IN DUBIO PRO REO UNIONSRECHTLICHER ZWEIFELSGRUNDSATZ NACH DER RECHTSPRECHUNG DES EGMR, VFGH UND DES EUGH - JKU EPUB
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Eingereicht von Dijana Ramic Angefertigt am Institut für Europarecht Beurteiler / Beurteilerin Univ.-Prof. Dr. Franz IN DUBIO PRO REO Leidenmühler Dezember 2020 Unionsrechtlicher Zweifelsgrundsatz nach der Rechtsprechung des EGMR, VfGH und des EuGH Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Magistra der Rechtswissenschaften im Diplomstudium Rechtswissenschaften JOHANNES KEPLER UNIVERSITÄT LINZ Altenberger Straße 69 4040 Linz, Österreich jku.at DVR 0093696
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt bzw. die wörtlich oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die vorliegende Diplomarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument identisch. Linz, 20.12.2020 23. Dezember 2020 2/43
GENDERERKLÄRUNG Um eine leichtere Lesbarkeit zu gewährleisten, wird in der vorliegenden Diplomarbeit auf geschlechtsspezifische Formulierungen verzichtet und die gewohnte männliche Sprachform bei personenbezogenen Substantiven und Pronomen verwendet. 23. Dezember 2020 3/43
Inhaltsverzeichnis I. Einleitung ............................................................................................................................... 6 II. Nationaler Zweifelsgrundsatz........................................................................................... 7 A. Grundsatz „In dubio pro reo“...................................................................................................... 7 1. Anwendung des Art. 6 Abs. 2 EMRK in Österreich .........................................................10 a) Telfner gegen Österreich, Urteil vom 20.03.2001....................................................12 b) Cleve gegen Deutschland, Urteil vom 15.01.2015 ..................................................13 c) Allent de Ribemont gegen Frankreich, Urteil vom 10.02.1995 ..............................14 d) Falk gegen die Niederlande, Urteil vom 19.10.2004 ...............................................15 e) Daktaras gegen Litauen, Urteil vom 10.10.2000 .....................................................16 2. Rechtsprechung des VfGH .................................................................................................17 a) Engel-Kriterien ..............................................................................................................18 III. Unionsrechtlicher Zweifelssatz ..................................................................................... 20 A. Grundsatz „in dubio pro reo“ im Unionsrecht ........................................................................20 B. Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 09. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren ............................................................................................................................20 C. Art 48 Abs 1 GRC ......................................................................................................................21 1. Entstehungsgeschichte .......................................................................................................22 2. Telos .......................................................................................................................................23 3. Anwendungsbereich.............................................................................................................24 D. Rechtsprechung des EuGH .....................................................................................................25 1. Spector Photo Group NV, Chris Van Raemdonck gegen Commissie voor het Bank-, Financie- en Assurantiewezen (CBFA), Urteil vom 23.12.2009 .................25 2. EP, Urteil vom 19.09.2019 ..................................................................................................26 3. Emil Milev, Urteil vom 19.09.2018 .....................................................................................28 4. DK, Urteil vom 19.11.2019 ..................................................................................................29 IV. Innocence Network ........................................................................................................... 31 A. Innocence Project ......................................................................................................................31 1. Kenny Waters ........................................................................................................................33 B. Italy Innocence Project .............................................................................................................34 1. Amanda Knox........................................................................................................................34 C. Knoops´ Innocence Project ......................................................................................................35 1. Andy Melaan und Nozai Thomas .......................................................................................36 2. Ina Post ..................................................................................................................................37 23. Dezember 2020 4/43
V. Conclusio ............................................................................................................................. 37 VI. Literatur- und Quellenverzeichnis................................................................................. 39 VII. Judikatur- und Normenverzeichnis .............................................................................. 43 23. Dezember 2020 5/43
I. Einleitung „Besser man riskiert, einen Schuldigen zu retten als einen Unschuldigen zu verurteilen“ - Voltaire (Quelle: Zadig oder Das Schicksal, Kap. 6) Es muss immer eine Regel darüber geben, wie zu entscheiden ist, wenn etwas nicht bewiesen werden kann – in jedem Prozessrecht, zu welcher Zeit und an welchem Kontinent auch immer.1 Der aus dem römischen Recht abgeleitete Ansatz „in dubio pro reo“ (lat. „Im Zweifel für den Angeklagten“) ist in vielen Rechtsordnungen verankert und bezieht sich darauf, dass jede Person bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig zu gelten hat. Obwohl dieser Grundsatz jedem, der eine grundsätzliche Vorstellung darüber hat, was Gerechtigkeit ist, geläufig ist, wird er dennoch sehr unterschiedlich interpretiert – so auch in den Rechtsordnungen in vielen Teilen der Welt. Die Unschuldsvermutung ist ohne Zweifel einer der Grundpfeiler einer demokratischen Rechtsordnung, um die jahrhundertelang gekämpft wurde.2 Zu beachten ist jedoch, dass in allen Justizsystemen – auch in entwickelten Demokratien - Recht und Gerechtigkeit weit auseinander klaffen können. In den meisten Fällen kommt dennoch der Zweifelsatz zur Anwendung – aber nicht immer.3 Diese Diplomarbeit stützt sich wesentlich auf Analysen von Urteilen des EGMR, VfGH und EuGH, wobei die (teilweise übersetzten) Urteile in ihrer vollen Länge, zur Interpretation herangezogen wurden. Sehr präzise wird die Bedeutung der Unschuldsvermutung, deren Anwendungsbereich und deren Folgen, bei Verletzung derselben, erörtert. Außerdem wird sowohl auf die Gemeinsamkeiten und als auch auf die Unterschiede der Auslegungen der Gerichtshöfe hingewiesen. Abschließend werden unterschiedliche Organisationen vorgestellt, welche sich dafür einsetzen, unschuldig Verurteilte zu entlasten, sowie Ursachen für rechtswidrige Verurteilungen zu erforschen und zu beseitigen. 