Individuelle und regionale Risikofaktoren für hitzebedingte Hospitalisierungen der über 65-Jährigen in Deutschland

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Individuelle und regionale Risikofaktoren für hitzebedingte Hospitalisierungen der über 65-Jährigen in Deutschland
5         Individuelle und regionale Risikofaktoren
          für hitzebedingte Hospitalisierungen
          der über 65-Jährigen in Deutschland
          Hannah Klauber und Nicolas Koch
          C. Günster | J. Klauber | B.‑P. Robra | C. Schmuker | A. Schneider (Hrsg.) Versorgungs-Report Klima und Gesundheit.
          DOI 10.32745/9783954666270-5, © MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin 2021

Hitzebedingte Gesundheitsgefahren sind ungleich in der          zeigen eine deutlich stärkere Hitzeexposition für viele die-
Bevölkerung verteilt. Insbesondere die ältere und vorer-        ser Orte mit besonders anfälliger Bevölkerung in der Zu-
krankte Bevölkerung gilt als gefährdet. Eine effiziente An-     kunft. Ein ungebremster Temperaturanstieg bis 2100 könn-
passung an zunehmende Extremtemperaturen im Zuge                te daher zu einem fünffachen Anstieg der hitzebedingten
des Klimawandels setzt Wissen über die Determinanten            Hospitalisierungen führen.
der Hitze-Vulnerabilität voraus, um eine zielgerichtete Ver-
sorgung Schutzbedürftiger sicherzustellen. Ziel der vor-        Heat-related health hazards distribute unevenly across the
liegenden Studie ist deshalb die Identifikation von indivi-     population. In particular, the elderly and people with pre-
duellen und regionalen Risikofaktoren für hitzebedingte         existing conditions are considered to be at risk. Efficient
Gesundheitsschäden bei der älteren Bevölkerung in               adaptation to more frequent extreme heat events in the
Deutschland. Hierfür werden mit statistischen Methoden          course of climate change requires knowledge about the
des maschinellen Lernens die Abrechnungsdaten aller             determinants of heat vulnerability to ensure targeted pro-
Krankenhausbehandlungen der über 65-jährigen AOK-Ver-           tection of those most in need of it. Therefore, this study
sicherten in den Jahren 2008 bis 2018 analysiert. Die Er-       aims to identify individual and regional risk factors for
gebnisse zeigen, dass Hitzetage für etwa ein Viertel der        heat-related health damage in the elderly population in
über 65-Jährigen ein deutlich erhöhtes Risiko einer Hospi-      Germany. Statistical machine learning methods are used
talisierung darstellen. Die besonders vulnerablen Versi-        to analyze data of all hospital treatments of AOK-insured
cherten sind im Durchschnitt häufiger männlich und leiden       persons over 65 years of age from 2008 to 2018. The results
neben anderen chronischen Vorerkrankungen verstärkt             show that heat days pose a significantly higher risk of hos-
unter Demenz und Alzheimer. Vulnerable leben zudem ver-         pitalization on about a quarter of the insured individuals.
mehrt in ländlichen Gebieten mit mehr Altersarmut, in           The most vulnerable are, on average, more likely to be
denen weniger Pflegebedürftige ambulant oder stationär          male and suffer more from dementia and Alzheimer’s
versorgt werden und die unter derzeitigen Klimabedingun-        disease, among other chronic conditions. They are more
gen weniger von Hitze betroffen sind. Klimaprojektionen         likely to live in rural areas with more poverty among the

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Individuelle und regionale Risikofaktoren für hitzebedingte Hospitalisierungen der über 65-Jährigen in Deutschland
II Gesundheitliche Auswirkungen des Klimawandels und Herausforderungen
    für die medizinische Versorgung in Deutschland

elderly and fewer care recipients receiving outpatient or     al. 2018). Im Lancet Countdown 2020 wird des-
stationary assistance. Currently, these areas are less af-    halb eine lokale Planung und Umsetzung von
fected by heat, but climate projections show significantly    Anpassungs- und Resilienzmaßnahmen gefor-
greater heat exposure for many of these places with par-      dert sowie eine Einbeziehung der lokalen Kapa-
ticularly vulnerable populations in the future. The rise in   zitäten, Ungleichheiten und Verteilung gefähr-
temperature under unabated climate change could thus          deter Bevölkerungsgruppen in nationale Anpas-
lead to a fivefold increase in heat-related hospitalization   sungsstrategien (Watts et al. 2020).
by 2100.                                                          Ziel der vorliegenden Studie ist die Charak-
                                                              terisierung der gegenüber Hitze vulnerablen
                                                              Bevölkerung in Deutschland. Auf Basis der ge-
5.1 Einführung                                                samtdeutschen Versicherungsdaten der AOK
                                                              und hochaufgelösten satellitengestützten Wet-
Zunehmende Extremtemperaturen durch den                       termessungen für die Jahre 2008 bis 2018 wird
Klimawandel stellen eine Gesundheitsgefahr                    zunächst untersucht, wie unterschiedlich sich
dar, die sich ungleich auf die globale Bevölke-               Temperaturen von mindestens 30°C auf die
rung verteilt. Die ärmsten Länder sind am här-                Hospitalisierungsrate der über 65-Jährigen aus-
testen betroffen, doch Hitzewellen der vergan-                wirken. Anschließend werden Versicherte, die
genen Jahre haben deutlicher als je zuvor die                 stark bzw. wenig unter Hitze leiden, bezüglich
Auswirkungen des Klimawandels auch in Län-                    ihrer Vorerkrankungsprofile verglichen. Ergän-
dern mit hohem Einkommen gezeigt. Im                          zend folgt ein geografischer Vergleich zwischen
außergewöhnlich heißen Sommer 2018 wurden                     Orten, in denen viele bzw. wenig vulnerable
in Europa 104.000 hitzebedingte Sterbefälle ge-               Versicherte leben, bezüglich ihrer infrastruk-
zählt, mehr als in allen anderen WHO-Regio-                   turellen und sozioökonomischen Eigenschaf-
nen (Watts et al. 2020). Besonders betroffen von              ten. Abschließend wird projiziert, wie sich die
der Hitze war Deutschland. Gemäß dem Lancet                   Zahl und geografische Verteilung der hitzebe-
Countdown 2020 lagen die absoluten hitzebe-                   dingten Hospitalisierungen in verschiedenen
dingten Mortalitäten im Jahr 2018 nur in China                Klimaszenarien bis zum Ende des Jahrhunderts
und Indien höher (Watts et al. 2020).                         entwickeln. Für politische Entscheidungsträ-
    Die Gesundheitsgefahren durch Hitze ver-                  ger ist ein Verständnis der individuellen und
teilen sich auch innerhalb einzelner Länder un-               lokalen Risikofaktoren für hitzebedingte Be-
gleich auf die Bevölkerung. Zu den am stärks-                 schwerden notwendig, damit sie die regionalen
ten betroffenen Menschen zählen die über                      Gefahren und die Gesundheitsbedürfnisse der
65-Jährigen und Menschen mit Behinderungen                    Bevölkerung bei der Gestaltung von Schutz-
und Vorerkrankungen (Campbell et al. 2018).                   maßnahmen heute und in der Zukunft zielge-
Im Rahmen des Klimawandels werden die Ge-                     richtet ins Auge fassen können.
sundheitsrisiken insbesondere für diese Men-                      Für die Identifikation kausaler Effekte wird
schen weiter zunehmen. Für eine effektive Ge-                 die Zufälligkeit im zeitlichen und räumlichen
staltung von Schutzmaßnahmen muss daher                       Auftreten von Hitzetagen als ein auf natürliche
nicht nur das regionale Hitzerisiko, sondern                  Weise auftretendes Experiment genutzt. Die
auch die Vulnerabilität der lokalen Bevölkerung               Identifikation und Beschreibung heterogener
berücksichtigt werden. Die Beziehungen zwi-                   Effekte erfolgt über eine Methode, die auf ma-
schen Temperatur und gesundheitlichen Aus-                    schinellen Lernverfahren basiert (Chernozhu-
wirkungen werden von einer Reihe komplexer                    kov et al. 2018) und unter anderem in der Ana-
und interagierender Faktoren beeinflusst, dar-                lyse von Luftverschmutzungseffekten in den
unter biologische, ökologische, medizinische,                 USA zum Einsatz gekommen ist (Deryugina et
soziale und geografische Faktoren (Campbell et                al. 2019).

