Informationen zu Bertolt BrecHt - Dreigroschenheft
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Dreigroschenheft Informationen zu Bertolt Brecht 28. Jahrgang Heft 1/2021 Jürgen Kuttner zum digitalen Brechtfestival 2021 (foto) Dokumentiert: Gespräch Dr. Bunge – Paula Banholzer 1960 Verteidigung des Filmproduzenten Seymour Nebenzahl Brecht und Jakob van Hoddis’ „Weltende“
Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Zwei sehr verschiedene Neuerscheinungen Impressum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 möchten wir kurz anzeigen (und verspre- chen, sie im nächsten Heft zu besprechen, Brechtfestival Rezensenten haben sich bereits gefunden): Spektakel digital – wie geht das? Fragen an die Macher des Brechtfestivals. . . . 3 Der Augsburger Brechts erste Liebe: Therese Ostheimer, (1) Mit Unterstützung eine Schülerin des Englischen Instituts. . . . . 5 des Bertolt-Brecht-Ar- chivs wurde die letzte, Helmut Gier die „unvollendete“ Pro- „Gespräch zwischen Bi Bannholzer (Paula benarbeit Brechts, von Groß) und Dr. Bunge über Bertolt Brecht der fast 100 Stunden Tonbänder existieren, am 9. und 10. Dezember 1960 in Augsburg“ durchforscht und von (BBA Z 3/22-40). . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 dem Regisseur Stephan Suschke zu einem zwei- Film stündigen Hörstück zusammengestellt und „Denn wahrlich, er wird Sie heimsuchen“: kommentiert, dazu ein Booklet in Anleh- Eine Verteidigung des jüdischen nung an die Modellbücher. Brecht probt Galilei 1955/56 – Ein Mann, der keine Zeit Filmproduzenten Seymour Nebenzahl mehr hat. 3 CDs + Booklet, erschienen bei gegen Joachim Lang, Bertolt Brecht & Co.. . . . . 21 Speak low, ISBN 978-3-940018-96-0, 25 €. Helmut G. Asper (2) Jürgen Hillesheim, Leiter der Augsbur- Lyrik ger Brecht-Forschungsstätte, hat der langen Liste seiner Bücher ein weiteres Opus hin- Bertolt Brechts Vom armen B. B. als zugefügt, eine Sammlung und Interpretati- Fortführung von Jakob van Hoddis’ Weltende . 38 on des Baum-Motivs in Brechts Lyrik: Jür- Felix Latendorf gen Hillesheim, „Immer unbändiger die Lust, noch Rezensionen größer zu werden …“ Das Motiv des Baumes in der Literaturhinweis: Rheumatisches Fieber?. . . . 8 Lyrik Bertolt Brechts. Zwei neue Brecht-Interpretationen von Brecht – Werk und Kon- Lackerschmid/Schlesinger . . . . . . . . . . . 49 text Band 10-2020, Kö- nigshausen & Neumann, Happy End? Happy End. . . . . . . . . . . . . 51 ISBN 978-3-8260-7097-6, Joachim Lucchesi 44 €. ¶ Dreigroschenheft 1/2021
Editorial Impressum In Zeiten einer sehr verbreitet erzwun- Dreigroschenheft genen Spontaneität von Veranstaltungs- Informationen zu Bertolt Brecht Ankündigungen/Absagen grenzt es an he- Gegründet 1994 roische Entschlussfreude, verbunden mit Herausgeber 1994-2009: Kurt Idrizovic Weitsicht, Schmerzresistenz und kreativer www.dreigroschenheft.de Furchtlosigkeit, dass bereits Ende Novem- ber die Leiter des Augsburger (bzw. darauf- Erscheint vierteljährlich zu Quartalsbeginn Einzelpreis: 7,50 € hin weltweit erreichbaren) Brechtfestivals, Jahresabonnement: 30,- € Jürgen Kutter und Tom Kühnel, mit dem neuen Augsburger Kulturreferenten Jürgen Anschrift: Enninger überein kamen, das kommende Wißner-Verlag GmbH & Co. KG Brechtfestival (26.2.