1 Vgl Volk, Die Wahrheit vor Gericht (2016) 260. 2 Vgl Steiner, Unschuldsvermutung (WAS Nr. 105) (2012) 17. 3 Vgl Himmelfreundpointner, Unschuldig hinter Gittern: Justizirrtümer in Österreich (2008) 15. 23. Dezember 2020 6/43
II. Nationaler Zweifelsgrundsatz A. Grundsatz „In dubio pro reo“ § 8 StPO Unschuldsvermutung „Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig.“4 Das Prinzip der Unschuldsvermutung ist nicht nur in einer, sondern in mehreren Normen und Rechtsquellen festgehalten. In Österreich ist seit dem Strafprozessreformgesetz 2004 der Grundsatz in § 8 StPO als Prozessgrundsatz in einem einfachen Gesetz (Strafprozessordnung) verankert. Nach der Unschuldsvermutung, auch als Zweifelsgrundsatz bekannt, ist jede Person bis zum rechtskräftigen Nachweis ihrer Verurteilung unschuldig. Der Grundsatz richtet sich somit einerseits an den Richter, der zunächst von der Unschuld des Angeklagten auszugehen hat, und andererseits an die Allgemeinheit, der straf- und zivilrechtlich verboten wird, jemanden als den Täter einer Straftat zu bezeichnen, solange diese Person nicht wegen dieser Tat rechtskräftig verurteilt wurde.5 Dieser Grundsatz, sowohl verfassungs- sowie völkerrechtlich in Art. 6 Abs. 2 EMRK, und einfach gesetzlich in § 8 StPO verankert, schützt vor uneingeschränkter und willkürlicher oder unverhältnismäßiger Staatsmacht, unter anderem in strafprozessualen Ermittlungsverfahren. Dementgegen steht nicht nur der Prozessgrundsatz der amtswegigen Wahrheitserforschung sondern auch die Effektivität der Untersuchung. Die Zulässigkeit sämtlicher Grundrechtseingriffe wird an der Unschuldsvermutung gemessen, was zur Bedeutung hat, dass diese im engen Kontext mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der im § 5 StPO geregelt ist, steht.6 Der Nachweis der Schuld kann nur durch gerichtliche Entscheidungen nach einem gesetzmäßigen Verfahren gem. § 5 StPO erfolgen, wobei der Zweifelsgrundsatz auch noch im Rechtsmittelverfahren bestehen bleibt.7 Im österreichischen Strafverfahren steht die Diversion gem. §§ 198ff StPO, als dritte Spur im Strafrecht in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Unschuldsvermutung, da sie voraussetzt, dass der Beschuldigte bzw. 4 Strafprozessordnung 1975 BGBI 1975/631 idF BGBI I 2004/19, § 8. 5 Vgl Steiner, Unschuldsvermutung (WAS Nr. 105) (2012) 7. 6 9 Vgl Birklbauer, Strafprozessrecht Lehrbuch (2018) 26f. 7 13 Vgl Fabrizy, StPO (2017), § 8 StPO, Rz 1. 23. Dezember 2020 7/43
Angeklagte freiwillig einer sanktionsersetzenden Begleitmaßnahme aufgrund eines hinreichend aufgeklärten Sachverhaltes, zustimmt. Solche Zustimmungen, können als informelle Geständnisse angesehen werden, sind aber dennoch kein gesetzlicher Schuldnachweis. Ohne Verurteilung erfolgt somit auch keine Eintragung ins Strafregister und die Unschuldsvermutung bleibt weiterhin bestehen.8 In der Strafprozessordnung ist der Zweifelsgrundsatz eines der wichtigsten Grundprinzipien, auf das alle weiteren Rechte der Beschuldigten aufbauen.9 Somit können beispielsweise folgende Rechte aus der Unschuldsvermutung abgeleitet werden: das Recht des Beschuldigten auf Akteneinsicht (§ 51 StPO), die Beiziehung des Verteidigers (§ 58 StPO), die unverzügliche Informationspflicht der Angehörigen im Falle einer Verhaftung (§ 171 Abs. 4 Z 2 lit a StPO) und die Vergünstigung beim Vollzug der U-Haft (§§182 ff StPO).10 Das in § 8 StPO verbürgte Recht, kann man in effectu auch aus der Norm des § 259 StPO ableiten, welcher Gründe für einen Freispruch von der Anklage durch Urteil des Schöffengerichts enthält. § 259 StPO „Der Angeklagte wird durch Urteil des Schöffengerichts von der Anklage freigesprochen: … 1. wenn das Schöffengericht erkennt, daß die der Anklage zugrunde liegende Tat vom Gesetz nicht mit Strafe bedroht oder der Tatbestand nicht hergestellt oder nicht erwiesen sei, daß der Angeklagte die ihm zur Last gelegte Tat begangen habe, oder daß Umstände vorliegen, durch die die Strafbarkeit aufgehoben oder die Verfolgung aus anderen als den unter Z1 und 2 angegeben Gründen ausgeschlossen ist.“11 Der dritte Fall der Ziffer 3 regelt, dass der Angeklagte bei Nichtgelingen des Schuldbeweises durch Urteil von der Anklage freigesprochen wird.12 Dem Wortlaut nach „ wird“ hat das Gericht keinen Ermessensspielraum und muss daher den Angeklagten freisprechen. Schuldverdächtigungen, in der 8 9 Vgl Birklbauer, Strafprozessrecht Lehrbuch (2018) 27. 9 Vgl Steiner, Unschuldsvermutung (WAS Nr. 105) (2012) 7. 10 9 Vgl Birklbauer, Strafprozessrecht Lehrbuch (2018) 27. 11 Strafprozessordnung 1975 BGBI 1975/631 idF BGBI I 2004/19, § 259. 12 13 Vgl Fabrizy, StPO (2017), § 259 StPO, Rz 7. 23. Dezember 2020 8/43
Begründung des Freispruchs, zu äußern, steht dem Art. 6 Abs. 2 EMRK entgegen.13 Die in den Z3 genannten Gründe bewirken somit einen Freispruch aus materiellen Gründen und bestätigen daher die in Art. 6 Abs. 2 EMRK genannte Unschuldsvermutung.14 Der Zweifelsgrundsatz ist verfassungsrechtlich durch die völkerrechtliche Regelung des Art. 6 Abs. 2 EMRK garantiert. Art. 6 Abs. 2. EMRK - Recht auf ein faires Verfahren „Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“15 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt fest, dass der Geltungsbereich des Art. 6 Abs. 2 sich vom Ermittlungsverfahren, bis hin zum Verfahren nach dem endgültigem Freispruch oder Einstellung des Verfahrens erstreckt.16 Für die Anwendbarkeit dieser Bestimmung muss ein strafrechtlicher Teil vorliegen. Personen die sich aus anderen Gründen, wie etwa der Vorbereitung einer Abschiebung oder Auslieferung, in Haft befinden, können sich nicht auf Art. 6 EMRK stützen.17 Der Zweifelsgrundsatz verpflichtet dabei die Richter, unvoreingenommen in die Verhandlung zu gehen und den Angeklagten nicht im Voraus als schuldig anzusehen.18 Die Beweislast liegt nicht beim Angeklagten; jede Beweislastumkehr verstößt somit grundsätzlich gegen Art. 6 Abs. 2 EMRK. Ein Verstoß liegt auch dann vor, wenn aus dem Schweigen des Angeklagten Schlussfolgerungen gezogen werden.19 Im Recht des Europarates kann jedoch in besonderen Fällen die Verteidigung zur Beweiserbringung verpflichtet sein. Die Bedeutung des Gerichtsprozesses für die einzelne Partei sowie die Schutzmechanismen für die Rechte der Verteidigung, sind bei der Beurteilung, ob eine solche Beweislastumkehr 13 Vgl Lendl in Fuchs/Ratz, WK StPO § 259, Rz 39. (Stand 14.08.2020, rdb.at) 14 9 Vgl Birklbauer, Strafprozessrecht Lehrbuch (2018) 250. 15 Europäische Menschenrechtskonvention 1958 BGBl 1958/210 idF BGBl I 1998/30, Art 6. 16 Vgl EGMR 19.05.2005, 71563/01, Diamantides/Griechenland Rz 35. 17 Vgl Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention (2016) 391. 18 Vgl EGMR 05.07.2001, 41087/98, Phillips/Vereinigtes Königreich Rz 40. 19 Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich Rz 15f. 23. Dezember 2020 9/43