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Individuelle und regionale Risikofaktoren für hitzebedingte Hospitalisierungen der über 65-Jährigen in Deutschland
5 Individuelle und regionale Risikofaktoren für hitzebedingte Hospitalisierungen
  der über 65-Jährigen in Deutschland                                                                        II
   Die Ergebnisse zeigen, dass Hitzetage mit            sis wird ein Datensatz erstellt, der für alle Ver-
Temperaturen von mindestens 30°C die Hospi-             sicherten an jedem Lebenstag im Beobach-
talisierungsrate der AOK-Versicherten über              tungszeitraum angibt, ob eine Krankenhaus-
65 Jahre signifikant erhöhen und dass die Ver-          einweisung stattfand oder nicht. Dieser Daten-
sicherten unterschiedlich betroffen sind. Der           satz wird mit zusätzlichen Informationen zur
individuelle Gesundheitszustand, aber auch              Morbidität der Versicherten verknüpft. Durch
strukturelle Eigenschaften des Wohngebiets              76 dichotome Variablen wird das Vorliegen ver-
hängen deutlich mit der Vulnerabilität zusam-           schiedener ICD-10-klassifizierter Gruppen an
men. Die vulnerabelsten Versicherten sind im            Vorerkrankungen und ATC-klassifizierter Arz-
Durchschnitt älter, kränker und häufiger                neimitteltherapien erfasst. Die Morbiditätsva-
männlich. Gebiete, in denen ein höherer Anteil          riablen wurden vom WIdO für alle Versicherten
vulnerabler Versicherter lebt, sind ländlicher,         und jedes Versicherungsquartal auf Basis der
leiden unter mehr Altersarmut und weisen eine           Abrechnungsdaten in den acht vorangegange-
geringere Kapazität oder Inanspruchnahme                nen Quartalen generiert. Betrachtet werden
von ambulanter und stationärer Pflege, aber             insbesondere chronische Krankheiten, z.B.
auch eine höhere Hausärztedichte auf. Mit               chronische Herz- und Atemwegserkrankun-
Blick auf die möglichen Entwicklungspfade des           gen, Diabetes, Demenz und Alzheimer, sowie
Klimawandels zeigt sich, dass unter Klimapoli-          Erkrankungen, die in Deutschland am häufigs-
tik gemäß dem Pariser Klimaabkommen der                 ten Grund einer Hospitalisierung in der älteren
Status quo erhalten werden könnte, während an-          Bevölkerung sind (Destatis 2017). Versicherte,
haltend hohe CO2-Emissionen die hitzebeding-            die in den acht vorigen Quartalen nicht durch-
ten Hospitalisierungen bis 2100 um das Fünf-            gehend versichert sind, werden aus der Analy-
fache erhöhen könnten.                                  se ausgeschlossen.

5.2 Daten                                               5.2.2 Wetter- und Luftverschmutzungsdaten

5.2.1 Gesundheitsdaten                                  Die verwendeten Wettervariablen stammen aus
                                                        dem Datenprodukt ERA5 des Europäischen Zen-
Die vorliegende Analyse basiert auf Daten der           trums für mittelfristige Wettervorhersagen
AOK-Versicherten, die vom Wissenschaftlichen            (EZMW). Die Daten werden stündlich erfasst
Institut der AOK (WIdO) anonymisiert bereit-            und decken die Erde in einem Raster mit einer
gestellt werden. Einbezogen werden die Ab-              horizontalen Auflösung von 31 km ab. Für die
rechnungsdaten aller vollstationären und am-            Analyse werden die Messungen für jeden Tag
bulanten Krankenhausbehandlungen (§ 301                 und jedes PLZ-Gebiet aggregiert. Hitzetage wer-
Abs. 1 SGB V bzw. § 295 SGB V) für Versicherte          den entsprechend der meteorologisch-klimato-
über 65 Jahre in den Jahren 2008 bis 2018. Ent-         logischen Bezeichnung als Tage mit einer
sprechend dem Auftreten von Hitzetagen wer-             Höchsttemperatur von mindestens 30°C defi-
den nur die Monate Mai bis September betrach-           niert. Um mögliche Interaktionseffekte zu be-
tet. Durchschnittlich liegen für jedes Jahr             rücksichtigen, werden auch ERA5-Wetterdaten
Daten zu etwa 5,8 Millionen Versicherten vor.           zur Wolkenbedeckung, relativen Feuchtigkeit,
Die Stammdaten enthalten Informationen zum              Ozonbelastung, Windgeschwindigkeit und
Alter, Geschlecht und Wohnort (5-stellige PLZ).         -richtung sowie zum Niederschlag, Ober-
Die Abrechnungsdaten enthalten Informatio-              flächendruck und vertikalen Luftaustausch
nen zum tagesgenauen Aufnahmedatum einer                einbezogen. Betrachtet wird jeweils der mini-
jeden Krankenhausbehandlung. Auf dieser Ba-             male, mittlere und maximale Tagesmesswert.

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II Gesundheitliche Auswirkungen des Klimawandels und Herausforderungen
    für die medizinische Versorgung in Deutschland

