Informationen zu Bertolt Brecht - Dreigroschenheft

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Informationen zu Bertolt Brecht - Dreigroschenheft
Dreigroschenheft
      Informationen zu Bertolt Brecht

24. Jahrgang                                    Heft 2/2017

Eine Nische für das Brechtfestival in Augsburg (Foto)
Brecht-Tage in Berlin, Thema Oktoberrevolution
Dieter Henning über Brechts Trotzki-lektüre
Schulwettbewerb des Brechtkreises
Informationen zu Bertolt Brecht - Dreigroschenheft
aus dem Wißner-Verlag
                             208 Seiten | über 400 farbige Abbildungen
                             ISBN 978-3-89639-969-4 | 19,80 €

   216 Seiten | über 400 farbige Abbildungen
   ISBN 978-3-95786-025-5 | 24,80 €

Mehr tolle Bildbände, spannende Erzählungen und weitere schöne Seiten
von Augsburg finden Sie beim Wißner-Verlag unter www.wissner.com
Bücher erhältlich im Buchhandel oder direkt beim Verlag.
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Inhalt

Editorial .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 2    Der Augsburger
Impressum.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 2        Sonderausstellung im Augsburger
                                                                                Brechthaus (mf) .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 33
Brecht-Festival Augsburg
                                                                                Zweiter Augsburger Schulwettbewerb des
Die Maßnahme: Parteinahme gegen die                                             Brechtkreises (mf).  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 34
„Partei“.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 3   Mit Bi bei Kaffee und Kuchen.  .  .  .  .  .  .  .  .  . 36
       Andreas Hauff
                                                                                Eine Begegnung mit Frau Paula Gross, geb. Banholzer
25 Jahre Brecht-Forschungsstätte.  .  .  .  .  .  .  . 8                             Wolfgang Leeb
       Michael Friedrichs
                                                                                Neuauflage: Die Erinnerungen von Paula
Neunmalgut (mf).  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 10             Banholzer („Bi“).  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 38
                                                                                       Michael Friedrichs
„Der gute Mensch von Downtown“ (mf) .  .  . 11
Eine spannende Kombi: „Hollywooder                                              Musik
Liederbuch“ deutsch-afrikanisch (mf) .  .  .  .  . 12
                                                                                Bei Lotte Lenya zu Besuch .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 39
Werkstatttag Bertolt Brecht und Walter                                                 Ernst Scherzer
Benjamin:Laboratorium Vielseitigkeit (mf). . 13
Benjamin und Brecht heute begegnen. . . . . 14                                  Hegel
       Milena Massalongo
                                                                                Minima Hegeliana Zu Brechts Denkbildern (6)
                                                                                Das unheimliche Werk .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 40
Brecht-Tage Berlin
                                                                                       Frank Wagner
Brecht-Tage 2017: 100 Jahre nach der
Oktoberrevolution. .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 16               Bertolt-Brecht-Archiv
       Christian Hippe
                                                                                Kotzlandschaft. Ein unbekannter Brief Brechts
Ochs und Paradox (mf).  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 21                   an Helene Weigel .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 42
                                                                                Rätselhaftes Zeichen
Lenin, Stalin                                                                        Erdmut Wizisla
Die Massen, der Aufstand, die Führung .  .  . 22                                Neu in der Bibliothek des Bertolt-Brecht-
Brechts Trotzki-Lektüre auf der Grundlage der                                   Archivs.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 45
Nachlassbibliothek                                                                     Zusammenstellung: Helgrid Streidt
     Dieter Henning
Leserbrief zu Heft 1/2017.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 30                  Nachruf
                                                                                Werner Hecht gestorben.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 52
Rezension                                                                              Michael Friedrichs
Eine schmerzhafte Lektüre: Brechts Star Carola
Neher im Kräftefeld der Sowjetunion . . . . . 31
       Michael Friedrichs

Dreigroschenheft 2/2017
Informationen zu Bertolt Brecht - Dreigroschenheft
Editorial                                                                              Impressum

Das Motto des ersten Brecht-Festivals unter      Dreigroschenheft
Leitung von Patrick Wengenroth in Augs-          Informationen zu Bertolt Brecht
burg war „Ändere die Welt, sie braucht           Gegründet 1994
es“. Weniger Starglanz, mehr Werkstatt, so       Herausgeber 1994-2009: Kurt Idrizovic
kann man es wohl zusammenfassen. Wir             www.dreigroschenheft.de
berichten ausführlich über einige Auffüh-
rungen, v. a. Die Maßnahme. Der Kultur-          Erscheint vierteljährlich zu Quartalsbeginn
                                                 Einzelpreis: 7,50 €
auschuss des Augsburger Stadtrats hat eine       Jahresabonnement: 30,- €
Verlängerung des Vertrags mit Wengenroth
befürwortet.                                     Anschrift:
                                                 Wißner-Verlag GmbH & Co. KG
                                                 Im Tal 12, 86179 Augsburg
Weitere Schwerpunkte dieses Heftes:              Telefon: 0821-25989-0
• Brecht-Tage in Berlin mit dem Thema            www.wissner.com
  100 Jahre Oktoberrevolution (Bericht           redaktion@dreigroschenheft.de
  von Christian Hippe).                          vertrieb@dreigroschenheft.de
• Dieter Henning über Brechts Lektüre
                                                 Bankverbindung: Wißner-Verlag GmbH & Co. KG
  marxistischer Schriften auf Grundlage          Stadtsparkasse Augsburg
  der Nachlassbibliothek; nach Lenin ist         Swift-Code: AUGSDE77
  diesmal Trotzki dran.                          IBAN: DE15 7205 0000 0000 0282 41
• Schulwettbewerb des Augsburger Brecht-
                                                 Redaktionsleitung: Michael Friedrichs (mf)
  Kreises zum Thema Erste Liebe, dazu
  persönliche Erinnerungen an Brechts            Wissenschaftlicher Beirat: Dirk Heißerer, Tom Kuhn,
  erste Liebe Bi Banholzer.                      Joachim Lucchesi, Werner Wüthrich
Lesen Sie wohl!
                                                 Autoren in dieser Ausgabe: Michael Friedrichs, Andreas
                                                 Hauff, Dieter Henning, Christian Hippe, Wolfgang Leeb,
Mea Culpa                                        Milena Massalongo, Ernst Scherzer, Helgrid Streidt, Frank
                                                 Wagner, Erdmut Wizisla
Im letzten Heft ist mir in der letzten Phase
vor dem Druck ein ärgerlicher Layoutfehler       Titelbild: Eine Nische unterhalb des Liliom-Kinos in Augs-
                                                 burg, eingerichtet vom benachbarten Grandhotel Cosmopolis
unterlaufen, und ausgerechnet den sorgfäl-       für die Dauer des Brecht-Festivals (Foto: mf)
tigen Autor Volkmar Häußler hat er betrof-
fen: In seinem Beitrag „Noch eine Brecht-        Druck: WirmachenDruck GmbH, Backnang
Karikatur“ fehlen die letzten beiden Zeilen
auf Seite 42. Der Absatz lautet vollständig:     ISSN: 0949-8028
   „Als Marxen seine Plagiatoren Einzug
   halten lässt, da ist Brecht schon zwei Jah-
   re einer der Gladiatoren der deutschen                                             Gefördert durch die
   Literatur.“                                                                        Stadt Augsburg
In der pdf-Version auf unserer Homepage
wurde der Fehler frühzeitig korrigiert. ¶                                             Gefördert durch den
                           Michael Friedrichs                                         Bert Brecht Kreis

                                                                             Dreigroschenheft 2/2017
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Festival
Maschinen des Gaswerks Augsburg-Oberhausen bilden das Ambiente der Inszenierung (Foto: Christian Menkel)

