IN DUBIO PRO REO UNIONSRECHTLICHER ZWEIFELSGRUNDSATZ NACH DER RECHTSPRECHUNG DES EGMR, VFGH UND DES EUGH - JKU EPUB

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                                        Dijana Ramic

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                                        Institut für Europarecht

                                        Beurteiler / Beurteilerin
                                        Univ.-Prof. Dr. Franz

IN DUBIO PRO REO
                                        Leidenmühler

                                        Dezember 2020

Unionsrechtlicher
Zweifelsgrundsatz nach
der Rechtsprechung des
EGMR, VfGH und des EuGH

Diplomarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
Magistra der Rechtswissenschaften
im Diplomstudium
Rechtswissenschaften

                                        JOHANNES KEPLER
                                        UNIVERSITÄT LINZ
                                        Altenberger Straße 69
                                        4040 Linz, Österreich
                                        jku.at
                                        DVR 0093696
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG

Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und
ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht
benutzt bzw. die wörtlich oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche kenntlich
gemacht habe.

Die vorliegende Diplomarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument
identisch.

Linz, 20.12.2020

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GENDERERKLÄRUNG
Um eine leichtere Lesbarkeit zu gewährleisten, wird in der vorliegenden Diplomarbeit
auf geschlechtsspezifische Formulierungen verzichtet und die gewohnte männliche
Sprachform bei personenbezogenen Substantiven und Pronomen verwendet.

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Inhaltsverzeichnis

I.    Einleitung ............................................................................................................................... 6
II.   Nationaler Zweifelsgrundsatz........................................................................................... 7
      A.    Grundsatz „In dubio pro reo“...................................................................................................... 7
           1.    Anwendung des Art. 6 Abs. 2 EMRK in Österreich .........................................................10
                 a)     Telfner gegen Österreich, Urteil vom 20.03.2001....................................................12
                 b)     Cleve gegen Deutschland, Urteil vom 15.01.2015 ..................................................13
                 c)     Allent de Ribemont gegen Frankreich, Urteil vom 10.02.1995 ..............................14
                 d)     Falk gegen die Niederlande, Urteil vom 19.10.2004 ...............................................15
                 e)     Daktaras gegen Litauen, Urteil vom 10.10.2000 .....................................................16
           2.    Rechtsprechung des VfGH .................................................................................................17
                 a)     Engel-Kriterien ..............................................................................................................18
III. Unionsrechtlicher Zweifelssatz ..................................................................................... 20
      A.    Grundsatz „in dubio pro reo“ im Unionsrecht ........................................................................20
      B.    Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
            09. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der
            Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in
            Strafverfahren ............................................................................................................................20
      C.    Art 48 Abs 1 GRC ......................................................................................................................21
           1.    Entstehungsgeschichte .......................................................................................................22
           2.    Telos .......................................................................................................................................23
           3.    Anwendungsbereich.............................................................................................................24
      D.    Rechtsprechung des EuGH .....................................................................................................25
           1.    Spector Photo Group NV, Chris Van Raemdonck gegen Commissie voor
                 het Bank-, Financie- en Assurantiewezen (CBFA), Urteil vom 23.12.2009 .................25
           2.    EP, Urteil vom 19.09.2019 ..................................................................................................26
           3.    Emil Milev, Urteil vom 19.09.2018 .....................................................................................28
           4.    DK, Urteil vom 19.11.2019 ..................................................................................................29
IV. Innocence Network ........................................................................................................... 31
      A.    Innocence Project ......................................................................................................................31
           1.    Kenny Waters ........................................................................................................................33
      B.    Italy Innocence Project .............................................................................................................34
           1.    Amanda Knox........................................................................................................................34
      C.    Knoops´ Innocence Project ......................................................................................................35
           1.    Andy Melaan und Nozai Thomas .......................................................................................36
           2.    Ina Post ..................................................................................................................................37

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V. Conclusio ............................................................................................................................. 37
VI. Literatur- und Quellenverzeichnis................................................................................. 39
VII. Judikatur- und Normenverzeichnis .............................................................................. 43

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I. Einleitung

    „Besser man riskiert, einen Schuldigen zu retten als einen Unschuldigen
                                 zu verurteilen“

                    - Voltaire (Quelle: Zadig oder Das Schicksal, Kap. 6)

Es muss immer eine Regel darüber geben, wie zu entscheiden ist, wenn etwas
nicht bewiesen werden kann – in jedem Prozessrecht, zu welcher Zeit und an
welchem Kontinent auch immer.1
Der aus dem römischen Recht abgeleitete Ansatz „in dubio pro reo“ (lat. „Im
Zweifel für den Angeklagten“) ist in vielen Rechtsordnungen verankert und
bezieht sich darauf, dass jede Person bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung
als unschuldig zu gelten hat. Obwohl dieser Grundsatz jedem, der eine
grundsätzliche Vorstellung darüber hat, was Gerechtigkeit ist, geläufig ist, wird
er dennoch sehr unterschiedlich interpretiert – so auch in den Rechtsordnungen
in vielen Teilen der Welt. Die Unschuldsvermutung ist ohne Zweifel einer                             der
Grundpfeiler einer demokratischen Rechtsordnung, um die jahrhundertelang
gekämpft wurde.2 Zu beachten ist jedoch, dass in allen Justizsystemen – auch
in entwickelten Demokratien - Recht und Gerechtigkeit weit auseinander klaffen
können. In den meisten Fällen kommt dennoch der Zweifelsatz zur Anwendung
– aber nicht immer.3

Diese Diplomarbeit stützt sich wesentlich auf Analysen von Urteilen des EGMR,
VfGH und EuGH, wobei die (teilweise übersetzten) Urteile in                                ihrer   vollen
Länge, zur Interpretation herangezogen wurden. Sehr präzise wird die
Bedeutung der Unschuldsvermutung, deren Anwendungsbereich und deren
Folgen, bei Verletzung derselben, erörtert. Außerdem wird sowohl auf die
Gemeinsamkeiten und als auch auf die Unterschiede der Auslegungen der
Gerichtshöfe           hingewiesen.           Abschließend            werden          unterschiedliche
Organisationen vorgestellt, welche sich dafür einsetzen, unschuldig Verurteilte
zu entlasten, sowie Ursachen für rechtswidrige Verurteilungen zu erforschen
und zu beseitigen.

1
  Vgl Volk, Die Wahrheit vor Gericht (2016) 260.
2
  Vgl Steiner, Unschuldsvermutung (WAS Nr. 105) (2012) 17.
3
  Vgl Himmelfreundpointner, Unschuldig hinter Gittern: Justizirrtümer in Österreich (2008) 15.

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II. Nationaler Zweifelsgrundsatz

A. Grundsatz „In dubio pro reo“

                             § 8 StPO Unschuldsvermutung
    „Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.“4