Zusätzlich werden jährliche Daten zur Fein-              dienstleisters Acxiom erfasst, welche die Haus-
staub- (PM2.5) und Stickoxidbelastung (NO2) he-          halte eines jeden PLZ-Gebietes in neun sozio-
rangezogen, um die dauerhafte Exposition                 ökonomische Statusklassen kategorisiert. Für
gegenüber Luftverschmutzung zu berücksich-               die deskriptiven Analysen werden weitere
tigen. Bei den PM2.5-Daten handelt es sich um            Daten des Bundesamtes für Bauwesen und
aufbereitete Satellitenmessdaten von Van Don-            Raumordnung (BBSR) verwendet. Eine aus-
kelaar et al. (2019), die als Raster mit einer ho-       führliche Beschreibung aller Variablen ist on-
rizontalen Auflösung von etwa einem Kilome-              line verfügbar (https://mycloud.mcc-berlin.
ter verfügbar sind. Die NO2-Daten wurden vom             net/index.php/s/PcHc0eBFs4pdAyl).
Umweltbundesamt (2020) auf Basis der Daten
lokaler Messstationen für die Fläche inter-
poliert und sind ebenfalls als Raster mit einer          5.3 Methodik
horizontalen Auflösung von etwa zwei Kilome-
tern verfügbar. Für die Zukunftsprojektionen             Der etablierten Literatur (z.B. Karlsson u. Zie-
werden bereinigte Daten zu den täglichen                 barth 2018; Hsiang 2016; Deschênes u. Greens-
Höchsttemperaturwerten aus dem Princeton                 tone 2011) folgend, nutzt diese Studie einen Re-
Earth System Model des Geophysical Fluid Dy-             gressionsansatz, um Morbiditätsunterschiede
namics Laboratory (GFDL-ESM4) verwendet,                 zwischen einer von Hitze betroffenen Gruppe
welches eines der globalen Klimamodelle der              (exponierte Gruppe) und einer nicht von Hitze
sechsten Phase des Coupled Model Intercompa-             betroffenen Gruppe (Kontrollgruppe) zu identi-
rison Project (CMIP-6) ist (ISIMIP 2020; Lange           fizieren. Durch die Einbindung sogenannter
2019).                                                   „Fixed Effects“ werden die Vergleiche auf Be-
                                                         obachtungen innerhalb festgelegter räumli-
                                                         cher und zeitlicher Einheiten beschränkt. Das
5.2.3 Sozioökonomische, demografische und                Auftreten der Hitzeereignisse innerhalb der
      infrastrukturelle Daten                            Einheiten, z.B. in einem Landkreis und einem
                                                         Jahr, kann als zufällig betrachtet werden. In
Insgesamt werden 226 zeitinvariante Variablen            diesem Fall ist der identifizierte Gruppenunter-
zu den demografischen (z.B. Altersstruktur,              schied als kausaler Hitzeeffekt interpretierbar.
Haushaltsgröße und Wohnraumfläche), sozio-               In der vorliegenden exponierten Gruppe befin-
ökonomischen (z.B. Statusklasse und Altersar-            den sich alle Versicherten an Tagen mit Hitze-
mut) und infrastrukturellen (z.B. Apotheken-             exposition, in der Kontrollgruppe alle Versi-
und Hausärztedichte, Pflegeversorgung und                cherten an Tagen ohne Hitzeexposition. Die-
Distanz zum nächstgelegenen Krankenhaus)                 selbe Person kann somit in beiden Gruppen ent-
Eigenschaften der Wohnorte der Versicherten              halten sein.
aus verschiedenen Datenquellen auf der PLZ-                  Zur Schätzung heterogener Hitzeeffekte
Ebene zusammengetragen. Die Rasterdaten des              wird ein von Chernozhukov et al. (2018) entwi-
Zensus 2011 der Statistischen Ämter des Bundes           ckeltes Verfahren angewendet, welches im Fol-
und der Länder liefern räumlich hoch aufgelös-           genden skizziert wird. Zunächst werden die
te Informationen zu den demografischen                   Daten zufällig in einen Trainings- und einen
Eigenschaften der Haushalte. Über OpenStreet-            Analysedatensatz geteilt, wobei beide Teile
Map werden frei verfügbare Geodaten automa-              etwa 50% der Versicherten abdecken. Auf Basis
tisiert abgerufen und teils mithilfe der Google          des Trainingsdatensatzes wird ein Prädiktions-
Maps Programmier-Schnittstelle zu Variablen              modell mit einem Gradient-Tree-Boosting-Al-
zusammengefasst. Der sozioökonomische Sta-               gorithmus trainiert. Dieses bestimmt die Hos-
tus wird genauer durch eine Variable des Daten-          pitalisierungswahrscheinlichkeit für alle Ver-

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Individuelle und regionale Risikofaktoren für hitzebedingte Hospitalisierungen der über 65-Jährigen in Deutschland
5 Individuelle und regionale Risikofaktoren für hitzebedingte Hospitalisierungen
  der über 65-Jährigen in Deutschland                                                                                  II
sicherten i an jedem Tag t als Funktion der Va-          Tab. 1   Schätzung des bedingten durchschnittlichen
riablen Zit. Zit beinhaltet alle Informationen zu                 Hitzeeffektes. Die Tabelle zeigt die geschätzten
den Versicherten (79 Variablen), den täglichen                    Koeffizienten der ersten Regressionsgleichung.
Wetter- und Luftbedingungen (26 Variablen)                        Die abhängige Variable ist die tägliche Hospitali-
und den Wohnorteigenschaften (226 Variablen)
                                                                  sierungsrate je Million Versicherte. Der Parameter
                                                                  β1 misst den durchschnittlichen Effekt eines
sowie Fixed Effects für die Einheiten Monat,
                                                                  Hitzetages auf die Hospitalisierungsrate. Ein Ab-
Jahr und Landkreis (425 Variablen). Das Prädik-                   lehnen der Nullhypothese β2 = 0 impliziert, dass
tionsmodell wird zweifach geschätzt, einmal                       Heterogenität präsent ist und der Vulnerabilitäts-
für die exponierte Gruppe und einmal für die                      Proxy Ŝ(Zit) Komponenten dieser Heterogenität
Kontrollgruppe. Anschließend wird für jede Be-                    erfasst. Standardfehler sind auf Ebene der PLZ-
obachtung im Analysedatensatz die Hospitali-                      Gebiete geclustert und in Klammern angegeben.
sierungswahrscheinlichkeiten mit beiden Mo-                       (*** p < 0,001; ** p < 0,01; * p < 0,05)
dellen prognostiziert, d.h. einmal so, als wäre
                                                                                  zusätzliche Hospitalisierungen
die Person i an Tag t Hitze ausgesetzt, und ein-
mal so, als wäre dies nicht der Fall. Die Diffe-                                  je Million Versicherte
renz der Prognosen Ŝ(Zit) entspricht der Verän-
                                                                                  (Standardfehler)
derung in der Hospitalisierungswahrschein-                β1 (Effekt eines        39,79***
lichkeit, die auf Hitze zurückzuführen ist, und           Hitzetages)             (5,23)
dient als Proxy für die Vulnerabilität der Versi-
                                                          β2 (Heterogenität       48.854,26***
cherten.                                                  im Hitzeeffekt)         (10.609,56)
    Es werden zwei Regressionsmodelle auf Basis
des Analysedatensatzes geschätzt. Die erste Glei-         Beobachtungen           506.966.676
chung ermittelt den unverzerrten Schätzer des
durchschnittlichen Hitzeeffektes und testet, ob
Heterogenität, die durch den Vulnerabilitäts-            β1 in Tabelle 1 zeigt, dass ein zusätzlicher heißer
Proxy Ŝ(Zit) erfasst wird, im Hitzeeffekt vorliegt.      Tag mit einer Höchsttemperatur von mindes-
Mit der zweiten Gleichung werden die Unter-              tens 30°C die Hospitalisierung im Durchschnitt
schiede im Hitzeeffekt für sieben unterschied-           um 39,79 (95% KI: 29,53–50,05) Einweisungen je
lich vulnerable Gruppen untersucht. Die Grup-            Million Versicherte erhöht.
pen entsprechen den Perzentilen [0,25), [25,50),             Der zweite in Tabelle 1 angegebene Koeffizi-
[50,75), [75,85), [85,95), [95,99) und [99,100] des      ent dient der Heterogenitätsanalyse. Da der Ko-
Vulnerabilitäts-Proxys Ŝ(Zit). Eine ausführliche         effizient mit einem p-Wert deutlich unter
Beschreibung des methodischen Verfahrens ist             0,001 statistisch hoch signifikant ausfällt,
online verfügbar (https://mycloud.mcc-berlin.            kann die Nullhypothese, dass es keine Unter-
net/index.php/s/4fFbCzpDYrIFEGe).                        schiede in der Vulnerabilität gegenüber Hitze
                                                         unter den Versicherten gibt, abgelehnt werden.
                                                         Die Variablen zu Demografie, Krankheitshisto-
5.4 Ergebnisse                                           rie und Wohngebietseigenschaften der Versi-
                                                         cherten bilden somit einen relevanten Teil der
5.4.1 Der Effekt von Hitzetagen auf die                  Heterogenität ab.
      Anzahl der Hospitalisierungen                          Abbildung 1 zeigt die durchschnittlichen
                                                         Hitzeeffekte für sieben Gruppen von Versicher-
Zunächst wird untersucht, wie sich Hitzetage             ten, für die eine unterschiedliche Vulnerabili-
im Durchschnitt auf die Hospitalisierungsrate            tät prognostiziert wurde, sowie deren 95%-Kon-
auswirken und ob der Effekt von Hitze Hetero-            fidenzintervalle. Das Intervall [0,25) umfasst
genitäten aufweist. Der Regressionskoeffizient           wenig vulnerable Versicherte, also diejenigen

