Informationen zu Bertolt Brecht - Dreigroschenheft
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Dreigroschenheft Informationen zu Bertolt Brecht 24. Jahrgang Heft 2/2017 Eine Nische für das Brechtfestival in Augsburg (Foto) Brecht-Tage in Berlin, Thema Oktoberrevolution Dieter Henning über Brechts Trotzki-lektüre Schulwettbewerb des Brechtkreises
aus dem Wißner-Verlag 208 Seiten | über 400 farbige Abbildungen ISBN 978-3-89639-969-4 | 19,80 € 216 Seiten | über 400 farbige Abbildungen ISBN 978-3-95786-025-5 | 24,80 € Mehr tolle Bildbände, spannende Erzählungen und weitere schöne Seiten von Augsburg finden Sie beim Wißner-Verlag unter www.wissner.com Bücher erhältlich im Buchhandel oder direkt beim Verlag.
Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Der Augsburger Impressum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Sonderausstellung im Augsburger Brechthaus (mf) . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Brecht-Festival Augsburg Zweiter Augsburger Schulwettbewerb des Die Maßnahme: Parteinahme gegen die Brechtkreises (mf). . . . . . . . . . . . . . . . 34 „Partei“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Mit Bi bei Kaffee und Kuchen. . . . . . . . . . 36 Andreas Hauff Eine Begegnung mit Frau Paula Gross, geb. Banholzer 25 Jahre Brecht-Forschungsstätte. . . . . . . . 8 Wolfgang Leeb Michael Friedrichs Neuauflage: Die Erinnerungen von Paula Neunmalgut (mf). . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Banholzer („Bi“). . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Michael Friedrichs „Der gute Mensch von Downtown“ (mf) . . . 11 Eine spannende Kombi: „Hollywooder Musik Liederbuch“ deutsch-afrikanisch (mf) . . . . . 12 Bei Lotte Lenya zu Besuch . . . . . . . . . . . 39 Werkstatttag Bertolt Brecht und Walter Ernst Scherzer Benjamin:Laboratorium Vielseitigkeit (mf). . 13 Benjamin und Brecht heute begegnen. . . . . 14 Hegel Milena Massalongo Minima Hegeliana Zu Brechts Denkbildern (6) Das unheimliche Werk . . . . . . . . . . . . . 40 Brecht-Tage Berlin Frank Wagner Brecht-Tage 2017: 100 Jahre nach der Oktoberrevolution. . . . . . . . . . . . . . . . 16 Bertolt-Brecht-Archiv Christian Hippe Kotzlandschaft. Ein unbekannter Brief Brechts Ochs und Paradox (mf). . . . . . . . . . . . . 21 an Helene Weigel . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Rätselhaftes Zeichen Lenin, Stalin Erdmut Wizisla Die Massen, der Aufstand, die Führung . . . 22 Neu in der Bibliothek des Bertolt-Brecht- Brechts Trotzki-Lektüre auf der Grundlage der Archivs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Nachlassbibliothek Zusammenstellung: Helgrid Streidt Dieter Henning Leserbrief zu Heft 1/2017. . . . . . . . . . . . 30 Nachruf Werner Hecht gestorben. . . . . . . . . . . . . 52 Rezension Michael Friedrichs Eine schmerzhafte Lektüre: Brechts Star Carola Neher im Kräftefeld der Sowjetunion . . . . . 31 Michael Friedrichs Dreigroschenheft 2/2017
Editorial Impressum Das Motto des ersten Brecht-Festivals unter Dreigroschenheft Leitung von Patrick Wengenroth in Augs- Informationen zu Bertolt Brecht burg war „Ändere die Welt, sie braucht Gegründet 1994 es“. Weniger Starglanz, mehr Werkstatt, so Herausgeber 1994-2009: Kurt Idrizovic kann man es wohl zusammenfassen. Wir www.dreigroschenheft.de berichten ausführlich über einige Auffüh- rungen, v. a. Die Maßnahme. Der Kultur- Erscheint vierteljährlich zu Quartalsbeginn Einzelpreis: 7,50 € auschuss des Augsburger Stadtrats hat eine Jahresabonnement: 30,- € Verlängerung des Vertrags mit Wengenroth befürwortet. Anschrift: Wißner-Verlag GmbH & Co. KG Im Tal 12, 86179 Augsburg Weitere Schwerpunkte dieses Heftes: Telefon: 0821-25989-0 • Brecht-Tage in Berlin mit dem Thema www.wissner.com 100 Jahre Oktoberrevolution (Bericht redaktion@dreigroschenheft.de von Christian Hippe). vertrieb@dreigroschenheft.de • Dieter Henning über Brechts Lektüre Bankverbindung: Wißner-Verlag GmbH & Co. KG marxistischer Schriften auf Grundlage Stadtsparkasse Augsburg der Nachlassbibliothek; nach Lenin ist Swift-Code: AUGSDE77 diesmal Trotzki dran. IBAN: DE15 7205 0000 0000 0282 41 • Schulwettbewerb des Augsburger Brecht- Redaktionsleitung: Michael Friedrichs (mf) Kreises zum Thema Erste Liebe, dazu persönliche Erinnerungen an Brechts Wissenschaftlicher Beirat: Dirk Heißerer, Tom Kuhn, erste Liebe Bi Banholzer. Joachim Lucchesi, Werner Wüthrich Lesen Sie wohl! Autoren in dieser Ausgabe: Michael Friedrichs, Andreas Hauff, Dieter Henning, Christian Hippe, Wolfgang Leeb, Mea Culpa Milena Massalongo, Ernst Scherzer, Helgrid Streidt, Frank Wagner, Erdmut Wizisla Im letzten Heft ist mir in der letzten Phase vor dem Druck ein ärgerlicher Layoutfehler Titelbild: Eine Nische unterhalb des Liliom-Kinos in Augs- burg, eingerichtet vom benachbarten Grandhotel Cosmopolis unterlaufen, und ausgerechnet den sorgfäl- für die Dauer des Brecht-Festivals (Foto: mf) tigen Autor Volkmar Häußler hat er betrof- fen: In seinem Beitrag „Noch eine Brecht- Druck: WirmachenDruck GmbH, Backnang Karikatur“ fehlen die letzten beiden Zeilen auf Seite 42. Der Absatz lautet vollständig: ISSN: 0949-8028 „Als Marxen seine Plagiatoren Einzug halten lässt, da ist Brecht schon zwei Jah- re einer der Gladiatoren der deutschen Gefördert durch die Literatur.“ Stadt Augsburg In der pdf-Version auf unserer Homepage wurde der Fehler frühzeitig korrigiert. ¶ Gefördert durch den Michael Friedrichs Bert Brecht Kreis Dreigroschenheft 2/2017
Festival Maschinen des Gaswerks Augsburg-Oberhausen bilden das Ambiente der Inszenierung (Foto: Christian Menkel) Die Massnahme: Parteinahme gegen die „Partei“ Andreas Hauff Wer als Zuschauer das Brecht-Festival mit „Er hat nicht an das große Ganze gedacht“, der Produktion Der gute Mensch von Down- beschreibt eine ältere Dame ihrer Nach- town eröffnen wollte, bewegte sich zumin- barin das Grundproblem des „jungen dest räumlich auf gewohnten Wegen: Diese Genossen“, der von seinen Mitkämpfern Aufführung fand auf der Brecht-Bühne des getötet und die Kalkgrube geworfen wird, Augsburger Theaters statt. Die zweite Pre- nachdem er durch seine Spontaneität den miere, Brechts Lehrstück Die Maßnahme, Erfolg des kommunistischen Undercover- musste wegen der vorzeitigen Schließung Unternehmens in China gefährdet hat, auf des Großen Hauses auf das alte Gaswerkge- das er sich so enthusiastisch eingelassen hat. lände im Stadtteil Oberhausen verlegt wer- Das Szenario war und ist umstritten; man den; und ein Bus-Shuttle der Stadtwerke hat Brecht sogar Sympathien für die stali- brachte die Zuschauer vom Theater dorthin nistischen Schauprozesse vorgeworfen, ob- und wieder zurück. wohl das Stück – wie auch die Augsburger Aufführung von 2011 schon zeigte – eher Dass es nach der Vorstellung zu lebhaften als Versuchsanordnung und Denkmodell Gesprächen kommt, darf man als Verdienst zu verstehen ist. von Regisseur und Ausstatter Selcuk Cara werten: Der türkischstämmige Sänger und 2017 formuliert die Vorschau im Festival- Filmregisseur hat mit seiner ersten Theater programm spürbare Sympathie für den arbeit eine diskussionswürdige Inszenie- mutmaßlichen Versager. „Hier steht ein Pro- rung vorgelegt, und ich finde mich im Bus tagonist im Vordergrund,“ lesen wir, „der ein zwischen gleich drei lebhaften und sehr System mit all seiner Kraft, selbst unter Le- verschiedenen Nachgesprächen wieder, die bensgefahr, zu unterstützen versucht. Doch sich leider akustisch überlagern. etwas hindert diesen jungen, idealistischen Dreigroschenheft 2/2017