Die Massnahme: Parteinahme gegen die „Partei“
     Andreas Hauff

Wer als Zuschauer das Brecht-Festival mit              „Er hat nicht an das große Ganze gedacht“,
der Produktion Der gute Mensch von Down-               beschreibt eine ältere Dame ihrer Nach-
town eröffnen wollte, bewegte sich zumin-              barin das Grundproblem des „jungen
dest räumlich auf gewohnten Wegen: Diese               Genossen“, der von seinen Mitkämpfern
Aufführung fand auf der Brecht-Bühne des               getötet und die Kalkgrube geworfen wird,
Augsburger Theaters statt. Die zweite Pre-             nachdem er durch seine Spontaneität den
miere, Brechts Lehrstück Die Maßnahme,                 Erfolg des kommunistischen Undercover-
musste wegen der vorzeitigen Schließung                Unterneh­mens in China gefährdet hat, auf
des Großen Hauses auf das alte Gaswerkge-              das er sich so enthusiastisch eingelassen hat.
lände im Stadtteil Oberhausen verlegt wer-             Das Szenario war und ist umstritten; man
den; und ein Bus-Shuttle der Stadtwerke                hat Brecht sogar Sympathien für die stali-
brachte die Zuschauer vom Theater dorthin              nistischen Schauprozesse vorgeworfen, ob-
und wieder zurück.                                     wohl das Stück – wie auch die Augsburger
                                                       Aufführung von 2011 schon zeigte – eher
Dass es nach der Vorstellung zu lebhaften              als Versuchsanordnung und Denkmodell
Gesprächen kommt, darf man als Verdienst               zu verstehen ist.
von Regisseur und Ausstatter Selcuk Cara
werten: Der türkischstämmige Sänger und                2017 formuliert die Vorschau im Festival-
Filmregisseur hat mit seiner ersten Theater­           programm spürbare Sympathie für den
arbeit eine diskussionswürdige Inszenie-               mutmaßlichen Versager. „Hier steht ein Pro-
rung vorgelegt, und ich finde mich im Bus              tagonist im Vordergrund,“ lesen wir, „der ein
zwischen gleich drei lebhaften und sehr                System mit all seiner Kraft, selbst unter Le-
verschiedenen Nachgesprächen wieder, die               bensgefahr, zu unterstützen versucht. Doch
sich leider akustisch überlagern.                      etwas hindert diesen jungen, idealistischen

Dreigroschenheft 2/2017                                                                                   
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Festival

           Flüchtlingsszenario als Vorspiel: Auch das Publikum in bedrängter Situation (Foto: Christian Menkel)

           Menschen daran, sich völlig dem Diktat des                 delns aufzukommen und nicht nur den
           Systems zu unterwerfen: Es ist sein ‚eigenes               eigenen moralischen Maßstäben gerecht
           Gesicht‘, seine Individualität, sein Wesen.“               zu werden. Verlangt denn nicht jedes poli-
           Und dann überträgt der Ankündigungstext                    tische Handeln in der Welt, so wie sie ist,
           diese Konstellation auf die aktuelle Politik               ein Mindestmaß an Taktik und Strategie? In
           von Bundesregierung und Europäischer                       einem der in der Maßnahme geschilderten
           Union in der sogenannten Flüchtlingskri-                   Fälle weigert sich der junge Genosse aus
           se. Bundesinnenminister Thomas de Mai-                     moralischer Abscheu, mit dem öligen und
           zière wird mit den Worten zitiert: „Auch                   ausbeuterischen Reishändler zu essen, der
           wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte                die chinesischen Kulis für den Kampf be-
           Bilder aushalten müssen, unser Ansatz ist                  waffnen soll. Damit platzen die Verhand-
           richtig.“ EU und Innenminister werden mit                  lungen. Hier kommt in der Augsburger
           dem „Kontrollchor“ und den Agitatoren in                   Aufführung auf die Frage: „Was hätte der
           Brechts Stück verglichen: „Sie wollen, dass                junge Genosse tun sollen?“ tatsächlich eine
           ich für das große Ganze, für das System, für               Antwort aus dem Publikum: „Essen!“ In der
           die EU meinen Begriff der Mitmenschlichkeit                Tat: Wer etwas erreichen will, kann sich den
           und des Mitleids auf bürokratische Art neu                 Gesprächspartner nicht immer aussuchen;
           definiere.“ Es komme aber gerade darauf an,                ein Problem, das die Diskussion über die
           „Gesicht zu zeigen“, wie der junge Genosse.                deutsche Außenpolitik in den letzten Wo-
                                                                      chen immer wieder in Vibration versetzt.
           Letzteres ist nun ein Standpunkt, gegen
           den in politischen Diskussionen seit Jahr-                 Ein anderer Aspekt dieser Frage allerdings
           zehnten immer wieder Max Webers Un-                        ist die nach der Qualität des politischen
           terscheidung zwischen Gesinnungs- und                      Ziels. Wo der eine Thomas de Maizières Zitat
           Verantwortungsethik bemüht wird. Ver-                      für den Ausdruck staatstragender Vernunft
           antwortungsethik heiße eben, auch für die                  hält, sieht der andere Stimmungsabfuhr,
           vorhersehbaren Folgen des eigenen Han-                     Stimmungsmache und politische Kurz-

                                                                                               Dreigroschenheft 2/2017
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Festival
Beschwingter Tanz zum Song von der Ware: „Weiß ich, was ein Mensch ist?“ (Foto: Christian Menkel)

sicht. Denn kann europäische Abschottung                 hauses. Ab und an wird eine Gruppe einge-
wirklich das große Ziel sein, oder ist nicht             lassen, dann heißt es wieder warten. Einige
eigentlich die globale Verantwortung „das                Zuschauer werden privilegiert, indem sie
große Ganze“? Und umgekehrt auf Brechts                  an der zweiten Station eine Taschenlampe
„Maßnahme“ bezogen – war der wieder                      erhalten. Im Sauger- und Kühlhaus drängt
und wieder beschworene Kommunismus                       sich schließlich das gesamte Publikum ste-
zumindest in dieser Form nicht eigentlich                hend zusammen. Auf der linken Seite ist
ein mächtiger, folgenreicher Irrtum einer                hinter einem Maschendrahtzaun eine Art
entschlossenen Minderheit?                               Strand aufgeschüttet; dort finden sich einige
                                                         junge Darsteller beiderlei Geschlechts, die
Der Regisseur setzt zunächst einmal auf das              immer wieder aus Brechts Stück abgeleitete
Flüchtlings-Szenario. Geschickt nutzt er die             Parolen rufen: „Bist du ein Mensch?“ und
Architektur des Geländes, um das Publikum                „Sind bei dir Gefühl und Verstand getrennt?“
auf die Situation des Wartens und Ausge-                 oder dergleichen. Später wird man mir von
liefertseins einzustimmen. Erst bilden sich              einem Schlauchboot auf dem Strand-Ab-
lange Schlangen am weißen Einlass-Zelt,                  schnitt berichten; ich bekomme es gar nicht
dann am Tor des kleinen Sauger- und Kühl-                zu sehen, dafür allerdings eine Gruppe von

Dreigroschenheft 2/2017                                                                            
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Fotografen, die einen jungen Mann in ver-       Jesus vor, den Menschen die Freiheit des
Festival