zulässig ist, ausschlaggebend.20 Im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK (Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung) kann die Beweislast auf den Staat übergehen, sofern Geschehnisse, über die verhandelt wird, innerhalb des Bereichs der staatlichen Kontrolle stattfanden, beispielsweise in einer Haftanstalt. Daraus resultiert, dass die Behörden eine plausible Erklärung über die Verletzungen des Häftlings, die sich dieser während der Haft zugezogen hat, abgeben müssen.21 Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass die Richter gegen das Gesetz verstoßen, wenn sie sich über die Schuld eines Angeklagten beziehungsweise dessen Verteidigungsstrategie negativ äußern, ehe ein Urteil ergangen ist.22 Dies gilt auch für andere Behörden23, sowie für Ermittlungsbeamte24, und Abgeordnete, wenn sich diese beispielsweise in der Öffentlichkeit zu einem Fall äußern.25 Das verfassungsrechtlich garantierte Recht wird auch dann verletzt, wenn der Angeklagte in erster Instanz freigesprochen wurde, ein Verfahren in zweiter Instanz anhängig ist und der Staatsanwalt erklärt, dass ihn kein Richter davon überzeugen könne, dass der Angeklagte unschuldig sei.26 1. Anwendung des Art. 6 Abs. 2 EMRK in Österreich Europa verfügt mit der im Rahmen des Europarates geschaffenen EMRK über das effektivste Individualrechtschutzsystem der Welt, das vom EGMR in Straßburg überwacht wird.27 Mit der Neuformulierung des Art. 6 Abs. 2 EUV durch den Vertrag von Lissabon, wurden alle Mitgliedstaaten der EU verpflichtet, der EMRK beizutreten.28 Als Österreich sich der EMRK 1958 zur dieser anschloss, erklärte, der Verfassungsgerichtshof allerdings, dass sie nur den Rang eines einfachen Bundesgesetzes habe. Dies wurde 1964 durch ein BVG aufgehoben und die EMRK wurde rückwirkend in den Verfassungsrang erhoben. Der Verfassungsgerichtshof verneinte dennoch lange die Grundrechtsqualität der EMRK, da er der Auffassung war, dass ihre 20 Vgl Handbuch zu den europarechtlichen Grundlagen des Zugangs zur Justiz (2016) 142. 21 Vgl Handbuch zu den europarechtlichen Grundlagen des Zugangs zur Justiz (2016) 143. 22 Vgl EGMR 28.11.2002, 58442/00, Lavents/Lettland Rz 127. 23 Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rn 36. 24 Vgl EGMR 30.03.2010, 44418/07, Poncelet/Belgien Rz 57ff. 25 Vgl EGMR 26.03.2002, 48297/99, Butkevicius/Litauen Rz 49. 26 Vgl EGMR 07.01.2010, 32130/03, Petyo Petkov/Bulgarien Rz 92ff. 27 Vgl Sild, Der Beitritt der Europäischen Union zur Menschenrechtskonvention (2015) 19f. 28 Vgl Posch in Leidenmühler/Eder/Leingartner/Winkler, Grundfreiheiten - Grundrechte - Europäisches Haftungsrecht (2012) 309. 23. Dezember 2020 10/43
Anwendung nicht unmittelbar erfolge. Durch die häufige Verurteilung Österreichs in Straßburg und der scharfen Kritik in der Wissenschaft, sah sich der Verfassungsgerichtshof letztendlich gezwungen seine Rechtsprechung zu ändern und kannte schließlich die EMRK und die später ratifizierten Zusatzprotokolle unmittelbar als Grundrechte an.29 Erwähnenswert dabei ist, dass die EMRK nicht nur österreichischen Staatsbürgern, sondern allen Menschen in Österreich, den Grundrechtsschutz gewährt.30 Der EGMR ist für 800 Millionen Menschen in 47 Staaten zuständig und somit eine einzigartige Institution weltweit.31 Alle Bürger aus Mitgliedstaaten der EMRK können sich, nach Ausschöpfung des nationalen Rechtsweges, mittels Individualbeschwerde an den EGMR wenden, um ihre Rechte durchzusetzen.32 Art. 34 und 35 der EMRK enthalten die Kriterien für die Zulassung von Individualbeschwerden an den Gerichtshof. Da jedoch viele Beschwerden ungenau sind und nicht ersichtlich ist, ob die Zulassungskriterien erfüllt sind, werden diese zurückgewiesen.33 Gem. Art. 46 Abs 1 EMRK sind die Vertragsstaaten verpflichtet, das Urteil des EGMR zu befolgen. Die Bindungswirkung an das Urteil richtet sich nur an die Mitgliedstaaten und entfaltet somit keine unmittelbare Anwendung.34 Da etwaige Behörden oder Gerichte nicht daran gebunden sind, verdrängen weder Urteile des EGMR noch Grundrechte der EMRK das nationale Recht. Die Pflicht zu einer konventionsformen Auslegung und Anwendung nationaler Rechtsvorschriften bleibt jedoch weiterhin bestehen und die innerstaatlichen Gerichte dürfen von der rechtlichen Würdigung des EGMR in der entschiedenen Sache nicht abweichen.35 Notwendigerweise müssen letztlich nationale gesetzliche Regelungen für die Durchsetzung von Urteilen des EGMR geschaffen werden.36 29 Vgl Welan in Österreich in Geschichte und Literatur, Über die Grundrechte und ihre Entwicklung in Österreich (2002) 7. 30 Vgl Welan in Österreich in Geschichte und Literatur, Über die Grundrechte und ihre Entwicklung in Österreich (2002) 2. 31 Vgl Safferling, Internationales Strafrecht: Strafanwendungsrecht – Völkerstrafrecht – Europäisches Strafrecht (2011) 586. 32 Vgl Tadler in Tätigkeitsbericht 2016, Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie (2017) 34. 33 Vgl EGMR: Wie kann man eine Beschwerde einreichen? www.humanrights.ch/de/ipf/grundlagen/durchsetzungsmechanismen/europarat/egmr/beschwerde- einreichen/ (Stand 14.08.2020) 34 Vgl VwGH 22.11.2004, 2004/10/0032. 35 Vgl Hecker, Europäisches Strafrecht (2015) 92f. 36 Vgl Stadlmayr, Wiedergutmachung bei Menschenrechtsverletzung (2013) 329f. 23. Dezember 2020 11/43