Festival Flüchtlingsszenario als Vorspiel: Auch das Publikum in bedrängter Situation (Foto: Christian Menkel) Menschen daran, sich völlig dem Diktat des delns aufzukommen und nicht nur den Systems zu unterwerfen: Es ist sein ‚eigenes eigenen moralischen Maßstäben gerecht Gesicht‘, seine Individualität, sein Wesen.“ zu werden. Verlangt denn nicht jedes poli- Und dann überträgt der Ankündigungstext tische Handeln in der Welt, so wie sie ist, diese Konstellation auf die aktuelle Politik ein Mindestmaß an Taktik und Strategie? In von Bundesregierung und Europäischer einem der in der Maßnahme geschilderten Union in der sogenannten Flüchtlingskri- Fälle weigert sich der junge Genosse aus se. Bundesinnenminister Thomas de Mai- moralischer Abscheu, mit dem öligen und zière wird mit den Worten zitiert: „Auch ausbeuterischen Reishändler zu essen, der wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte die chinesischen Kulis für den Kampf be- Bilder aushalten müssen, unser Ansatz ist waffnen soll. Damit platzen die Verhand- richtig.“ EU und Innenminister werden mit lungen. Hier kommt in der Augsburger dem „Kontrollchor“ und den Agitatoren in Aufführung auf die Frage: „Was hätte der Brechts Stück verglichen: „Sie wollen, dass junge Genosse tun sollen?“ tatsächlich eine ich für das große Ganze, für das System, für Antwort aus dem Publikum: „Essen!“ In der die EU meinen Begriff der Mitmenschlichkeit Tat: Wer etwas erreichen will, kann sich den und des Mitleids auf bürokratische Art neu Gesprächspartner nicht immer aussuchen; definiere.“ Es komme aber gerade darauf an, ein Problem, das die Diskussion über die „Gesicht zu zeigen“, wie der junge Genosse. deutsche Außenpolitik in den letzten Wo- chen immer wieder in Vibration versetzt. Letzteres ist nun ein Standpunkt, gegen den in politischen Diskussionen seit Jahr- Ein anderer Aspekt dieser Frage allerdings zehnten immer wieder Max Webers Un- ist die nach der Qualität des politischen terscheidung zwischen Gesinnungs- und Ziels. Wo der eine Thomas de Maizières Zitat Verantwortungsethik bemüht wird. Ver- für den Ausdruck staatstragender Vernunft antwortungsethik heiße eben, auch für die hält, sieht der andere Stimmungsabfuhr, vorhersehbaren Folgen des eigenen Han- Stimmungsmache und politische Kurz- Dreigroschenheft 2/2017
Festival Beschwingter Tanz zum Song von der Ware: „Weiß ich, was ein Mensch ist?“ (Foto: Christian Menkel) sicht. Denn kann europäische Abschottung hauses. Ab und an wird eine Gruppe einge- wirklich das große Ziel sein, oder ist nicht lassen, dann heißt es wieder warten. Einige eigentlich die globale Verantwortung „das Zuschauer werden privilegiert, indem sie große Ganze“? Und umgekehrt auf Brechts an der zweiten Station eine Taschenlampe „Maßnahme“ bezogen – war der wieder erhalten. Im Sauger- und Kühlhaus drängt und wieder beschworene Kommunismus sich schließlich das gesamte Publikum ste- zumindest in dieser Form nicht eigentlich hend zusammen. Auf der linken Seite ist ein mächtiger, folgenreicher Irrtum einer hinter einem Maschendrahtzaun eine Art entschlossenen Minderheit? Strand aufgeschüttet; dort finden sich einige junge Darsteller beiderlei Geschlechts, die Der Regisseur setzt zunächst einmal auf das immer wieder aus Brechts Stück abgeleitete Flüchtlings-Szenario. Geschickt nutzt er die Parolen rufen: „Bist du ein Mensch?“ und Architektur des Geländes, um das Publikum „Sind bei dir Gefühl und Verstand getrennt?“ auf die Situation des Wartens und Ausge- oder dergleichen. Später wird man mir von liefertseins einzustimmen. Erst bilden sich einem Schlauchboot auf dem Strand-Ab- lange Schlangen am weißen Einlass-Zelt, schnitt berichten; ich bekomme es gar nicht dann am Tor des kleinen Sauger- und Kühl- zu sehen, dafür allerdings eine Gruppe von Dreigroschenheft 2/2017
Fotografen, die einen jungen Mann in ver- Jesus vor, den Menschen die Freiheit des Festival schiedene besonders fotogene Elendspositi- Gewissens gegeben zu haben. Dagegen leh- onen bringen. Das lange Warten – am Ende re die Amtskirche die Menschen nun, „dass fast 45 Minuten – ist „grenzwertig“, wie nicht der freie Entschluss ihrer Herzen und man so sagt, auch wenn die winterlichen nicht die Liebe das Entscheidende ist, son- Temperaturen nachgelassen haben. Im- dern jenes Geheimnis, dem sie sich blind un- merhin hat das Publikum das Brecht-Stück terordnen müssen, selbst gegen ihr Gewissen. gebucht und nicht einen Platz in der War- Das haben wir denn auch getan. Wir haben teschlange; und nicht jeder ist der Anstren- deine Tat verbessert und sie auf das Wunder, gung des unerwarteten Demütigungsrituals das Geheimnis und die Autorität gegründet. gewachsen. Doch letzteres ist tatsächlich Und die Menschen freuten sich, dass sie wie- nur ein Prolog. der wie eine Herde geleitet wurden und dass endlich das furchtbare Geschenk, das ihnen Als wir nach langem Eingesperrtsein so viel Qual bereitet hatte, von ihren Herzen schließlich ins Apparatehaus eingelassen genommen war.“ werden, finden wir eine neue Situation vor. Das Licht ist dämmerig, es riecht stark nach Hier finden wir schon den Kern von Caras Weihrauch; der hintere Teil der Halle ist ab- Lesart der Maßnahme. Der Kommunismus getrennt durch einen schwarzen Vorhang; erscheint ihm als politische Religion, de- davor befindet sich ein Podium, das an einen ren ursprüngliche, mitfühlende Variante Altarraum erinnert, auf ihm – madonnen- der junge Genosse vertritt. Doch anders als artig – eine junge Frau (Katharina Rivilis) Dostojewskis Jesus, der am Ende schwei- im weißen Kleid. Näher am Eingang stehen gend den Großinquisitor küsst und wieder links einige Kirchenbänke und rechts ein verschwindet, unterwirft sich der junge weiteres Podium mit einer älteren, laut le- Genosse dem menschenverachtenden Dik- senden Frau (Dagmar von Kurmin); dazwi- tat der Amtskirche bzw. Partei. Cara lässt schen finden wir Maschinen und Rohre – sichtbar nur drei Agitatoren zugleich auf- ein Rest der alten technischen Ausrüstung, treten, und auch