuierten Bühnenarbei-
     – Schönheit – Politik. Er kennzeichnet die Needcompany.         chen – shake hands und Vorname – zwölf Mitwirkenden:                          lich das Verschwinden des Sandes, das den Blick auf       ten gegen die politischen und gesellschaftlichen Zustän-
     Und dann noch mal Drei. Denn drei Fragen würden sich            ihre Parallelhandlungen, die die Rolle des Künstlers, seine                   unzählige Skelette freigab. Mit einfachen Mitteln hat-    de wütend protestiert hat, sind vorbei. »Zum jetzigen
     ihm bei jeder neuen Arbeit stellen: »Was – Wie – Warum«?        Wahrheit und die Wahrheit des Kunstwerks, das den Künst-                      te der ungarische Theater- und Filmregisseur so nicht     Zeitpunkt bin ich davon überzeugt, dass es revolutio-
     Dabei sei das »Wie« die wesentliche: die nach der Form,         ler überlebt, befragen. Sie spielen auf den Gast an, als würde                nur Henzes Abrechnung mit dem europäischen Kolo-          närer ist, die Perspektive vom Äußeren auf das Innere
     der Inszenierung, der Übertragung des Stoffes, wie man          die vierte (Zuschauer-)Wand geschleift. Es gibt fliegende                     nialismus bebildert. Zugleich deutete sich ein Bogen      zu verschieben.« Angesichts des nicht nur in Ungarn
     die Illusionsmaschine Theater betätigt, wie »das Persönli-      Kostümwechsel, Tiermasken, das Sich-Zwängen in Trikots,                       an, der über die Gegenwart Europas in die Zukunft         mächtiger werdenden Populismus muss sich die Kunst
     che metaphorisch« wird.                                         Rede und Gegenrede, Kopf- und Körper-Theater, Livemu-                         einer langsam im Wasser versinkenden Welt führte.         auf ihre ureigene Fähigkeit besinnen, den Menschen in
     ›Undiszipliniert‹ sind sie, als Mischwesen, die Gattungen       sik. Frau und Mann treffen sich zu einem intimen Liebesdi-                    Die Verbindungen zwischen Vergangenem und Gegen-          seinen Widersprüchen zu porträtieren. Nur so könne
     und Disziplinen kreativ unordentlich ineinander ver-            alog; die Gruppe tanzt sich in Rage, bildet einen Reigen wie                  wärtigem, zwischen dem, was war, und dem, was kom-        sie für Mundruczó dem allgegenwärtigen Hass und der
     schränken. Mitte der 1980er Jahre war das radikal neu.          bei Matisse, jemand rührt die Trommel. Ein großer Kunst-                      men könnte, werden auch »Evolution« prägen, Mund-         Manipulation »eine neue Liebe« entgegensetzen.
     Gegründet von Jan Lauwers und Grace Ellen Barkey, sind          diskurs und eine Selbstbefragung: »Was tun wir, wenn sich                     ruczós zweite – erneut von seiner freien ungarischen      Die Form, die Mundruczó für »Evolution« wählt, weist
     die Mitglieder der Needcompany Schauspieler, Tänzer,            die Welt in die Kunst mischt? Dann bist Du, wenn Du Dich                      Gruppe, dem »Proton Theater« produzierte – Ruhrtri-       ihn als Avantgardisten aus. »Der erste Teil hat etwas
     Musiker, Installations-Artisten. Alleskönner. Und wie bei       anpasst, wehrlos.«                                                            ennale-Inszenierung. Im Zentrum der experimentellen       von einem Konzert mit drei Spielern, der zweite ist
     Live-, Life- und Performance-Gruppen gilt auch für sie:         Der Gedanke der Teilhabe ist der Needcompany einge-                           Musiktheater-Kreation, die, wie der in Budapest proben-   fast schon Schauspiel, der dritte wird einer Installation
     »Bring the beauty to the mundane«. Mundane meint im             schrieben. »Need to know« hieß ihr erstes Stück. Aber das                     de Künstler festststellt, so »weder an einem Opernhaus    gleichkommen.« Die Wiederholung ermöglicht es ihm,
     Englischen Alltagsweltliches und schließt nicht, wie im         Manifeste daran ist nicht bohrend oder gar verbohrt, son-                     noch an einem Schauspieltheater möglich wäre«, steht      verschiedene Genres zu kombinieren und ein komple-
     Deutschen, das Mondäne mit Luxus kurz.                          dern gelöst und locker. Als wir uns verabschieden, sagt man                   György Ligetis zwischen 1963 und 1965 entstandenes        xes Spiegelbild der Wirklichkeit zu entwerfen, in der
     Tom Stromberg hatte die Avantgardisten in ihren Anfän-          mir, ich sei der erste Journalist gewesen, der in 35 Jahren                   »Requiem«. Dreimal wird es im Lauf der Inszenierung       »eine völlig andere Welt immer nur einen einzigen
     gen ans Frankfurter TAT (Theater am Turm) gebracht,             eine Probe hätte besuchen dürfen – Need to know. AWI                          erklingen und zur Brücke zwischen den Zeiten werden.      Klick entfernt ist«. SAW
     das Wiener Burgtheater sie viel später als Ensemble in Re-                                                                                    Zugleich erzählt die Autorin Kata Wéber, mit der Mun-
     sidence eingebunden. Aber lieber sind sie von Brüssel aus                               »ALL THE GOOD«                                        druczó kontinuierlich zusammenarbeitet, die Geschich-                                   »EVOLUTION«
     mobil. Der Spirit der Company ist frisch wie eh und je. Bei            22. BIS 24. AUGUST SOWIE 6. UND 7. SEPTEMBER 2019,                     te einer 1944 geborenen Jüdin, ihrer heute 40-jährigen                     5., 7., 8., 12., 13. & 14. SEPTEMBER 2019,
     der Ruhrtriennale und im Revier überhaupt sind sie keine                     MASCHINENHALLE ZWECKEL, GL ADBECK                                Tochter und ihres elfjährigen Enkelsohns.                                      JAHRHUNDERTHALLE BOCHUM