                                         © urheberrechtlich geschützt                                            67
                           MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2021
II Gesundheitliche Auswirkungen des Klimawandels und Herausforderungen
    für die medizinische Versorgung in Deutschland

                                           700
(Hospitalisierungen je Mio. Versicherte)

                                           600
                                                                                                                                                     552,97
     durchschnittlicher Hitzeeffekt

                                           500

                                           400

                                           300
                                                                                                                                                    238,21
                                           200
                                                                                                                                            93,67
                                           100
                                                           23,57                                                                  44,29
                                             0                                        -4,31                     23,34

                                                   0                         25                         50                        75                         100
                                                                                  Perzentile der geschätzten Hitze-Vulnerabilität
Abb. 1                                     Die durchschnittlichen Hitzeeffekte für unterschiedlich vulnerable Versichertengruppen. Die Abbildung zeigt die
                                           durchschnittlichen Hitzeeffekte für Versicherte in den Perzentilen [0,25), [25,50), [50,75), [75,85), [85,95), [95,99)
                                           und [99,100] der prognostizierten Hospitalisierungswahrscheinlichkeit mit 95%-Konfidenzintervallen aus der
                                           zweiten Regressionsgleichung. Die horizontale farbige Linie zeigt den mittleren Hitzeeffekt (39,79) aus Tabelle 1
                                           mit 95%-Konfidenzintervall. Standardfehler sind auf der Ebene der PLZ-Gebiete geclustert. Die Zahl der Beobach-
                                           tungen in der Regression entspricht 506.966.676.

mit der geringsten prognostizierten hitzebe-                                                         5.4.2 Charakterisierung der vulnerabelsten
dingten Hospitalisierungswahrscheinlichkeit.                                                               Versicherten
Versicherte im Intervall [99,100] gehören zu den
vulnerabelsten Individuen. Abbildung 1 zeigt,                                                        Die Gruppe der Bevölkerung, auf die sich die
dass Hitze für einen großen Teil der Versicher-                                                      größten Hitzeeffekte konzentrieren, wird
ten im Intervall [0, 75) keinen oder nur einen                                                       nachfolgend näher charakterisiert. Hierzu wer-
kleinen Effekt auf die Hospitalisierungswahr-                                                        den die besonders vulnerablen 1% der Versicher-
scheinlichkeit hat. Dass die Koeffizienten in                                                        ten mit den 75% als nicht vulnerabel eingestuf-
diesem Bereich nicht kontinuierlich ansteigen,                                                       ten Versicherten verglichen. Zunächst zeigt
kann darauf hindeuten, dass geringe Hospita-                                                         sich, dass die besonders vulnerable Gruppe
lisierungswahrscheinlichkeiten weniger präzi-                                                        durchschnittlich signifikant älter und überpro-
se prognostiziert werden. Für die oberen Per-                                                        portional männlich ist. Der Altersunterschied
zentile nimmt der Hitzeeffekt signifikant und                                                        liegt bei etwa 3,27 Jahren (95% KI: 3,24–3,30), der
rasant zu. Für die vulnerabelsten 1% der Versi-                                                      Unterschied im Anteil der männlichen Versi-
cherten steigt die Hospitalisierungsrate an Hit-                                                     cherten bei 2,97 Prozentpunkten (95% KI: 2,83–
zetagen um 552,96 je Million Versicherte. Dies                                                       3,11). In Abbildung 2 sind zudem die Gruppen-
entspricht fast dem 14-Fachen des durch-                                                             unterschiede in Bezug auf verschiedene ärzt-
schnittlichen Hitzeeffektes in Tabelle 1. Im Fol-                                                    lich diagnostizierte Vorerkrankungen (Panel I)
genden werden nur noch Versicherte mit einer                                                         und Arzneimittelverschreibungen (Panel II) ab-
prognostizierten Vulnerabilität im oberen                                                            gebildet.
25%-Perzentil als „vulnerabel“ beschrieben. Ver-                                                         Insgesamt zeigt sich, dass die besonders vul-
sicherte im oberen 1%-Perzentil werden zudem                                                         nerable Gruppe alle betrachteten Erkrankun-
als „besonders vulnerabel“ bezeichnet.                                                               gen und Arzneimittelverschreibungen häufiger

68                                                                               © urheberrechtlich geschützt
                                                                   MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2021
5 Individuelle und regionale Risikofaktoren für hitzebedingte Hospitalisierungen
  der über 65-Jährigen in Deutschland                                                                                                   II
                                                                                     Panel I – Erkrankungen

                 Demenz und Alzheimer (ICD: F00-F09, G30–G32)                                                              24,28

                               Niereninsuffizienz (ICD: N17–N19)                                                  20,77

                              Affektive Störungen (ICD: F30–F39)                                         16,25

                                Diabetes mellitus (ICD: E10–E14)                                    13,90

  Chronische Krankheiten der unteren Atemwege (ICD: J40–J47)                                   12,26

Verletzungen (z.B. Hüfte, Oberschenkel) (ICD: S30–S39, S70–S79)                             10,88

                      Arthropathien (ICD: M05–M14, M15–M19)                                 10,85

                 Krankheiten des Kreislaufsystems (ICD: I05–I89)                     8,80

                                                                   0      5          10             15       20           25       30
                                                                                Unterschied (Prozentpunkte)
                                                                          Panel II – Arzneimittelverschreibungen

                                Psychopharmaka (ATC: N05–N06)                                                             27,86

                             Antithrombotische Mittel (ATC: B01)                                                          23,72

         Mittel bei kardiovaskulären Erkrankungen (ATC: C01–C10)                             11,79

                                        Antidiabetika (ATC: A10)                            11,21

     Mittel bei obstruktiven Atemwegserkrankungen (ATC: R03)                         8,55

                                      Antirheumatika (ATC: M01)               5,74

                                                                   0      5          10             15       20           25       30
                                                                                Unterschied (Prozentpunkte)
Abb. 2    Morbiditätsunterschiede zwischen den am stärksten und am wenigsten von Hitze betroffenen Versicherten. Die
          abgebildeten Koeffizienten geben den durchschnittlichen Unterschied der Versicherten im oberen 1%-Perzentil
          und den Versicherten bis zum 75%-Perzentil der prognostizierten Vulnerabilität in Bezug auf verschiedene Er-
          krankungen (Panel I) und verschriebene Arzneimittel (Panel II) an. Die 95%-Konfidenzintervalle der Koeffizienten
          werden in der Abbildung aufgrund ihrer geringen Größe von den Punktschätzern verdeckt. Die zugrunde liegen-
          den Regressionen basieren auf 385.294.673 Beobachtungen. Standardfehler sind auf der Ebene der PLZ-Gebiete
          geclustert.