Das Prinzip der Unschuldsvermutung ist nicht nur in einer, sondern in mehreren
Normen         und    Rechtsquellen      festgehalten.      In      Österreich    ist    seit   dem
Strafprozessreformgesetz            2004      der    Grundsatz         in   §    8      StPO     als
Prozessgrundsatz in einem einfachen Gesetz (Strafprozessordnung) verankert.
Nach der Unschuldsvermutung, auch als Zweifelsgrundsatz bekannt, ist jede
Person bis zum rechtskräftigen Nachweis ihrer Verurteilung unschuldig. Der
Grundsatz richtet sich somit einerseits an den Richter, der zunächst von der
Unschuld des Angeklagten auszugehen hat, und andererseits an die
Allgemeinheit, der straf- und zivilrechtlich verboten wird, jemanden als den
Täter einer Straftat zu bezeichnen, solange diese Person nicht wegen dieser
Tat rechtskräftig verurteilt wurde.5
Dieser Grundsatz, sowohl verfassungs- sowie völkerrechtlich in Art. 6 Abs. 2
EMRK, und einfach gesetzlich in § 8 StPO verankert, schützt vor
uneingeschränkter und willkürlicher oder unverhältnismäßiger Staatsmacht,
unter anderem in strafprozessualen Ermittlungsverfahren. Dementgegen steht
nicht nur der Prozessgrundsatz der amtswegigen Wahrheitserforschung
sondern auch die Effektivität der Untersuchung. Die Zulässigkeit sämtlicher
Grundrechtseingriffe wird an der Unschuldsvermutung gemessen, was                                zur
Bedeutung            hat,   dass       diese        im     engen        Kontext         mit     dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der im § 5 StPO geregelt ist, steht.6
Der Nachweis der Schuld kann nur durch gerichtliche Entscheidungen nach
einem gesetzmäßigen Verfahren gem. § 5 StPO erfolgen, wobei der
Zweifelsgrundsatz auch noch im Rechtsmittelverfahren bestehen bleibt.7
Im österreichischen Strafverfahren steht die Diversion gem. §§ 198ff StPO, als
dritte Spur im Strafrecht in einem gewissen Spannungsverhältnis zur
Unschuldsvermutung, da sie voraussetzt, dass der Beschuldigte                                   bzw.
4
  Strafprozessordnung 1975 BGBI 1975/631 idF BGBI I 2004/19, § 8.
5
  Vgl Steiner, Unschuldsvermutung (WAS Nr. 105) (2012) 7.
6                                           9
  Vgl Birklbauer, Strafprozessrecht Lehrbuch (2018) 26f.
7                    13
  Vgl Fabrizy, StPO (2017), § 8 StPO, Rz 1.

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Angeklagte freiwillig einer sanktionsersetzenden Begleitmaßnahme aufgrund
eines       hinreichend       aufgeklärten       Sachverhaltes,        zustimmt.     Solche
Zustimmungen, können als informelle Geständnisse angesehen werden, sind
aber dennoch kein gesetzlicher Schuldnachweis. Ohne Verurteilung erfolgt
somit auch keine Eintragung ins Strafregister und die Unschuldsvermutung
bleibt weiterhin bestehen.8
In der Strafprozessordnung ist der Zweifelsgrundsatz eines der wichtigsten
Grundprinzipien, auf das alle weiteren Rechte der Beschuldigten aufbauen.9
Somit können beispielsweise folgende Rechte aus der Unschuldsvermutung
abgeleitet werden: das Recht des Beschuldigten auf Akteneinsicht (§ 51 StPO),
die     Beiziehung      des    Verteidigers       (§   58     StPO),    die   unverzügliche
Informationspflicht der Angehörigen im Falle einer Verhaftung (§ 171 Abs. 4 Z 2
lit a StPO) und die Vergünstigung beim Vollzug der U-Haft (§§182 ff StPO).10

Das in § 8 StPO verbürgte Recht, kann man in effectu auch aus der Norm des §
259 StPO ableiten, welcher Gründe für einen Freispruch von der Anklage durch
Urteil des Schöffengerichts enthält.

                                             § 259 StPO

       „Der Angeklagte wird durch Urteil des Schöffengerichts von der Anklage
                                   freigesprochen:
                                          …
    1. wenn das Schöffengericht erkennt, daß die der Anklage zugrunde liegende
    Tat vom Gesetz nicht mit Strafe bedroht oder der Tatbestand nicht hergestellt
       oder nicht erwiesen sei, daß der Angeklagte die ihm zur Last gelegte Tat
      begangen habe, oder daß Umstände vorliegen, durch die die Strafbarkeit
         aufgehoben oder die Verfolgung aus anderen als den unter Z1 und 2
                      angegeben Gründen ausgeschlossen ist.“11

Der dritte Fall der Ziffer 3 regelt, dass der Angeklagte bei Nichtgelingen des
Schuldbeweises durch Urteil von der Anklage freigesprochen wird.12 Dem
Wortlaut nach „ wird“ hat das Gericht keinen Ermessensspielraum und muss
daher       den     Angeklagten      freisprechen.      Schuldverdächtigungen,     in   der

8                                        9
  Vgl Birklbauer, Strafprozessrecht Lehrbuch (2018) 27.
9
  Vgl Steiner, Unschuldsvermutung (WAS Nr. 105) (2012) 7.
10                                           9
   Vgl Birklbauer, Strafprozessrecht Lehrbuch (2018) 27.
11
   Strafprozessordnung 1975 BGBI 1975/631 idF BGBI I 2004/19, § 259.
12                    13
   Vgl Fabrizy, StPO (2017), § 259 StPO, Rz 7.

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Begründung des Freispruchs, zu äußern, steht dem Art. 6 Abs. 2 EMRK
entgegen.13
Die in den Z3 genannten Gründe bewirken somit einen Freispruch aus
materiellen Gründen und bestätigen daher die in Art. 6 Abs. 2 EMRK genannte
Unschuldsvermutung.14

Der Zweifelsgrundsatz ist verfassungsrechtlich durch die völkerrechtliche
Regelung des Art. 6 Abs. 2 EMRK garantiert.

                    Art. 6 Abs. 2. EMRK - Recht auf ein faires Verfahren

 „Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis
                         ihrer Schuld als unschuldig.“15

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt fest, dass der
Geltungsbereich des Art. 6 Abs. 2 sich vom Ermittlungsverfahren, bis hin zum
Verfahren nach dem endgültigem Freispruch oder Einstellung des Verfahrens
erstreckt.16 Für die Anwendbarkeit dieser Bestimmung muss ein strafrechtlicher
Teil vorliegen. Personen die sich aus anderen Gründen, wie etwa der
Vorbereitung einer Abschiebung oder Auslieferung, in Haft befinden, können
sich nicht auf Art. 6 EMRK stützen.17
Der Zweifelsgrundsatz verpflichtet dabei die Richter, unvoreingenommen in die
Verhandlung zu gehen und den Angeklagten nicht im Voraus als schuldig
anzusehen.18           Die   Beweislast      liegt    nicht     beim      Angeklagten;   jede
Beweislastumkehr verstößt somit grundsätzlich gegen Art. 6 Abs. 2 EMRK. Ein
Verstoß liegt auch dann vor, wenn aus dem Schweigen des Angeklagten
Schlussfolgerungen gezogen werden.19
Im Recht des Europarates kann jedoch in besonderen Fällen die Verteidigung
zur Beweiserbringung verpflichtet sein. Die Bedeutung des Gerichtsprozesses
für die einzelne Partei sowie die Schutzmechanismen für die Rechte der
Verteidigung, sind bei der Beurteilung, ob eine solche                      Beweislastumkehr

13
   Vgl Lendl in Fuchs/Ratz, WK StPO § 259, Rz 39. (Stand 14.08.2020, rdb.at)
14                                           9
   Vgl Birklbauer, Strafprozessrecht Lehrbuch (2018) 250.
15
   Europäische Menschenrechtskonvention 1958 BGBl 1958/210 idF BGBl I 1998/30, Art 6.
16
   Vgl EGMR 19.05.2005, 71563/01, Diamantides/Griechenland Rz 35.
17
   Vgl Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention (2016) 391.
18
   Vgl EGMR 05.07.2001, 41087/98, Phillips/Vereinigtes Königreich Rz 40.
19
   Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich Rz 15f.