–7.3.2021) von einem Im Tal 12, 86179 Augsburg Telefon: 0821-25989-0 geplanten Spektakel Nr. 2 radikal umzu- www.wissner.com planen und umzuwandeln zu einem #di- redaktion@dreigroschenheft.de gitalbrecht. Und Jürgen Kuttner, der Stress vertrieb@dreigroschenheft.de entweder nicht kennt oder darin aufblüht, fand sogar noch Zeit, unsere Fragen zu be- Bankverbindung: Wißner-Verlag GmbH & Co. KG Stadtsparkasse Augsburg antworten – vielen Dank! Swift-Code: AUGSDE77 IBAN: DE15 7205 0000 0000 0282 41 Gerhard Gross, Sohn von Paula Banholzer, und die Erben von Hans Bunge haben uns Redaktionsleitung: Michael Friedrichs (mf) erlaubt, ein bisher unveröffentlichtes Do- Wissenschaftlicher Beirat: Dirk Heißerer, Tom Kuhn, kument abzudrucken, ein frühes Interview Joachim Lucchesi, Werner Wüthrich Bunge/Banholzer (1960). Autorinnen und Autoren in dieser Ausgabe: Helmut G. Asper hat detailliert nachver- Helmut G. Asper, Hans Bunge, Michael Friedrichs, folgt, wie ein jüdischer Filmproduzent im Helmut Gier, Jürgen Kuttner, Wolfgang Lackerschmid, Felix Latendorf, Joachim Lucchesi, Stefanie Schlesinger Dreigroschenfilm-Zusammenhang negativ verzerrt dargestellt wurde. Titelbild: Jürgen Kuttner (links) und Tom Kühnel im Foyer der Brechtbühne Augsburg (Foto: Fabian Schreyer) Helmut Gier hat neue Informationen zur ersten Liebe Brechts, Therese Ostheimer, Druck: WirmachenDruck GmbH, Backnang zusammengetragen. ISSN: 0949-8028 Felix Latendorf hat einen Bezug von Brecht zu Jakob van Hoddis herausgefunden. Gefördert durch die Stadt Augsburg Und das ist noch nicht alles – lesen Sie wohl! ¶ Gefördert durch den Bert Brecht Kreis Michael Friedrichs Augsburg e.V. Dreigroschenheft 1/2021
BrechtFestival Spektakel digital – wie geht das? Fragen an die Macher des Brechtfestivals • Die Würfel sind gefallen, am 24. Novem- „Brecht-Stadt“ noch stärker außerhalb zu ber meldete die Lokalpresse: Das Brecht- verorten. Und nicht zuletzt ist dieses For- festival 2021 wird komplett digital. Was mat, das ja ein wenig an einen Adventska- waren die Beweggründe? lender erinnert („jeden Tag ein neues Tür- chen …“), zwar sehr aufwendig (es ist ja im Es ist der Versuch, Planbarkeit herzustel- Grunde ein eigenes künstlerisches Projekt), len in Zeiten, in denen die Politik nur „auf aber die positiven Rückmeldungen, das In- Sicht“ fährt. Das können wir uns nicht lei- teresse, zeigen, dass es sich lohnt, so etwas sten. Im Festival arbeiten wir ja mit vielen zu machen. Künstlern zusammen, die Planungssicher- heit brauchen. Uns schien es auch unver- • Es sollte eigentlich ein großes Spektakel antwortlich, einfach so weiter zu planen, am Gaswerk werden, ähnlich wie letztes um dann im Februar eventuell feststellen Jahr im Martinipark. Geht Spektakel zu müssen, dass eine Präsenzveranstal- digital? tung nicht möglich ist. Und dann im letz- ten Moment auf Digitalität und Streaming Nein! Nein! Nein! Wie macht man in einer umzuschalten, wäre künstlerisch und auch Fernbeziehung Kinder?! Die avanciertesten vom Aufwand her nicht zu vertreten. Es digitalen Medien, die raffiniertesten Apps geht uns nicht zuletzt um einen verantwor- können die persönliche Präsenz, das face- tungsvollen Umgang mit Steuergeldern. to-face, die Berührung, die vom Warten Den letzten Ausschlag gab die Absage des schmerzenden Beine, das erwartungsfrohe Christkindlesmarktes in Augsburg … Summen in einem Theaterraum, kurz be- vor es losgeht, nicht ersetzen. Aber nichts • Wie lief die Abstimmung zwischen Kul- zu machen ist keine Alternative oder wie es turreferat und Festivalleitung? in einem Telegramm des österreichischen Generalstabs im ersten Weltkrieg hieß: Die Sehr gut und verständnisvoll. Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst! In- sofern: We’ll try our very best! • Ihr habt ja schon insofern vorgebaut, als ihr seit Anfang September täglich einen • Was bedeutet der Wechsel ins Digitale Brecht-Appetithappen im „Arbeits- finanziell, einerseits für die Kalkulation, journal“ des Festivals anbietet, auf der andererseits für die Besucher*innen? Homepage und in den sozialen Medien. Das Budget, mit dem wir arbeiten, hat sich Diese Idee ist zum einen aus der Vorahnung nicht verändert. Was wir zur Verfügung entstanden, dass die sommerliche Corona- gehabt hätten, um ein analoges Festival zu Idylle trügt und wir uns (und natürlich die machen, nehmen wir jetzt für die digitale Interessenten und potentiellen Besucher) Ausgabe. Mit dem schönen Nebeneffekt, auf ein im Netz präsentiertes Festival vor- dass deutlich mehr Mittel in die künstle- bereiten sollten. Zum anderen ist es auch rische Produktion fließen als in kostspielige die Chance, das Festival und Augsburg als Hygienemaßnahmen. Die Besucher*innen Dreigroschenheft 1/2021
BrechtFestival können für einen kleinen, einstelligen Obo- in den allermeisten Fällen auf eine netzba- lus einen Festivalpass erwerben, mit dem sierte, digitale Präsentationsform umzuori- sie alle Inhalte des Festivals durchstöbern entieren. So kann man darauf gespannt sein können. Zusätzlich wollen wir Konferenz- – was sich die Beteiligten haben einfallen formate anbieten, an denen man kostenlos lassen. Jedenfalls werden wir nicht einfach teilnehmen kann. Bühnenpräsentation abfilmen … • Was sind die Hauptattraktionen, soweit • Wie wird man teilnehmen können? das jetzt schon feststehen kann? Im Netz. Auf jeden Fall auf: www.brechtfe- Die Hauptattraktionen sind natürlich stival.de, wir bemühen uns aber auch um Brecht und die Frauen, mit denen er Bett andere Kanäle. In dieser Hinsicht ist ja das und Schreibtisch teilte! Ich nenne hier nur: Augsburger Staatstheater deutschlandweit Margarete Steffin, Elisabeth Hauptmann, ein wirklicher Vorreiter. Vielleicht können Ruth Berlau und Helene Weigel. Ansonsten wir da noch die eine oder andere Anregung bin ich ja ein entschiedener Feind der in „übernehmen“. letzter Zeit so verbreiteten Ranking- und Bestsellerlisten, und von daher will ich dazu • Vielen Dank, toitoitoi, und: Man sieht nichts sagen! Wir werden, wie beim letzten sich. ¶ Mal, „pro-minente“ und „kontra-minente“ Künstler*innen dabei haben. Auf jeden Fall (Die Fragen stellte Michael Friedrichs, geant- aber ist es uns gelungen, die Künstler*innen, wortet hat Jürgen Kuttner, Stand: 30.11.2020) die wir für das Spektakel angefragt hatten, Dreigroschenheft 1/2021