sie in weißer Kleidung; jetzt geeignet, sich ein wenig anzulehnen und schon ihre Befragung an der Grenze, oder hinzusetzen, falls man einen der vie- die sie jeweils mit einem resoluten „Nein“ len Stehplätze hat. Die Sicht auf das, was beantworten, hat etwas Rituelles. Die Sym- sich unterhalb des Podiums abspielt, ist je bolik der Zahl Drei führt zurück aufs Alte nach Platz wirklich schlecht. (Das ominöse Testament: Gottes Besuch bei Abraham Schlauchboot sei wiederverwendet worden, (1. Buch Mose, Kap. 18) vollzieht sich im wird man mir später erzählen.) Erscheinen von drei Männern. Das Be- kenntnis zum Kommunismus wird nach Vorerst aber geht es nur ums Hören, denn Art des kirchlichen Glaubensbekenntnisses Cara stellt der eigentlichen Aufführung gesprochen, die Aussendung erfolgt nach noch einen zweiten Prolog voran: Dagmar einer liturgischen Formel; Volker Zack klet- von Kurmin liest das Kapitel Der Großin- tert als Leiter des Parteihauses hoch auf ein quisitor aus Fjodor Dostojewskis Roman dickes Rohr der Apparatehalle, wedelt mit Die Brüder Karamasow. Darin wird von dem Weihrauchfass und singt im Gestus der Rückkehr des Jesus von Nazareth auf eines nicht mehr ganz nüchternen Dorf- die Erde zur Zeit der spanischen Inquisiti- geistlichen. Er ist, nebenbei bemerkt, ein on berichtet. Der Großinquisitor lässt den markanter, dabei sehr wandlungsfähiger Erlöser, nach dem sich die Kirche benannt Darsteller. Ein Tenor ist er hingegen nicht: hat, verhaften und bekennt sich zu Satan als Fürs Lied des Reishändlers „Weiß ich, was dem eigentlichen Herrn der Kirche; er wirft ein Mensch ist?“ trägt die Stimme zu wenig. Dreigroschenheft 2/2017
Die weiteren Rollen, auch die des 4. und so nicht gewollte) Erklingen der Musik aus Festival 5. Agitators, werden innerhalb des sehr be- dem Off von starker symbolischer Bedeu- weglichen Schauspieler-Ensembles verteilt, tung. Die von Hanns Eisler komponierten das durch Luise Wolfram und Florian Ma- Klänge kommen wie von einer nicht ein- nia überzeugend abgerundet wird. sehbaren Kirchenempore oder wie aus dem „mystischen Abgrund“ des verdeckten Eindimensional wirkt die kommunistische Orchestergrabens in Richard Wagners „Amtskirche“ durchaus nicht. Der Sprech- Bayreuther Festspielhaus; sie klingen auch stil ändert sich, manche Textstellen werden oft nach protestantischem Posaunenchor auch zweimal und unterschiedlich gespro- oder italienischen Instrumentalcanzonen chen, und nur einige werden durch eine fei- der Renaissance, ganz zu schweigen von den erlich wirkende Choreographie überhöht. bewussten Anklängen an Bachs „Matthä- Komisch wirken die Szenen, in denen das us“-Passion. Hinter dem Vorhang erscheint Fehlverhalten des jungen Genossen thema- die Musik wie eine unverfügbare und hö- tisiert werden soll. „Diskussion!“ heißt es da here Instanz, und als einmal ein Männer- auf einmal, und die Schauspieler stehen vor quartett vor den Vorhang tritt, wirkt es wie dem Publikum wie wohlmeinende Lehr- Boten aus einer jenseitigen Welt. kräfte, die beim Unterrichtsbesuch des Vor- gesetzten plötzlich und unerwartet von ih- Dass Eislers Musik in ihrer Position zu ren Schüler eine eigene Meinung erwarten, Brechts Szenario ambivalent ist, bringt an die vorher gar nicht zu denken war. Und Geoffrey Abbott als musikalischer Leiter tatsächlich wird in der Maßnahme ja bloß deutlich heraus: Harte, gnadenlose Pauken- pro forma, um des guten Eindrucks willen schläge auf der einen, und weicher, mitfüh- oder als Bluff gefragt. Sonst müsste man ja lender A-Cappella-Gesang auf der anderen auch die Frage anders formulieren. Nicht: Seite markieren bewusst die gegensätzliche „Was hätte der junge Genosse tun sollen?“ Extreme. Wenn wir aber Eislers Verweis etwa, sondern „Wie hätte sich diese Situati- auf das von Johann Sebastian Bach erzählte on vermeiden lassen?“ – was die Agitatoren Sterben des Jesus von Nazareth ernst neh- und die Partei mit in die Verantwortung men, so ist das abgenötigte Selbstopfer des nähme, anstatt das schwächste Glied der jungen Genossen zwar nicht mehr rückgän- Gruppe zum Sündenbock zu machen. gig zu machen; aber er ist dann für die Mit- menschlichkeit gestorben und nicht für das Dass Chor und Orchester hinter dem gnadenlose System, das ihn gerichtet hat. schwarzen Vorhang musizieren, verleiht Zum kirchen- und institutionskritischen Hanns Eislers Musik einen gedämpften, et- Setting der Inszenierung finde ich da keinen was dumpfen Klang, wie man ihn in Rund- ernstlichen Widerspruch, und auch nicht funkaufnahmen der 20-er und frühen 30- zum biblisch grundierten Bild und Wunsch er Jahre hören kann. Mit Blick auf die alten des künstlerischen Festivalleiters Patrick Industrieanlagen lässt sich hier ein Gefühl Wengenroth, dass „die Münze, mit der wir von historischer Klangauthentizität emp- bis zum Ende der Lebenszeit auf diesem Pla- finden. Für die Textverständlichkeit des für neten bezahlen, permanent umgedreht wird“ die Aufführung zusammengestellten Pro- und „wir diese Münze umdrehen und wieder jektchors ist diese Anordnung ungünstig; es umdrehen und nochmal umdrehen und im- dürfte an der musikalischen Satzdichte ei- mer schauen, ob sich nicht zu viele absolute nerseits, an der Akustik andererseits liegen, Gewissheiten unter unserem Stein der weisen dass man manche Passagen recht deutlich, Erkenntnis breit gemacht haben.“ ¶ viele andere hingegen kaum versteht. Über die Akustik hinaus ist aber das (von Brecht Dreigroschenheft 2/2017
25 Jahre Brecht-Forschungsstätte Festival Kongress im Augsburger Brechthaus Michael Friedrichs Aus kurzsichtig-ökologischer Perspektive könnte man bedauern, dass Jürgen Hillesheim so vielseitig erfolgreich publiziert – einige Bäume haben dafür das Papier geliefert. Andererseits leben sie ja weiter in diesem Papier, und das ist doch besser als heizend durch den Schornstein gejagt zu werden. Vor 25 Jahren war es Helmut Gier als damaligem Leiter der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg ge- lungen, den Stadtrat dazu zu bewegen, eine Brecht-Forschungs- und -Gedenkstätte einzurichten. Hillesheim bewarb sich mit Erfolg, und aus Anlass seines Silberjubiläums konnte er nun einen Kongress im Brechthaus ausrichten. Hier referierten Wissenschaftler*innen, mit denen er besonders eng zusammengearbeitet hat. Alle Vorträge der zweitägigen Veranstaltung waren bestens besucht. Den Anfang machte Helmut Koopmann. Sein Ausgangspunkt war der Begriff des „Flaneurs“, und er ging mit dem von ihm so meister- haft beherrschten weiten Blick daran, abzugleichen, inwiefern Brecht Züge eines Flaneurs hatte und wie er sich unterschied, im Frühwerk und dann in den Journalen. In diesen habe er den Faschismus in einer Art „Tunnelblick“ mit dem Monopolkapitalismus gleichgesetzt, zugleich sehend