           schiedene besonders fotogene Elendspositi-      Gewissens gegeben zu haben. Dagegen leh-
           onen bringen. Das lange Warten – am Ende        re die Amtskirche die Menschen nun, „dass
           fast 45 Minuten – ist „grenzwertig“, wie        nicht der freie Entschluss ihrer Herzen und
           man so sagt, auch wenn die winterlichen         nicht die Liebe das Entscheidende ist, son-
           Temperaturen nachgelassen haben. Im-            dern jenes Geheimnis, dem sie sich blind un-
           merhin hat das Publikum das Brecht-Stück        terordnen müssen, selbst gegen ihr Gewissen.
           gebucht und nicht einen Platz in der War-       Das haben wir denn auch getan. Wir haben
           teschlange; und nicht jeder ist der Anstren-    deine Tat verbessert und sie auf das Wunder,
           gung des unerwarteten Demütigungsrituals        das Geheimnis und die Autorität gegründet.
           gewachsen. Doch letzteres ist tatsächlich       Und die Menschen freuten sich, dass sie wie-
           nur ein Prolog.                                 der wie eine Herde geleitet wurden und dass
                                                           endlich das furchtbare Geschenk, das ihnen
           Als wir nach langem Eingesperrtsein             so viel Qual bereitet hatte, von ihren Herzen
           schließlich ins Apparatehaus eingelassen        genommen war.“
           werden, finden wir eine neue Situation vor.
           Das Licht ist dämmerig, es riecht stark nach    Hier finden wir schon den Kern von Caras
           Weihrauch; der hintere Teil der Halle ist ab-   Lesart der Maßnahme. Der Kommunismus
           getrennt durch einen schwarzen Vorhang;         erscheint ihm als politische Religion, de-
           davor befindet sich ein Podium, das an einen    ren ursprüngliche, mitfühlende Variante
           Altarraum erinnert, auf ihm – madonnen-         der junge Genosse vertritt. Doch anders als
           artig – eine junge Frau (Katharina Rivilis)     Dostojewskis Jesus, der am Ende schwei-
           im weißen Kleid. Näher am Eingang stehen        gend den Großinquisitor küsst und wieder
           links einige Kirchenbänke und rechts ein        verschwindet, unterwirft sich der junge
           weiteres Podium mit einer älteren, laut le-     Genosse dem menschenverachtenden Dik-
           senden Frau (Dagmar von Kurmin); dazwi-         tat der Amtskirche bzw. Partei. Cara lässt
           schen finden wir Maschinen und Rohre –          sichtbar nur drei Agitatoren zugleich auf-
           ein Rest der alten technischen Ausrüstung,      treten, und auch sie in weißer Kleidung;
           jetzt geeignet, sich ein wenig anzulehnen       und schon ihre Befragung an der Grenze,
           oder hinzusetzen, falls man einen der vie-      die sie jeweils mit einem resoluten „Nein“
           len Stehplätze hat. Die Sicht auf das, was      beantworten, hat etwas Rituelles. Die Sym-
           sich unterhalb des Podiums abspielt, ist je     bolik der Zahl Drei führt zurück aufs Alte
           nach Platz wirklich schlecht. (Das ominöse      Testament: Gottes Besuch bei Abraham
           Schlauchboot sei wiederverwendet worden,        (1. Buch Mose, Kap. 18) vollzieht sich im
           wird man mir später erzählen.)                  Erscheinen von drei Männern. Das Be-
                                                           kenntnis zum Kommunis­mus wird nach
           Vorerst aber geht es nur ums Hören, denn        Art des kirchlichen Glaubensbekenntnisses
           Cara stellt der eigentlichen Aufführung         gesprochen, die Aussendung erfolgt nach
           noch einen zweiten Prolog voran: Dagmar         einer liturgischen Formel; Volker Zack klet-
           von Kurmin liest das Kapitel Der Großin-        tert als Leiter des Parteihauses hoch auf ein
           quisitor aus Fjodor Dostojewskis Roman          dickes Rohr der Apparatehalle, wedelt mit
           Die Brüder Karamasow. Darin wird von            dem Weihrauchfass und singt im Gestus
           der Rückkehr des Jesus von Nazareth auf         eines nicht mehr ganz nüchternen Dorf-
           die Erde zur Zeit der spanischen Inquisiti-     geistlichen. Er ist, nebenbei bemerkt, ein
           on berichtet. Der Großinquisitor lässt den      markanter, dabei sehr wandlungsfähiger
           Erlöser, nach dem sich die Kirche benannt       Darsteller. Ein Tenor ist er hingegen nicht:
           hat, verhaften und bekennt sich zu Satan als    Fürs Lied des Reishändlers „Weiß ich, was
           dem eigentlichen Herrn der Kirche; er wirft     ein Mensch ist?“ trägt die Stimme zu wenig.

                                                                               Dreigroschenheft 2/2017
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Die weiteren Rollen, auch die des 4. und         so nicht gewollte) Erklingen der Musik aus

                                                                                                Festival
5. Agitators, werden innerhalb des sehr be-      dem Off von starker symbolischer Bedeu-
weglichen Schauspieler-Ensembles verteilt,       tung. Die von Hanns Eisler komponierten
das durch Luise Wolfram und Florian Ma-          Klänge kommen wie von einer nicht ein-
nia überzeugend abgerundet wird.                 sehbaren Kirchenempore oder wie aus
                                                 dem „mystischen Abgrund“ des verdeckten
Eindimensional wirkt die kommunistische          Orchestergrabens in Richard Wagners
„Amtskirche“ durchaus nicht. Der Sprech-         Bayreuther Festspielhaus; sie klingen auch
stil ändert sich, manche Textstellen werden      oft nach protestantischem Posaunenchor
auch zweimal und unterschiedlich gespro-         oder italienischen Instrumentalcanzonen
chen, und nur einige werden durch eine fei-      der Renaissance, ganz zu schweigen von den
erlich wirkende Choreographie überhöht.          bewussten Anklängen an Bachs „Matthä-
Komisch wirken die Szenen, in denen das          us“-Passion. Hinter dem Vorhang erscheint
Fehlverhalten des jungen Genossen thema-         die Musik wie eine unverfügbare und hö-
tisiert werden soll. „Diskussion!“ heißt es da   here Instanz, und als einmal ein Männer-
auf einmal, und die Schauspieler stehen vor      quartett vor den Vorhang tritt, wirkt es wie
dem Publikum wie wohlmeinende Lehr-              Boten aus einer jenseitigen Welt.
kräfte, die beim Unterrichtsbesuch des Vor-
gesetzten plötzlich und unerwartet von ih-       Dass Eislers Musik in ihrer Position zu
ren Schüler eine eigene Meinung erwarten,        Brechts Szenario ambivalent ist, bringt
an die vorher gar nicht zu denken war. Und       Geoffrey Abbott als musikalischer Leiter
tatsächlich wird in der Maßnahme ja bloß         deutlich heraus: Harte, gnadenlose Pauken-
pro forma, um des guten Eindrucks willen         schläge auf der einen, und weicher, mitfüh-
oder als Bluff gefragt. Sonst müsste man ja      lender A-Cappella-Gesang auf der anderen
auch die Frage anders formulieren. Nicht:        Seite markieren bewusst die gegensätzliche
„Was hätte der junge Genosse tun sollen?“        Extreme. Wenn wir aber Eislers Verweis
etwa, sondern „Wie hätte sich diese Situati-     auf das von Johann Sebastian Bach erzählte
on vermeiden lassen?“ – was die Agitatoren       Sterben des Jesus von Nazareth ernst neh-
und die Partei mit in die Verantwortung          men, so ist das abgenötigte Selbstopfer des
nähme, anstatt das schwächste Glied der          jungen Genossen zwar nicht mehr rückgän-
Gruppe zum Sündenbock zu machen.                 gig zu machen; aber er ist dann für die Mit-
                                                 menschlichkeit gestorben und nicht für das
Dass Chor und Orchester hinter dem               gnadenlose System, das ihn gerichtet hat.
schwarzen Vorhang musizieren, verleiht           Zum kirchen- und institutionskritischen
Hanns Eislers Musik einen gedämpften, et-        Setting der Inszenierung finde ich da keinen
was dumpfen Klang, wie man ihn in Rund-          ernstlichen Widerspruch, und auch nicht
funkaufnahmen der 20-er und frühen 30-           zum biblisch grundierten Bild und Wunsch
er Jahre hören kann. Mit Blick auf die alten     des künstlerischen Festivalleiters Patrick
Industrieanlagen lässt sich hier ein Gefühl      Wengenroth, dass „die Münze, mit der wir
von historischer Klangauthentizität emp-         bis zum Ende der Lebenszeit auf diesem Pla-
finden. Für die Textverständlichkeit des für     neten bezahlen, permanent umgedreht wird“
die Aufführung zusammengestellten Pro-           und „wir diese Münze umdrehen und wieder
jektchors ist diese Anordnung ungünstig; es      umdrehen und nochmal umdrehen und im-
dürfte an der musikalischen Satzdichte ei-       mer schauen, ob sich nicht zu viele absolute
nerseits, an der Akustik andererseits liegen,    Gewissheiten unter unserem Stein der weisen
dass man manche Passagen recht deutlich,         Erkenntnis breit gemacht haben.“ ¶
viele andere hingegen kaum versteht. Über
die Akustik hinaus ist aber das (von Brecht

Dreigroschenheft 2/2017
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25 Jahre Brecht-Forschungsstätte
Festival

           Kongress im Augsburger Brechthaus
                Michael Friedrichs

           Aus kurzsichtig-ökologischer Perspektive könnte man bedauern,
           dass Jürgen Hillesheim so vielseitig erfolgreich publiziert – einige
           Bäume haben dafür das Papier geliefert. Andererseits leben sie ja
           weiter in diesem Papier, und das ist doch besser als heizend durch
           den Schornstein gejagt zu werden. Vor 25 Jahren war es Helmut Gier
           als damaligem Leiter der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg ge-
           lungen, den Stadtrat dazu zu bewegen, eine Brecht-Forschungs- und
           -Gedenkstätte einzurichten. Hillesheim bewarb sich mit Erfolg, und
           aus Anlass seines Silberjubiläums konnte er nun einen Kongress im
           Brechthaus ausrichten. Hier referierten Wissenschaftler*innen, mit
           denen er besonders eng zusammengearbeitet hat. Alle Vorträge der
           zweitägigen Veranstaltung waren bestens besucht.

           Den Anfang machte Helmut Koopmann. Sein Ausgangspunkt war
           der Begriff des „Flaneurs“, und er ging mit dem von ihm so meister-
           haft beherrschten weiten Blick daran, abzugleichen, inwiefern Brecht
           Züge eines Flaneurs hatte und wie er sich unterschied, im Frühwerk
           und dann in den Journalen. In diesen habe er den Faschismus in
           einer Art „Tunnelblick“ mit dem Monopolkapitalismus gleichgesetzt,
           zugleich sehend und blind.