Brechts erste Liebe: Therese Ostheimer, Der Augsburger eine Schülerin des Englischen Instituts Helmut Gier Die ersten Mädchen, um die der junge derum den Anstoß zu meiner Veröffentli- Brecht in Augsburg warb, Therese Osthei- chung eines Briefs Brechts an Therese Ost- mer und Maria Rosa Amann, waren beide heimer vom Juli 1916, des ersten erhaltenen Schülerinnen des Englischen Instituts. Diese Liebesbriefs von ihm und zugleich längsten Schule war die dem Elternhaus Brechts am Briefs, den er in seinem Leben schreiben nächsten gelegene Höhere Mädchenschule, sollte, zusammen mit einem begleitenden an der er zudem jeden Tag auf seinem Weg Aufsatz „Der Gymnasiast Brecht und seine zum Realgymnasium vorbeikam. Daran erste Liebe“ in derselben Literaturzeitschrift lässt sich ablesen, wie klein die Welt des da- 1988. Es waren dies überhaupt die ersten mals, im Jahr 1916, immerhin schon acht- autobiografischen Zeugnisse aus dem wich- zehnjährigen Brecht noch war. Nachdem tigen Jahr 1916, in dem Brecht bekanntlich im letzten „Dreigroschenheft“ Maria Rosa zum ersten Mal den Verfassernamen „Bert Amann, das Mädchen, mit dem Brecht erst- Brecht“ verwendete. Bis heute ist im üb- mals eine engere Beziehung einging, und rigen nur ein einziges weiteres Selbstzeug- ihr familiäres und schulisches Umfeld breit nis Brechts aus diesem Jahr hinzugekom- dargestellt wurden, soll daran anknüpfend men, ein von mir veröffentlichter Brief vom an Therese Ostheimer erinnert werden und, 16. Dezember 1916 an den damals in Augs ergänzt um kleinere Details, auf dem heu- burg wirkenden städtischen Kapellmeister tigen Stand des Wissens ihr Ausbildungs- und Komponisten Carl Ehrenberg. und Lebensweg knapp umrissen werden. Der Jugendfreund des jungen Augsburger Hanns Otto Münsterer widmete in seinem Dichters Hanns Otto Münsterer sah in ihr 1963 erstmals erschienenen Buch „Bert „Brechts erste, allerdings unerwiderte Lie- Brecht. Erinnerungen aus den Jahren 1917– be“. 22“ dem Werben Brechts um Therese Ost- heimer vergleichsweise viel Raum – mehr Ins volle Licht der Öffentlichkeit trat The- als der Beziehung zu Paula Banholzer! –, ob- rese Ostheimer erst durch die Veröffent- wohl er Brecht erst im Herbst 1917 kennen- lichung der Tagebuchaufzeichnungen lernte. Aus Diskretion nannte er aber nur Brechts vom 10. bis 22. Oktober des Jahres den Vornamen von Therese Ostheimer und 1916 zusammen mit einem Kommentar bezeichnete sie ansonsten immer nur als die „Brecht im Gehäuse“ durch den dama- „schöne Gärtnerin“ nach ihrem Wohnort ligen Leiter des Brecht-Archivs Gerhard in der Gartenstraße 19. Hanns Otto Mün- Seidel in der Zeitschrift „Sinn und Form“ sterer wurde mit dem Werben Brechts um im Jahre 1986. Denn im Mittelpunkt dieser dieses Mädchen deshalb vertraut, da der Aufzeichnungen steht die Beschwörung der am 12. April 1900 geborene jüngere Bruder verzehrenden Sehnsucht nach der „kleinen Therese Ostheimers, Karl, sein Klassenka- Ostheimer“: „Aber ich musste die kleine merad am Humanistischen Gymnasium bei Ostheimer sehen oder ihre stillen Augen, St. Anna war und er dadurch Zutritt in das denn ich muss wieder etwas haben, an das Elternhaus hatte. Brecht nutzte diese Ver- ich den ganzen Tag und die ganze Nacht bindung sofort aus, um dem Mädchen wie- denken kann.“ Diese Publikation gab wie- der – letztlich ohne Erfolg – nachzustellen. Dreigroschenheft 1/2021