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zulässig ist, ausschlaggebend.20 Im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK (Folter
oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung) kann die Beweislast auf
den Staat übergehen, sofern Geschehnisse, über die verhandelt wird, innerhalb
des Bereichs der staatlichen Kontrolle stattfanden, beispielsweise in einer
Haftanstalt. Daraus resultiert, dass die Behörden eine plausible Erklärung über
die Verletzungen des Häftlings, die sich dieser während der Haft zugezogen
hat, abgeben müssen.21 Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass die Richter gegen
das Gesetz verstoßen, wenn sie sich über die Schuld eines Angeklagten
beziehungsweise dessen Verteidigungsstrategie negativ äußern, ehe ein Urteil
ergangen            ist.22   Dies   gilt   auch    für    andere      Behörden23,        sowie        für
Ermittlungsbeamte24, und Abgeordnete, wenn sich diese beispielsweise in der
Öffentlichkeit zu einem Fall äußern.25 Das verfassungsrechtlich garantierte
Recht wird auch dann verletzt, wenn der Angeklagte in erster Instanz
freigesprochen wurde, ein Verfahren in zweiter Instanz anhängig ist und der
Staatsanwalt erklärt, dass ihn kein Richter davon überzeugen könne, dass der
Angeklagte unschuldig sei.26

1. Anwendung des Art. 6 Abs. 2 EMRK in Österreich

Europa verfügt mit der im Rahmen des Europarates geschaffenen EMRK über
das effektivste Individualrechtschutzsystem der Welt, das vom EGMR in
Straßburg überwacht wird.27 Mit der Neuformulierung des Art. 6 Abs. 2 EUV
durch den Vertrag von Lissabon, wurden alle Mitgliedstaaten der                                       EU
verpflichtet, der EMRK beizutreten.28 Als Österreich sich der EMRK 1958 zur
dieser anschloss, erklärte, der Verfassungsgerichtshof allerdings, dass sie nur
den Rang eines einfachen Bundesgesetzes habe. Dies wurde 1964 durch ein
BVG aufgehoben und die EMRK wurde rückwirkend in den Verfassungsrang
erhoben.            Der      Verfassungsgerichtshof       verneinte       dennoch        lange        die
Grundrechtsqualität der EMRK, da er der Auffassung war, dass                                      ihre

20
   Vgl Handbuch zu den europarechtlichen Grundlagen des Zugangs zur Justiz (2016) 142.
21
   Vgl Handbuch zu den europarechtlichen Grundlagen des Zugangs zur Justiz (2016) 143.
22
   Vgl EGMR 28.11.2002, 58442/00, Lavents/Lettland Rz 127.
23
   Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rn 36.
24
   Vgl EGMR 30.03.2010, 44418/07, Poncelet/Belgien Rz 57ff.
25
   Vgl EGMR 26.03.2002, 48297/99, Butkevicius/Litauen Rz 49.
26
   Vgl EGMR 07.01.2010, 32130/03, Petyo Petkov/Bulgarien Rz 92ff.
27
   Vgl Sild, Der Beitritt der Europäischen Union zur Menschenrechtskonvention (2015) 19f.
28
   Vgl Posch in Leidenmühler/Eder/Leingartner/Winkler, Grundfreiheiten - Grundrechte - Europäisches
Haftungsrecht (2012) 309.

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Anwendung           nicht   unmittelbar        erfolge.     Durch      die    häufige      Verurteilung
Österreichs in Straßburg und der scharfen Kritik in der Wissenschaft, sah sich
der Verfassungsgerichtshof letztendlich gezwungen seine Rechtsprechung zu
ändern und kannte schließlich die EMRK und die später ratifizierten
Zusatzprotokolle unmittelbar als Grundrechte an.29 Erwähnenswert dabei ist,
dass die EMRK nicht nur österreichischen Staatsbürgern, sondern allen
Menschen in Österreich, den Grundrechtsschutz gewährt.30

Der EGMR ist für 800 Millionen Menschen in 47 Staaten zuständig und somit
eine einzigartige Institution weltweit.31 Alle Bürger aus Mitgliedstaaten der
EMRK können sich, nach Ausschöpfung des nationalen Rechtsweges, mittels
Individualbeschwerde an den EGMR wenden, um ihre Rechte durchzusetzen.32
Art. 34 und 35 der EMRK enthalten die Kriterien für die Zulassung von
Individualbeschwerden an den Gerichtshof. Da jedoch viele Beschwerden
ungenau sind und nicht ersichtlich ist, ob die Zulassungskriterien erfüllt sind,
werden diese zurückgewiesen.33
Gem. Art. 46 Abs 1 EMRK sind die Vertragsstaaten verpflichtet, das Urteil des
EGMR zu befolgen. Die Bindungswirkung an das Urteil richtet sich nur an die
Mitgliedstaaten und entfaltet somit keine unmittelbare Anwendung.34 Da etwaige
Behörden oder Gerichte nicht daran gebunden sind, verdrängen weder Urteile
des EGMR noch Grundrechte der EMRK das nationale Recht. Die Pflicht zu
einer        konventionsformen             Auslegung           und       Anwendung             nationaler
Rechtsvorschriften bleibt jedoch weiterhin bestehen und die innerstaatlichen
Gerichte dürfen von der rechtlichen Würdigung des EGMR in                                               der
entschiedenen Sache nicht abweichen.35 Notwendigerweise müssen letztlich
nationale gesetzliche Regelungen für die Durchsetzung von Urteilen des EGMR
geschaffen werden.36

29
   Vgl Welan in Österreich in Geschichte und Literatur, Über die Grundrechte und ihre Entwicklung in
Österreich (2002) 7.
30
   Vgl Welan in Österreich in Geschichte und Literatur, Über die Grundrechte und ihre Entwicklung in
Österreich (2002) 2.
31
   Vgl Safferling, Internationales Strafrecht: Strafanwendungsrecht – Völkerstrafrecht – Europäisches
Strafrecht (2011) 586.
32
   Vgl Tadler in Tätigkeitsbericht 2016, Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie (2017) 34.
33
   Vgl EGMR: Wie kann man eine Beschwerde einreichen?
www.humanrights.ch/de/ipf/grundlagen/durchsetzungsmechanismen/europarat/egmr/beschwerde-
einreichen/ (Stand 14.08.2020)
34
   Vgl VwGH 22.11.2004, 2004/10/0032.
35
   Vgl Hecker, Europäisches Strafrecht (2015) 92f.
36
   Vgl Stadlmayr, Wiedergutmachung bei Menschenrechtsverletzung (2013) 329f.

23. Dezember 2020                                                                                             11/43
Der EGMR entscheidet somit nicht in der Sache, sondern stellt die Verletzung
der EMRK fest und überlässt dem Staat die Schadensgutmachung (restitutio in
integrum).37 Wenn jedoch festgestellt wird, dass das nationale Recht eine
unvollständige Wiedergutmachung für die Folgen des Verstoßes zusichert,
gewährt        der   EGMR     eine    entsprechende        Entschädigung,        sowohl für
Vermögensschäden als auch für Nichtvermögensschäden.38

a) Telfner gegen Österreich, Urteil vom 20.03.2001

Sachverhalt
K. wurde in Tirol im April 1995 von einem Auto angefahren und dabei leicht
verletzt. Das Geschehnis meldete er sofort bei der Gendarmerie und gab auch
dort gleich bekannt, dass er sich an den Autotyp und das Kfz-Kennzeichen,
nicht jedoch an den Lenker erinnern konnte. Obwohl der PKW auf die Mutter
des Bf. zugelassen war, benutzten auch andere Familienmitglieder das
Fahrzeug.39 Die Gendarmerie schöpfte Verdacht, dass der Bf. den PKW                        zum
Tatzeitpunkt in alkoholisiertem Zustand gelenkt habe.40 Es kam daher zu einer
Anklage wegen fahrlässiger Körperverletzung. In der Gerichtsverhandlung
bekannte sich der Bf. nicht schuldig; die Mutter und Schwester machten vom
Entschlagungsrecht Gebrauch und das Opfer, sagte aus, dass es den PKW-
                                          41
Fahrer nicht identifizieren könne.             Obwohl die Beweislast nicht erdrückend
war, wurde der Bf. zu einer Geldbuße von ATS 24.000,-- verurteilt. Seine
Berufung gegen dieses Urteil wurde 1996 vom LG Innsbruck abgewiesen.42

Rechtsausführung
Der Gerichtshof erkannte, dass die Gerichte bei der Ausübung ihrer
Obliegenheiten dem Angeklagten gegenüber nicht voreingenommen sein
dürfen und, dass die Beweispflicht bei der Anklage liege, wobei jeder Zweifel
den Angeklagten begünstige. Das BG Silz und das LG Innsbruck bezogen sich

37
   Vgl EGMR: Wie kann man eine Beschwerde einreichen?
www.humanrights.ch/de/ipf/grundlagen/durchsetzungsmechanismen/europarat/egmr/beschwerde-
einreichen/ (Stand 14.08.2020)
38                                                              4
   Vgl Hauer, Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts – Lehrbuch (2017) 306.
39
   Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich, Rz 7-8.
40
   Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich, Rz 10.
41
   Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich, Rz 9.
42
   Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich, Rz.10.