           Jürgen Hillesheim konnte überzeugend darlegen, dass Brechts
           „Lied vom Geierbaum“ nicht, wie in der Werkausgabe behauptet, auf
           1917 zu datieren ist, sondern Brechts Datierung auf 1912 zuverlässig
           ist; es ist somit das Werk eines Vierzehnjährigen und so gesehen von
           beachtlicher Qualität. Warum derartig viele Geier bei Brecht im Um-
           feld von Bäumen auftauchen, konnte auch in der Diskussion nicht
           eindeutig geklärt werden.

           Die deutsche Ausgabe der monumentalen Brecht-Biografie von
           Stephen Parker wird im Herbst erscheinen, er sitzt gerade an den
           Korrekturen, wie er gesprächsweise mitteilte. Sein Vortrag galt der
           Intertextualität in Brechts Baal, und er konnte zeigen, was es mit den
           Verweisen auf die Schädel von Socrates und Verlaine auf sich hat.

           Eine Caspar-Neher-Grafik stand im Mittelpunkt des Vortrags von Hel-
           mut Gier: der „Wasserfeuermensch“, veröffentlicht als Beilage in der
           „Hauspostille“. Die lateinische Inschrift, die u.a. Horaz zitiert und so
           auf Brechts Lateinunterricht verweist, wurde in der Werkausgabe nicht
           als Brecht-Text akzeptiert, nicht korrekt übersetzt, die Grafik nicht ab-
           gebildet; Augsburg besitzt ein Exemplar in der „Taschenpostille“.

                                                                                     Dreigroschenheft 2/2017
Mathias Mayer wählte einen gattungsgeschichtlichen Ansatz: Er

                                                                        Festival
fokussierte auf Brechts Balladen, in denen der Autor die Möglich-
keiten des Änderbaren erprobe, Prozesse der Macht abbilde, pa-
ckende Szenarien des eingreifenden Denkens schreibe. Die „Bal-
lade vom Wasserrad“ mit ihren später geschriebenen Varianten
der dritten Strophe enthalte die Utopie von der Aufhebung jeder
Macht, könne die Widersprüche aber nicht befriedigend lösen.

Der Musikwissenschaftler Joachim Lucchesi schilderte die Ver-
änderungen in der Musik von Kurt Weill durch die Zusammenar-
beit mit Brecht und ging auch anhand von Tonbeispielen auf die
Bedeutung der Stimme von Lotte Lenya für Weill ein, die übri-
gens in den 50er Jahren eine Quart tiefer geworden sei.

Ana Kugli sprach sich daür aus, biografische Bezüge bei der
Untersuchung von Brechts Darstellung der Geschlechterbezie-
hungen in der Lyrik auszublenden, und zeigte anhand einiger
Gedichte, wie Brecht das bürgerliche Rollenschema vom sexuell
erfahrenen Mann und der entweder unberührten oder unheirat-
baren Frau in vielen Facetten decouvriert.

Frank D. Wagner nahm den Austausch von Brecht und Benja-
min über Kafka unter die Lupe, insbesondere anhand ihrer Dis-
kussion über „Das nächste Dorf “.

Erdmut Wizisla ermöglichte einen Blick auf eine bisher unbe-
kannte Quelle zu dem Verhältnis Brecht-Benjamin, die ab Ok-
tober in der Benjamin-Ausstellung der Berliner Akademie der
Künste zu sehen sein wird.

Mykola Lipisivitskyi schilderte den Stand der Übersetzung
der Werke von Brecht und Walter Benjamin in der Ukraine. Die
Befassung mit Brecht werde durch die Zusammenarbeit mit der
Brecht-Forschungsstätte stark unterstützt, und Benjamin habe
gerade eine Art von Konjunktur.

                      Andrea Bartl mode-
                      rierte die anregenden,
                      unkontroversen Dis-
                      kussionen. – Und eine
                      Buchvorstellung gab
                      es auch noch: 25 Stu-
                      dien von Jürgen Hil-
                      lesheim aus 25 Jahren
                      Brechtforschung, he-
                      rausgegeben von Helmut Koopmann und
                      erschienen in der Reihe „Brecht – Werk und
                      Kontext“ bei Königshausen & Neumann. ¶

Dreigroschenheft 2/2017                                            
Festival

           Neunmalgut
           Wenn Michel Abdollahi beim Brecht-Festi-       anzureichern. Nun führt sie in einem phi-
           val zum Kampf der Künste „Dead or Alive“       losophischen Diskurs das Spiel mit einem
           ins Augsburger Parktheater lädt, sind die      Kleinkind, „Wo ist denn der Tobi?“, ad ab-
           Karten schnell weg. Fast nur u30 im Publi-     surdum. Abgestimmt wird nun mit allge-
           kum, aber auch ü60. Über fünf Runden geht      meinem Publikumsbeifall, Kirsten gewinnt
           der Wettstreit von Poetry Slam gegen Tot-      knapp vor Brecht, der ein Medley aus den
           dichterdarstellung m/w – diesmal wurden        „Svendborger Gedichten“ bietet.
           zum Leben erweckt Lisa Christ, Forough         Alle Punkte der beiden Lager werden dann
           Farrokh­zad, Freddie Mercury, Kurt Tu-         aufaddiert, die „Toten“ liegen hoffnungslos
           cholsky und Bertolt Brecht. In jeder Runde     zurück, aber das ausgeklügelte Reglement
           erhalten die Slammer diesmal mehr Punkte       gibt ihnen dennoch eine Chance – der Sieger
           von der spontan zusammengestellten Pu-         im Stechen erhält für sein Lager 30 Punkte
           blikumsjury; am relativ besten schneidet       extra. Schade, hätte klappen können. Der
           unter den „Toten“ der Brecht-Darsteller        nächste Versuch, Festival 2018, wird bereits
           ab. Es ist Leif Eric Young, der am nächsten    der 10. sein. (Text + Fotos mf) ¶
           Abend bei der in Svendborg entwickelten
           Aufführung der „Svendborger Gedichte“
           (Bluespots Productions) ebenfalls zu sehen
           ist. Im Stechen tritt er gegen die Slammerin
           Kirsten Fuchs an, die hochamüsant über
           ihre Versuche berichtet hatte, die abstump-
           fende Arbeit der Supermarktkassiererin
           durch sehr spezielle Einkäufe und damit
           verbundene kleine Geschichten gedanklich

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„Der gute Mensch von Downtown“ – eine bewegende

                                                                                        Festival
Erfahrung

Während das Publikum sich noch auf die
Plätze begibt, regnet es bereits auf der
Bühne. Es schüttet geradezu. Rundum an
alle drei Bühnenwände wird Regen proji-
ziert, richtig gut gemacht. Brechts „Guter
Mensch von Sezuan“ bot die Spielvorlage,
die hier kreativ und einfühlsam umgesetzt
wurde. Die meisten Schauspieler*innen in
dieser Produktion haben das sog. Down-
Syndrom. Vor einem Jahr hatte das Stück
des Theaters RambaZamba in Berlin Pre-
miere, das vielgelobte Inklusionstheater
existiert bereits seit 1990.

Es ist ausverkauft. Eva Mattes spielt mit,
legendäre      Fassbinder-Schauspielerin,
und das mag für manche Zuschauer den
Ausschlag gegeben haben, sich das anzu-
schauen. Aber vielen anderen dürfte der
Name des Stars nicht viel sagen, es ist ein
sehr altersgemischtes Publikum, darun-
ter Kinder mit Downsyndrom. Eva Mat-
tes spielt einen von zwei Erzengeln auf
der Suche nach drei guten Menschen in
„Downtown“, einem Ort, der offenbar ein
bisschen in China liegt. Auch hier treten
wie in Brechts „Sezuan“ die harten Sei-
ten menschlichen Umgangs hervor, so-
bald es ums Geld geht. Hier sind es drei
gute Mädchen, die sich zeitweise in harte
Burschen verkleiden müssen, um nicht
ausgenommen zu werden. Manchmal
versteht man erst mit Verzögerung den Foto: Melanie Bühnemann
kreativen Bezug zum Original: Brechts
arbeitsloser Pilot wurde hier zum Mu-
siker ohne Instrument; die Ausbeutung in (Zora Schemm, siehe Foto), der eine neue
der Tabakfabrik wurde verwandelt zur Aus- Sintflut für nötig hält. Und nach der Pause
beutung durch Tanz in Reizwäsche.           die Liebesszene zwischen Besche Zo (Zora
                                            Schemm) und dem Musiker Lan (Moritz
Zwei Höhepunkte aus meiner Sicht: Der Höhne), von einer ergreifenden Zartheit,
Anfang mit einem Buddha-ähnlichen Gott die noch lange nachwirkt. (mf) ¶