und blind. Jürgen Hillesheim konnte überzeugend darlegen, dass Brechts „Lied vom Geierbaum“ nicht, wie in der Werkausgabe behauptet, auf 1917 zu datieren ist, sondern Brechts Datierung auf 1912 zuverlässig ist; es ist somit das Werk eines Vierzehnjährigen und so gesehen von beachtlicher Qualität. Warum derartig viele Geier bei Brecht im Um- feld von Bäumen auftauchen, konnte auch in der Diskussion nicht eindeutig geklärt werden. Die deutsche Ausgabe der monumentalen Brecht-Biografie von Stephen Parker wird im Herbst erscheinen, er sitzt gerade an den Korrekturen, wie er gesprächsweise mitteilte. Sein Vortrag galt der Intertextualität in Brechts Baal, und er konnte zeigen, was es mit den Verweisen auf die Schädel von Socrates und Verlaine auf sich hat. Eine Caspar-Neher-Grafik stand im Mittelpunkt des Vortrags von Hel- mut Gier: der „Wasserfeuermensch“, veröffentlicht als Beilage in der „Hauspostille“. Die lateinische Inschrift, die u.a. Horaz zitiert und so auf Brechts Lateinunterricht verweist, wurde in der Werkausgabe nicht als Brecht-Text akzeptiert, nicht korrekt übersetzt, die Grafik nicht ab- gebildet; Augsburg besitzt ein Exemplar in der „Taschenpostille“. Dreigroschenheft 2/2017
Mathias Mayer wählte einen gattungsgeschichtlichen Ansatz: Er Festival fokussierte auf Brechts Balladen, in denen der Autor die Möglich- keiten des Änderbaren erprobe, Prozesse der Macht abbilde, pa- ckende Szenarien des eingreifenden Denkens schreibe. Die „Bal- lade vom Wasserrad“ mit ihren später geschriebenen Varianten der dritten Strophe enthalte die Utopie von der Aufhebung jeder Macht, könne die Widersprüche aber nicht befriedigend lösen. Der Musikwissenschaftler Joachim Lucchesi schilderte die Ver- änderungen in der Musik von Kurt Weill durch die Zusammenar- beit mit Brecht und ging auch anhand von Tonbeispielen auf die Bedeutung der Stimme von Lotte Lenya für Weill ein, die übri- gens in den 50er Jahren eine Quart tiefer geworden sei. Ana Kugli sprach sich daür aus, biografische Bezüge bei der Untersuchung von Brechts Darstellung der Geschlechterbezie- hungen in der Lyrik auszublenden, und zeigte anhand einiger Gedichte, wie Brecht das bürgerliche Rollenschema vom sexuell erfahrenen Mann und der entweder unberührten oder unheirat- baren Frau in vielen Facetten decouvriert. Frank D. Wagner nahm den Austausch von Brecht und Benja- min über Kafka unter die Lupe, insbesondere anhand ihrer Dis- kussion über „Das nächste Dorf “. Erdmut Wizisla ermöglichte einen Blick auf eine bisher unbe- kannte Quelle zu dem Verhältnis Brecht-Benjamin, die ab Ok- tober in der Benjamin-Ausstellung der Berliner Akademie der Künste zu sehen sein wird. Mykola Lipisivitskyi schilderte den Stand der Übersetzung der Werke von Brecht und Walter Benjamin in der Ukraine. Die Befassung mit Brecht werde durch die Zusammenarbeit mit der Brecht-Forschungsstätte stark unterstützt, und Benjamin habe gerade eine Art von Konjunktur. Andrea Bartl mode- rierte die anregenden, unkontroversen Dis- kussionen. – Und eine Buchvorstellung gab es auch noch: 25 Stu- dien von Jürgen Hil- lesheim aus 25 Jahren Brechtforschung, he- rausgegeben von Helmut Koopmann und erschienen in der Reihe „Brecht – Werk und Kontext“ bei Königshausen & Neumann. ¶ Dreigroschenheft 2/2017
Festival Neunmalgut Wenn Michel Abdollahi beim Brecht-Festi- anzureichern. Nun führt sie in einem phi- val zum Kampf der Künste „Dead or Alive“ losophischen Diskurs das Spiel mit einem ins Augsburger Parktheater lädt, sind die Kleinkind, „Wo ist denn der Tobi?“, ad ab- Karten schnell weg. Fast nur u30 im Publi- surdum. Abgestimmt wird nun mit allge- kum, aber auch ü60. Über fünf Runden geht meinem Publikumsbeifall, Kirsten gewinnt der Wettstreit von Poetry Slam gegen Tot- knapp vor Brecht, der ein Medley aus den dichterdarstellung m/w – diesmal wurden „Svendborger Gedichten“ bietet. zum Leben erweckt Lisa Christ, Forough Alle Punkte der beiden Lager werden dann Farrokhzad, Freddie Mercury, Kurt Tu- aufaddiert, die „Toten“ liegen hoffnungslos cholsky und Bertolt Brecht. In jeder Runde zurück, aber das ausgeklügelte Reglement erhalten die Slammer diesmal mehr Punkte gibt ihnen dennoch eine Chance – der Sieger von der spontan zusammengestellten Pu- im Stechen erhält für sein Lager 30 Punkte blikumsjury; am relativ besten schneidet extra. Schade, hätte klappen können. Der unter den „Toten“ der Brecht-Darsteller nächste Versuch, Festival 2018, wird bereits ab. Es ist Leif Eric Young, der am nächsten der 10. sein. (Text + Fotos mf) ¶ Abend bei der in Svendborg entwickelten Aufführung der „Svendborger Gedichte“ (Bluespots Productions) ebenfalls zu sehen ist. Im Stechen tritt er gegen die Slammerin Kirsten Fuchs an, die hochamüsant über ihre Versuche berichtet hatte, die abstump- fende Arbeit der Supermarktkassiererin durch sehr spezielle Einkäufe und damit verbundene kleine Geschichten gedanklich 10 Dreigroschenheft 2/2017
„Der gute Mensch von Downtown“ – eine bewegende Festival Erfahrung Während das Publikum sich noch auf die Plätze begibt, regnet es bereits auf der Bühne. Es schüttet geradezu. Rundum an alle drei Bühnenwände wird Regen proji- ziert, richtig gut gemacht. Brechts „Guter Mensch von Sezuan“ bot die Spielvorlage, die hier kreativ und einfühlsam umgesetzt wurde. Die meisten Schauspieler*innen in dieser Produktion haben das sog. Down- Syndrom. Vor einem Jahr hatte das Stück des Theaters RambaZamba in Berlin Pre- miere, das vielgelobte Inklusionstheater existiert bereits seit 1990. Es ist ausverkauft. Eva Mattes spielt mit, legendäre Fassbinder-Schauspielerin, und das mag für manche Zuschauer den Ausschlag gegeben haben, sich das anzu- schauen. Aber vielen anderen dürfte der Name des Stars nicht viel sagen, es ist ein sehr altersgemischtes Publikum, darun- ter Kinder mit Downsyndrom. Eva Mat- tes spielt einen von zwei Erzengeln auf der Suche nach drei guten Menschen in „Downtown“, einem Ort, der offenbar ein bisschen in China liegt. Auch hier treten wie in Brechts „Sezuan“ die harten Sei- ten menschlichen Umgangs hervor, so- bald es ums Geld geht. Hier sind es drei gute Mädchen, die sich zeitweise in harte Burschen verkleiden müssen, um nicht ausgenommen zu werden. Manchmal versteht man erst mit Verzögerung den Foto: Melanie Bühnemann kreativen Bezug zum Original: Brechts arbeitsloser Pilot wurde hier zum Mu- siker ohne Instrument; die Ausbeutung in (Zora Schemm, siehe Foto), der eine neue der Tabakfabrik wurde verwandelt zur Aus- Sintflut für nötig hält. Und nach der Pause beutung durch Tanz in Reizwäsche. die Liebesszene zwischen Besche Zo (Zora Schemm) und dem Musiker Lan (Moritz Zwei Höhepunkte aus meiner Sicht: Der Höhne), von einer ergreifenden Zartheit, Anfang mit einem Buddha-ähnlichen Gott die noch lange nachwirkt. (mf) ¶ Dreigroschenheft 2/2017 11