23. Dezember 2020                                                                                12/43
auf den Bericht der Gendarmerie, wonach der Bf. Hauptnutzer des PKW war
und in der Tatnacht nicht nachhause gekommen sei.43 Das LG stellte weiters
fest, dass das Fahrzeug auch noch von der Schwester des Verurteilten benutzt
worden war.44 Im gegenständlichen Verfahren lag auch die Beweislast bei der
Verteidigung, da es den Gerichten nicht möglich war überzeugende Beweise
gegen den Angeklagten zu finden.45 Dass, das BG Silz und LG Innsbruck über
die Alkoholisierung des Bf.s mutmaßten, stellt eine voreingenommene Haltung
gegenüber dem Bf. dar.46 Es wurde einstimmig entschieden, dass eine
Verletzung gem. Art 6 Abs 2 EMRK vorliege. Der EGMR sprach dem Bf. gem.
Art 41 EMRK eine Entschädigung in Höhe von ATS 20.000,-- für den
immateriellen Schaden zu.47

b) Cleve gegen Deutschland, Urteil vom 15.01.2015

Sachverhalt
Die Staatsanwaltschaft Münster erhob am 18.01.2008 Anklage gegen den Bf.
wegen fünfzehnfachen schweren sexuellen Missbrauchs und sexuellen
Missbrauchs einer Schutzbefohlenen. Der Vorwurf lautete, dass er seine
Tochter A vergewaltigt habe, er wurde vom Landesgericht jedoch wegen
unzureichender Beweislage freigesprochen.48 Der Bf. wurde durch die Aussage
der Tochter belastet, wobei deren Aussage das Landesgericht nicht von der
vollständigen Richtigkeit der Anklagepunkte überzeugen konnte. Obwohl
Erzieherinnen, die Indizien hatten, dass A sexuell missbraucht sei, und
Psychologinnen Aussagen gegen den Bf. tätigten, kam das Landesgericht nicht
zum Entschluss, dass A von Dritten, dahingehend überredet worden sei, ihren
Vater zu belasten.49 Im Freispruch wurde schließlich angeführt dass es auf
jeden Fall zu sexuellen Übergriffen gekommen sei, die Taten sich jedoch weder
ihrer Intensität, noch ihrer zeitlichen Einordnung konkretisieren ließen.50 Die
Verfassungsbeschwerde des Bf gegen dieses Urteil, wurde durch das
Bundesverfassungsgericht abgelehnt.51

43
   Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich, Rz 14.
44
   Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich, Rz 11.
45
   Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich, Rz 18.
46
   Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich, Rz 19f
47
   Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich, Rz 25
48
   Vgl EGMR 15.01.2015, 48144/09, Cleve/Deutschland Rz 10.
49
   Vgl EGMR 15.01.2015, 48144/09, Cleve/Deutschland Rz 11f.
50
   Vgl EGMR 15.01.2015, 48144/09, Cleve/Deutschland Rz 13.
51
   Vgl EGMR 15.01.2015, 48144/09, Cleve/Deutschland Rz 18.

23. Dezember 2020                                                                 13/43
Rechtsausführung
Der Bf. behauptete dass die Feststellungen des Landesgerichts in den Gründen
des     Freispruches       einer    Schuldfeststellung        gleichgesetzt     seien.52    Der
Gerichtshof zeigte auf, dass das Äußern eines Schuldverdachts gegen
denjenigen,         der   rechtskräftig     freigesprochen         wurde,     nicht   mit   dem
Zweifelsgrundsatz vereinbar sei.53 „In dubio pro reo“ gelte für den Zeitraum in
dem der Angeklagte (noch) nicht rechtskräftig für schuldig erklärt wurde;
danach erlösche der durch den Zweifelsgrundsatz gewährleistete Schutz. Der
Gerichtshof stellte fest, dass die Ausführungen des Landesgerichts, dass es
wirklich zu sexuellen Handlungen im Fahrzeug gekommen sei, dem Leser des
Urteils den Eindruck vermittle, dass sich C. tatsächlich an seiner Tochter
vergangen habe und daher schuldig sei.54 Der Gerichtshof entschied somit
einstimmig, dass eine Verletzung gem. Art. 6 Abs. 2 der Konvention vorliege.
Weiters wurden dem Bf. € 5.000.- für immateriellen Schaden, zuzüglich
gegebenfalls zu berechnender Steuern, sowie € 5.000.- für Kosten und
Auslagen, zugestanden.55

c) Allent de Ribemont gegen Frankreich, Urteil vom 10.02.1995

Sachverhalt
Nachdem der frühere Minister und Parlamentsabgeordneter Jean de Broglie
ermordet worden war, gab der französische Innenminister gemeinsam mit
einem Polizeibeamten eine Pressekonferenz. Dabei wurde der Name des Bf
genannt.56 Dieser war im Jahre 1977 in U-Haft wegen Verdachts auf Mord
geweswen, wurde jedoch wieder freigelassen und das Verfahren unverzüglich
eingestellt.57 Der Bf. bestand auf Ersatz für den erlittenen materiellen sowie
immateriellen Schaden, da er vom Innenminister öffentlich beschuldigt worden
sei, Anstifter des Mordes gewesen zu sein, woraufhin die Medien über ihn
berichteten.58 Nach Beschwerden an die Verwaltungsgerichte und ordentlichen
Gerichte, kamen die Verwaltungsgericht schließlich nach fünf Jahren und                     acht

52
   Vgl EGMR 15.01.2015, 48144/09, Cleve/Deutschland Rz 27.
53
   Vgl EGMR 15.01.2015, 48144/09, Cleve/Deutschland Rz 26.
54
   Vgl EGMR 15.01.2015, 48144/09, Cleve/Deutschland Rz 61.
55
   Vgl EGMR 15.01.2015, 48144/09, Cleve/Deutschland Rz 73ff.
56
   Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 10.
57
   Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 12.
58
   Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 59ff.

23. Dezember 2020                                                                                  14/43
Monaten zu dem Entschluss, dass sie nicht für den Fall zuständig seien.59
Daraufhin legte A Beschwerde bei der EKMR ein.60

Rechtsausführung
Die EKMR stellte fest, dass Art. 6 Abs. 2 verletzt wird, wenn eine gerichtliche
Entscheidung darlegt, dass eine Person schuldig sei obwohl deren Schuld nzu
diesem Zeitpunkt noch nicht gesetzlich nachgewiesen worden ist.61 Nicht nur
der Richter oder ein Gericht, sondern auch andere Behörden können das durch
Art. 6 Abs. 2 normierte Prinzip der Unschuldsvermutung verletzten. Der Bf. war
im konkreten Fall von der Polizei festgenommen worden und daher Teil der
gerichtlichen Ermittlungen. Er war iSd Art. 6 Abs. 2 EMRK eine „einer strafbaren
Handlung beschuldigte“ Person.62 Das Recht auf freie Meinungsäußerung
beinhaltet die Freiheit Nachrichten zu empfangen und mitzuteilen, weshalb die
Behörden nicht davon abgehalten werden können, die Öffentlichkeit über
laufende Ermittlungen zu informieren. Vorausgesetzt werden hierbei jedoch
Diskretion und die Achtung der Unschuldsvermutung.63 Durch die Bezichtigung
des Mordes vom Polizisten, wurde die Öffentlichkeit dahingehend beeinflusst,
den Bf. als Schuldigen anzusehen.64 Mit acht Stimmen gegen eins wurde
entschieden, dass ein Verstoß des Art 6 Abs. 2 vorliege. A. wurden 2 Mio. FF
für den Schaden und 100.000 FF zzgl. MWSt für Kosten und Auslagen
zugesprochen.65

d) Falk gegen die Niederlande, Urteil vom 19.10.2004

Sachverhalt
1988 wurde F. eine Verwaltungsstrafe von 240 niederländischen Gulden
auferlegt, weil er eine Fußgänger an der Überquerung der Straße gehindert
hatte. Das Fahrzeug, das in dem Vorfall verwickelt war, war auch auf F.s
Namen zugelassen. Der Bf. brachte vor der Staatsanwaltschaft von Den Haag
vor, dass eine andere Person, B. an diesem besagten Tag, sein Auto gefahren
habe. Die Beschwerde wurde mit der Begründung zurückgewiesen, dass der

59
   Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 13ff.
60
   Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 27.
61
   Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 31.
62
   Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 36f.
63
   Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 38.
64
   Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 41.
65
   Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 68f.