10         RUHRTRIENNALE SPECIAL                                                                                      KULTUR.WEST 7_8/ 19   KULTUR.WEST 7_8/19                                                                                         RUHRTRIENNALE SPECIAL   11
RUHR TRIENNALE Im Freiraum Kunst - kultur.west
»Wir sind alle                                                        Kein
                                                               Gefangene des                                                         Kunstwerk ohne
                                                               Unglaublichen«                                                        Playlist
                                                                       Faustin Linyekula spürt                                       Industrie, Popmusik und Club-
                                                                       mit »Congo« der Geschichte                                    kultur an der Ruhr: Tony Cokes
                                                                       des Kolonialismus nach.                                       schafft für die Kokerei auf Zeche
                                                                                                                                     Zollverein die Großinstallation
     TIPPS                                                     »Congo« (Pasco Losanganya, Faustin Linyekula,
                                                               Moranda Daddy Kamono von links nach rechts).                          »Mixing Plant«.
                                                               Copyright: Agathe Poupeney

     DIDO AND AENEAS,
                                                                                                                                                                                                                                                         Tony Cokes
                                                        »Den Kongo, den gibt es nicht.« Diese simple, doch folgenreiche              Seine Arbeit schaffe »einen Raum der Theorie, in dem man

     REMEMBERED                                         Feststellung aus Éric Vuillards »Congo« schwebt fortwährend über
                                                        Faustin Linyekulas Bühnenadaption der 2012 erstmals erschiene-
                                                                                                                                     tanzen kann«, sagte ein Kollege. Eine Formulierung, die Tony
                                                                                                                                     Cokes sich gerne zu eigen macht. Griffig beschreibt sie jenes
                                                                                                                                                                                                        KUNST–TIPP
     Eine Neuentdeckung ist Henry Purcells Barock-      nen Erzählung. »Da ist nur ein Strom und ein großer Wald«, heißt             eigenartige Miteinander, das sein Werk seit über 30 Jahren
     oper »Dido and Aeneas« nicht, auch wenn Chris-     es weiter bei Vuillard. Als Staat ist der Kongo also ein rein europä-        prägt und nun auch den künstlerischen Beitrag zur Ruhrtri-
     tian Friedländers Bühnenbild das anzudeuten        isches Produkt und Zeugnis des Kolonialismus in seiner Anma-                 ennale interessant macht. Tanz und Theorie – wie kann das