Eine spannende Kombi: „Hollywooder Liederbuch“ Festival deutsch-afrikanisch Der Bariton Franz Schlecht (früher Augsburg, jetzt Berlin) und der Pia- nist Bernd Haselmann präsentieren während der „Langen Brechtnacht“ Hanns Eislers „Hollywooder Lieder- buch“, unterstützt von Njamy Sitson (früher Kamerun, jetzt Augsburg). Die Kresslesmühle ist gut gefüllt. Und es ist ein bisschen ein Schock, als Franz Schlecht den Abend be- ginnt mit „Über den Selbstmord“: Da zählt Brecht auf, was es alles „in unserem Lande“ nicht geben dürfte, zum Beispiel trübe Abende, damit nicht ein Verzweifelter auf die Idee kommt, das „unerträgliche Leben“ fortzuwerfen. Diese Zeilen kennt man aus dem „Guten Menschen von Sezuan“, die anderen Texte stammen vor allem aus der „Stef- finschen Sammlung“ (Brechts Exil von Dänemark bis Finnland) und den „Hollywood-Elegien“. Es sind Konzentrate von Exilerfahrung, Entfremdung und Ängsten – beun- ruhigend aktuell. Einer davon be- singt den „kleinen Radioapparat“, aus dem „meine Feinde weiter zu mir sprechen“. Da ist alles drin, die Franz Schlecht und Njamy Sitson (Foto: Nina Hortig) Flucht, das Heimweh, die Hoffnung auf ein Ende von Krieg und Unterdrü- Veranstaltung zusätzliches Gewicht mit ei- ckung. Eisler hat dafür eine Melodie gefun- ner musikalisch untermalten Rezitation der den, die sich im Ohr lange festsetzt. Gesang Rede Brechts beim Internationalen Schrift- und Klavier sind klar und einfühlsam, be- stellerkongress in Paris 1935 (GBA 22, wegend ohne Sentimentalität. S. 141–146), in der Brecht dazu aufforderte, das Elend nicht nur zu beschreiben, sondern Njamy Sitson schaltet sich in einige Lieder seine Ursachen zu bekämpfen. – Anschlie- ein, darunter dieses. Er legt afrikanische ßend viele Gespräche mit den Künstlern, Rhythmen und seine helle, klare Stimme auch mit der Regisseurin Rike Reiniger, die hinein, er vertritt in dieser Aufführung die den Abend hervorragend strukturiert hat. Geflüchteten von heute. Und er gibt der (mf) ¶ 12 Dreigroschenheft 2/2017
Werkstatttag Bertolt Brecht und Walter Benjamin: Festival Laboratorium Vielseitigkeit Die spannungsreiche und verhältnismäßig poulou lud zu einer politischen Lektüre der ausführlich dokumentierte Freundschaft Gespräche in Svendborg über den großen zwischen Walter Benjamin und Bertolt Terror; (III) der Theaterwissenschaftler und Brecht, vieldiskutiert in der Sekundärlite- Germanist Hans-Thies Lehmann offerierte ratur und ein Fokus der Kunstdiskussion eine Debatte über Brechts wenig bekanntes über das 20. Jahrhundert hinaus, war The- proletarisches Kindertheater in seiner Rela- ma eines neuen Formats des Brechtfestivals: tion zum Lehrstück. Werkstatttag! Er fand in den (dafür bestens geeigneten) Räumen des Sensemble-Thea- Ausgangspunkt der Diskussion in Arbeits- ters statt. Etwa dreißig Teilnehmer nahmen gruppe I war Benjamins Einleitungsab- sich Zeit dafür, darunter viele bekannte Ge- schnitt „Zur Form des Kommentars“, mit sichter der Augsburger Universitäts- und den überraschenden Begriffen „archaisch“ Kulturszene. und dem „Vorurteil“ einer „Klassizität“ dieser Texte. Das erste Gedicht, das in Ver- Erdmut Wizisla eröffnete mit einem Im- bindung mit Benjamins Kommentar be- pulsreferat und reflektierte Begriffe von sprochen wurde, war „Gegen Verführung“; Notizen Benjamins für einen Brecht-Vor- ursprünglicher Titel „Luzifers Abendlied“. trag im Frankfurter Rundfunk 1930, etwa Die Diskussion biss sich fest an der Frage, „Augsburg – die Fugger“, „gotisches Wie- ob es richtigerweise „Das Leben wenig ist“ dertäufergesicht“ oder auch „gnostisches oder „Daß Leben wenig ist“ heißen müsse; Element“ – sicherlich wichtige Begriffe für intertextuelle Bezüge fand man zu Gryphi- Benjamins sich entwickelnde Auffassung us, Bach, Nietzsche und Goethe. von den besonderen Prägungen und Qua- litäten Brechts. „Vom armen B.B.“ war als nächstes dran, und eine Frage war, ob es hier der Wind sei, Anschließend ein Gespräch mit der Regis- der das Haus leert, oder der Esser. seurin Friederike Heller: Sie erläuterte Idee und Zustandekommen ihres Theaterpro- Nach der Mittagspause ging es um die „An- jekts über die Zeitschrift „Krise und Kritik“, sprache des Bauern an seinen Ochsen“, von ein gescheitertes Vorhaben, an dem sich ja Benjamin in einer Gesprächsnotiz vom u. a. Brecht und Benjamin intensiv beteiligt 25. Juli 1938 kommentiert, mit der listigen hatten. Das Stück hatte am gleichen Abend Camouflage des Stalin-Bezugs und den auf der Probebühne Premiere. Heller wand- Lesarten „Schriftmacher“ oder „Schrittma- te sich gegen eine „vermeintliche Sicherheit cher“. Zum Abschluss die „Legende von der des Blicks von heute auf damals“. Entstehung des Buches Taoteking“. – Wizis- la wies darauf hin, dass wir keine klaren Äu- In drei Arbeitsgruppen wurde dann inten- ßerungen von Brecht zu Benjamins Kom- siv diskutiert: (I) mit Erdmut Wizisla über mentaren haben: Hatte er Vorbehalte, wenn Benjamins „Kommentare zu Gedichten ja welche? Andererseits konnte er ihre Lek- von Brecht“; (II) die griechische Theater- türe auch niemandem empfehlen, weil sie kritikerin und Übersetzerin Helene Varo zu lange ungedruckt blieben. (mf) ¶ Dreigroschenheft 2/2017 13
Benjamin und Brecht heute begegnen Rezension Milena Massalongo Heute passiert es immer seltener, Abdullah Sinirlioglu, Benjamin und dass eine wissenschaftliche Darstel- Brecht. Eine politische Begegnung lung sich durch ihren Gegenstand (Würzburg: Königshausen & Neu- auf die Probe stellen lässt. Jedoch mann 2016, 28 €) kann sie desto mehr gelingen, je mehr ihre Wissenschaftlichkeit sich durch So könnten die Fragen lauten, vor deren ihren Gegenstand in Frage stellen lässt. Erst Hintergrund diese Arbeit verfasst ist. Dazu da wird sie wissenschaftlich in einem prak- kommt der in der Rezeptionsgeschichte tischen, nicht nur in einem legalistischen weniger vertretene Versuch, Differenzen Sinne. Benjamins und Brechts Arbeit und und Eigenständigkeiten von Denk- und die Fragenkonstellation, die sich in ihrem Schreibweisen dieser beiden tatsächlich ein Verhältnis aufspannt, gehören zu den Ge- ander „begegnen“ zu lassen, anstatt fertige genständen, die diese Probe aufzwingen. Ähnlichkeiten und Korrespondenzen nach- Beide haben jeder nach seiner Weise nicht zuzeichnen. Benjamins und Brechts Positi- nur die Möglichkeit, sondern den Erkennt- onen werden hier als Stellungnahmen und niswert selbst der „Rekonstruktion“ kriti- Antworten auf konkrete Zusammenhänge siert. Und beide haben jeder nach seiner dargestellt. Ihr Gespräch bei allen Diffe- Weise in der eingreifenden Erkenntnis der renzen kann eben auf diesem gemeinsamen eigenen Zeit (der zeitgenössischen Denk- praktischen Boden erfolgen: Ihre Produk- haltungen) im