23. Dezember 2020                                                                  15/43
Bf. eingetragener Eigentümer sei und deshalb die Geldbuße zu entrichten habe.
Nach eingebrachter Berufung beim Bezirksgericht Leiden, stellte man fest, dass
tatsächlich B. die strafbare Handlung gesetzt hatte. Aber auch der Oberste
Gerichtshof wies die Beschwerde zurück.66 Daraufhin beschwerte sich F., dass
die Verhängung der Geldbuße eine Verletzung gegen die Unschuldsvermutung,
darstelle.67

Rechtsausführung
Der Gerichtshof war der Auffassung, dass das in Art. 6 Abs. 2 EMRK gewährte
Recht, vor Schuldzuweisungen ohne erfolgten gesetzlichen Nachweis schütze,
Tatsachen- oder Rechtsvermutungen aber legitim seien, solange sie sich im
angemessenen Rahmen bewegen. Die eingesetzten Mittel zur Zielerreichung,
müssten angemessen sein. Die eingeführte Haftungsregel habe das Ziel einer
erhöhten Verkehrssicherheit. Wenn ein Verstoß gegen das Verkehrsgesetz
vorliege und die Justizbehörde die Identität des Fahrers nicht feststellen könne,
so müsse            sich niemand für die Straftat verantworten.             Angesichtsdessen
erklärte der Gerichtshof, dass die innerstaatlichen Behörden nicht gegen den
Zweifelsgrundsatz verstoßen haben.68

e) Daktaras gegen Litauen, Urteil vom 10.10.2000

Sachverhalt
Dem Bf wurde von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, ein Komplize in einer
Straftat zu sein und ein Lösegeld von 7.000 US-Dollar für die Rückgabe eines
gestohlenen Autos gefordert zu haben. Er wurde unter anderem wegen
Erpressung und Anstiftung zur Falschaussage angeklagt. Der Bf und sein
Verteidiger stellten einen Antrag auf Verfahrenseinstellung, welcher jedoch von
der     Staatsanwaltschaft        der    Abteilung     für   organisierte    Kriminalität   als
unbegründet zurückgewiesen wurde. Schließlich                  wurde D. für schuldig erklärt
und zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.69 Nach eingelegter Berufung,
kam dann das Berufungsgericht zu dem Entschluss, dass der Bf an der
Erpressung beteiligt gewesen ist, jedoch nicht der Haupttäter war. Das Urteil
66
   Vgl EGMR 19.10.2004, 66273/01, Falk/Niederlande, Rz 4.
67
   Vgl EGMR 19.10.2004, 66273/01, Falk/Niederlande, Rz 37.
68
   Vgl EGMR 19.10.2004, 66273/01, Falk/Niederlande, Rz 47.
69
   Vgl EGMR 10.10.2000, 43095/98, Daktaras/Litauen Rz 6ff.

23. Dezember 2020                                                                                 16/43
änderte sich allerdings nicht. Das Landesgericht Vilnius ließ dem Präsidenten
des Obersten Gerichtshof ein Schreiben zukommen, in dem erklärt wurde, dass
der Bf als Haupttäter hätte verurteilt werden müssen und dass das Urteil des
Berufungsgerichts aufzuheben sei. Der Oberster Gerichtshof kam diesem
Appell auch nach70 Er hob das Urteil des Berufungsgerichts auf und bestätigte
das Urteil des Landesgerichts Vilnius, aus dem zu entnehmen war, dass D. als
Haupttäter an der Erpressung fungiert hatte.71 Der Bf. war jedoch der Ansicht,
dass eine Verletzung gegen Art. 6 Abs 2. EMRK vorliege, da ihn der
Staatsanwalt für schuldig erklärt hatte.72

Rechtsausführung
Der Gerichtshof bestätigte, dass die Unschuldsvermutung verletzt werde, wenn
ein Beamter eine Aussage tätige, die den Anschein erweckt, dass die
betroffene          Person   schuldig      ist,   ohne     dass      jedoch      ein    gesetzlicher
Schuldnachweis vorliege.73
Es wurde festgestellt, dass im vorliegenden Fall, die Erklärungen des
Staatsanwaltes im Rahmen eines ordentlichen Verfahrens und nicht in einem
unabhängigen Kontext, wie beispielsweise einer Pressekonferenz vorgebracht
wurden. Der Gerichtshof entschied daher, dass keine Verletzung des
Zweifelsgrundsatzes vorliege.74

2. Rechtsprechung des VfGH

Nach der Verfassung und der Strafprozessordnung kann ein korrektes
Verfahrensergebnis ausschließlich Resultat eines fairen Verfahrens sein.75
Hinsichtlich des Art. 6 Abs. 2 EMRK erklärt der VfGH, dass die
Unschuldsvermutung Personen vor Schuldzuweisung schütze, solange kein
rechtskräftiges Urteil vorliege, ein Verhalten oder eine objektive Tatsache als
Unrecht zu erklären, ohne das dabei die Schuld erwiesen wäre, verstoße
dagegen nicht gegen die Unschuldsvermutung. Selbst wenn eine Tat begangen

70
   Vgl EGMR 10.10.2000, 43095/98, Daktaras/Litauen 19ff.
71
   Vgl EGMR 10.10.2000, 43095/98, Daktaras/Litauen 25.
72
   Vgl EGMR 10.10.2000, 43095/98, Daktaras/Litauen 39.
73
   Vgl EGMR 10.10.2000, 43095/98, Daktaras/Litauen 41.
74
   Vgl EGMR 10.10.2000, 43095/98, Daktaras/Litauen 44f.
75
   Vgl Hollaender, Grundrechte und Verfassungsprinzipien im österreichischen Strafprozessrecht (2005)
45.

23. Dezember 2020                                                                                       17/43
worden ist und es trotzdem nicht zu einer Verurteilung gekommen sei, verstoße
beispielsweise eine Abschöpfungsanordnung nicht gegen das in Art. 6 Abs. 2
EMRK normierte Recht. 76
Die Rechtssprechung der Konventionsorgane, der auch die innerstaatliche
höchstgerichtliche        Judikatur      folgte,    erklärte,     dass     es    entweder        einen
Schuldspruch als Ergebnis eines fairen Strafverfahrens oder Schuldlosigkeit
gebe. Es bestünden somit keine „Freisprüche erster und zweiter Klasse“ (je
nach Art der Verfahrensbeendigung).77
Weiters steht die Unschuldsvermutung auch in Verbindung mit dem
Schöffenverfahren. Hier hat ein Schöffengericht über die Schuld des
Angeklagten zu entscheiden.78 Die Diskrepanz besteht darin, dass die ein Urteil
im      schöffengerichtlichen          sowie       geschworenengerichtlichen               Verfahren
hinsichtlich der Beweiswürdigung nur im Rahmen der Nichtigkeitsgründe nach §
281 Abs. 1 Z 5 und 5a, bzw. § 345 Abs. 1 Z 10a StPO bekämpfbar ist.79 Der
VfGH stellt fest, dass im Hinblick darauf, der Umstand, dass erst erhebliche
Bedenken gegen das Urteil zu einer Überprüfung der Beweiswürdigung gegen
das      Schöffengericht        führen      können,       dem      Zweifelsgrundsatz             nicht
entgegensteht. Erwähnenswert hierbei ist auch noch dass die Berufsrichter
entscheiden, sofern das Richterkollegium keine Mehrheit findet. Außerdem
besteht die Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsmittels. Das Gericht ist dabei
an die Rechtsansicht des OGH gebunden.80

a) Engel-Kriterien
Bei Sachverhalte, bei denen ein Verstoß gegen den Zweifelsgrundsatz
behauptet wird, wird das Vorliegen einer „strafrechtliche Anklage“, welche
wiederum den sogenannten „Engel-Kriterien“ entsprechen muss, vom VfGH
geprüft.81
Die drei vorausgesetzten Kriterien wurden ursprünglich für die Zwecke von Art.
6 EMRK entwickelt.82 Das erste Kriterium befasst sich mit der Qualifikation

76
   Vgl VfGH 12.12.2016, G 63/2016
77
   Vgl Hollaender, Grundrechte und Verfassungsprinzipien im österreichischen Strafprozessrecht (2005)
45f.
78
   Vgl Strafprozessordnung 1975 BGBI 1975/631 idF BGBI I 2004/19, § 256.
79
   Vgl Bericht des Verfassungsgerichtshofes über seine Tätigkeit im Jahr 2017, 30.
80
   Vgl VfGH 14.03.2017, G 249/2016.
81
   Vgl. EGMR 08.06.1976, 5100/71;5101/71; 5102/71; 5354/72; 5370/72,Engel u. a./Niederlande.
82
   Vgl EGMR 15.11.2016, 24130/11;29758/11, A. und B./Norwegen Rz 105.