Der Augsburger Zeugnis 1912, vor dem Übertritt an die Lehrerinnenbildungsanstalt (Archiv Institut Augsburg) Er ließ seinen Freund ein Zusammentreffen Hanns Otto Münsterer als streng katholisch im Theater vermitteln und ihr im Septem- beschrieben, so sollte der Sohn Karl Pfarrer ber 1917 das Gedicht „Romantik“ zustel- werden. Die weitere schulische Laufbahn len, das „im Gedenken an diese erste und der sehr guten Schülerin Therese verlief im scheue Liebe“, so Münsterer, entstanden Gegensatz zu der von Maria Rosa Amann ist. Das umworbene Mädchen muss einen ganz geradlinig. Am 19. September 1909 trat tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben, sie an die Höhere Mädchenschule des Eng- denn noch am 15. April 1919 erzählt Brecht lischen Instituts über, nach der Absolvie- Hanns Otto Münsterer von seinen Bemü- rung von drei Klassen konnte sie im Herbst hungen um ihre Gunst. 1912 an die Lehrerinnenbildungsanstalt am Englischen Institut übertreten, da dafür die Die am 1. November 1898 geborene The- Vollendung des 13. Lebensjahrs die Voraus- rese Ostheimer gehörte demselben Jahr- setzung war. Wie ihre ältere, am 17. Juni gang 1898 an wie Brecht, sie war somit fast 1897 geborene Schwester Marie Ostheimer drei Jahre älter als Maria Rosa Amann. Ein zwei Klassen über ihr durchlief sie die sechs dreiviertel Jahr jünger als der im Februar vorgeschriebenen Klassen und schloss ihre geborene Brecht, wurde sie ein Jahr später Ausbildung im Sommer 1918 ab. Ihre er- als dieser am 1. September 1905 eingeschult ste Stelle als Aushilfslehrerin bekam sie in (wahrscheinlich in der in der Nähe der Gar- Scheffau im Allgäu, heute ein Gemeindeteil tenstraße gelegenen St.-Anna-Volksschule). von Scheidegg, von dort kehrte sie nach den Ihr Vater war Königlicher Postverwalter, amtlichen Aufenthaltsbescheinigungen am die Atmosphäre im Elternhaus wird von 5. Februar 1919 ins Augsburger Elternhaus Dreigroschenheft 1/2021
Ein Foto der Abschlussklasse der Lehrerinnen- Der Augsburger bildungsanstalt am Englischen Institut in der Frauentorstraße 1918. Zwei Kreuze über den Köpfen bezeichnen Therese Ostheimer (rechts) und Anna Kratzer, geb. Sedlmeyr (links). Frau Kratzer überließ als 88-Jährige das Foto der „Augsburger Allgemeinen“ für den Abdruck am 14. Februar 1987. zurück, um als Schulamtsbewerberin auf eine neue Stelle zu warten, die sie erst im April 1920 in Neuburg an der Donau erhielt. Im Sommer 1919 machte Therese Ostheimer einen Besuch in einem Lehrerhaus in Kimratshofen, wo ihr erzählt wurde, dass eine Augsburger Arzttochter dort bei der Hebamme Walburga Frick untergebracht war und bis nach ihrer Niederkunft dort bliebe. Therese Ostheimer erfuhr da- mit, dass Paula Banholzer von Brecht ein uneheliches Kind erwartete, was vor der Augsburger Gesellschaft ver- borgen bleiben sollte. Deshalb veranlasste geben konnten. Darunter befand sich auch Brecht Ernestine Müller, die Cousine sei- die Klassenkameradin Anna Kratzer, geb. nes Freundes Rudolf Hartmann, Therese Sedlmeyr, die noch ein Foto der Abschluss- Ostheimer zu schreiben, sie möge doch klasse am Englischen Institut mit ihrer über die „unglückselige Kimratshofener Mitschülerin besaß. Vom 1. Mai 1924 bis Geschichte“ Stillschweigen bewahren, da 30. September 1932 unterrichtete Therese „das Unglück für Frl. B. und ihre Familie Ostheimer an der Volksschule in dem