Der EGMR entscheidet somit nicht in der Sache, sondern stellt die Verletzung der EMRK fest und überlässt dem Staat die Schadensgutmachung (restitutio in integrum).37 Wenn jedoch festgestellt wird, dass das nationale Recht eine unvollständige Wiedergutmachung für die Folgen des Verstoßes zusichert, gewährt der EGMR eine entsprechende Entschädigung, sowohl für Vermögensschäden als auch für Nichtvermögensschäden.38 a) Telfner gegen Österreich, Urteil vom 20.03.2001 Sachverhalt K. wurde in Tirol im April 1995 von einem Auto angefahren und dabei leicht verletzt. Das Geschehnis meldete er sofort bei der Gendarmerie und gab auch dort gleich bekannt, dass er sich an den Autotyp und das Kfz-Kennzeichen, nicht jedoch an den Lenker erinnern konnte. Obwohl der PKW auf die Mutter des Bf. zugelassen war, benutzten auch andere Familienmitglieder das Fahrzeug.39 Die Gendarmerie schöpfte Verdacht, dass der Bf. den PKW zum Tatzeitpunkt in alkoholisiertem Zustand gelenkt habe.40 Es kam daher zu einer Anklage wegen fahrlässiger Körperverletzung. In der Gerichtsverhandlung bekannte sich der Bf. nicht schuldig; die Mutter und Schwester machten vom Entschlagungsrecht Gebrauch und das Opfer, sagte aus, dass es den PKW- 41 Fahrer nicht identifizieren könne. Obwohl die Beweislast nicht erdrückend war, wurde der Bf. zu einer Geldbuße von ATS 24.000,-- verurteilt. Seine Berufung gegen dieses Urteil wurde 1996 vom LG Innsbruck abgewiesen.42 Rechtsausführung Der Gerichtshof erkannte, dass die Gerichte bei der Ausübung ihrer Obliegenheiten dem Angeklagten gegenüber nicht voreingenommen sein dürfen und, dass die Beweispflicht bei der Anklage liege, wobei jeder Zweifel den Angeklagten begünstige. Das BG Silz und das LG Innsbruck bezogen sich 37 Vgl EGMR: Wie kann man eine Beschwerde einreichen? www.humanrights.ch/de/ipf/grundlagen/durchsetzungsmechanismen/europarat/egmr/beschwerde- einreichen/ (Stand 14.08.2020) 38 4 Vgl Hauer, Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts – Lehrbuch (2017) 306. 39 Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich, Rz 7-8. 40 Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich, Rz 10. 41 Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich, Rz 9. 42 Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich, Rz.10. 23. Dezember 2020 12/43
auf den Bericht der Gendarmerie, wonach der Bf. Hauptnutzer des PKW war und in der Tatnacht nicht nachhause gekommen sei.43 Das LG stellte weiters fest, dass das Fahrzeug auch noch von der Schwester des Verurteilten benutzt worden war.44 Im gegenständlichen Verfahren lag auch die Beweislast bei der Verteidigung, da es den Gerichten nicht möglich war überzeugende Beweise gegen den Angeklagten zu finden.45 Dass, das BG Silz und LG Innsbruck über die Alkoholisierung des Bf.s mutmaßten, stellt eine voreingenommene Haltung gegenüber dem Bf. dar.46 Es wurde einstimmig entschieden, dass eine Verletzung gem. Art 6 Abs 2 EMRK vorliege. Der EGMR sprach dem Bf. gem. Art 41 EMRK eine Entschädigung in Höhe von ATS 20.000,-- für den immateriellen Schaden zu.47 b) Cleve gegen Deutschland, Urteil vom 15.01.2015 Sachverhalt Die Staatsanwaltschaft Münster erhob am 18.01.2008 Anklage gegen den Bf. wegen fünfzehnfachen schweren sexuellen Missbrauchs und sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen. Der Vorwurf lautete, dass er seine Tochter A vergewaltigt habe, er wurde vom Landesgericht jedoch wegen unzureichender Beweislage freigesprochen.48 Der Bf. wurde durch die Aussage der Tochter belastet, wobei deren Aussage das Landesgericht nicht von der vollständigen Richtigkeit der Anklagepunkte überzeugen konnte. Obwohl Erzieherinnen, die Indizien hatten, dass A sexuell missbraucht sei, und Psychologinnen Aussagen gegen den Bf. tätigten, kam das Landesgericht nicht zum Entschluss, dass A von Dritten, dahingehend überredet worden sei, ihren Vater zu belasten.49 Im Freispruch wurde schließlich angeführt dass es auf jeden Fall zu sexuellen Übergriffen gekommen sei, die Taten sich jedoch weder ihrer Intensität, noch ihrer zeitlichen Einordnung konkretisieren ließen.50 Die Verfassungsbeschwerde des Bf gegen dieses Urteil, wurde durch das Bundesverfassungsgericht abgelehnt.51 43 Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich, Rz 14. 44 Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich, Rz 11. 45 Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich, Rz 18. 46 Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich, Rz 19f 47 Vgl EGMR 20.03.2001, 33501/96, Telfner/Österreich, Rz 25 48 Vgl EGMR 15.01.2015, 48144/09, Cleve/Deutschland Rz 10. 49 Vgl EGMR 15.01.2015, 48144/09, Cleve/Deutschland Rz 11f. 50 Vgl EGMR 15.01.2015, 48144/09, Cleve/Deutschland Rz 13. 51 Vgl EGMR 15.01.2015, 48144/09, Cleve/Deutschland Rz 18. 23. Dezember 2020 13/43
Rechtsausführung Der Bf. behauptete dass die Feststellungen des Landesgerichts in den Gründen des Freispruches einer Schuldfeststellung gleichgesetzt seien.52 Der Gerichtshof zeigte auf, dass das Äußern eines Schuldverdachts gegen denjenigen, der rechtskräftig freigesprochen wurde, nicht mit dem Zweifelsgrundsatz vereinbar sei.53 „In dubio pro reo“ gelte für den Zeitraum in dem der Angeklagte (noch) nicht rechtskräftig für schuldig erklärt wurde; danach erlösche der durch den Zweifelsgrundsatz gewährleistete Schutz. Der Gerichtshof stellte fest, dass die Ausführungen des Landesgerichts, dass es wirklich zu sexuellen Handlungen im Fahrzeug gekommen sei, dem Leser des Urteils den Eindruck vermittle, dass sich C. tatsächlich an seiner Tochter vergangen habe und daher schuldig sei.54 Der Gerichtshof entschied somit einstimmig, dass eine Verletzung gem. Art. 6 Abs. 2 der Konvention vorliege. Weiters wurden dem Bf. € 5.000.- für immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenfalls zu berechnender Steuern, sowie € 5.000.- für Kosten und Auslagen, zugestanden.55 c) Allent de Ribemont gegen Frankreich, Urteil vom 10.02.1995 Sachverhalt Nachdem der frühere Minister und Parlamentsabgeordneter Jean de Broglie ermordet worden war, gab der französische Innenminister gemeinsam mit einem Polizeibeamten eine Pressekonferenz. Dabei wurde der Name des Bf genannt.56 Dieser war im Jahre 1977 in U-Haft wegen Verdachts auf Mord geweswen, wurde jedoch wieder freigelassen und das Verfahren unverzüglich eingestellt.57 Der Bf. bestand auf Ersatz für den erlittenen materiellen sowie immateriellen Schaden, da er vom Innenminister öffentlich beschuldigt worden sei, Anstifter des Mordes gewesen zu sein, woraufhin die Medien über ihn berichteten.58 Nach Beschwerden an die Verwaltungsgerichte und ordentlichen Gerichte, kamen die Verwaltungsgericht schließlich nach fünf Jahren und acht 52 Vgl EGMR 15.01.2015, 48144/09, Cleve/Deutschland Rz 27. 53 Vgl EGMR 15.01.2015, 48144/09, Cleve/Deutschland Rz 26. 54 Vgl EGMR 15.01.2015, 48144/09, Cleve/Deutschland Rz 61. 55 Vgl EGMR 15.01.2015, 48144/09, Cleve/Deutschland Rz 73ff. 56 Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 10. 57 Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 12. 58 Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 59ff. 23. Dezember 2020 14/43