aufweist. Bei den diagnostizierten Erkrankun-                      Gruppenunterschiede. Wie eine Untersuchung
gen liegt der größte Unterschied bei Demenz                        von Heimbewohnern im Pflege-Report 2017
und Alzheimer. Der Anteil der Versicherten mit                     zeigt, werden insbesondere Demenzkranken
diesen Erkrankungen liegt etwa 24 Prozent-                         aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten häufig
punkte höher als in der Vergleichsgruppe. Auch                     Psychopharmaka verabreicht (Thürmann 2017).
bei affektiven Störungen und der Verschrei-                        Demenz geht mit einem höheren Risiko einer
bung von Psychopharmaka gibt es größere                            Dehydrierung einher (Easterling u. Robbins

                                              © urheberrechtlich geschützt                                                         69
                                MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2021
II Gesundheitliche Auswirkungen des Klimawandels und Herausforderungen
    für die medizinische Versorgung in Deutschland

2008; Mentes 2006; s. Kap. 14). Gleichzeitig stel-         Geografische Verteilung der vulnerablen
len zahlreiche Studien fest, dass sich Hitze ins-          Versicherten
besondere auf Krankheiten auswirkt, die durch
Dehydrierung hervorgerufen werden können                   Kapitel 5.4.1 und 5.4.2 zeigen, dass Versicherte
(Jagai et al. 2017; Li et al. 2015; Bobb et al. 2014).     unterschiedlich vulnerabel gegenüber Hitze
Zu diesen Krankheiten zählt auch die an zwei-              sind. Dies hat zur Folge, dass die am stärks-
ter Stelle in Abbildung 2, Panel I aufgeführte             ten unter Hitze leidenden Menschen nicht
Niereninsuffizienz.                                        zwangsläufig in den am stärksten durch Hitze
   Der geringste Unterschied zeigt sich im An-             geprägten Gebieten wohnen müssen. Daher
teil der kardiovaskulären Erkrankungen. Aller-             wird im Folgenden die geografische Verteilung
dings ist die betrachtete Gruppe (ICD-10 I05-I89)          der vulnerablen Versicherten für das Jahr 2018
sehr breit definiert und Mehrfachdiagnosen                 betrachtet.
werden durch die dichotome Variable nicht er-                  Panel II in Abbildung 3 zeigt, welcher Anteil
fasst. Es ist daher durchaus möglich, dass der             der Versicherten je PLZ-Gebiet zur vulnerablen
Unterschied für spezifische Diagnosegruppen                Bevölkerung zählt, das heißt eine prognostizier-
größer oder kleiner ausfällt (Bobb et al. 2014).           te Vulnerabilität im oberen 25%-Perzentil auf-
Hierfür spricht auch die weniger eindeutige                weist. Wären die vulnerablen Versicherten geo-
Studienlage zu kardiovaskulären Morbiditäts-               grafisch gleichmäßig verteilt, würde der Anteil
effekten (z.B. Phung et al. 2016; Li et al. 2015).         in jedem PLZ-Gebiet genau 25% entsprechen. An-
Je nach betrachteter ICD-Gruppe im Kapitel I,              teile unter 25% bedeuten somit, dass die im PLZ-
werden in den Studien nur teilweise und unter-             Gebiet Lebenden im Durchschnitt weniger vul-
schiedlich stark ausgeprägte Hitzeeffekte iden-            nerabel sind als der durchschnittliche AOK-Ver-
tifiziert. Mit Blick auf die Arzneimittel in Ab-           sicherte. Anteile über 25% zeigen eine überpro-
bildung 2, Panel II zeigt sich zudem, dass ein             portional vulnerable Bevölkerung an. Vergleicht
um 23 Prozentpunkte höherer Anteil der Versi-              man Panel II mit Panel I, deutet sich ein negati-
cherten in der besonders vulnerablen Gruppe                ver Zusammenhang zwischen der Hitzeexposi-
antithrombotische Mittel einnimmt, die z.B.                tion und der Vulnerabilität an, der im folgenden
zur Vermeidung von Herzinfarkten, Schlagan-                Abschnitt quantifiziert wird. Die Abbildung
fällen, Embolien oder Beinvenenthrombose                   macht jedoch deutlich, dass eine große Disper-
eingesetzt werden.                                         sion vorliegt, bei der in einigen PLZ-Gebieten gar
                                                           keine vulnerablen Versicherten wohnhaft sind,
                                                           während in anderen Gebieten alle Versicherten
5.4.3 Charakterisierung des Hitzejahrs 2018                als vulnerabel eingeordnet werden. Auch lokal
                                                           bestehen große Unterschiede, die Anteile be-
Im besonders heißen Jahr 2018 lag der Tempe-               nachbarter Gebiete unterscheiden sich mitunter
raturdurchschnitt um 2,2 Grad über dem Wert                stark. Zu beachten ist, dass die prognostizierte
der international gültigen Referenzperiode                 Vulnerabilität sowohl vom individuellen ge-
1961 bis 1990. Es ist damit das wärmste Jahr seit          sundheitlichen Zustand als auch den lokalen
Messbeginn 1881 (DWD 2018). Insbesondere die               Angebots- und Versorgungsstrukturen abhängt.
Regionen Berlin und Brandenburg und das                    Eine hohe Vulnerabilität kann somit einerseits
Rhein-Main-Gebiet waren stark von Hitze be-                auf eine höhere Morbidität zurückzuführen
troffen, wie die Verteilung der heißen Tage in             sein, die das Auftreten von Hitzeschäden be-
Abbildung 3 in Panel I verdeutlicht.                       günstigt. Andererseits kann sie auch durch lo-
                                                           kale Versorgungsstrukturen bedingt sein.
                                                               In Panel III in Abbildung 3 sind die hitzebe-
                                                           dingten Hospitalisierungen je Million Versicher-

70                                       © urheberrechtlich geschützt
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5 Individuelle und regionale Risikofaktoren für hitzebedingte Hospitalisierungen
  der über 65-Jährigen in Deutschland                                                                                         II
                Panel I                                   Panel II                                  Panel III

   0         10        20     30              0      25      50     75    100         0      1.000 2.000 3.000
               Hitzetage                             Anteil vulnerabler              hitzebedingte Hospitalisierungen
         mit mindestens 30 °C                         Versicherter (%)                      je Mio. Versicherte
Abb. 3   Geografische Verteilung der Hitzetage, Hitze-Vulnerabilität und hitzebedingten Hospitalisierungen im Jahr 2018.
         Panel I zeigt die Verteilung der heißen Tage mit Temperaturen von mindestens 30°C. Panel II zeigt den Anteil der
         Versicherten in jedem PLZ-Gebiet, der vulnerabel gegenüber Hitze ist, d.h. eine prognostizierte Vulnerabilität im
         oberen 25%-Perzentil aufweist. Panel III zeigt die zusätzlichen durch hitzebedingten Hospitalisierungen je Million
         Versicherte, die auf Basis der Regressionskoeffizienten in Abbildung 1 für das Gesamtjahr hochgerechnet wurden.
         Gebiete mit weniger als 100 Versicherten in Panel II und III sind grau eingefärbt.