Grunde den einzig mög- tion kommt erst dadurch zustande, dass lichen Gegenstand jeder künstlerischen sie ihre Geschichtlichkeit zu verantworten oder wissenschaftlichen Tätigkeit gesehen. versucht, indem sie nämlich das allgemeine Umso mehr stellt sich vor ihnen die echte Verhängnis bekämpft, harmloser Ausdruck Frage der Aktualität, wie Adorno sie ein- des zeitlosen, reinen Geistes oder bloßes mal gestellt hat. Sie lautet nicht „dilettan- Symptom der Zeit zu sein. tisch“ (so wird sie einmal von Benjamin Gegenstand und Vorsatz dieser Arbeit for- definiert): Was haben uns diese beide noch derten also eine nicht monolithische/mo- zu sagen, sondern: Was haben wir ihnen zu notonale Darstellung, die eher dem Aufbau sagen, wo befinden wir uns, wo stecken wir von experimentellen Zusammenhängen als ihnen gegenüber. der linearen, homogenen Behandlung nä- Eines der Verdienste von Sinirlioglus Ben- her kommt. Der Autor kommt dieser For- jamin und Brecht. Eine politische Begeg- derung entgegen, indem er versucht, sich nung liegt darin, dass es über diese Grund- fließend zwischen Exposition, Analyse und schwierigkeiten, in denen der eigentliche Kritik hin- und herzubewegen. Das erfor- Spieleinsatz liegt, nicht unbefangen hinaus dert einen Mut, der auch in den Wissen- tritt. Die Fragenkonstellation, die in diesem schaften „irreduzibler Bestandteil“ bleibt: intellektuellen Verhältnis zur Reife kommt, den Mut „zum subjektiven Sich-Einschalten wird hier vom Standpunkt der Gegenwart in die Texte“, wie Sinirlioglu schreibt (S. 13). aus geschildert. Inwiefern sind ihre Fra- Dies Moment der Stellungnahme, das in gen noch unsere Fragen und inwieweit den Wissenschaften auf jeden Fall wenn unsere Vorschläge ‚besser‘ als die ihrigen: auch oft verantwortungslos passiert, liegt 14 Dreigroschenheft 2/2017
im Zentrum der Schreib- und Denkpraxis Der falschen Alternative zwischen Begeiste- Rezension sowohl von Benjamin wie von Brecht: Der rung oder Pessimismus der Technik gegen Mut (die Not) Stellung zu nehmen, damit über, schreibt Sinirlioglu, entgeht man nur, in- der Gegenstand (das eigene Erkennen) jetzt dem „man das Problem der Technik mit Marx erkennbar wird. Man kann nur erkennen, im Spannungsfeld von Produktionskräften indem man den Gegenstand verändert, no- und Produktionsverhältnissen situiert“. Eben. tiert Brecht einmal. Und indem man durch Darin liegt das Interesse an Marx: Dass er die den Gegenstand verändert wird, fügt er hin- Spannung zwischen Produktionskräften und zu. Entweder projiziert man sich selbst und -verhältnissen noch adressiert. Dass es bei erlebt immer wieder nur Glanz und Elend ihm nicht bloß um eine bessere Verteilung der eigenen Denkweise inkognito (die über- des Wohlstands geht, sondern auch um das all waltende Einfühlung, die sowohl Brecht Problem der „fehlgeleiteten Produktivität“ wie Benjamin in eine Krise stürzen möch- (S. 52). Es geht nämlich um die immer wieder ten), oder man kehrt die Perspektive um verschüttete, verdrängte, verneinte Grundfra- und verfremdet die eigenen und der Zeit ge: Was soll man produzieren, nicht weniger eigenen Denkhaltungen durch ad hoc ge- als wie – Brechts „grobes“ Denken, seine un- wählte Gegenstände. So hört das Politische übersehbaren Testfragen: „Wozu, wem nützt auf, eine äußerliche, erst nachträgliche Fra- das?“, die immer wieder übersehen werden, ge zu sein, um plötzlich in den Mittelpunkt weil das Produzieren über alles weiter gehen der Erkenntnisfrage zu rücken. und möglichst wachsen muss. Zu den in diesem Sinne fruchtbarsten Ver- Das Politische sowohl bei Benjamin wie bei fremdungstechniken der modernen Denk- Brecht hat gerade mit dieser Konkretheit weisen und Lebensform, auf die beide zu- zu tun, mit der jeweilige Konflikte benannt rückgreifen, gehört der Marxismus. Ein und ausgestellt werden müssen, indem man Verdienst der Arbeit von Sinirlioglu besteht ihnen ausgesetzt wird. In diesem Sinn kann in dem ausdrücklich unternommenen Ver- das Bedenken Sinirlioglus, eine „politisch such, der praktischen, ja technischen Funk- klar Standpunkt beziehende Literatur“ dro- tion der marxistischen Lehre bei Benjamin he das Literarische an sich „auszutrocknen“, und Brecht gerecht zu werden. Mit Recht nur da vorhanden sein, wo das gewöhnliche bemerkt der Autor, dass die Auseinanderset- Verständnis von Politischem als Inhaltsfra- zung der beiden mit dem Marxismus nicht ge sich einschleicht. So kann hier manch- immer und nicht wirklich ernst genommen mal der Eindruck entstehen, dass das Poli- wurde und wird. Das geschieht nicht nur, tische bei Brecht und Benjamin dem Lite- wenn man sie bloß als zeitliche Reaktion rarischen allzu leicht entgegengesetzt wird, auf den Faschismus versteht und heute als als handelte es sich dabei um eine Frage der abgestumpfte Waffe voreilig erledigt. So was Eindeutigkeit versus „Mehrdeutigkeit und passiert auch, wenn das marxistische Ver- Widersprüchlichkeit“ (S. 186). Jedoch sind bum im allgemeinen wohl ernst genom- Brechts politisch nüchternere und selbst- men wird, aber nicht in dem besonderen bewusste Texte nicht weniger literarisch Gebrauch, der hier davon gemacht wird auch im gewohnten Sinne, d.h. keineswegs (als Marxismus „Tendenz-Brecht“, nach der weniger widersprüchlich. Seine politisch glücklichen Formel von Roland Barthes). mehr „kompromittierten“ Texte brüten ei- Die marxistische Lehre ist aber genau das, nen inneren Druck aus, der die Einfachheit was beiden ermöglicht, in jene „grauenvolle und Glätte ihrer Oberfläche von hinten Synthese von Technik und Mythos“ (S. 50) schmerzhaft verdreht. Wobei diese Ober- einzugreifen, die Benjamin im Faschismus fläche keine Verschleierung, sondern eine erkannt hat und die damals wie heute nicht weitere widersprechende Stellung ist, die nur im auffälligen Faschismus wuchert. den Spielboden noch komplexer macht. ¶ Dreigroschenheft 2/2017 15