Monaten zu dem Entschluss, dass sie nicht für den Fall zuständig seien.59 Daraufhin legte A Beschwerde bei der EKMR ein.60 Rechtsausführung Die EKMR stellte fest, dass Art. 6 Abs. 2 verletzt wird, wenn eine gerichtliche Entscheidung darlegt, dass eine Person schuldig sei obwohl deren Schuld nzu diesem Zeitpunkt noch nicht gesetzlich nachgewiesen worden ist.61 Nicht nur der Richter oder ein Gericht, sondern auch andere Behörden können das durch Art. 6 Abs. 2 normierte Prinzip der Unschuldsvermutung verletzten. Der Bf. war im konkreten Fall von der Polizei festgenommen worden und daher Teil der gerichtlichen Ermittlungen. Er war iSd Art. 6 Abs. 2 EMRK eine „einer strafbaren Handlung beschuldigte“ Person.62 Das Recht auf freie Meinungsäußerung beinhaltet die Freiheit Nachrichten zu empfangen und mitzuteilen, weshalb die Behörden nicht davon abgehalten werden können, die Öffentlichkeit über laufende Ermittlungen zu informieren. Vorausgesetzt werden hierbei jedoch Diskretion und die Achtung der Unschuldsvermutung.63 Durch die Bezichtigung des Mordes vom Polizisten, wurde die Öffentlichkeit dahingehend beeinflusst, den Bf. als Schuldigen anzusehen.64 Mit acht Stimmen gegen eins wurde entschieden, dass ein Verstoß des Art 6 Abs. 2 vorliege. A. wurden 2 Mio. FF für den Schaden und 100.000 FF zzgl. MWSt für Kosten und Auslagen zugesprochen.65 d) Falk gegen die Niederlande, Urteil vom 19.10.2004 Sachverhalt 1988 wurde F. eine Verwaltungsstrafe von 240 niederländischen Gulden auferlegt, weil er eine Fußgänger an der Überquerung der Straße gehindert hatte. Das Fahrzeug, das in dem Vorfall verwickelt war, war auch auf F.s Namen zugelassen. Der Bf. brachte vor der Staatsanwaltschaft von Den Haag vor, dass eine andere Person, B. an diesem besagten Tag, sein Auto gefahren habe. Die Beschwerde wurde mit der Begründung zurückgewiesen, dass der 59 Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 13ff. 60 Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 27. 61 Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 31. 62 Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 36f. 63 Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 38. 64 Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 41. 65 Vgl EGMR 10.02.1995, 15175/89, Allent de Ribemont/Frankreich Rz 68f. 23. Dezember 2020 15/43
Bf. eingetragener Eigentümer sei und deshalb die Geldbuße zu entrichten habe. Nach eingebrachter Berufung beim Bezirksgericht Leiden, stellte man fest, dass tatsächlich B. die strafbare Handlung gesetzt hatte. Aber auch der Oberste Gerichtshof wies die Beschwerde zurück.66 Daraufhin beschwerte sich F., dass die Verhängung der Geldbuße eine Verletzung gegen die Unschuldsvermutung, darstelle.67 Rechtsausführung Der Gerichtshof war der Auffassung, dass das in Art. 6 Abs. 2 EMRK gewährte Recht, vor Schuldzuweisungen ohne erfolgten gesetzlichen Nachweis schütze, Tatsachen- oder Rechtsvermutungen aber legitim seien, solange sie sich im angemessenen Rahmen bewegen. Die eingesetzten Mittel zur Zielerreichung, müssten angemessen sein. Die eingeführte Haftungsregel habe das Ziel einer erhöhten Verkehrssicherheit. Wenn ein Verstoß gegen das Verkehrsgesetz vorliege und die Justizbehörde die Identität des Fahrers nicht feststellen könne, so müsse sich niemand für die Straftat verantworten. Angesichtsdessen erklärte der Gerichtshof, dass die innerstaatlichen Behörden nicht gegen den Zweifelsgrundsatz verstoßen haben.68 e) Daktaras gegen Litauen, Urteil vom 10.10.2000 Sachverhalt Dem Bf wurde von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, ein Komplize in einer Straftat zu sein und ein Lösegeld von 7.000 US-Dollar für die Rückgabe eines gestohlenen Autos gefordert zu haben. Er wurde unter anderem wegen Erpressung und Anstiftung zur Falschaussage angeklagt. Der Bf und sein Verteidiger stellten einen Antrag auf Verfahrenseinstellung, welcher jedoch von der Staatsanwaltschaft der Abteilung für organisierte Kriminalität als unbegründet zurückgewiesen wurde. Schließlich wurde D. für schuldig erklärt und zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.69 Nach eingelegter Berufung, kam dann das Berufungsgericht zu dem Entschluss, dass der Bf an der Erpressung beteiligt gewesen ist, jedoch nicht der Haupttäter war. Das Urteil 66 Vgl EGMR 19.10.2004, 66273/01, Falk/Niederlande, Rz 4. 67 Vgl EGMR 19.10.2004, 66273/01, Falk/Niederlande, Rz 37. 68 Vgl EGMR 19.10.2004, 66273/01, Falk/Niederlande, Rz 47. 69 Vgl EGMR 10.10.2000, 43095/98, Daktaras/Litauen Rz 6ff. 23. Dezember 2020 16/43
änderte sich allerdings nicht. Das Landesgericht Vilnius ließ dem Präsidenten des Obersten Gerichtshof ein Schreiben zukommen, in dem erklärt wurde, dass der Bf als Haupttäter hätte verurteilt werden müssen und dass das Urteil des Berufungsgerichts aufzuheben sei. Der Oberster Gerichtshof kam diesem Appell auch nach70 Er hob das Urteil des Berufungsgerichts auf und bestätigte das Urteil des Landesgerichts Vilnius, aus dem zu entnehmen war, dass D. als Haupttäter an der Erpressung fungiert hatte.71 Der Bf. war jedoch der Ansicht, dass eine Verletzung gegen Art. 6 Abs 2. EMRK vorliege, da ihn der Staatsanwalt für schuldig erklärt hatte.72 Rechtsausführung Der Gerichtshof bestätigte, dass die Unschuldsvermutung verletzt werde, wenn ein Beamter eine Aussage tätige, die den Anschein erweckt, dass die betroffene Person schuldig ist, ohne dass jedoch ein gesetzlicher Schuldnachweis vorliege.73 Es wurde festgestellt, dass im vorliegenden Fall, die Erklärungen des Staatsanwaltes im Rahmen eines ordentlichen Verfahrens und nicht in einem unabhängigen Kontext, wie beispielsweise einer Pressekonferenz vorgebracht wurden. Der Gerichtshof entschied daher, dass keine Verletzung des Zweifelsgrundsatzes vorliege.74 2. Rechtsprechung des VfGH Nach der Verfassung und der Strafprozessordnung kann ein korrektes Verfahrensergebnis ausschließlich Resultat eines fairen Verfahrens sein.75 Hinsichtlich des Art. 6 Abs. 2 EMRK erklärt der VfGH, dass die Unschuldsvermutung Personen vor Schuldzuweisung schütze, solange kein rechtskräftiges Urteil vorliege, ein Verhalten oder eine objektive Tatsache als Unrecht zu erklären, ohne das dabei die Schuld erwiesen wäre, verstoße dagegen nicht gegen die Unschuldsvermutung. Selbst wenn eine Tat begangen 70 Vgl EGMR 10.10.2000, 43095/98, Daktaras/Litauen 19ff. 71 Vgl EGMR 10.10.2000, 43095/98, Daktaras/Litauen 25. 72 Vgl EGMR 10.10.2000, 43095/98, Daktaras/Litauen 39. 73 Vgl EGMR 10.10.2000, 43095/98, Daktaras/Litauen 41. 74 Vgl EGMR 10.10.2000, 43095/98, Daktaras/Litauen 44f. 75 Vgl Hollaender, Grundrechte und Verfassungsprinzipien im österreichischen Strafprozessrecht (2005) 45. 23. Dezember 2020 17/43