                                                                                                                                                                                                        BERGAMA STEREO
     scheint. Aber in David Martons Inszenierung
     wird sie zu einer Art Fundstück, einem Artefakt,   ßung und Gier. Der belgische König Leopold, ein konstitutioneller,           zusammengehen? Im Prinzip sind es immer Montagen. Wie
     das in neuem Kontext erscheint. Gemeinsam          an die Weisungen des Parlaments gebundener Monarch, wollte                   ein DJ sampelt der Künstler in seinen Multimedia-Installati-
     mit dem finnischen Jazzmusiker Kalle Kalima        unbedingt Kolonialherr sein. Mit Hilfe von Abenteurern und Ge-               onen vorgefundenes Material: Bilder, Filmsequenzen und Zi-
     hat Marton eine Überschreibung erarbeitet,                                                                                                                                                         Er ist kein Unbekannter im internationalen Kunst-
     die Purcells Musik verfremdet und das Libretto     schäftemachern, Militärs und Beamten hat er 1885 als Privatper-              tate aus unterschiedlichen Texten; von politisch bis poetisch.
                                                                                                                                                                                                        zirkus. 2012 war Cevdet Erek auf der Documen-
     durch Passagen aus Vergils »Aeneis« ergänzt.       son Land, das achtzig Mal so groß ist wie Belgien, in seinen per-            Hinzu kommt als wesentliches Element Popmusik aus Laut-            ta in Kassel zu Gast, 2017 präsentierte er im
     Der Blick auf die einstündige Oper verschiebt      sönlichen Besitz gebracht und ein Gebilde erschaffen, das keinerlei          sprechern oder Kopfhörern – jede Arbeit beginnt für Cokes          türkischen Pavillon der Venedig Biennale eine
     sich in der gut zweistündigen Bearbeitung, in                                                                                                                                                      Arbeit, die subtil auf die Situation in der Türkei
     deren Zentrum nun die Frage steht: Was wird        staatliche Institutionen besaß. Leopolds Kongo war nichts als eine           mit einer eigens zusammengestellten Playlist.
                                                                                                                                                                                                        anspielte. Zur Ruhrtriennale zieht der 1974 in
     einst von Europa bleiben?                          riesige Handelsgesellschaft. Ein privates Unternehmen mit dem                Mal geht es ihm um die Rolle afroamerikanischer Akteure im         Istanbul geborene Künstler und Musiker nun
                                                        maßlosen König, den Vuillard »als eine Art Mammut« beschreibt,               Hollywood-Kino, mal um die Rassenunruhen der 60er Jahre            mit seiner Architektur- und Soundinstallation
             28. BIS 31. AUGUST, KRAFTZENTRALE,         an der Spitze. Die Konstruktion sicherte ihm und seinen Handlan-             in den USA – zu schwarzer Wut und Polizeigewalt gesellt sich       »Bergama Stereo« in die Turbinenhalle Bochum
                                                                                                                                                                                                        ein, die auch zur Bühne für Konzerte und Per-
            LANDSCHAFTSPARK DUISBURG-NORD               gern uneingeschränkte Macht über die Bevölkerung. Wäre es nicht              hier der experimentell-elektronische Sound der Band Skinny         formances werden soll. Bergama ist der heutige
                                                        so schaurig, müsste man fast lachen.                                         Puppy. Auch die Folter von Terrorverdächtigen in Guantána-         türkische Name des historischen Pergamon. Das
                                                        Dieses bittere, sich kaum auszudrücken wagende Lachen erfüllt                mo Bay oder Abu Ghraib durch unerträglich laut aufgedrehte         passt, denn die Installation geht um mit der
                                                                                                                                                                                                        Gestalt und Geschichte des berühmten Perga-
                                                        Faustin Linyekulas Choreografie, die zugleich Schauspiel und                 Popsongs wird zum Thema. »Disco isn’t dead. It has gone to
     (.....)
                                                                                                                                                                                                        monaltars – an die Stelle der dort im Hochre-
                                                        Konzert ist. Gemeinsam mit der Sängerin Pasco Losanganya                     war« heißt es in einem der Zitate, die Cokes dazu in der typisch   lief miteinander ringenden Götter und Gigant-
                                                        und dem Schauspieler Moranda Daddy Kamono arbeitet sich                      klaren Typografie auf monochrom farbigem Grund zeigt.              en tritt bei Erek eine Reihe monumentaler Laut-
     Ein Titel, der eigentlich keiner ist, eine leere                                                                                                                                                   sprecher.
                                                        der kongolesische Choreograf und Theatermacher an Vuillards                  Mit solchen Arbeiten machte der 63-Jährige zuletzt 2018 auf
     Bühne, die zunächst im lange anhaltenden
     Dunkel nicht zu erkennen ist, drei Spieler,        Porträt des zynischen Kolonialismus ab. Auf einer fast leeren                der Berlin Biennale von sich reden. Dort wurde auch Britta Pe-
                                                                                                                                                                                                                  24. AUGUST BIS 29. SEPTEMBER,
     die sich mit ihren Vornamen anreden und be-        Bühne erklingt der Text der Erzählung und gebiert in den Köp-                ters, Leiterin von Urbane Künste Ruhr, auf ihn aufmerksam
     haupten, Teenager zu sein. All das kommt ei-                                                                                                                                                                   BOCHUMER TURBINENHALLE
                                                        fen der Zuschauer groteske Bilder von westlicher Hybris und                  und konnte den US-Künstler für die Ruhrtriennale gewinnen.
     ner Verweigerung gleich, einem absurden Spiel,                                                                                                                                                               EINTRITT ZUR INSTALLATION FREI
     das selbst Beckett noch übertrumpft. Nach und      Gewalt, Leid und Schmerz. »Wir sind alle Gefangene des Un-                   Für die frühere Mischanlage der Kokerei auf Zollverein ent-
     nach zeigt sich aber, dass Jetse Batelaans Ju-     glaublichen, dem Schatz entrissen«, schreibt Vuillard und meint              wickelt er nun eine speziell auf den Raum zugeschnittene Ar-
     gendtheater-Produktion vielleicht »ein Stück       damit uns alle, die europäischen wie afrikanischen Erben des                 beit mit Großprojektionen auf den riesigen Trichtern. Diesmal
     ist, dem es scheißegal ist, dass sein Titel vage
     ist«, das jedoch das Theater sehr ernst nimmt.     Kolonialismus, der auch im 21. Jahrhundert alte Wunden nicht                 soll es um das Verhältnis von Industrie, Popmusik und Club-
     Batelaan spielt mit den essentiellen Mitteln der   verheilen lässt und neue Verletzungen provoziert. Faustin Li-                kultur an der Ruhr gehen. »Mixing Plant« nennt Cokes sein
     Bühne, dem Licht und den Körpern, Stimmen          nyekula findet für den traurigen Befund eine grandiose Form.                 Werk, eben »Mischanlage«. Doch bezeichnet der Titel nicht
     und Kostümen, um die Magie der Imagination
     zu feiern.                                         Drei schwarze Künstler präsentieren einem weitgehend weißen                  nur den besonderen Schauplatz. Er beschreibt Cokes’ Kunst-
                                                        Publikum auf spielerische, aber nie verharmlosende Weise die                 werk gleichzeitig als Maschine: Durch die ständig wechseln-
                                                        weißen Protagonisten, die durch ihre Raubzüge nicht nur den                  den Kombinationen von Sound, Text, Bild, Farbe generiert sie
              18. BIS 22., 27. & 28. SEPTEMBER,
                                                        Kongo erschaffen haben. SAW                                                  fortwährend neue Bedeutungen. STST
                  MASCHINENHAUS ESSEN