23. Dezember 2020                                                                                        18/43
eines Delikts als strafrechtlich gemäß der nationalen Rechtsordnung.83 Das
zweite Kriterium zielt auf die eigentliche Natur des Delikts ab.84 Dabei sind die
Aspekte        des   Zwecks      (speziell    die    abschreckende         (präventive)      sowie
unrechtsausgleichende (repressiven) strafende Wirkung der Bestimmung, der
Adressatenkreis (abstrakt-generell) sowie die Schuld als Urteilsvoraussetzung,
zu berücksichtigen.85 Das dritte Kriterium betrifft die Schwere und Art der
auferlegten Strafe.86 Hier wird die Möglichkeit der Umwandlung der Busse in
eine Freiheitsstrafe und die Höchststrafe einer Norm zur Beurteilung
herangezogen.87 Wichtig dabei ist, dass Freiheitsstrafen einen strafrechtlichen
Charakter begründen sollen, worauf jedoch bei Geldstrafen und sonstigen
freiheitseinschränkenden Maßnahmen nicht allgemein geschlossen werden
kann. Richtet sich ein Gesetz an Personengruppen mit besonderem Status wie
z.B. Soldaten oder Beamte, scheint eine Sanktion mit disziplinarrechtlichem
Charakter naheliegend.88 Richtet sich jedoch die Regelung andererseits an die
Allgemeinheit,       kann     davon      ausgegangen          werden,      dass     jene     einen
strafrechtlichen Charakter aufweist. Genau aus diesem Grund, hat der EGMR
entschieden, dass Ordnungswidrigkeiten im Bereich der Strafrechtlichkeit liegen
und beurteilt werden, da sie sich gegen jedermann richten.89

83
   Vgl EGMR 23.11.2006, 73053/01, Jussila/Finnland.
84                                                       10
   Vgl Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO § 16 DSt Rz 28. (Stand 24.08.2020, rdb.at)
85
   Vgl Beeler-Sigron in Verwaltungssanktion im Lichte ausgewählter EMRK-Bestimmungen. Referat im
   Rahmen des Gesetzgebungsforums vom 23. Februar 2017, 6.
86
   Vgl EGMR 23.11.2006, 73053/01, Jussila/Finnland.
87
   Vgl Beeler-Sigron in Verwaltungssanktion im Lichte ausgewählter EMRK-Bestimmungen. Referat im
   Rahmen des Gesetzgebungsforums vom 23. Februar 2017, 7.
88
   Vgl Barrot in Die Unschuldsvermutung in der Rechtsprechung des EGMR, 702 (Stand 25.08.2020 zjs-
   online.com)
89
   Vgl. EGMR 21.2.1984, 8544/79, Öztürk/Deutschland.

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III. Unionsrechtlicher Zweifelssatz

A. Grundsatz „in dubio pro reo“ im Unionsrecht

Von großer Bedeutung für das Gemeinschaftsrecht, ist der Grundsatz „in dubio
pro reo“ in Rechtsmittelverfahren gegen Entscheidungen der Kommissionen im
Kartellverfahren.90 Während das Grundrecht auch für Verfahren vor den
Unionsgerichten, die bei der Sanktionierung bei Verstößen gegen Unionsrechte
dienen, gilt91, hat sich der EGMR hierzu noch nicht geäußert.92 Ein zusätzliches
Indiz dafür, dass der Bereich des Wettbewerbsrechts in der europäischen Union
besonders vom Zweifelsgrundsatz betroffen ist, lässt sich aus den unzähligen
Urteilen des Gerichtshofes erkennen.

B. Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des
   Rates vom 09. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte
   der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der
   Verhandlung in Strafverfahren

Um unionsweite Mindeststandards von Verfahrensrechten im Strafverfahren zu
stärken,       wurde     ein    Maßnahmenkatalog            mit    für    wesentlich      erachteten
Verfahrensrechten eingeführt. Ziele sind ein gemeinsamer qualitativer Standard
in Strafprozessen aller Mitgliedstaaten und die Sicherung der Geltung
grundrechtlicher Schutzstandards.93
In Kapitel 2 der Richtlinie (EU) 2016/343, wird zunächst die zwingende
Notwendigkeit          der     Mitgliedstaaten      festgehalten,        welche     darin     besteht,
sicherzustellen, dass Verdächtigte und Beschuldigte bis zum rechtskräftigen
Schuldnachweis als unschuldig zu gelten haben (Art. 3 RL).
Öffentliche Aussagen von Behörden, die sich auf eine konkrete Tat beziehen,
dürfen den Anschein nicht erwecken, die betreffende Person, auf die Bezug
genommen wird, sei schuldig (Art 4. Abs. 1 RL).
Es ist nach Art 4 Abs. 3 RL, jedoch legitim, die Öffentlichkeit über einen
Strafprozess zu informieren, soweit es im Ermittlungsverfahren oder im
öffentlichen Interessen unbedingt notwendig ist.

90
   Vgl Alber, Kölner Gemeinschafts-Kommentar, Europäische GRC, Art 48, Rz 7.
91
   Vgl Folz in Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Kommentar Art 48, Rz 3.
92
   Vgl Henn, Strafrechtliche Verfahrensgarantien im europäischen Kartellrecht, 141.
93
   Vgl Wahl in Die EU-Richtlinien zur Stärkung der Strafverfahrensrechte im Spiegel der EMRK,
https://link.springer.com/article/10.1007/s12027-017-0470-7?shared-article-renderer (Stand 20.08.2020)

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Liegt eine Verletzung gegen den Zweifelsgrundsatz vor, so kann die betroffene
Person, ihre Rechte mit einem wirksamen Rechtsbehelf durchsetzen (Art. 4
Abs. 2 iVm Art. 10 Abs. 1 RL).
Im Bezug auf die Vorführung von Verdächtigten und Beschuldigten müssen die
Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Personen sowohl vor Gericht als auch in der
Öffentlichkeit, nicht durch die Anwendung von physischen Zwangsmaßnahmen,
beispielsweise Glaskabinen, Käfige, Fußfesseln, Handschellen sowie durch das
Tragen von Häftlingskleidung so vorgeführt werden, als seien sie schuldig (Art.
5 Abs. 1 RL). Eine physische Zwangsmaßnahme ist jedoch zulässig, wenn sie
aus       Sicherheitsgründen         –    wie    etwa     Hintanhaltung       von     Fremd- oder
Selbstverletzungsgefahr, Hinderung an der Flucht oder Kontaktaufnahme mit
Dritten – notwendig ist (Art. 5 Abs. 2 RL).
Die Mitgliedstaaten müssen zudem gewährleisten, dass die Beweislast für die
Schuldfeststellung bei der Behörde liegt (Art. 6 Abs. 1 RL) und der kleinste
Zweifel an der Schuld dem Verdächtigten oder Beschuldigten zugutekommt
(Art. 6 Abs. 2 RL).
Weiters muss das Recht auf Aussageverweigerung (Art. 7 Abs. 2 RL) und das
Recht, sich selbst nicht belasten zu müssen (Abs. 2 leg cit) zu jedem Zeitpunkt
sichergestellt werden; die Berücksichtigung eines kooperativen Verhalten von
verdächtigten und beschuldigten Personen, ist bei der Verurteilung zulässig.
(Abs. 4 leg cit).