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Eine spannende Kombi: „Hollywooder Liederbuch“
Festival

           deutsch-afrikanisch

           Der Bariton Franz Schlecht (früher
           Augsburg, jetzt Berlin) und der Pia-
           nist Bernd Haselmann präsentieren
           während der „Langen Brechtnacht“
           Hanns Eislers „Hollywooder Lieder-
           buch“, unterstützt von Njamy Sitson
           (früher Kamerun, jetzt Augsburg).
           Die Kresslesmühle ist gut gefüllt.
           Und es ist ein bisschen ein Schock,
           als Franz Schlecht den Abend be-
           ginnt mit „Über den Selbstmord“:
           Da zählt Brecht auf, was es alles „in
           unserem Lande“ nicht geben dürfte,
           zum Beispiel trübe Abende, damit
           nicht ein Verzweifelter auf die Idee
           kommt, das „unerträgliche Leben“
           fortzuwerfen. Diese Zeilen kennt
           man aus dem „Guten Menschen
           von Sezuan“, die anderen Texte
           stammen vor allem aus der „Stef-
           finschen Sammlung“ (Brechts Exil
           von Dänemark bis Finnland) und
           den „Hollywood-Elegien“. Es sind
           Konzentrate von Exilerfahrung,
           Entfremdung und Ängsten – beun-
           ruhigend aktuell. Einer davon be-
           singt den „kleinen Radioapparat“,
           aus dem „meine Feinde weiter zu
           mir sprechen“. Da ist alles drin, die Franz Schlecht und Njamy Sitson (Foto: Nina Hortig)
           Flucht, das Heimweh, die Hoffnung
           auf ein Ende von Krieg und Unterdrü- Veranstaltung zusätzliches Gewicht mit ei-
           ckung. Eisler hat dafür eine Melodie gefun- ner musikalisch untermalten Rezitation der
           den, die sich im Ohr lange festsetzt. Gesang Rede Brechts beim Internationalen Schrift-
           und Klavier sind klar und einfühlsam, be- stellerkongress in Paris 1935 (GBA 22,
           wegend ohne Sentimentalität.                   S. 141–146), in der Brecht dazu aufforderte,
                                                          das Elend nicht nur zu beschreiben, sondern
           Njamy Sitson schaltet sich in einige Lieder seine Ursachen zu bekämpfen. – Anschlie-
           ein, darunter dieses. Er legt afrikanische ßend viele Gespräche mit den Künstlern,
           Rhythmen und seine helle, klare Stimme auch mit der Regisseurin Rike Reiniger, die
           hinein, er vertritt in dieser Aufführung die den Abend hervorragend strukturiert hat.
           Geflüchteten von heute. Und er gibt der (mf) ¶

           12                                                                 Dreigroschenheft 2/2017
Werkstatttag Bertolt Brecht und Walter Benjamin:

                                                                                                 Festival
Laboratorium Vielseitigkeit

Die spannungsreiche und verhältnismäßig          poulou lud zu einer politischen Lektüre der
ausführlich dokumentierte Freundschaft           Gespräche in Svendborg über den großen
zwischen Walter Benjamin und Bertolt             Terror; (III) der Theaterwissenschaftler und
Brecht, vieldiskutiert in der Sekundärlite-      Germanist Hans-Thies Lehmann offerierte
ratur und ein Fokus der Kunstdiskussion          eine Debatte über Brechts wenig bekanntes
über das 20. Jahrhundert hinaus, war The-        proletarisches Kindertheater in seiner Rela-
ma eines neuen Formats des Brechtfestivals:      tion zum Lehrstück.
Werkstatttag! Er fand in den (dafür bestens
geeigneten) Räumen des Sensemble-Thea-           Ausgangspunkt der Diskussion in Arbeits-
ters statt. Etwa dreißig Teilnehmer nahmen       gruppe I war Benjamins Einleitungsab-
sich Zeit dafür, darunter viele bekannte Ge-     schnitt „Zur Form des Kommentars“, mit
sichter der Augsburger Universitäts- und         den überraschenden Begriffen „archaisch“
Kulturszene.                                     und dem „Vorurteil“ einer „Klassizität“
                                                 dieser Texte. Das erste Gedicht, das in Ver-
Erdmut Wizisla eröffnete mit einem Im-           bindung mit Benjamins Kommentar be-
pulsreferat und reflektierte Begriffe von        sprochen wurde, war „Gegen Verführung“;
Notizen Benjamins für einen Brecht-Vor-          ursprünglicher Titel „Luzifers Abendlied“.
trag im Frankfurter Rundfunk 1930, etwa          Die Diskussion biss sich fest an der Frage,
„Augsburg – die Fugger“, „gotisches Wie-         ob es richtigerweise „Das Leben wenig ist“
dertäufergesicht“ oder auch „gnostisches         oder „Daß Leben wenig ist“ heißen müsse;
Element“ – sicherlich wichtige Begriffe für      intertextuelle Bezüge fand man zu Gryphi-
Benjamins sich entwickelnde Auffassung           us, Bach, Nietzsche und Goethe.
von den besonderen Prägungen und Qua-
litäten Brechts.                                 „Vom armen B.B.“ war als nächstes dran,
                                                 und eine Frage war, ob es hier der Wind sei,
Anschließend ein Gespräch mit der Regis-         der das Haus leert, oder der Esser.
seurin Friederike Heller: Sie erläuterte Idee
und Zustandekommen ihres Theaterpro-             Nach der Mittagspause ging es um die „An-
jekts über die Zeitschrift „Krise und Kritik“,   sprache des Bauern an seinen Ochsen“, von
ein gescheitertes Vorhaben, an dem sich ja       Benjamin in einer Gesprächsnotiz vom
u. a. Brecht und Benjamin intensiv beteiligt     25. Juli 1938 kommentiert, mit der listigen
hatten. Das Stück hatte am gleichen Abend        Camouflage des Stalin-Bezugs und den
auf der Probebühne Premiere. Heller wand-        Lesarten „Schriftmacher“ oder „Schrittma-
te sich gegen eine „vermeintliche Sicherheit     cher“. Zum Abschluss die „Legende von der
des Blicks von heute auf damals“.                Entstehung des Buches Taoteking“. – Wizis-
                                                 la wies darauf hin, dass wir keine klaren Äu-
In drei Arbeitsgruppen wurde dann inten-         ßerungen von Brecht zu Benjamins Kom-
siv diskutiert: (I) mit Erdmut Wizisla über      mentaren haben: Hatte er Vorbehalte, wenn
Benjamins „Kommentare zu Gedichten               ja welche? Andererseits konnte er ihre Lek-
von Brecht“; (II) die griechische Theater-       türe auch niemandem empfehlen, weil sie
kritikerin und Übersetzerin Helene Varo­         zu lange ungedruckt blieben. (mf) ¶

Dreigroschenheft 2/2017                                                                    13
Benjamin und Brecht                                          heute begegnen
Rezension