                                                                                         »CONGO«                                              23. AUGUST BIS 29. SEPTEMBER 2019, DI – SO 12 – 20 UHR
                                                                                28. BIS 31. AUGUST 2019,                                     MISCHANLAGE, WELTERBE ZOLLVEREIN ESSEN, EINTRITT FREI

12       RUHRTRIENNALE SPECIAL                                                                                 KULTUR.WEST 7_8/ 19   KULTUR.WEST 7_8/19                                                                         RUHRTRIENNALE SPECIAL                 13
RUHR TRIENNALE Im Freiraum Kunst - kultur.west
Berührt                                            Robert Wienes Stummfilm »Orlac‘s

                                                                                                                                                 zwanzig
                                                        Hände« von 1924 wird in der Essener
     vom                                                Lichtburg in restaurierter Fassung
     Bösen                                              und mit neuer Musik von Johannes
                                                        Kalitzke gezeigt.

                                                                                                                                                 museen
                                                                                                                                                 elf
                                                                                                                          In fremden Händen:
                                                                                                                      Conradt Veidt als Orlac.

                                                                                                                                                 bühnen
                                                                                                                                                 ein
                                                                                                                 Foto: Filmarchiv Austria/ZDF

Deformation ist das große Motiv des deutschen expressionisti-      hingerichteten Raubmörder. Aug in Aug: Hohn und Schrecken
schen Stummfilms und seiner Magie von Licht und Schatten: die      liegen in der Begegnung der Blicke. Vasseur wird ihm im Traum
der Räume, die der Körper und der Seelen. Über »Die dämoni-        erscheinen, ihn mit geballter Faust bedrohen und sich seiner
sche Leinwand« – Titel der film- und kunsthistorischen Studie      Hände bemächtigen, so glaubt Orlac.