C. Art 48 Abs 1 GRC

                                  Art 48 Abs 1 GRC
                 Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte
      (1) Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner
                               Schuld als unschuldig.94

Die Union verpflichtet sich mit Art. 6 Abs. 1 EUV seit dem Inkrafttreten des
Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009, die in der GRC garantierten
Rechte, Freiheiten und Grundsätze anzuerkennen. Die GRC ist den Verträgen
rechtlich gleichrangig gestellt.95 Daher ist sie zwar nicht Bestandteil der
Verträge, wird aber dem primären Unionsrecht zugezählt und genießt

94
     Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 18.12.2000, ABI C 2007/306, 1, Art 48.
95
     Vgl Bezemek, Grundrechte § 1 Rz 6.

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Rechtsverbindlichkeit.96           Art.     53       GRC         beinhaltet       eine        spezielle
Günstigkeitsklausel, nach der die in der Charta gewährleisteten Rechte lediglich
einen Mindeststandard garantieren. Andere Unions- oder nationale Rechte, die
einen höheren Standard gewähren, bleiben von der GRC unberührt.97

Art. 48 besteht aus zwei eigenständigen prozessualen Verfahrensgarantien,
welche funktionell zusammenhängen und zusammen ein faires Verfahren im
Strafverfahren sichern sollen. Während Abs. 1 ist die Unschuldsvermutung
regelt, normiert Abs. 2 die Verteidigungsrechte. 98

1. Entstehungsgeschichte

Bei     der         Erarbeitung   der     Grundrechtcharta           waren      zu     Beginn       die
Existenzberechtigung              sowie        die      inhaltliche        Ausgestaltung            der
Unschuldsvermutung unbestritten. Strittig war jedoch, ob diese prozessuale
Garantie überhaupt in der GRC verankert werden sollte. Die Mitglieder
kritisierten, dass der EU (noch vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon) die
nötige Kompetenz zur Erlassung von Normen auf dem Gebiet des Strafrechts
fehlte. Andere befürworteten, dass die Europäische Union auch im Strafrecht
nun eine Vereinheitlichung anstrebte.99 Da die meisten Vertragsstaaten
vergleichbare Verfahrensgarantien in ihren Verfassungsordnungen haben,
könnte die gemeinsame Verfahrenstradition entscheidend dafür sein, dass die
Unschuldsvermutung schließlich in die GRC übernommen wurde.100
Obwohl der Wortlaut zwar nicht ident ist, hat Art. 48 Abs. 1 GRC denselben
Tenor wie die korrespondierende Konventionsbestimmung des Art. 6 Abs. 2
EMRK.101 Daraus kann man entnehmen, dass Abs. 1 die Grundlagen des Art. 6
Abs.      2    EMRK       gänzlich    übernommen           hat    und     somit      gleich    diesem
Konventionsrecht auszulegen ist.102

96
   Vgl Pavlidis, EU und EMRK: Rechtsfragen eines Beitritts, 15.
97
   Vgl Hengstschläger/Leeb, Grundrechte, 18.
98
   Vgl Granner/N. Raschauer in Holoubek/Lienbacher (Hrsg), GRC-Kommentar, § 48 Rz 1.
99
   Vgl Eser in Meyer/Hölscheidt (Hrsg), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, § 48 Rz 3.
100
    Vgl Granner/N. Raschauer in Holoubek/Lienbacher (Hrsg), GRC-Kommentar, § 48 Rz 2.
101
    Vgl John, Die Grundrechtecharta in der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes, 366.
102
    Vgl Granner/N. Raschauer in Holoubek/Lienbacher (Hrsg), GRC-Kommentar, § 48 Rz 5.

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2. Telos

Die Unschuldsvermutung beinhaltet das Verbot der Bezeichnung oder
Behandlung eines Nichtverurteilten als schuldige Person. Dabei sind die drei
folgenden Aspekte zu beachten:

•     Verbot        eines    Schuldspruches            und   Auferlegung       von   Strafen      oder
      strafähnlichen Sanktionen ohne eine gesetzliche Schuldfeststellung.
•     Verbot schuldimplizierender Behandlungen vor Schuldnachweis; Eingriffe,
      die zur Wahrheitsfindung dienen, sind jedoch erlaubt (vgl. Art. 5 EMRK).
•     Die    nötige     Grenzziehung             zwischen       unerlaubter    Bezeichnung        oder
      Behandlung einer Person als schuldig und zulässige Maßnahmen oder
      Belastungen (orientiert an dem Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs,
      welcher auch einem Unschuldigen zumutbar wäre).103

Der Ausspruch einer Verdächtigung ist nur zulässig, solange der Angeklagte
nicht rechtskräftig freigesprochen wurde. In einem Verfahren über eine
Entschädigung               wegen     einer       ex     post     betrachtet     ungerechtfertigten
Untersuchungshaft, darf daher nicht zwischen einem Freispruch im Zweifel und
einem       Freispruch        durch       Widerlegung        unterschieden       werden.104        Die
Unschuldsvermutung kann den Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“
verstärken, wonach sich der Beschuldigte ein Schweigerecht hat und                                 sich
selbst nicht belasten muss. Obwohl weder die EMRK noch die GRC diese
Beschuldigtenrechte explizit normieren, werden sie durch die Konnexität von
Art. 47 Abs. 2 (fair trial) und Art. 48 Abs. 1 (Unschuldsvermutung) garantiert, da
ein faires Verfahren bedingt, dass die Schuldfeststellung nicht                                        auf
Beweismitteln          basiert,     die    durch       erzwungene       aktive    Mitwirkung des
                                           105
Beschuldigten erbracht wurden.
Das in Art. 48 GRC garantierte Recht bindet sowohl die Mitgliedstaaten und
deren Stellen, als auch die Union und deren Gerichte, soweit der
Streitgegenstand die allgemeine strafrechtliche Sanktionierung von Vorschriften
des Unionsrechts betrifft.106

103
    Vgl Eser in Meyer/Hölscheidt (Hrsg), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, § 48 Rz 5ff.
104
    Vgl Hengstschläger/Leeb, Grundrechte, 289.
105
    Vgl Eser in Meyer/Hölscheidt (Hrsg), Charta der Grundrechte der Europäischen Union § 48 Rz 10a.
106
    Vgl Jarass, EU-Grundrechte, 461.

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3. Anwendungsbereich

Das in Art. 48 GRC verbürgte Recht, schützt natürliche und juristische
Personen, soweit der sachliche Anwendungsbereich eröffnet ist.107 Wie schon
der Begriff „angeklagte Person“ erkennen lässt, hat die Unschuldsvermutung
eine enorme Bedeutung im strafprozessualen Bereich, wobei sie in all jenen
Verfahren gilt, die einen strafähnlichen Charakter haben, wie etwa im Rahmen
des          deutschen         Ordnungswidrigkeitenrechts                  oder        das            des
Verwaltungssanktionsrecht auf europäischer Ebene.108 Auch andere offizielle
Maßnahmen, die eine Person in ihrer Rechtsposition beeinträchtigen können,
wie etwa ein Durchsuchungsbefehl, eine Beschlagnahmeverfügung oder die
Aufhebung der Immunität, können in diesen Schutzbereich gefasst werden.109
Eine – wie im österreichischen Strafverfahren erforderliche – formelle
Anklageerhebung           wird      nicht     vorausgesetzt.         Nach       hA     muss       eine
behördliche/gerichtliche Entscheidung über die Anklage einer strafbaren
Handlung oder Unterlassung, Gegenstand des Verfahrens sein.110 Ein
Strafprozess über die Verhängung oder Verlängerung einer Untersuchungshaft,
ist hiervon nicht betroffen.111