                  Milena Massalongo

            Heute passiert es immer seltener,
                                                                         Abdullah Sinirlioglu, Benjamin und
            dass eine wissenschaftliche Darstel-
                                                                         Brecht. Eine politische Begegnung
            lung sich durch ihren Gegenstand                             (Würzburg: Königshausen & Neu-
            auf die Probe stellen lässt. Jedoch                          mann 2016, 28 €)
            kann sie desto mehr gelingen, je
            mehr ihre Wissenschaftlichkeit sich durch       So könnten die Fragen lauten, vor deren
            ihren Gegenstand in Frage stellen lässt. Erst   Hintergrund diese Arbeit verfasst ist. Dazu
            da wird sie wissenschaftlich in einem prak-     kommt der in der Rezeptionsgeschichte
            tischen, nicht nur in einem legalistischen      weniger vertretene Versuch, Differenzen
            Sinne. Benjamins und Brechts Arbeit und         und Eigenständigkeiten von Denk- und
            die Fragenkonstellation, die sich in ihrem      Schreibweisen dieser beiden tatsächlich ein­
            Verhältnis aufspannt, gehören zu den Ge-        ander „begegnen“ zu lassen, anstatt fertige
            genständen, die diese Probe aufzwingen.         Ähnlichkeiten und Korrespondenzen nach-
            Beide haben jeder nach seiner Weise nicht       zuzeichnen. Benjamins und Brechts Positi-
            nur die Möglichkeit, sondern den Erkennt-       onen werden hier als Stellungnahmen und
            niswert selbst der „Rekonstruktion“ kriti-      Antworten auf konkrete Zusammenhänge
            siert. Und beide haben jeder nach seiner        dargestellt. Ihr Gespräch bei allen Diffe-
            Weise in der eingreifenden Erkenntnis der       renzen kann eben auf diesem gemeinsamen
            eigenen Zeit (der zeitgenössischen Denk-        praktischen Boden erfolgen: Ihre Produk-
            haltungen) im Grunde den einzig mög-            tion kommt erst dadurch zustande, dass
            lichen Gegenstand jeder künstlerischen          sie ihre Geschichtlichkeit zu verantworten
            oder wissenschaftlichen Tätigkeit gesehen.      versucht, indem sie nämlich das allgemeine
            Umso mehr stellt sich vor ihnen die echte       Verhängnis bekämpft, harmloser Ausdruck
            Frage der Aktualität, wie Adorno sie ein-       des zeitlosen, reinen Geistes oder bloßes
            mal gestellt hat. Sie lautet nicht „dilettan-   Symptom der Zeit zu sein.
            tisch“ (so wird sie einmal von Benjamin         Gegenstand und Vorsatz dieser Arbeit for-
            definiert): Was haben uns diese beide noch      derten also eine nicht monolithische/mo-
            zu sagen, sondern: Was haben wir ihnen zu       notonale Darstellung, die eher dem Aufbau
            sagen, wo befinden wir uns, wo stecken wir      von experimentellen Zusammenhängen als
            ihnen gegenüber.                                der linearen, homogenen Behandlung nä-
            Eines der Verdienste von Sinirlioglus Ben-      her kommt. Der Autor kommt dieser For-
            jamin und Brecht. Eine politische Begeg-        derung entgegen, indem er versucht, sich
            nung liegt darin, dass es über diese Grund-     fließend zwischen Exposition, Analyse und
            schwierigkeiten, in denen der eigentliche       Kritik hin- und herzubewegen. Das erfor-
            Spieleinsatz liegt, nicht unbefangen hinaus     dert einen Mut, der auch in den Wissen-
            tritt. Die Fragenkonstellation, die in diesem   schaften „irreduzibler Bestandteil“ bleibt:
            intellektuellen Verhältnis zur Reife kommt,     den Mut „zum subjektiven Sich-Einschalten
            wird hier vom Standpunkt der Gegenwart          in die Texte“, wie Sinirlioglu schreibt (S. 13).
            aus geschildert. Inwiefern sind ihre Fra-       Dies Moment der Stellungnahme, das in
            gen noch unsere Fragen und inwieweit            den Wissenschaften auf jeden Fall wenn
            unsere Vorschläge ‚besser‘ als die ihrigen:     auch oft verantwortungslos passiert, liegt

            14                                                                    Dreigroschenheft 2/2017
im Zentrum der Schreib- und Denkpraxis          Der falschen Alternative zwischen Begeiste-

                                                                                                   Rezension
sowohl von Benjamin wie von Brecht: Der         rung oder Pessimismus der Technik gegen­
Mut (die Not) Stellung zu nehmen, damit         über, schreibt Sinirlioglu, entgeht man nur, in-
der Gegenstand (das eigene Erkennen) jetzt      dem „man das Problem der Technik mit Marx
erkennbar wird. Man kann nur erkennen,          im Spannungsfeld von Produktionskräften
indem man den Gegenstand verändert, no-         und Produktionsverhältnissen situiert“. Eben.
tiert Brecht einmal. Und indem man durch        Darin liegt das Interesse an Marx: Dass er die
den Gegenstand verändert wird, fügt er hin-     Spannung zwischen Produktionskräften und
zu. Entweder projiziert man sich selbst und     -verhältnissen noch adressiert. Dass es bei
erlebt immer wieder nur Glanz und Elend         ihm nicht bloß um eine bessere Verteilung
der eigenen Denkweise inkognito (die über-      des Wohlstands geht, sondern auch um das
all waltende Einfühlung, die sowohl Brecht      Problem der „fehlgeleiteten Produktivität“
wie Benjamin in eine Krise stürzen möch-        (S. 52). Es geht nämlich um die immer wieder
ten), oder man kehrt die Perspektive um         verschüttete, verdrängte, verneinte Grundfra-
und verfremdet die eigenen und der Zeit         ge: Was soll man produzieren, nicht weniger
eigenen Denkhaltungen durch ad hoc ge-          als wie – Brechts „grobes“ Denken, seine un-
wählte Gegenstände. So hört das Politische      übersehbaren Testfragen: „Wozu, wem nützt
auf, eine äußerliche, erst nachträgliche Fra-   das?“, die immer wieder übersehen werden,
ge zu sein, um plötzlich in den Mittelpunkt     weil das Produzieren über alles weiter gehen
der Erkenntnisfrage zu rücken.                  und möglichst wachsen muss.
Zu den in diesem Sinne fruchtbarsten Ver-       Das Politische sowohl bei Benjamin wie bei
fremdungstechniken der modernen Denk-           Brecht hat gerade mit dieser Konkretheit
weisen und Lebensform, auf die beide zu-        zu tun, mit der jeweilige Konflikte benannt
rückgreifen, gehört der Marxismus. Ein          und ausgestellt werden müssen, indem man
Verdienst der Arbeit von Sinirlioglu besteht    ihnen ausgesetzt wird. In diesem Sinn kann
in dem ausdrücklich unternommenen Ver-          das Bedenken Sinirlioglus, eine „politisch
such, der praktischen, ja technischen Funk-     klar Standpunkt beziehende Literatur“ dro-
tion der marxistischen Lehre bei Benjamin       he das Literarische an sich „auszutrocknen“,
und Brecht gerecht zu werden. Mit Recht         nur da vorhanden sein, wo das gewöhnliche
bemerkt der Autor, dass die Auseinanderset-     Verständnis von Politischem als Inhaltsfra-
zung der beiden mit dem Marxismus nicht         ge sich einschleicht. So kann hier manch-
immer und nicht wirklich ernst genommen         mal der Eindruck entstehen, dass das Poli-
wurde und wird. Das geschieht nicht nur,        tische bei Brecht und Benjamin dem Lite-
wenn man sie bloß als zeitliche Reaktion        rarischen allzu leicht entgegengesetzt wird,
auf den Faschismus versteht und heute als       als handelte es sich dabei um eine Frage der
abgestumpfte Waffe voreilig erledigt. So was    Eindeutigkeit versus „Mehrdeutigkeit und
passiert auch, wenn das marxistische Ver-       Widersprüchlichkeit“ (S. 186). Jedoch sind
bum im allgemeinen wohl ernst genom-            Brechts politisch nüchternere und selbst-
men wird, aber nicht in dem besonderen          bewusste Texte nicht weniger literarisch
Gebrauch, der hier davon gemacht wird           auch im gewohnten Sinne, d.h. keineswegs
(als Marxismus „Tendenz-Brecht“, nach der       weniger widersprüchlich. Seine politisch
glücklichen Formel von Roland Barthes).         mehr „kompromittierten“ Texte brüten ei-
Die marxistische Lehre ist aber genau das,      nen inneren Druck aus, der die Einfachheit
was beiden ermöglicht, in jene „grauenvolle     und Glätte ihrer Oberfläche von hinten
Synthese von Technik und Mythos“ (S. 50)        schmerzhaft verdreht. Wobei diese Ober-
einzugreifen, die Benjamin im Faschismus        fläche keine Verschleierung, sondern eine
erkannt hat und die damals wie heute nicht      weitere widersprechende Stellung ist, die
nur im auffälligen Faschismus wuchert.          den Spielboden noch komplexer macht. ¶

Dreigroschenheft 2/2017                                                                      15
Brecht-Tage 2017: 100 Jahre nach der Oktoberrevolution
Tagung