worden ist und es trotzdem nicht zu einer Verurteilung gekommen sei, verstoße beispielsweise eine Abschöpfungsanordnung nicht gegen das in Art. 6 Abs. 2 EMRK normierte Recht. 76 Die Rechtssprechung der Konventionsorgane, der auch die innerstaatliche höchstgerichtliche Judikatur folgte, erklärte, dass es entweder einen Schuldspruch als Ergebnis eines fairen Strafverfahrens oder Schuldlosigkeit gebe. Es bestünden somit keine „Freisprüche erster und zweiter Klasse“ (je nach Art der Verfahrensbeendigung).77 Weiters steht die Unschuldsvermutung auch in Verbindung mit dem Schöffenverfahren. Hier hat ein Schöffengericht über die Schuld des Angeklagten zu entscheiden.78 Die Diskrepanz besteht darin, dass die ein Urteil im schöffengerichtlichen sowie geschworenengerichtlichen Verfahren hinsichtlich der Beweiswürdigung nur im Rahmen der Nichtigkeitsgründe nach § 281 Abs. 1 Z 5 und 5a, bzw. § 345 Abs. 1 Z 10a StPO bekämpfbar ist.79 Der VfGH stellt fest, dass im Hinblick darauf, der Umstand, dass erst erhebliche Bedenken gegen das Urteil zu einer Überprüfung der Beweiswürdigung gegen das Schöffengericht führen können, dem Zweifelsgrundsatz nicht entgegensteht. Erwähnenswert hierbei ist auch noch dass die Berufsrichter entscheiden, sofern das Richterkollegium keine Mehrheit findet. Außerdem besteht die Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsmittels. Das Gericht ist dabei an die Rechtsansicht des OGH gebunden.80 a) Engel-Kriterien Bei Sachverhalte, bei denen ein Verstoß gegen den Zweifelsgrundsatz behauptet wird, wird das Vorliegen einer „strafrechtliche Anklage“, welche wiederum den sogenannten „Engel-Kriterien“ entsprechen muss, vom VfGH geprüft.81 Die drei vorausgesetzten Kriterien wurden ursprünglich für die Zwecke von Art. 6 EMRK entwickelt.82 Das erste Kriterium befasst sich mit der Qualifikation 76 Vgl VfGH 12.12.2016, G 63/2016 77 Vgl Hollaender, Grundrechte und Verfassungsprinzipien im österreichischen Strafprozessrecht (2005) 45f. 78 Vgl Strafprozessordnung 1975 BGBI 1975/631 idF BGBI I 2004/19, § 256. 79 Vgl Bericht des Verfassungsgerichtshofes über seine Tätigkeit im Jahr 2017, 30. 80 Vgl VfGH 14.03.2017, G 249/2016. 81 Vgl. EGMR 08.06.1976, 5100/71;5101/71; 5102/71; 5354/72; 5370/72,Engel u. a./Niederlande. 82 Vgl EGMR 15.11.2016, 24130/11;29758/11, A. und B./Norwegen Rz 105. 23. Dezember 2020 18/43
eines Delikts als strafrechtlich gemäß der nationalen Rechtsordnung.83 Das zweite Kriterium zielt auf die eigentliche Natur des Delikts ab.84 Dabei sind die Aspekte des Zwecks (speziell die abschreckende (präventive) sowie unrechtsausgleichende (repressiven) strafende Wirkung der Bestimmung, der Adressatenkreis (abstrakt-generell) sowie die Schuld als Urteilsvoraussetzung, zu berücksichtigen.85 Das dritte Kriterium betrifft die Schwere und Art der auferlegten Strafe.86 Hier wird die Möglichkeit der Umwandlung der Busse in eine Freiheitsstrafe und die Höchststrafe einer Norm zur Beurteilung herangezogen.87 Wichtig dabei ist, dass Freiheitsstrafen einen strafrechtlichen Charakter begründen sollen, worauf jedoch bei Geldstrafen und sonstigen freiheitseinschränkenden Maßnahmen nicht allgemein geschlossen werden kann. Richtet sich ein Gesetz an Personengruppen mit besonderem Status wie z.B. Soldaten oder Beamte, scheint eine Sanktion mit disziplinarrechtlichem Charakter naheliegend.88 Richtet sich jedoch die Regelung andererseits an die Allgemeinheit, kann davon ausgegangen werden, dass jene einen strafrechtlichen Charakter aufweist. Genau aus diesem Grund, hat der EGMR entschieden, dass Ordnungswidrigkeiten im Bereich der Strafrechtlichkeit liegen und beurteilt werden, da sie sich gegen jedermann richten.89 83 Vgl EGMR 23.11.2006, 73053/01, Jussila/Finnland. 84 10 Vgl Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO § 16 DSt Rz 28. (Stand 24.08.2020, rdb.at) 85 Vgl Beeler-Sigron in Verwaltungssanktion im Lichte ausgewählter EMRK-Bestimmungen. Referat im Rahmen des Gesetzgebungsforums vom 23. Februar 2017, 6. 86 Vgl EGMR 23.11.2006, 73053/01, Jussila/Finnland. 87 Vgl Beeler-Sigron in Verwaltungssanktion im Lichte ausgewählter EMRK-Bestimmungen. Referat im Rahmen des Gesetzgebungsforums vom 23. Februar 2017, 7. 88 Vgl Barrot in Die Unschuldsvermutung in der Rechtsprechung des EGMR, 702 (Stand 25.08.2020 zjs- online.com) 89 Vgl. EGMR 21.2.1984, 8544/79, Öztürk/Deutschland. 23. Dezember 2020 19/43
III. Unionsrechtlicher Zweifelssatz A. Grundsatz „in dubio pro reo“ im Unionsrecht Von großer Bedeutung für das Gemeinschaftsrecht, ist der Grundsatz „in dubio pro reo“ in Rechtsmittelverfahren gegen Entscheidungen der Kommissionen im Kartellverfahren.90 Während das Grundrecht auch für Verfahren vor den Unionsgerichten, die bei der Sanktionierung bei Verstößen gegen Unionsrechte dienen, gilt91, hat sich der EGMR hierzu noch nicht geäußert.92 Ein zusätzliches Indiz dafür, dass der Bereich des Wettbewerbsrechts in der europäischen Union besonders vom Zweifelsgrundsatz betroffen ist, lässt sich aus den unzähligen Urteilen des Gerichtshofes erkennen. B. Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 09. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren Um unionsweite Mindeststandards von Verfahrensrechten im Strafverfahren zu stärken, wurde ein Maßnahmenkatalog mit für wesentlich erachteten Verfahrensrechten eingeführt. Ziele sind ein gemeinsamer qualitativer Standard in Strafprozessen aller Mitgliedstaaten und die Sicherung der Geltung grundrechtlicher Schutzstandards.93 In Kapitel 2 der Richtlinie (EU) 2016/343, wird zunächst die zwingende Notwendigkeit der Mitgliedstaaten festgehalten, welche darin besteht, sicherzustellen, dass Verdächtigte und Beschuldigte bis zum rechtskräftigen Schuldnachweis als unschuldig zu gelten haben (Art. 3 RL). Öffentliche Aussagen von Behörden, die sich auf eine konkrete Tat beziehen, dürfen den Anschein nicht erwecken, die betreffende Person, auf die Bezug genommen wird, sei schuldig (Art 4. Abs. 1 RL). Es ist nach Art 4 Abs. 3 RL, jedoch legitim, die Öffentlichkeit über einen Strafprozess zu informieren, soweit es im Ermittlungsverfahren oder im öffentlichen Interessen unbedingt notwendig ist. 90 Vgl Alber, Kölner Gemeinschafts-Kommentar, Europäische GRC, Art 48, Rz 7. 91 Vgl Folz in Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Kommentar Art 48, Rz 3. 92 Vgl Henn, Strafrechtliche Verfahrensgarantien im europäischen Kartellrecht, 141. 93 Vgl Wahl in Die EU-Richtlinien zur Stärkung der Strafverfahrensrechte im Spiegel der EMRK, https://link.springer.com/article/10.1007/s12027-017-0470-7?shared-article-renderer (Stand 20.08.2020) 23. Dezember 2020 20/43