te für jedes PLZ-Gebiet dargestellt. Die Werte er-              schnittlich hohen hitzebedingten Hospitalisie-
geben sich als Summe der Regressionskoeffi-                     rung je Million Versicherte. Die beiden rechten
zienten in Abbildung 1 multipliziert mit dem                    Felder umfassen Gebiete mit überdurchschnitt-
Anteil der Versicherten je Perzentil und den Hit-               lich vielen Hitzetagen im Jahr 2018. Ließe sich
zetagen in 2018. Kaum betroffen sind die Küs-                   die hitzebedingte Hospitalisierung allein durch
tenregion, die Mittelgebirgsschwelle und das                    die Hitzebelastung erklären, so würden sich die
südliche Alpenvorland, wodurch sich ein Muster                  PLZ-Gebiete auf einer Geraden reihen. Die statt-
ergibt, das durch zwei Bänder gekennzeichnet                    dessen sichtbare Streuung veranschaulicht das
ist. Hervor sticht das Gebiet Nuthe-Urstromtal                  Vorhandensein heterogener Zusammenhänge.
in Brandenburg, welches sowohl stark von Hitze                  Auf der einen Seite gibt es Gebiete mit einer
betroffen ist als auch einen hohen Anteil vulne-                überdurchschnittlich hohen hitzebedingten
rabler Versicherter aufweist. Die Grafik verdeut-               Hospitalisierung bei unterdurchschnittlich vie-
licht, dass die hitzbedingte Hospitalisierung ein               len Hitzetagen, darunter z.B. Ansbach (BY),
Produkt der Hitzebelastung (Panel I) und der Vul-               Böblingen (BW) und Herrenberg (BW). Auf der
nerabilität der lokalen Bevölkerung (Panel II) ist.             anderen Seite gibt es Gebiete, die überdurch-
Noch deutlicher wird dies in Abbildung 4, wel-                  schnittlich stark von Hitze betroffen sind, aber
che die PLZ-Gebiete in einer Vier-Felder-Matrix                 unterdurchschnittlich viele hitzebedingte Hos-
anordnet. Die oberen beiden Felder der Grafik                   pitalisierungen aufweisen, darunter z.B. Freital
umfassen alle Gebiete mit einer überdurch-                      (SN), Bautzen (SN) und Gotha (TH).

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II Gesundheitliche Auswirkungen des Klimawandels und Herausforderungen
    für die medizinische Versorgung in Deutschland

                                                                viele Hospitalisierungen                                                       viele Hospitalisierungen
                                                                und wenig Hitze                                                                          und viel Hitze

                                                       800
hitzebedingte Hospitalisierungen je Mio. Versicherte

                                                       600
       (Abweichungen vom Mittelwert in %)

                                                       400

                                                       200

                                                          0

                                                       -200
                                                                wenige Hospitalisierungen                                                    wenige Hospitalisierungen
                                                                und wenig Hitze                                                                         und viel Hitze
                                                          -15              -10              -5              0              5                   10              15
                                                                                                          Anzahl Hitzetage
                                                                                                   (Abweichungen vom Mittelwert)
Abb. 4                                                 Vier-Felder-Matrix zur Hitzebelastung und hitzebedingten Hospitalisierung im Jahr 2018. Die Abbildung ordnet die
                                                       PLZ-Gebiete in einer Vier-Felder-Matrix an. Auf der y-Achse ist die relative Abweichung der zusätzlichen durch Hitze
                                                       bedingten Hospitalisierungen je Million Versicherte vom Mittelwert angegeben. Auf der x-Achse ist die absolute
                                                       Abweichung der Zahl der Hitzetage vom Mittelwert angegeben. Die Größe der Kreise ist proportional zur Anzahl
                                                       der Versicherten im PLZ-Gebiet. Es werden nur Gebiete mit mindestens 100 Versicherten abgebildet.

Eigenschaften der PLZ-Gebiete mit vielen                                                                       die abhängige Variable die Anzahl der vulnera-
vulnerablen Versicherten                                                                                       blen Versicherten im oberen 25%-Perzentil der
                                                                                                               prognostizierten Vulnerabilität je PLZ-Gebiet
Im nächsten Schritt wird deskriptiv unter-                                                                     ist. Die erklärenden Variablen sind auf der lin-
sucht, ob lokale sozioökonomische und demo-                                                                    ken Seite von Abbildung 5 aufgelistet. Zusätz-
grafische Faktoren sowie Kennzeichen der lo-                                                                   lich wird für die Gesamtzahl der Versicherten
kalen Gesundheitsversorgung den stark unter-                                                                   im PLZ-Gebiet und die Region (Ost‑, Süd‑,
schiedlichen Anteil der vulnerablen Versicher-                                                                 West- und Norddeutschland) kontrolliert. Die
ten in einem PLZ-Gebiet vorhersagen. Hierfür                                                                   abgebildeten Koeffizienten geben die standar-
wird eine LASSO-Regression geschätzt, in der                                                                   disierten Zusammenhänge zwischen den Va-

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                                                                            MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2021
5 Individuelle und regionale Risikofaktoren für hitzebedingte Hospitalisierungen
  der über 65-Jährigen in Deutschland                                                                                           II
                                 Anzahl Hitzetage
     Pflegebedürftige in ambulanter Pflege (%)
     Personal in der Pflege je 10.000 Einwohner
               Urbanität (Anteil Wohngebiet in %)
         Pflegebedürftige in stationärer Pflege (%)
           Krankenhausbetten je 1.000 Einwohner
                    Bevölkerung über 65 Jahre (%)
                    Apotheken je 1.000 Einwohner
         Ausgaben je Krankenhausbehandlung (€)
                               Ausländeranteil (%)
          Distanz zum nächsten Krankenhaus (km)
durchschnittliche Wohnfläche je Einwohner (m2)
                   Hausärzte je 10.000 Einwohner
                                   Altersarmut (%)
                                                  -4,0   -3,0   -2,0 -1,0 0          1,0 2,0 3,0 4,0 5,0          6,0    7,0
                                                                    standardisierte Veränderung in der Anzahl
                                                                          der vulnerablen Versicherten
Abb. 5     Zusammenhänge zwischen den Eigenschaften der Wohnorte (PLZ-Gebiete) und der Vulnerabilität der Versicherten.
           Die Abbildung zeigt, inwiefern Eigenschaften der PLZ-Gebiete die Zahl der vulnerablen Versicherten vorhersagen
           können. Die geschätzten Koeffizienten stammen aus einer LASSO-Regression, welche die Koeffizienten nicht rele-
           vanter Variablen gleich Null setzt. Die Anzahl der heißen Tage bezieht sich auf das Jahr 2018. Die Krankenhausaus-
           gaben beziehen sich nur auf die AOK-Versicherten im PLZ-Gebiet und auf das Vorjahr 2017. PLZ-Gebiete mit weniger
           als 100 Versicherten werden ausgeschlossen. Die Regression basiert auf 7.264 Beobachtungen.