Brecht-Tage 2017: 100 Jahre nach der Oktoberrevolution Tagung Christian Hippe Brechts Beziehung zur Sowjetunion war „Lob des Lernens“ in freundlich-sanftem Thema der diesjährigen Brecht-Tage im Li Duktus als träumerisch-erbauliche Päda- teraturforum im Brecht-Haus in Berlin. Den gogik erscheinen ließ, trug Felix Kamme- Anlass bildete der bevorstehende 100. Jah rer Brechts in Verse gefasste Ratlosigkeit restag der Oktoberrevolution. „O großer mit gefestigter Stimme vor. Eindrucksvoll Oktober der Arbeiterklasse!“, so lautete dann war auch Tabitha Frehner, die Brechts „Die auch die literarisch-musikalische Revue zur Teppichweber von Kujan-Bulak“ in einem Eröffnung, die Kerstin Hensel und Holger Ton großer Einfalt anstimmte und dem Ge- Teschke mit Studierenden der Hochschule dicht dadurch – seiner Argumentation fol- für Schauspielkunst „Ernst Busch“ einstu- gend – jegliche Monumentalität nahm. Die diert hatten. Der Chronologie einzelner zwischengeschalteten „Journal“-Passagen Gedichte und „Journal“-Einträge folgend, las Teschke, der im Hintergrund saß und kam die ganze Bandbreite von Brechts Ver- derart das für Brecht bezeichnende Span- hältnis zur Sowjetunion zu Gehör: seine ur- nungsfeld aus poetischer Rede und privater sprüngliche Distanz (Ablehnung von Kon- Reflexion, öffentlicher Verlautbarung und trolle, Ordnung), seine dann einsetzende stiller Notiz markierte. Im anschließenden Faszination an Lenin (funktionärshafte Un- Gespräch mit den jungen Schauspielstudie- scheinbarkeit als eigentliche Größe) bis hin renden gab Frehner zu, Brechts Texte zu- zur euphorischen Feier der Sowjetunion in nächst nicht verstanden und auch nur we- Texten wie „Lob der UdSSR“. Schließlich nig Berührungspunkte gesehen zu haben. dann – dramaturgisch eingeleitet über die Vom Kommunismus hatte sie zwar gehört, „Ballade vom Wasserrad“ – Brechts zuneh- vieles aber habe sie recherchieren müssen, mende Skepsis, die einsetzt, als Brecht vom wobei die faktische Grundlage der Texte Ausmaß der Repressionen und der Verhaf- (bspw. bei „Die Teppichweber …“) es ihr tung von Freunden und Bekannten erfährt, einfach gemacht hätte. Senghas sprach von bis hin zu offen kritisch gegenüber dem einer großen politischen Naivität der Texte, Stalinismus zu lesenden Texten wie „Tod die ihn dazu veranlasst habe, sie romanti- eines Genossen“. Den Abschluss bildete das siert vorzutragen. Für Kammerer hatten die um Nachsicht bittende Gedicht „An die Brecht-Texte, die sich auf diese Weise selbst Nachgeborenen“, das – über den üblichen kommentieren würden, etwas immanent Kontext von Exil und Faschismus hinaus – Widersprüchliches, das Brecht allerdings angesichts der insgesamt zurückhaltenden nicht habe wahrhaben wollen: eine große Stellungnahmen Brechts gegenüber den Idee an der Kippe des Nicht-Möglichen. stalinistischen Verbrechen hohe Brisanz ge- Dieses konterkarierende Moment bestätigte wann, auch wenn es in seiner Schutzrheto- Jürgen Beyer, der die in hoher Qualität in- rik unhinterfragt blieb – und für die Revue tonierten Lieder am Klavier begleitete, auch den bewussten Verzicht auf eine abschlie- im Hinblick auf die Vertonungen durch ßende Provokation bedeutete. Die Rezita- Hanns Eisler: ein Lied wie „Lob des Kom- tion der drei Jahrzehnte umspannenden munismus“ sei rührend-naiv, doch einzelne Texte setzte unterschiedliche Kontrapunkte. Töne würden diese Naivität punktuell in Während Leander Senghas ein Gedicht wie Frage stellen. 16 Dreigroschenheft 2/2017
Nachdem am zweiten Abend ausgewählte Tagung Brecht-Gedichte mit teils deutlich kritischen Anspielungen auf Stalin diskutiert wurden (vgl. nachfolgenden Bericht von Michael Friedrichs), folgte am dritten Abend ein Vor- trag von Reinhard Müller, der Brechts Posi- tion zur Sowjetunion und zu Stalin nah an den Quellen (v.a. Schriften, Briefe, Journal- Einträge, Gedichte Brechts) rekonstruierte – kontrastiert mit (zumeist vieldeutigen) Passagen aus dem „Buch der Wendungen“. Als Weichenstellung galt Müller das Jahr 1933. Während Brecht zuvor Distanz zur Kommunistischen Partei und deren lite- rarischen Plattformen (BPRS, „Linkskur- ve“) gewahrt habe (anders als bspw. Georg Lukács und Ernst Ottwalt), habe er sich 1934 zunächst kritisch gegenüber der Fehl- einschätzung und dem Versagen der Partei angesichts der NS-Machtübernahme geäu- Briefmarke 1953 ßert, dann aber kurze Zeit später – auch aufgrund der neuen Volksfront-Politik der den folgenden Jahren. Wie viele Intellektu- Komintern – zu einer starken Verbunden- elle (Walter Benjamin, Theodor W. Ador- heit mit der sowjetischen Politik gefunden. no, …) habe Brecht zwar mit Bestürzung Zwar bleibe Brechts private Einschätzung reagiert, öffentlich aber aus strategischen von Ambivalenzen geprägt. In öffentlichen Gesichtspunkten geschwiegen. Wenn man Stellungnahmen aber habe er sich ab die- Brechts existentielle Lage und Ängste be- sem Zeitpunkt eindeutig zugunsten der rücksichtige, so Müller, sei dieses Schwei- Sowjetunion geäußert, bspw. im 1934 ent- gen realpolitisch von hoher Plausibilität, standenen „Hammer- und Sichel-Lied“ könne allerdings keine moralisch-ethische mit seiner an Formulierungen Stalins an- Qualität für sich beanspruchen. So sprach gelehnten Sprache und martialisch zu deu- Müller von einer „Loyalitätsfalle“, in die tenden Metaphorik (Vorstellung des Staats Brecht immer mehr getappt sei und die sich als Gärtner, der Unkraut jätet, d. h. Abwei- bspw. in Äußerungen zeige, in denen Brecht chungen und Ambivalenzen auslöscht). den Schauprozessen, zumindest ansatzwei- Im Hinblick auf Brechts Rolle bei seiner se, eine politische Plausibilität zuerkannt zweiten Moskau-Reise sprach Müller von habe, insofern sich die Sowjetunion gegen einem „embedded writer“, der gegenüber politische Verschwörer wehren müsse. Im den politischen Missständen blind gewesen letzten Drittel seines Vortrag ging Müller sei. Eine spürbare Verschärfung würden die dem Schweigen Brechts angesichts der Ver- – unveröffentlicht gebliebenen – gegen An- haftungen von Freunden und Bekannten dré Gides Reisebericht „Retour d’U.R.S.S.“ nach und wiederholte seine im Band „Caro- gerichteten Texte Brechts dokumentieren. la Neher, gefeiert auf der Bühne, gestorben Brechts Affirmation der Sowjetunion er- im Gulag“ bereits publiziert vorliegenden klärte Müller aus der von Brecht strategisch Ausführungen, innerhalb derer auch die zuerkannten Bedeutung der Sowjetunion ursprünglich im Programm angekündigten im Kampf gegen den Faschismus. Das gelte unbekannten Dokumente schon zitiert auch angesichts der Moskauer Prozesse in sind. Dreigroschenheft 2/2017 17
In ihrer Respondenz wies Sabine Kebir eben diesen, inzwischen sechzehn Jahre Tagung u. a. auf die Transkriptionen der Gespräche zurückliegenden Vortrag. Abschließend Hans Bunges mit Ruth Berlau hin, die da- diskutierte Rohrwasser drei Beispiele po- rin ausgeführt habe, dass Brecht immer litischer Gebrauchslyrik Brechts. Dessen wieder versuchte, sich für Carola Neher Gedicht „Der Ammiflieger“, das die Kar- einzusetzen. Darüber hinaus versuchte sie toffelkäfer-Legende des Kalten Krieges Verständnis dafür zu wecken, dass Brecht, ernst nehme, der zufolge die USA für die statt das Wort gegen Stalin zu ergreifen, Missernten der DDR verantwortlich seien, sich selbst am Leben und unbeschadet habe verglich Rohrwasser mit der Propaganda halten müssen. Ohnehin sei die Frage der der Nationalsozialisten, die gleiches über Moral insofern problematisch, als eine sol- die Juden behauptete. Zum „Herrnburger che Frage beispielsweise US-Autoren auch Bericht“ bemerkte Rohrwasser knapp, dass nicht gestellt werde im Hinblick auf Hiro- es für die