Liegt eine Verletzung gegen den Zweifelsgrundsatz vor, so kann die betroffene Person, ihre Rechte mit einem wirksamen Rechtsbehelf durchsetzen (Art. 4 Abs. 2 iVm Art. 10 Abs. 1 RL). Im Bezug auf die Vorführung von Verdächtigten und Beschuldigten müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Personen sowohl vor Gericht als auch in der Öffentlichkeit, nicht durch die Anwendung von physischen Zwangsmaßnahmen, beispielsweise Glaskabinen, Käfige, Fußfesseln, Handschellen sowie durch das Tragen von Häftlingskleidung so vorgeführt werden, als seien sie schuldig (Art. 5 Abs. 1 RL). Eine physische Zwangsmaßnahme ist jedoch zulässig, wenn sie aus Sicherheitsgründen – wie etwa Hintanhaltung von Fremd- oder Selbstverletzungsgefahr, Hinderung an der Flucht oder Kontaktaufnahme mit Dritten – notwendig ist (Art. 5 Abs. 2 RL). Die Mitgliedstaaten müssen zudem gewährleisten, dass die Beweislast für die Schuldfeststellung bei der Behörde liegt (Art. 6 Abs. 1 RL) und der kleinste Zweifel an der Schuld dem Verdächtigten oder Beschuldigten zugutekommt (Art. 6 Abs. 2 RL). Weiters muss das Recht auf Aussageverweigerung (Art. 7 Abs. 2 RL) und das Recht, sich selbst nicht belasten zu müssen (Abs. 2 leg cit) zu jedem Zeitpunkt sichergestellt werden; die Berücksichtigung eines kooperativen Verhalten von verdächtigten und beschuldigten Personen, ist bei der Verurteilung zulässig. (Abs. 4 leg cit). C. Art 48 Abs 1 GRC Art 48 Abs 1 GRC Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte (1) Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig.94 Die Union verpflichtet sich mit Art. 6 Abs. 1 EUV seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009, die in der GRC garantierten Rechte, Freiheiten und Grundsätze anzuerkennen. Die GRC ist den Verträgen rechtlich gleichrangig gestellt.95 Daher ist sie zwar nicht Bestandteil der Verträge, wird aber dem primären Unionsrecht zugezählt und genießt 94 Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 18.12.2000, ABI C 2007/306, 1, Art 48. 95 Vgl Bezemek, Grundrechte § 1 Rz 6. 23. Dezember 2020 21/43
Rechtsverbindlichkeit.96 Art. 53 GRC beinhaltet eine spezielle Günstigkeitsklausel, nach der die in der Charta gewährleisteten Rechte lediglich einen Mindeststandard garantieren. Andere Unions- oder nationale Rechte, die einen höheren Standard gewähren, bleiben von der GRC unberührt.97 Art. 48 besteht aus zwei eigenständigen prozessualen Verfahrensgarantien, welche funktionell zusammenhängen und zusammen ein faires Verfahren im Strafverfahren sichern sollen. Während Abs. 1 ist die Unschuldsvermutung regelt, normiert Abs. 2 die Verteidigungsrechte. 98 1. Entstehungsgeschichte Bei der Erarbeitung der Grundrechtcharta waren zu Beginn die Existenzberechtigung sowie die inhaltliche Ausgestaltung der Unschuldsvermutung unbestritten. Strittig war jedoch, ob diese prozessuale Garantie überhaupt in der GRC verankert werden sollte. Die Mitglieder kritisierten, dass der EU (noch vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon) die nötige Kompetenz zur Erlassung von Normen auf dem Gebiet des Strafrechts fehlte. Andere befürworteten, dass die Europäische Union auch im Strafrecht nun eine Vereinheitlichung anstrebte.99 Da die meisten Vertragsstaaten vergleichbare Verfahrensgarantien in ihren Verfassungsordnungen haben, könnte die gemeinsame Verfahrenstradition entscheidend dafür sein, dass die Unschuldsvermutung schließlich in die GRC übernommen wurde.100 Obwohl der Wortlaut zwar nicht ident ist, hat Art. 48 Abs. 1 GRC denselben Tenor wie die korrespondierende Konventionsbestimmung des Art. 6 Abs. 2 EMRK.101 Daraus kann man entnehmen, dass Abs. 1 die Grundlagen des Art. 6 Abs. 2 EMRK gänzlich übernommen hat und somit gleich diesem Konventionsrecht auszulegen ist.102 96 Vgl Pavlidis, EU und EMRK: Rechtsfragen eines Beitritts, 15. 97 Vgl Hengstschläger/Leeb, Grundrechte, 18. 98 Vgl Granner/N. Raschauer in Holoubek/Lienbacher (Hrsg), GRC-Kommentar, § 48 Rz 1. 99 Vgl Eser in Meyer/Hölscheidt (Hrsg), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, § 48 Rz 3. 100 Vgl Granner/N. Raschauer in Holoubek/Lienbacher (Hrsg), GRC-Kommentar, § 48 Rz 2. 101 Vgl John, Die Grundrechtecharta in der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes, 366. 102 Vgl Granner/N. Raschauer in Holoubek/Lienbacher (Hrsg), GRC-Kommentar, § 48 Rz 5. 23. Dezember 2020 22/43
2. Telos Die Unschuldsvermutung beinhaltet das Verbot der Bezeichnung oder Behandlung eines Nichtverurteilten als schuldige Person. Dabei sind die drei folgenden Aspekte zu beachten: • Verbot eines Schuldspruches und Auferlegung von Strafen oder strafähnlichen Sanktionen ohne eine gesetzliche Schuldfeststellung. • Verbot schuldimplizierender Behandlungen vor Schuldnachweis; Eingriffe, die zur Wahrheitsfindung dienen, sind jedoch erlaubt (vgl. Art. 5 EMRK). • Die nötige Grenzziehung zwischen unerlaubter Bezeichnung oder Behandlung einer Person als schuldig und zulässige Maßnahmen oder Belastungen (orientiert an dem Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs, welcher auch einem Unschuldigen zumutbar wäre).103 Der Ausspruch einer Verdächtigung ist nur zulässig, solange der Angeklagte nicht rechtskräftig freigesprochen wurde. In einem Verfahren über eine Entschädigung wegen einer ex post betrachtet ungerechtfertigten Untersuchungshaft, darf daher nicht zwischen einem Freispruch im Zweifel und einem Freispruch durch Widerlegung unterschieden werden.104 Die Unschuldsvermutung kann den Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“ verstärken, wonach sich der Beschuldigte ein Schweigerecht hat und sich selbst nicht belasten muss. Obwohl weder die EMRK noch die GRC diese Beschuldigtenrechte explizit normieren, werden sie durch die Konnexität von Art. 47 Abs. 2 (fair trial) und Art. 48 Abs. 1 (Unschuldsvermutung) garantiert, da ein faires Verfahren bedingt, dass die Schuldfeststellung nicht auf Beweismitteln basiert, die durch erzwungene aktive Mitwirkung des 105 Beschuldigten erbracht wurden. Das in Art. 48 GRC garantierte Recht bindet sowohl die Mitgliedstaaten und deren Stellen, als auch die Union und deren Gerichte, soweit der Streitgegenstand die allgemeine strafrechtliche Sanktionierung von Vorschriften des Unionsrechts betrifft.106 103 Vgl Eser in Meyer/Hölscheidt (Hrsg), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, § 48 Rz 5ff. 104 Vgl Hengstschläger/Leeb, Grundrechte, 289. 105 Vgl Eser in Meyer/Hölscheidt (Hrsg), Charta der Grundrechte der Europäischen Union § 48 Rz 10a. 106 Vgl Jarass, EU-Grundrechte, 461. 23. Dezember 2020 23/43