                                                                                                                                                 kulturgebiet
von Lotte H. Eisner – huschen Wahnsinnige, Schlafwandler,          Conradt Veidt, im früher gedrehten »Caligari« das Medium Ces-
Phantome, Doppelgänger, der Vampir Nosferatu, der Verbrecher       are, erreicht als Orlac – die Augen wild geschminkt, das Gesicht
Mabuse, Faust und Mephisto, Siegfried und Hagen, Menschen          zur Maske schmerzverzerrt – den intensivsten Ausdruck des
im Taumel des Schreckens. Frankreich nennt den Stil dieses         Unheimlichen: ein Ballett-Tänzer seiner Trance und Traumata,
Kinos und seine psychologischen Untiefen »Caligarisme« nach        Qualen und Wahnbilder. Er empfindet seine Hände als Fremd-
Robert Wienes Film »Das Cabinet des Dr. Caligari« (1919/20),       körper, feindliche Träger des Bösen und autonome Werkzeuge
in dem sich Halluzination, Traum und Wirklichkeit zusam-           seines inneren Konflikts bis zum Schizoiden.
menschieben und das Dunkle, Gefährliche und Gefährdete zur         Die Ruhrtriennale zeigt »Orlac‘s Hände« (1924) in restaurierter
Metapher deutschen Wesens wird. Siegfried Kracauer wiederum        Fassung mit neu komponierter Musik des in Köln und Wien le-
zeichnet soziologisch den Weg »Von Caligari zu Hitler« nach,       benden Johannes Kalitzke für drei Pianisten und Streicher (En-
hebt das Moment des Terroristischen hervor und deutet die Linie    semble Resonanz). Im Film spielt Orlac Nocturne Op. 55. Nr. 2.
als zwangsläufig, was selbst wiederum eine Art schicksalsverses-   Der Umgang mit dem Chopin-Material verweist stilistisch nicht
sener Schwarzer Romantik ist.                                      nur auf dessen Herkunft, sondern verwandelt sich ebenso in ex-
Dieser Expressionismus ist das Gegenteil von Naturalismus:         pressionistische, avantgardistische oder der ars nova entstam-
malerisch überhöht, mimisch gesteigert, dramatisiert, ringend,     mende Klangszenarien. Als Stilzitate stützen sie die Bildsprache
fiebernd, schreiend. Die Welt erscheint als Laboratorium trieb-    (etwa in Referenz an die gotische Architektur) und die Stadien
hafter Kräfte, wissenschaftlicher Versuche und des betäubten       der Selbstentfremdung Orlacs. Kalitzke behandelt das Nocturne
Humanen. Auf die Erzählstoffe antwortet visuell das Film-Dekor     wie eine durchgehende »idee fixe«, lässt es situativ und in illus-
mit Diagonalen, spitzen Kurven, perspektivischen Brechungen,       trativen wie auch in deutenden und unabhängigen Sequenzen
scharfen Kontrasten, schwarzen Löchern, Lichtflecken, Spiegeln.    changieren. Basis für deren elektronische Metastasierung ist der
Chaos und Disharmonie allenthalben.                                Klavier-Innenraum bzw. sind Klänge, die durch perkussive Ef-
Eine Frau liest einen Liebesbrief. Der Virtuose Paul Orlac sitzt   fekte darin entstehen. Wie Orlacs Hirn auch sind sie ein Zent-
am Flügel, seine Hände gleiten über die Tasten, so wie sie Haar    rum von Angst und Schrecken: die Musik als klirrende Kopfge-
und Haut der Frau berühren wollen. Auf der Fahrt zu ihr rast der   burt. AWI                                                                     ru h rku nst museen.com   ru h rbueh nen.de
Zug gegen einen entgegenkommenden, Orlac wird schwer ver-
letzt. Er bekommt neue Hände transplantiert. Von seinem Kran-                                »ORLAC’S HÄNDE«
kenlager aus sieht er einen Moment lang Vasseur, einen später                22. SEPTEMBER, ENSEMBLE RESONANZ, LICHTBURG ESSEN

14         RUHRTRIENNALE SPECIAL                                                                                     KULTUR.WEST 7_8/ 19
RUHR TRIENNALE Im Freiraum Kunst - kultur.west
Bernd Alois Zimmermann

                         DIE
                    SOLDATEN
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© Paul Leclaire
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