               Christian Hippe

         Brechts Beziehung zur Sowjetunion war           „Lob des Lernens“ in freundlich-sanftem
         Thema der diesjährigen Brecht-Tage im Li­       Duktus als träumerisch-erbauliche Päda-
         teraturforum im Brecht-Haus in Berlin. Den      gogik erscheinen ließ, trug Felix Kamme-
         Anlass bildete der bevorstehende 100. Jah­      rer Brechts in Verse gefasste Ratlosigkeit
         restag der Oktoberrevolution. „O großer         mit gefestigter Stimme vor. Eindrucksvoll
         Oktober der Arbeiterklasse!“, so lautete dann   war auch Tabitha Frehner, die Brechts „Die
         auch die literarisch-musikalische Revue zur     Teppichweber von Kujan-Bulak“ in einem
         Eröffnung, die Kerstin Hensel und Holger        Ton großer Einfalt anstimmte und dem Ge-
         Teschke mit Studierenden der Hochschule         dicht dadurch – seiner Argumentation fol-
         für Schauspielkunst „Ernst Busch“ einstu-       gend – jegliche Monumentalität nahm. Die
         diert hatten. Der Chronologie einzelner         zwischengeschalteten „Journal“-Passagen
         Gedichte und „Journal“-Einträge folgend,        las Teschke, der im Hintergrund saß und
         kam die ganze Bandbreite von Brechts Ver-       derart das für Brecht bezeichnende Span-
         hältnis zur Sowjetunion zu Gehör: seine ur-     nungsfeld aus poetischer Rede und privater
         sprüngliche Distanz (Ablehnung von Kon-         Reflexion, öffentlicher Verlautbarung und
         trolle, Ordnung), seine dann einsetzende        stiller Notiz markierte. Im anschließenden
         Faszination an Lenin (funktionärshafte Un-      Gespräch mit den jungen Schauspielstudie-
         scheinbarkeit als eigentliche Größe) bis hin    renden gab Frehner zu, Brechts Texte zu-
         zur euphorischen Feier der Sowjetunion in       nächst nicht verstanden und auch nur we-
         Texten wie „Lob der UdSSR“. Schließlich         nig Berührungspunkte gesehen zu haben.
         dann – dramaturgisch eingeleitet über die       Vom Kommunismus hatte sie zwar gehört,
         „Ballade vom Wasserrad“ – Brechts zuneh-        vieles aber habe sie recherchieren müssen,
         mende Skepsis, die einsetzt, als Brecht vom     wobei die faktische Grundlage der Texte
         Ausmaß der Repressionen und der Verhaf-         (bspw. bei „Die Teppichweber …“) es ihr
         tung von Freunden und Bekannten erfährt,        einfach gemacht hätte. Senghas sprach von
         bis hin zu offen kritisch gegenüber dem         einer großen politischen Naivität der Texte,
         Stalinismus zu lesenden Texten wie „Tod         die ihn dazu veranlasst habe, sie romanti-
         eines Genossen“. Den Abschluss bildete das      siert vorzutragen. Für Kammerer hatten die
         um Nachsicht bittende Gedicht „An die           Brecht-Texte, die sich auf diese Weise selbst
         Nachgeborenen“, das – über den üblichen         kommentieren würden, etwas immanent
         Kontext von Exil und Faschismus hinaus –        Widersprüchliches, das Brecht allerdings
         angesichts der insgesamt zurückhaltenden        nicht habe wahrhaben wollen: eine große
         Stellungnahmen Brechts gegenüber den            Idee an der Kippe des Nicht-Möglichen.
         stalinistischen Verbrechen hohe Brisanz ge-     Dieses konterkarierende Moment bestätigte
         wann, auch wenn es in seiner Schutzrheto-       Jürgen Beyer, der die in hoher Qualität in-
         rik unhinterfragt blieb – und für die Revue     tonierten Lieder am Klavier begleitete, auch
         den bewussten Verzicht auf eine abschlie-       im Hinblick auf die Vertonungen durch
         ßende Provokation bedeutete. Die Rezita-        Hanns Eisler: ein Lied wie „Lob des Kom-
         tion der drei Jahrzehnte umspannenden           munismus“ sei rührend-naiv, doch einzelne
         Texte setzte unterschiedliche Kontrapunkte.     Töne würden diese Naivität punktuell in
         Während Leander Senghas ein Gedicht wie         Frage stellen.

         16                                                                   Dreigroschenheft 2/2017
Nachdem am zweiten Abend ausgewählte

                                                                                              Tagung
Brecht-Gedichte mit teils deutlich kritischen
Anspielungen auf Stalin diskutiert wurden
(vgl. nachfolgenden Bericht von Michael
Friedrichs), folgte am dritten Abend ein Vor-
trag von Reinhard Müller, der Brechts Posi-
tion zur Sowjetunion und zu Stalin nah an
den Quellen (v.a. Schriften, Briefe, Journal-
Einträge, Gedichte Brechts) rekonstruierte
– kontrastiert mit (zumeist vieldeutigen)
Passagen aus dem „Buch der Wendungen“.
Als Weichenstellung galt Müller das Jahr
1933. Während Brecht zuvor Distanz zur
Kommunistischen Partei und deren lite-
rarischen Plattformen (BPRS, „Linkskur-
ve“) gewahrt habe (anders als bspw. Georg
Lukács und Ernst Ottwalt), habe er sich
1934 zunächst kritisch gegen­über der Fehl-
einschätzung und dem Versagen der Partei
angesichts der NS-Machtübernahme geäu-          Briefmarke 1953
ßert, dann aber kurze Zeit später – auch
aufgrund der neuen Volksfront-Politik der       den folgenden Jahren. Wie viele Intellektu-
Komintern – zu einer starken Verbunden-         elle (Walter Benjamin, Theodor W. Ador-
heit mit der sowjetischen Politik gefunden.     no, …) habe Brecht zwar mit Bestürzung
Zwar bleibe Brechts private Einschätzung        reagiert, öffentlich aber aus strategischen
von Ambivalenzen geprägt. In öffentlichen       Gesichtspunkten geschwiegen. Wenn man
Stellungnahmen aber habe er sich ab die-        Brechts existentielle Lage und Ängste be-
sem Zeitpunkt eindeutig zugunsten der           rücksichtige, so Müller, sei dieses Schwei-
Sowjetunion geäußert, bspw. im 1934 ent-        gen realpolitisch von hoher Plausibilität,
standenen „Hammer- und Sichel-Lied“             könne allerdings keine moralisch-ethische
mit seiner an Formulierungen Stalins an-        Qualität für sich beanspruchen. So sprach
gelehnten Sprache und martialisch zu deu-       Müller von einer „Loyalitätsfalle“, in die
tenden Metaphorik (Vorstellung des Staats       Brecht immer mehr getappt sei und die sich
als Gärtner, der Unkraut jätet, d. h. Abwei-    bspw. in Äußerungen zeige, in denen Brecht
chungen und Ambivalenzen auslöscht).            den Schauprozessen, zumindest ansatzwei-
Im Hinblick auf Brechts Rolle bei seiner        se, eine politische Plausibilität zuerkannt
zweiten Moskau-Reise sprach Müller von          habe, insofern sich die Sowjet­union gegen
einem „embedded writer“, der gegenüber          politische Verschwörer wehren müsse. Im
den politischen Missständen blind gewesen       letzten Drittel seines Vortrag ging Müller
sei. Eine spürbare Verschärfung würden die      dem Schweigen Brechts angesichts der Ver-
– unveröffentlicht gebliebenen – gegen An-      haftungen von Freunden und Bekannten
dré Gides Reisebericht „Retour d’U.R.S.S.“      nach und wiederholte seine im Band „Caro-
gerichteten Texte Brechts dokumentieren.        la Neher, gefeiert auf der Bühne, gestorben
Brechts Affirmation der Sowjetunion er-         im Gulag“ bereits publiziert vorliegenden
klärte Müller aus der von Brecht strategisch    Ausführungen, innerhalb derer auch die
zuerkannten Bedeutung der Sowjetunion           ursprünglich im Programm angekündigten
im Kampf gegen den Faschismus. Das gelte        unbekannten Dokumente schon zitiert
auch angesichts der Moskauer Prozesse in        sind.