riablen und der Anzahl der vulnerablen Versi-                      weise damit zusammenhängen, dass diese Ge-
cherten an. Bei der Interpretation dieser Zu-                      biete in der Regel urbaner sind und es Unter-
sammenhänge ist zu beachten, dass die Koef-                        schiede in der Morbidität und der sonstigen
fizienten keine kausalen Rückschlüsse zulas-                       Angebots- und Versorgungslage zwischen dem
sen. Das bedeutet, dass negativ bzw. positiv                       städtischen und ländlichen Raum gibt.
assoziierte Wohnorteigenschaften als Indikato-                        Die Ergebnisse erhärten, dass vulnerable
ren für Gebiete mit weniger bzw. mehr vulne-                       Versicherte vermehrt in Gebieten mit weniger
rablen Versicherten dienen können, sie jedoch                      Hitzetagen leben. Zu den negativ assoziierten
in keinem kausalen Zusammenhang mit der                            Variablen gehören auch alle, die mit der Ver-
Vulnerabilität stehen müssen. Es ist möglich,                      sorgung von Pflegebedürftigen zusammenhän-
dass sie lediglich mit einer dritten Variable kor-                 gen. Wird ein größerer Anteil der Pflegebedürf-
relieren, die wiederum direkten Einfluss auf                       tigen durch ambulante Pflegedienste unter-
die Vulnerabilität hat. Leben weniger vulnera-                     stützt oder befindet sich dauerhaft in stationä-
ble Versicherte in Gebieten mit mehr Kranken-                      rer Pflege, so ist die Zahl der vulnerablen Ver-
hausbetten je Einwohner, kann dies beispiels-                      sicherten im PLZ-Gebiet geringer. Auch die

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II Gesundheitliche Auswirkungen des Klimawandels und Herausforderungen
    für die medizinische Versorgung in Deutschland

Höhe des Personals in der Pflege steht in einem         anstieg bis 2100 unter Einhaltung des Pariser
negativen Zusammenhang mit der Vulnerabili-             Klimaabkommens deutlich unter 2°C gehalten
tät. Weitere negativ korrelierte Variablen sind         werden kann. Das Szenario „SSP5/RCP8.5“
die Urbanität eines PLZ-Gebietes, die Anzahl            rechts daneben stellt ein Schlimmstfall-Szena-
der Krankenhausbetten sowie der Anteil der äl-          rio dar, bei dem die globale Wirtschaft auf fos-
teren Bevölkerung an der Bevölkerung insge-             silen Brennstoffen basiert, keine Maßnahmen
samt.                                                   zur Reduktion der CO2-Emissionen ergriffen
   In einem positiven Zusammenhang steht                werden und die Temperaturen bis 2100 um 4,7–
die Altersarmut. Auch ist, im Gegensatz zu den          5,1°C ansteigen. Eine genauere Beschreibung
anderen Variablen zur Gesundheitsversorgung,            der Szenarien liefert Hausfather (2018). In Ab-
die Zahl der niedergelassenen Hausärzte positiv         bildung 6 dargestellt sind der Durchschnitt der
korreliert. Höhere Ausgaben für Krankenhaus-            Hitzetage über die Jahre 2009 bis 2018 und die
behandlungen der Versicherten im Vorjahr                Projektionen der Hitzetage für die Jahre 2050
könnten auf eine höhere Morbidität der Versi-           und 2100 in beiden Szenarien. In Panel II ist die
cherten hinweisen. Schließlich stehen auch              hochgerechnete hitzebedingte Hospitalisie-
Variablen, die für ländlichere Gegenden ty-             rungsrate je Million Versicherte illustriert. Sie
pisch sind, wie eine längere Fahrtdistanz zum           zeigt die Verteilung der Krankenhauseinwei-
nächsten Krankenhaus und mehr Wohnraum                  sungen, die sich ceteris paribus ergeben würde,
je Einwohner, in einem positiven Zusammen-              wenn die AOK-Versicherten aus dem Jahr 2018
hang mit der Vulnerabilität gegenüber Hitze.            in einem Klima wie in 2050 bzw. 2100 leben
                                                        würden. Zukünftige Adaptionsmaßnahmen an
                                                        ein verändertes Klima und demografische Ent-
5.4.4 Hitzebedingte Hospitalisierungen                  wicklungen werden in der Darstellung nicht
      im Wandel des Klimas                              berücksichtigt.
                                                           Das Gesamtbild verdeutlicht, dass unter Kli-
Durch einen ungebremsten Klimawandel kön-               mapolitik gemäß dem Pariser Klimaabkommen
nen die Temperaturen in ganz Deutschland zu-            der Status quo erhalten werden kann, während
nehmen. Daher ist auch die Vulnerabilität der           die Gesundheitsschäden durch Hitze im Szena-
bislang weniger von Hitze betroffenen Bevölke-          rio mit hohen CO2-Emissionen stark zuneh-
rung mit Blick auf künftige Entwicklungen von           men. Verglichen mit dem Durchschnitt in den
Bedeutung.                                              Jahren 2009 bis 2018, würde die Zahl der hitze-
   Panel I in Abbildung 6 zeigt die künftige Ent-       bedingten Krankenhauseinweisungen bis zum
wicklung der Hitzetage in zwei möglichen Kli-           Jahr 2050 bereits um 85% und bis zum Jahr 2100
maentwicklungsszenarien, welche Grundlage               um 488% steigen. Die Zeitachse in der Mitte der
des sechsten Sachstandsberichts des Weltkli-            Abbildung verdeutlicht, dass ein Verfehlen des
marates (IPCC) sind. Die Szenarien stellen eine         2°C-Ziels nicht erst für künftige Generationen
Kombination aus möglichen Entwicklungspfa-              fatale Gesundheitsfolgen haben kann. Bereits
den der Treibhausgaskonzentration (Represen-            die heute 35-Jährigen werden ihre gesamte Le-
tative concentration pathways – RCPs) auf der           bensphase ab dem 65. Lebensjahr unter einer
einen Seite und der globalen Gesellschaft, De-          Hitzebelastung, die sich zwischen den für 2050
mografie und Wirtschaft (Shared Socioecono-             und 2100 abgebildeten Szenarien bewegt, ver-
mic Pathways – SSPs) auf der anderen Seite dar.         bringen.
Das linke Szenario „SSP1/RCP2.6“ entspricht
einem Bestfall-Szenario, bei dem es eine zuneh-
mende Verlagerung hin zu strikter Klima-
schutzpolitik gibt und der globale Temperatur-

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5 Individuelle und regionale Risikofaktoren für hitzebedingte Hospitalisierungen
  der über 65-Jährigen in Deutschland                                                                                         II
                 Panel I                                                                           Panel II
   SSP1/RCP2.6              SSP5/RCP8.5                                            SSP1/RCP2.6                SSP5/RCP8.5
                                                              Geburtsjahr der
                                                   Jahr
                                                              über 65-Jährigen

                                               2009–2018          vor 1953

                                                     2050         vor 1985

                                                     2100         vor 2035

    0     10    20 30 40            50                                                0     1.000 2.000 3.000 4.000
               Hitzetage                                                              hitzebedingte Hospitalisierungen
          mit mindestens 30 °C                                                               je Mio. Versicherte
Abb. 6   Projektionen der Hitzetage und hitzebedingten Hospitalisierungen in zukünftige Klimaszenarien. Panel I zeigt die
         Zahl der Hitzetage mit mindestens 30°C pro Jahr und PLZ-Gebiet, Panel II die Zahl der hitzebedingten Hospitali-
         sierungen je Million Versicherte, Jahr und PLZ-Gebiet. Die hochgerechnete hitzebedingte Hospitalisierungsrate in
         Panel II basiert auf der prognostizierten Vulnerabilität der Versicherten in 2018 und den Regressionskoeffizienten
         in Abbildung 1. Die Gebiete mit weniger als 100 Versicherten in Panel II sind grau eingefärbt.