einfältig gereimten Verse dieser shima oder den Genozid an der indigenen Dichtung keines Brecht gebraucht hätte. Bevölkerung der USA. Letzteres verstand Besondere Aufmerksamkeit lenkte er auf Hans Christoph Buch, der im Publikum das Langgedicht „Die Erziehung der Hirse“, saß und Sabine Kebir scharf angriff, als in dem Stalin zum großen Ernteleiter er- eine unzulässige moralische Relativierung nannt werde und es offensichtlich sei, dass Brechts. Ihm galt die Rolle Brechts als Bei- die Gesellschaft umerzogen werden solle. spiel für ein seiner Meinung nach generelles Das Gedicht sei eine stalinistische Lobprei- Versagen der deutschen Linken und Intel- sung aus der Feder von Brecht, das kaum lektuellen gegenüber der Sowjetunion und verschlüsselt die Ausrottung von Menschen dem Stalinismus – im Vergleich zu André lobpreise, um den Neuen Menschen zu er- Gide, der in seinem Moskau-Reisebericht schaffen. Rohrwassers Fazit lautete, dass das klare Worte gefunden habe. In die gleiche Bild des taktisch zurückhaltenden, schwei- Richtung zielte auch Wolfgang Thierse, der genden Brecht korrigiert werden müsse, da ebenfalls im Publikum anwesend war: Da er sich in den DDR-Jahren laut und deut- Brecht selbst voller Moral gewesen sei, wäre lich auf die Seite Stalins gestellt habe, un- es irritierend, dass Frau Kebir ihn einer geachtet dessen, dass er im „Journal“ und moralischen Beurteilung entziehen wolle. für die Schublade weiterhin seiner Abscheu Gerade auch bezogen auf die späteren Jah- Ausdruck gegeben habe. re in der DDR müsse bei Brecht, so Thierse weiter, von einem „intellektuellen Versa- Dieter Henning sah sich in seiner Respon- gen“ gesprochen werden: Brecht sei schlicht denz vor das Problem gestellt, dass er die feige gewesen. von Rohrwasser aufgerufenen lyrischen Gebrauchstexte nicht mit der Komplexität Michael Rohrwasser eröffnete seinen Vor- anderer Gedichte Brechts vergleichbar fand, trag am vierten Abend mit einem Zitat die ein weit ambivalenteres Bild Brechts Hermann Kestens, der Brecht Anfang der zeigen würden. In diesem Zusammenhang 1960er Jahre polemisch als einen „Diener verwies er auf die von ihm diskutierten Ge- der Diktatur“ verunglimpft hatte, und er- dichte am zweiten Abend der Brecht-Tage. innerte an den Aufschrei, den sein eigener Das abfällige Urteil über Brechts „Erzie- Vortrag bei den Brecht-Tagen im Jahre 2000 hung der Hirse“ hingegen teilte Henning. zum Thema „Rot gleich braun?“ ausgelöst hatte, als er Brechts Verhältnis zum Stali- Der abermals im Publikum anwesende nismus mit dem von Gottfried Benn zum Hans Christoph Buch reagierte geradezu Nationalsozialismus verglich. Gut die Hälf- euphorisch auf die Demontage Brechts, te seines weiteren Vortrags zitierte dann wie er sie an diesem Abend auch ange- 18 Dreigroschenheft 2/2017
sichts des Vortrags von Rohrwasser im tischen Avantgarde beleuchtete. Eingangs Tagung Brecht-Haus erleben würde, selbst wenn sprach Annett Gröschner über Sergej Tret- sie seiner Meinung nach Jahrzehnte zu spät jakow, seine Poetik des Faktischen und zeit- komme. Darüber hinaus problematisierte genössische Ansätze, daran anzuknüpfen. er Brechts Bezugnahme auf den Terminus Brecht habe Tretjakow anerkennend (wie der „Produktion“, ein Begriff, den Buch übrigens auch Ezra Pound) seinen „Lehrer“ alleine schon deshalb für problematisch genannt. Selbst wenn man Brechts Stellung- hielt, da er aus der Ökonomie auf die Li- nahmen und sein Gedicht zum Tod Tret- teratur übertragen worden sei. Überhaupt jakows in politischer Hinsicht als zurück- sei die ‚Brechtsche List‘, so Buch, als Intel- haltend werten müsse, habe es nicht viele lektuellen-Modell für die DDR verheerend Intellektuelle gegeben, die seiner überhaupt gewesen, denn sie stehe für Schweigen und gedachten. Tretjakow sei Vertreter einer Li- Nichts-an-die-große-Glocke-Hängen. B. K. teratur des Faktischen gewesen, gegenüber Tragelehn, der ebenfalls im Publikum saß, der sich dann jedoch der Sozialistische Rea- sah sich durch die Äußerungen und Vor- lismus durchgesetzt habe. Unter zeitgenös- würfe Hans Christoph Buchs persönlich sischen Autoren könne man bspw. Swetlana angegriffen. Er problematisierte eine vor- Alexijewitsch, Literaturnobelpreisträgerin schnelle moralische Bewertung des Ver- des Jahres 2015, in seine Tradition einrei- haltens von Brecht und hielt dagegen, dass hen, denn ihr gehe es gleichfalls darum, die größeren historischen Zusammenhänge eine Epoche der Kollektivität zu zeichnen und Bewegungen nicht aus dem Blick ge- und den Punkt auszuloten, wo Leben zu raten dürften, also Stalin als politische Ge- Literatur wird. Ebenfalls der Ästhetik Tret- genkraft zu Hitler. In bestimmten Verhält- jakows verbunden seien Alexander Kluge, nissen, so Tragelehn, müsse auf bestimmte W. G. Sebald und Gabriele Goettle. Auch Art agiert werden, was auch Buch noch ler- für sie selbst, so Gröschner, sei Tretjakows nen müsse. Das umstrittene Gedicht „Die Methode kollektiven Erzählens eine wich- Erziehung der Hirse“ verbuchte Tragelehn tige Referenz, d. h. Stimmen zum Sprechen unter dem Motto „Kleine Geschenke er- zu bringen, die sonst kein Gehör finden. halten die Freundschaft“. Weitere Stimmen Trotz dieser zeitgenössischen Versuche, im Publikum wiesen darauf hin, dass Hitler Tretjakow in die Gegenwart zu transportie- das für Brecht allem anderen übergeord- ren, habe sich seine Romanpoetik, die Welt nete Problem gewesen sei, so dass er Stalin anhand einer Biografie der Dinge zu erklä- und den Stalinismus verdrängt habe – was ren, jedoch nicht durchgesetzt. Anders sähe später zum Problem in der DDR geworden es bei den Sachbüchern aus. Als Beispiele sei. Darüber hinaus wurde angemerkt, dass zählte sie Bücher wie den „Reisebericht die Passage des „Hirse“-Gedichts, in der es eines T-Shirts“ oder auch die Reihe Stoff- um die Ausrottung des Unkrauts geht, hi- geschichten des oekom-Verlags auf. Ferner storisch im Hinblick auf die Ausrottung des nannte Gröschner Ansätze der Objekt-Ge- Faschismus in Deutschland nach 1945 kon- schichte, bekannt etwa „Eine Geschichte textualisiert werden müsse, also nicht auf der Welt in 100 Objekten“. Den Abschluss die massenhafte Ermordung von Menschen bildete der Ausblick auf ein eigenes, in Ar- durch stalinistischen Terror verengt werden beit befindliches Projekt Gröschners: ein könne, sondern größeren metaphorischen Roman über die bereits aus ihrem Roman Spielraum biete. „Walpurgistag“ bekannte Trude Menzinger, erzählt anhand der stofflichen Hinterlas- Der letzte Tag der Brecht-Tage war für einen senschaften dieser Figur. Workshop reserviert, der Brechts Verhältnis zu den Literaten und Künstlern der sowje- Nach einer kurzen Hörprobe aus dem Dreigroschenheft 2/2017 19
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