3. Anwendungsbereich Das in Art. 48 GRC verbürgte Recht, schützt natürliche und juristische Personen, soweit der sachliche Anwendungsbereich eröffnet ist.107 Wie schon der Begriff „angeklagte Person“ erkennen lässt, hat die Unschuldsvermutung eine enorme Bedeutung im strafprozessualen Bereich, wobei sie in all jenen Verfahren gilt, die einen strafähnlichen Charakter haben, wie etwa im Rahmen des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts oder das des Verwaltungssanktionsrecht auf europäischer Ebene.108 Auch andere offizielle Maßnahmen, die eine Person in ihrer Rechtsposition beeinträchtigen können, wie etwa ein Durchsuchungsbefehl, eine Beschlagnahmeverfügung oder die Aufhebung der Immunität, können in diesen Schutzbereich gefasst werden.109 Eine – wie im österreichischen Strafverfahren erforderliche – formelle Anklageerhebung wird nicht vorausgesetzt. Nach hA muss eine behördliche/gerichtliche Entscheidung über die Anklage einer strafbaren Handlung oder Unterlassung, Gegenstand des Verfahrens sein.110 Ein Strafprozess über die Verhängung oder Verlängerung einer Untersuchungshaft, ist hiervon nicht betroffen.111 Ob eine „Strafe“ im Sinne des Art. 48 GRC vorliegt, ist grundsätzlich unter den „Engel-Kriterien“ zu beurteilen.112 Unwesentlich sind restitutive oder präventive Maßnahmen. Die Erheblichkeitsschwelle bei Geldstrafen und –bußen liegt bei einigen hundert Euro. Eine Haft gilt generell als Sanktion, solange es sich nicht nur um wenige Tage handelt.113 Das Ziel strafrechtlicher Regelungen, ist es zu bewirken, dass die Bürger ihren gesetzlichen Pflichten nachkommen und bei Verstoß gegen dieselben sanktioniert werden. Dabei sollen die Sanktionen einen abschreckenden sowie bestrafenden Charakter haben. Von weiteren dogmatischen Voraussetzungen für die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen wird grundsätzlich abgesehen. Vereinzelt findet man jedoch Entscheidungen bei denen das Verschulden des Täters zusätzlich vorliegen muss. Die Lehre ist der Ansicht, dass der Schuldbegriff der EMRK/GRC die gleiche Bedeutung wie 107 Vgl Jarass, EU-Grundrechte, 467. 108 Vgl Eser in Meyer/Hölscheidt (Hrsg), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, § 48 Rz 11. 109 Vgl Kröll in Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar2 Art 48 Rz 9 (Stand 10.09.2019, rdb.at) 110 Vgl Granner/N. Raschauer in Holoubek/Lienbacher (Hrsg), GRC-Kommentar, § 48 Rz 11. 111 Vgl Kröll in Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar2 Art 48 Rz 9 (Stand 10.09.2019, rdb.at) 112 Vgl. EGMR 08. 06 1976, Engel u. a./Niederlande. 113 Vgl Jarass, EU-Grundrechte, 462. 23. Dezember 2020 24/43
der österreichische Schuldbegriff hat.114 Somit ist nur strafbar, wer schuldhaft handelt.115 Zusätzlich ist die Frage der Zumutbarkeit (rechtmäßiges persönlichen Alternativverhalten des Angeklagten, gemessen an einem besonnenen, mit den rechtlichen Werten verbundenen Menschen) von zentraler Bedeutung. In diesem Kontext erklärt der Gerichtshof, dass strafrechtliche Verantwortlichkeit von dem eigenen persönlichen Verhalten der Person abhängig ist.116 D. Rechtsprechung des EuGH 1. Spector Photo Group NV, Chris Van Raemdonck gegen Commissie voor het Bank-, Financie- en Assurantiewezen (CBFA), Urteil vom 23.12.2009 Sachverhalt S., eine börsengehandelte Gesellschaft, ermöglichte ihren Beschäftigten den Kauf von Aktien an. C. erteilte im August 2003 Aufträge, aufgrund deren Spector 19 773 weitere Aktien erwerben konnte. Daraufhin veröffentlichte die Firma Informationen über die Geschäftsergebnisse und –politik des Unternehmens.117 Die CBFA (Banken- Finanz- und Versicherungskommission, die Kontrolle über den belgischen Finanzsektor hat) stufte den Einkauf als illegales Insidergeschäft ein und ordnete eine Geldbuße in Höhe von 80.000 Euro gegen S. sowie eine Geldbuße in Höhe von 20.000 Euro gegen C. an, woraufhin beide Klagen gegen diese Entscheidung erhoben.118 Im Verfahren vor dem Hof van beroep te Brussel (belgisches Berufungsgericht), erhoben die Kläger Einwände, weswegen ein Vorabentscheidungsverfahren eingeleitet wurde.119 Dieses betraf die Auslegung von Art 2 und 24 der RL 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Insiderhandel und Marktmanipulation, wo es in Art. 2 Abs. 1 der RL heißt: 114 Vgl Granner/N. Raschauer in Holoubek/Lienbacher (Hrsg), GRC-Kommentar, § 48 Rz 16ff. 115 Vgl Strafprozessordnung 1975 BGBI 1975/631 idF BGBI I 2004/19, § 4. 116 Vgl Granner/N. Raschauer in Holoubek/Lienbacher (Hrsg), GRC-Kommentar, § 48 Rz 18ff. 117 Vgl EuGH 23.12.2009, C-45/08, Spector Photo Group NV, Chris Van Raemdonck /Commissie voor het Bank-, Financie- en Assurantiewezen (CBFA) Rz 11 ff. 118 Vgl EuGH 23.12.2009, C-45/08, Spector Photo Group NV, Chris Van Raemdonck /Commissie voor het Bank-, Financie- en Assurantiewezen (CBFA) Rz 15 ff. 119 Vgl EuGH 23.12.2009, C-45/08, Spector Photo Group NV, Chris Van Raemdonck /Commissie voor het Bank-, Financie- en Assurantiewezen (CBFA) Rz 16. 23. Dezember 2020 25/43
„Die Mitgliedstaaten untersagen Personen im Sinne von Unterabsatz 2, die über eine Insider-Information verfügen, unter Nutzung derselben für eigene oder fremde Rechnung direkt oder indirekt Finanzinstrumente, auf die sich die Information beziehen, zu erwerben oder zu veräußern oder dies zu versuchen.“ Rechtsausführung Art. 2 Abs. 1 der RL 2003/06 bestimmt nicht explizit die subjektiven Tatbestandsmerkmale, die sich auf einen Vorsatz beziehen. Ob betrügerische Absicht vorliegen muss oder ob nur Fahrlässigkeit reicht, lässt sich aus der Bestimmung grundsätzlich nicht entnehmen.120 Dass die RL keine subjektiven Voraussetzungen verlangt, kann man erstens aus der Natur von Insider- Geschäften ableiten, die es zulässt, subjektive Merkmale zu vermuten und zweitens aus dem Zweck der RL, die die Integrität der Finanzmärkte der Union garantieren und das Vertrauen der Investoren in diese Märkte festigen soll. Daraus ergibt sich, dass die Bestimmung des Art. 2 Abs. 1 der RL 2003/06 es erlaubt, zu vermuten, dass die Tat mit Vorsatz begangen worden sei.121 Dem Gerichtshof und der Rechtsprechung zufolge, sind sowohl Tatsachen- als auch Rechtsvermutungen zulässig. Die Mitgliedstaaten sind daran gebunden, strafrechtliche Grenzen einzuhalten und vor allem die Verteidigungsrechte zu 122 wahren. Der EuGH stellt fest, dass der Zweifelsgrundsatz der Vermutung in Art. 2 Abs. 1 der RL 2003/06 nicht entgegensteht und, dass die Intention des Urhebers von Insidergeschäften implizit aus dem Element dieser Zuwiderhandlung schlussgefolgert werden kann. Die Möglichkeit der Widerlegung dieser Vermutung besteht nach wie vor und auch die Verteidigungsrechte bleiben gewahrt.123 2. EP, Urteil vom 19.09.2019 Sachverhalt EP ermordete im August 2015 in Bulgarien seine Mutter im Zustand psychischer Störung (paranoide Schizophrenie) und wurde wenige Tage darauf 120 Vgl EuGH 23.12.2009, C-45/08, Spector Photo Group NV, Chris Van Raemdonck gegen Commissie voor het Bank-, Financie- en Assurantiewezen (CBFA) Rz 32. 121 Vgl EuGH 23.12.2009, C-45/08, Spector Photo Group NV, Chris Van Raemdonck gegen Commissie voor het Bank-, Financie- en Assurantiewezen (CBFA) Rn 38. 122 Vgl EuGH 23.12.2009, C-45/08, Spector Photo Group NV, Chris Van Raemdonck gegen Commissie voor het Bank-, Financie- en Assurantiewezen (CBFA), Rn 43. 123 Vgl EuGH 23.12.2009, C-45/08, Spector Photo Group NV, Chris Van Raemdonck gegen Commissie voor het Bank-, Financie- en Assurantiewezen (CBFA) Rn 44. 23. Dezember 2020 26/43
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