Dreigroschenheft 2/2017                                                                 17
In ihrer Respondenz wies Sabine Kebir          eben diesen, inzwischen sechzehn Jahre
Tagung

         u. a. auf die Transkriptionen der Gespräche    zurückliegenden Vortrag. Abschließend
         Hans Bunges mit Ruth Berlau hin, die da-       diskutierte Rohrwasser drei Beispiele po-
         rin ausgeführt habe, dass Brecht immer         litischer Gebrauchslyrik Brechts. Dessen
         wieder versuchte, sich für Carola Neher        Gedicht „Der Ammiflieger“, das die Kar-
         einzusetzen. Darüber hinaus versuchte sie      toffelkäfer-Legende des Kalten Krieges
         Verständnis dafür zu wecken, dass Brecht,      ernst nehme, der zufolge die USA für die
         statt das Wort gegen Stalin zu ergreifen,      Missernten der DDR verantwortlich seien,
         sich selbst am Leben und unbeschadet habe      verglich Rohrwasser mit der Propaganda
         halten müssen. Ohnehin sei die Frage der       der Nationalsozialisten, die gleiches über
         Moral insofern problematisch, als eine sol-    die Juden behauptete. Zum „Herrnburger
         che Frage beispielsweise US-Autoren auch       Bericht“ bemerkte Rohrwasser knapp, dass
         nicht gestellt werde im Hinblick auf Hiro-     es für die einfältig gereimten Verse dieser
         shima oder den Genozid an der indigenen        Dichtung keines Brecht gebraucht hätte.
         Bevölkerung der USA. Letzteres verstand        Besondere Aufmerksamkeit lenkte er auf
         Hans Christoph Buch, der im Publikum           das Langgedicht „Die Erziehung der Hirse“,
         saß und Sabine Kebir scharf angriff, als       in dem Stalin zum großen Ernteleiter er-
         eine unzulässige moralische Relativierung      nannt werde und es offensichtlich sei, dass
         Brechts. Ihm galt die Rolle Brechts als Bei-   die Gesellschaft umerzogen werden solle.
         spiel für ein seiner Meinung nach generelles   Das Gedicht sei eine stalinistische Lobprei-
         Versagen der deutschen Linken und Intel-       sung aus der Feder von Brecht, das kaum
         lektuellen gegenüber der Sowjetunion und       verschlüsselt die Ausrottung von Menschen
         dem Stalinismus – im Vergleich zu André        lobpreise, um den Neuen Menschen zu er-
         Gide, der in seinem Moskau-Reisebericht        schaffen. Rohrwassers Fazit lautete, dass das
         klare Worte gefunden habe. In die gleiche      Bild des taktisch zurückhaltenden, schwei-
         Richtung zielte auch Wolfgang Thierse, der     genden Brecht korrigiert werden müsse, da
         ebenfalls im Publikum anwesend war: Da         er sich in den DDR-Jahren laut und deut-
         Brecht selbst voller Moral gewesen sei, wäre   lich auf die Seite Stalins gestellt habe, un-
         es irritierend, dass Frau Kebir ihn einer      geachtet dessen, dass er im „Journal“ und
         moralischen Beurteilung entziehen wolle.       für die Schublade weiterhin seiner Abscheu
         Gerade auch bezogen auf die späteren Jah-      Ausdruck gegeben habe.
         re in der DDR müsse bei Brecht, so Thierse
         weiter, von einem „intellektuellen Versa-      Dieter Henning sah sich in seiner Respon-
         gen“ gesprochen werden: Brecht sei schlicht    denz vor das Problem gestellt, dass er die
         feige gewesen.                                 von Rohrwasser aufgerufenen lyrischen
                                                        Gebrauchstexte nicht mit der Komplexität
         Michael Rohrwasser eröffnete seinen Vor-       anderer Gedichte Brechts vergleichbar fand,
         trag am vierten Abend mit einem Zitat          die ein weit ambivalenteres Bild Brechts
         Hermann Kestens, der Brecht Anfang der         zeigen würden. In diesem Zusammenhang
         1960er Jahre polemisch als einen „Diener       verwies er auf die von ihm diskutierten Ge-
         der Diktatur“ verunglimpft hatte, und er-      dichte am zweiten Abend der Brecht-Tage.
         innerte an den Aufschrei, den sein eigener     Das abfällige Urteil über Brechts „Erzie-
         Vortrag bei den Brecht-Tagen im Jahre 2000     hung der Hirse“ hingegen teilte Henning.
         zum Thema „Rot gleich braun?“ ausgelöst
         hatte, als er Brechts Verhältnis zum Stali-    Der abermals im Publikum anwesende
         nismus mit dem von Gottfried Benn zum          Hans Christoph Buch reagierte geradezu
         Nationalsozialismus verglich. Gut die Hälf-    euphorisch auf die Demontage Brechts,
         te seines weiteren Vortrags zitierte dann      wie er sie an diesem Abend auch ange-

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sichts des Vortrags von Rohrwasser im            tischen Avantgarde beleuchtete. Eingangs

                                                                                                Tagung
Brecht-Haus erleben würde, selbst wenn           sprach Annett Gröschner über Sergej Tret-
sie seiner Meinung nach Jahrzehnte zu spät       jakow, seine Poetik des Faktischen und zeit-
komme. Darüber hinaus problematisierte           genössische Ansätze, daran anzuknüpfen.
er Brechts Bezugnahme auf den Terminus           Brecht habe Tretjakow anerkennend (wie
der „Produktion“, ein Begriff, den Buch          übrigens auch Ezra Pound) seinen „Lehrer“
alleine schon deshalb für problematisch          genannt. Selbst wenn man Brechts Stellung-
hielt, da er aus der Ökonomie auf die Li-        nahmen und sein Gedicht zum Tod Tret-
teratur übertragen worden sei. Überhaupt         jakows in politischer Hinsicht als zurück-
sei die ‚Brechtsche List‘, so Buch, als Intel-   haltend werten müsse, habe es nicht viele
lektuellen-Modell für die DDR verheerend         Intellektuelle gegeben, die seiner überhaupt
gewesen, denn sie stehe für Schweigen und        gedachten. Tretjakow sei Vertreter einer Li-
Nichts-an-die-große-Glocke-Hängen. B. K.         teratur des Faktischen gewesen, gegenüber
Tragelehn, der ebenfalls im Publikum saß,        der sich dann jedoch der Sozialistische Rea-
sah sich durch die Äußerungen und Vor-           lismus durchgesetzt habe. Unter zeitgenös-
würfe Hans Christoph Buchs persönlich            sischen Autoren könne man bspw. Swetlana
angegriffen. Er problematisierte eine vor-       Alexijewitsch, Literaturnobelpreisträgerin
schnelle moralische Bewertung des Ver-           des Jahres 2015, in seine Tradition einrei-
haltens von Brecht und hielt dagegen, dass       hen, denn ihr gehe es gleichfalls darum,
die größeren historischen Zusammenhänge          eine Epoche der Kollektivität zu zeichnen
und Bewegungen nicht aus dem Blick ge-           und den Punkt auszuloten, wo Leben zu
raten dürften, also Stalin als politische Ge-    Literatur wird. Ebenfalls der Ästhetik Tret-
genkraft zu Hitler. In bestimmten Verhält-       jakows verbunden seien Alexander Kluge,
nissen, so Tragelehn, müsse auf bestimmte        W. G. Sebald und Gabriele Goettle. Auch
Art agiert werden, was auch Buch noch ler-       für sie selbst, so Gröschner, sei Tretjakows
nen müsse. Das umstrittene Gedicht „Die          Methode kollektiven Erzählens eine wich-
Erziehung der Hirse“ verbuchte Tragelehn         tige Referenz, d. h. Stimmen zum Sprechen
unter dem Motto „Kleine Geschenke er-            zu bringen, die sonst kein Gehör finden.
halten die Freundschaft“. Weitere Stimmen        Trotz dieser zeitgenössischen Versuche,
im Publikum wiesen darauf hin, dass Hitler       Tretjakow in die Gegenwart zu transportie-
das für Brecht allem anderen übergeord-          ren, habe sich seine Romanpoetik, die Welt
nete Problem gewesen sei, so dass er Stalin      anhand einer Biografie der Dinge zu erklä-
und den Stalinismus verdrängt habe – was         ren, jedoch nicht durchgesetzt. Anders sähe
später zum Problem in der DDR geworden           es bei den Sachbüchern aus. Als Beispiele
sei. Darüber hinaus wurde angemerkt, dass        zählte sie Bücher wie den „Reisebericht
die Passage des „Hirse“-Gedichts, in der es      eines T-Shirts“ oder auch die Reihe Stoff-
um die Ausrottung des Unkrauts geht, hi-         geschichten des oekom-Verlags auf. Ferner
storisch im Hinblick auf die Ausrottung des      nannte Gröschner Ansätze der Objekt-Ge-
Faschismus in Deutschland nach 1945 kon-         schichte, bekannt etwa „Eine Geschichte
textualisiert werden müsse, also nicht auf       der Welt in 100 Objekten“. Den Abschluss
die massenhafte Ermordung von Menschen           bildete der Ausblick auf ein eigenes, in Ar-
durch stalinistischen Terror verengt werden      beit befindliches Projekt Gröschners: ein
könne, sondern größeren metaphorischen           Roman über die bereits aus ihrem Roman
Spielraum biete.                                 „Walpurgistag“ bekannte Trude Menzinger,
                                                 erzählt anhand der stofflichen Hinterlas-
Der letzte Tag der Brecht-Tage war für einen     senschaften dieser Figur.
Workshop reserviert, der Brechts Verhältnis
zu den Literaten und Künstlern der sowje-        Nach einer kurzen Hörprobe aus dem

Dreigroschenheft 2/2017                                                                   19
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