5.5 Diskussion                                                  Arzneimittelverschreibungen zeigt sich der
                                                                größte Unterschied in den Fallzahlen bei De-
Die vorliegende Studie zeigt, dass Hitzetage mit                menz- und Alzheimererkrankungen, was mit
Temperaturen von mindestens 30°C für etwa                       dem erhöhten Risiko einer Dehydrierung zu-
ein Viertel der AOK-Versicherten über 65 Jahre                  sammenhängen könnte (Easterling u. Robbins
ein erhöhtes Risiko einer Hospitalisierung dar-                 2008; Mentes 2006).
stellen. Das höchste Risiko konzentriert sich                      Mit Blick auf die geografische Verteilung
auf eine kleine Versichertengruppe, die gezielt                 zeigt sich, dass vulnerable Versicherte ver-
Schutz bedarf. Die besonders vulnerablen 1% der                 mehrt in ländlicheren Gebieten mit weniger
Versicherten sind im Durchschnitt älter, krän-                  Kapazität oder Inanspruchnahme von ambu-
ker und häufiger männlich als die Versicher-                    lanter und stationärer Pflege, mehr Altersar-
ten, die kaum von Hitze betroffen sind. In Be-                  mut, aber auch einer höheren Hausärztedichte
zug auf alle betrachteten Vorerkrankungen und                   wohnhaft sind. Diese Zusammenhänge kön-

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II Gesundheitliche Auswirkungen des Klimawandels und Herausforderungen
    für die medizinische Versorgung in Deutschland

nen nicht als ursächlich beschrieben, aber im               Eine exakte Einordnung des mittleren Hitze-
Rahmen möglicher Erklärungen diskutiert                  effektes (39,79 zusätzliche Einweisungen je Mil-
werden. Plausibel erscheint, dass Hitzeschäden           lion Versicherte und Hitzetag) in die vorhande-
bei Pflegebedürftigen unter professioneller Be-          ne epidemiologische und gesundheitsökonomi-
treuung möglicherweise eher verhindert wer-              sche Literatur ist aufgrund von divergierenden
den als bei Alleinlebenden oder zu Hause durch           Definitionen von Hitzeereignissen als auch der
Angehörige Gepflegten. Dass die Vulnerabilität           Betrachtung verschiedener abhängiger Morbi-
in ländlichen Gebieten höher ausfällt, könnte            ditätsvariablen nicht möglich. Der Effekt liegt
auf die Vorerkrankungen der dort lebenden Ver-           jedoch im Spektrum der geschätzten hitzebe-
sicherten, die medizinische Infrastruktur vor            dingten Hospitalisierungsraten ähnlicher Stu-
Ort wie auch auf den weniger routinierten Um-            dien. In ihrer Analyse der über 65-jährigen Ver-
gang mit Hitze, z.B. durch das Fehlen von                sicherten in den USA identifizieren Bobb et al.
Warnsystemen und Hitze-Aktionsplänen, zu-                (2014) statistisch signifikante Effekte für fünf
rückzuführen sein (Jagai et al. 2017). Einige Stu-       von 214 Diagnosen, die sich auf eine hitzebe-
dien zeigen, dass ein niedrigerer sozioökono-            dingte Hospitalisierungsrate von etwa 12 Ein-
mischer Status zur Hitzeanfälligkeit beitragen           weisungen je Million Versicherte und Hitzewel-
kann (Campbell et al. 2018; Li et al. 2015). Die         len-Tag aufsummieren. Karlsson und Ziebarth
vulnerablen Versicherten leben verstärkt in Ge-          (2018) erhalten für Deutschland etwas größere
bieten mit ausgeprägterer Altersarmut. Dies              Effekte. Für die Altersgruppe 65–75 liegen diese
könnte darauf hindeuten, dass der Zugriff auf            bei fast 70, für die Altersgruppe 75+ zwischen
präventive Versorgungsmaßnahmen oder de-                 90 und 100 zusätzlichen Einweisungen je Mil-
ren Inanspruchnahme nicht einkommensun-                  lion Menschen.
abhängig ist. Weniger ersichtlich erscheint die              Während die absoluten mittleren Hitzeef-
positive Korrelation mit der Hausärztedichte.            fekte relativ klein sind, können die Gesund-
Da dieser Teil der Analyse keine Kausalinterpre-         heitslasten bei Hitzewellen mit anhaltend ho-
tation zulässt, müssen die Wohnortseigen-                hen Temperaturen am Tag und in der Nacht
schaften in keinem direkten Zusammenhang                 deutlich höher ausfallen (Bobb et al. 2014). Zu-
mit der Vulnerabilität der Versicherten stehen.          dem ist davon auszugehen, dass die Dosis-Wir-
Sie können dennoch als Indikatoren für Gebie-            kungs-Beziehung zwischen Temperatur und
te mit weniger bzw. mehr vulnerablen Versi-              Morbidität bei Temperaturen über und unter
cherten dienen.                                          30°C nicht konstant ist und dass durch den Fo-
    Die Analyse zeigt auch, dass vulnerable Ver-         kus auf kurzfristige Hitzeeffekte Fälle, die erst
sicherte häufiger an Orten leben, die unter der-         in den Folgetagen auftreten, nicht erfasst wer-
zeitigen Klimabedingungen weniger von Hitze              den (Hsiang 2016; Li et al. 2015; Deschênes u.
betroffen sind. Projektionen zeigen für die Zu-          Greenstone 2011). Diese Aspekte wurden hier
kunft jedoch eine deutlich stärkere Hitzeexposi-         nicht untersucht, könnten jedoch Gegenstand
tion für viele dieser Orte mit besonders anfälli-        weitergehender Analysen sein. Zudem wird
ger Bevölkerung. Daher könnte ein ungebrems-             durch die Betrachtung von Krankenhausein-
ter Temperaturanstieg bis 2100 zu einem starken          weisungen nur ein Bruchteil der insgesamt an-
Anstieg der hitzebedingten Hospitalisierung              fallenden Hitzeschäden in Deutschland erfasst.
führen. Klimapolitische Maßnahmen in den                 Eine Analyse weiterer Bevölkerungsgruppen
nächsten Jahren werden ausschlaggebend dafür             und anderer Versorgungsbereiche wäre auf-
sein, wie viel größer die Hitzelast sein wird, mit       schlussreich, um die Gesamtkosten durch Hit-
der nicht nur kommende Generationen, son-                ze im deutschen Gesundheitssystem abschät-
dern auch ein großer Teil der heute lebenden             zen zu können.
Generation im Alter konfrontiert sein wird.

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5 Individuelle und regionale Risikofaktoren für hitzebedingte Hospitalisierungen
  der über 65-Jährigen in Deutschland                                                                                                        II
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II Gesundheitliche Auswirkungen des Klimawandels und Herausforderungen
    für die medizinische Versorgung in Deutschland

                     Hannah Klauber
                     Seit Beendigung ihres Studiums der Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität zu Ber-
                     lin forscht sie als Doktorandin am Mercator Research Institute on Global Commons and Clima-
                     te Change (MCC). Im Rahmen ihrer Dissertation, die durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt
                     gefördert wird, beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit den Gesundheitsfolgen von Umwelt-
                     einflüssen.

                     Dr. Nicolas Koch
                     Der Umweltökonom leitet das Policy Evaluation Lab am Mercator Research Institute on Global
                     Commons and Climate Change (MCC). Seine Forschung nutzt statistische Methoden der Ökono-
                     mie, um die Politikgestaltung bei drängenden umwelt- und klimapolitischen Herausforderungen
                     evidenzbasiert zu unterstützen. Nach seinem Studium der Volkswirtschaftslehre promovierte er
                     im Jahr 2013 an der Universität Hamburg.

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