Ob eine „Strafe“ im Sinne des Art. 48 GRC vorliegt, ist grundsätzlich unter den
„Engel-Kriterien“ zu beurteilen.112 Unwesentlich sind restitutive oder präventive
Maßnahmen. Die Erheblichkeitsschwelle bei Geldstrafen und –bußen liegt bei
einigen hundert Euro. Eine Haft gilt generell als Sanktion, solange es sich nicht
nur um wenige Tage handelt.113 Das Ziel strafrechtlicher Regelungen, ist es zu
bewirken, dass die Bürger ihren gesetzlichen Pflichten nachkommen und bei
Verstoß gegen dieselben sanktioniert werden. Dabei sollen die Sanktionen
einen abschreckenden sowie bestrafenden Charakter haben. Von weiteren
dogmatischen Voraussetzungen für die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen
wird grundsätzlich abgesehen. Vereinzelt findet man jedoch Entscheidungen
bei denen das Verschulden des Täters zusätzlich vorliegen muss. Die Lehre ist
der Ansicht, dass der Schuldbegriff der EMRK/GRC die gleiche Bedeutung wie

107
    Vgl Jarass, EU-Grundrechte, 467.
108
    Vgl Eser in Meyer/Hölscheidt (Hrsg), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, § 48 Rz 11.
109
    Vgl Kröll in Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar2 Art 48 Rz 9 (Stand 10.09.2019, rdb.at)
110
    Vgl Granner/N. Raschauer in Holoubek/Lienbacher (Hrsg), GRC-Kommentar, § 48 Rz 11.
111
    Vgl Kröll in Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar2 Art 48 Rz 9 (Stand 10.09.2019, rdb.at)
112
    Vgl. EGMR 08. 06 1976, Engel u. a./Niederlande.
113
    Vgl Jarass, EU-Grundrechte, 462.

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der österreichische Schuldbegriff hat.114 Somit ist nur strafbar, wer schuldhaft
handelt.115 Zusätzlich         ist   die     Frage     der    Zumutbarkeit      (rechtmäßiges
persönlichen Alternativverhalten des Angeklagten, gemessen an einem
besonnenen, mit den rechtlichen Werten verbundenen Menschen) von zentraler
Bedeutung. In diesem Kontext erklärt der Gerichtshof, dass strafrechtliche
Verantwortlichkeit von dem eigenen persönlichen Verhalten der Person
abhängig ist.116

D. Rechtsprechung des EuGH

1. Spector Photo Group NV, Chris Van Raemdonck gegen Commissie
   voor het Bank-, Financie- en Assurantiewezen (CBFA), Urteil vom
   23.12.2009

Sachverhalt
S., eine börsengehandelte Gesellschaft, ermöglichte ihren Beschäftigten den
Kauf von Aktien an. C. erteilte im August 2003 Aufträge, aufgrund deren
Spector 19 773 weitere Aktien erwerben konnte. Daraufhin veröffentlichte die
Firma       Informationen     über    die        Geschäftsergebnisse      und     –politik   des
Unternehmens.117 Die CBFA (Banken- Finanz- und Versicherungskommission,
die Kontrolle über den belgischen Finanzsektor hat) stufte den Einkauf als
illegales Insidergeschäft ein und ordnete eine Geldbuße in Höhe von 80.000
Euro gegen S. sowie eine Geldbuße in Höhe von 20.000 Euro gegen C. an,
woraufhin beide Klagen gegen diese Entscheidung erhoben.118
Im     Verfahren     vor    dem      Hof     van     beroep     te   Brussel        (belgisches
Berufungsgericht),         erhoben         die     Kläger     Einwände,      weswegen         ein
Vorabentscheidungsverfahren eingeleitet wurde.119 Dieses betraf die Auslegung
von Art 2 und 24 der RL 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates über Insiderhandel und Marktmanipulation, wo es in Art. 2 Abs. 1 der RL
heißt:

114
    Vgl Granner/N. Raschauer in Holoubek/Lienbacher (Hrsg), GRC-Kommentar, § 48 Rz 16ff.
115
    Vgl Strafprozessordnung 1975 BGBI 1975/631 idF BGBI I 2004/19, § 4.
116
    Vgl Granner/N. Raschauer in Holoubek/Lienbacher (Hrsg), GRC-Kommentar, § 48 Rz 18ff.
117
    Vgl EuGH 23.12.2009, C-45/08, Spector Photo Group NV, Chris Van Raemdonck /Commissie voor het
Bank-, Financie- en Assurantiewezen (CBFA) Rz 11 ff.
118
    Vgl EuGH 23.12.2009, C-45/08, Spector Photo Group NV, Chris Van Raemdonck /Commissie voor het
Bank-, Financie- en Assurantiewezen (CBFA) Rz 15 ff.
119
    Vgl EuGH 23.12.2009, C-45/08, Spector Photo Group NV, Chris Van Raemdonck /Commissie voor het
Bank-, Financie- en Assurantiewezen (CBFA) Rz 16.

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„Die Mitgliedstaaten untersagen Personen im Sinne von Unterabsatz 2, die über
eine Insider-Information verfügen, unter Nutzung derselben für eigene oder
fremde Rechnung direkt oder indirekt Finanzinstrumente, auf die sich die
Information beziehen, zu erwerben oder zu veräußern oder dies zu versuchen.“

Rechtsausführung
Art. 2 Abs. 1 der RL 2003/06 bestimmt nicht explizit die subjektiven
Tatbestandsmerkmale, die sich auf einen Vorsatz beziehen. Ob betrügerische
Absicht vorliegen muss oder ob nur Fahrlässigkeit reicht, lässt sich aus der
Bestimmung grundsätzlich nicht entnehmen.120 Dass die RL keine subjektiven
Voraussetzungen verlangt, kann man erstens aus der Natur von                          Insider-
Geschäften ableiten, die es zulässt, subjektive Merkmale zu vermuten und
zweitens aus dem Zweck der RL, die die Integrität der Finanzmärkte der Union
garantieren und das Vertrauen der Investoren in diese Märkte festigen soll.
Daraus ergibt sich, dass die Bestimmung des Art. 2 Abs. 1 der RL 2003/06 es
erlaubt, zu vermuten, dass die Tat mit Vorsatz begangen worden sei.121
Dem Gerichtshof und der Rechtsprechung zufolge, sind sowohl Tatsachen- als
auch Rechtsvermutungen zulässig. Die Mitgliedstaaten sind daran gebunden,
strafrechtliche Grenzen einzuhalten und vor allem die Verteidigungsrechte zu
             122
wahren.             Der EuGH stellt fest, dass der Zweifelsgrundsatz der Vermutung in
Art. 2 Abs. 1 der RL 2003/06 nicht entgegensteht und, dass die Intention des
Urhebers            von   Insidergeschäften    implizit    aus    dem      Element       dieser
Zuwiderhandlung            schlussgefolgert   werden      kann.     Die    Möglichkeit      der
Widerlegung dieser Vermutung besteht nach wie vor und auch die
Verteidigungsrechte bleiben gewahrt.123

2. EP, Urteil vom 19.09.2019

Sachverhalt
EP ermordete im August 2015 in Bulgarien seine Mutter im Zustand
psychischer Störung (paranoide Schizophrenie) und wurde wenige Tage darauf

120
    Vgl EuGH 23.12.2009, C-45/08, Spector Photo Group NV, Chris Van Raemdonck gegen Commissie
voor het Bank-, Financie- en Assurantiewezen (CBFA) Rz 32.
121
    Vgl EuGH 23.12.2009, C-45/08, Spector Photo Group NV, Chris Van Raemdonck gegen Commissie
voor het Bank-, Financie- en Assurantiewezen (CBFA) Rn 38.
122
    Vgl EuGH 23.12.2009, C-45/08, Spector Photo Group NV, Chris Van Raemdonck gegen Commissie
voor het Bank-, Financie- en Assurantiewezen (CBFA), Rn 43.
123
    Vgl EuGH 23.12.2009, C-45/08, Spector Photo Group NV, Chris Van Raemdonck gegen Commissie
voor het Bank-, Financie- en Assurantiewezen (CBFA) Rn 44.

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