nahe … groß genug“ sei, und wenn es bekannt Memmingen gelegenen Ort Westerheim, würde, wäre es „bei der Bosheit der Leute später war sie bis zu ihrer Pensionierung für die Familie B. sehr schrecklich“. Seit Fe- Lehrerin in Heimertingen, ebenfalls bei bruar 1919 hielt sich Therese Ostheimer das Memmingen. Dort verbrachte sie auch als ganze Jahr über wieder in ihrer Heimatstadt Oberlehrerin im Ruhestand ihre letzten auf. So konnte es im Jahr 1919 noch einmal Jahre bis zu ihrem Tod am 18. Mai 1977. Sie zu einem Treffen mit Brecht in Gesellschaft blieb wie ihre Schwester Maria unverheira- kommen: „Wir unterhielten uns, aber wir tet und kinderlos, wie das gemäß dem bis spürten, ohne Aussprache, dass wir nicht 1951 geltenden Lehrerinnen-Zölibat von mehr zusammenkommen dürfen. Wir sa- einem „Fräulein Lehrerin“ auch erwartet hen uns nie mehr.“ wurde. Die Berichte über Veröffentlichungen der Spät um die Mitte des Jahres 1916 scheint Tagebuchaufzeichnungen und des Briefs Brecht ein ernsthafteres Interesse an der in der „Augsburger Allgemeinen“ riefen Gunst des weiblichen Geschlechts ent- Zeitzeugen auf den Plan, die über den Le- wickelt zu haben; die Gymnasialzeit ging bensweg von Therese Ostheimer Auskunft schon zu Ende, als er im Frühjahr 1917 Dreigroschenheft 1/2021
zum ersten Mal Zärtlichkeiten mit einem Literatur Der Augsburger Mädchen, wohl Maria Rosa Amann, aus- Bertolt Brecht: Tagebuchaufzeichnungen 1916, in: Sinn tauschte. Mit dem Werben um zwei Schü- und Form 38 (1986), S. 1133–1135. lerinnen des Englischen Instituts beginnt diese Phase in der Entwicklung des jungen Gerhard Seidel: Brecht im Gehäuse, in: Sinn und Form Dichters, in der er meist gleichzeitig meh- 38 (1986), S. 1136–1141. reren Mädchen aus dem Augsburger Bür- Bertolt Brecht: Brief an Therese Ostheimer, in: Sinn und gertum nachstellt und sich in sie verliebt. Form 40 (1988), S. 5–7. Zum überwiegenden Teil besuchen sie die Höheren Töchterschulen der Stadt, There- Helmut Gier: Der Gymnasiast Brecht und seine erste se Ostheimer und Maria Rosa Amann das Liebe, in: Sinn und Form 40 (1988), S. 8–15. Englische Institut, Paula Banholzer die Ma- Hanns Otto Münsterer: Bert Brecht. Erinnerungen aus ria-Theresia-Oberschule, Marietta Neher den Jahren 1917–22, Zürich 1963, S. 120–123. das Stetten-Institut und Ernestine Müller St. Ursula. Der Ausdruck von Brechts Ge- Therese Ostheimer: Brief an Bibliotheksdirektor Dr. fühlswelt ihnen gegenüber schwankt dabei Bellot, Heimertingen, den 13.11.1975, Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. zwischen zärtlicher, sentimentaler Emp- findsamkeit und verletzender Rohheit. Die- Günter Ott: Bitte um Audienz bei der schönen Gärtne- ser Zeitabschnitt endet nach vier Jahren im rin, in: Augsburger Allgemeine, 14. Februar 1987, Winter 1920/21, als er eine Affäre mit der S. 7. Opernsängerin Marianne Zoff beginnt. Als Günter Ott: Noch einmal Brechts ‚Gärtnerin‘, in: Augs- er einige Jahre später der Schauspielerin burger Allgemeine, 21. Februar 1987, S. 20. Helene Weigel begegnet, dominiert auch in seinen Liebesbeziehungen die Welt des Helmut Gier: Brechts erste Begegnung mit einem Kom- Theaters. Die Augsburger Jugendzeit als ponisten und Dirigenten. Tod und Verklärung in Bürgerschreck, in der er zugleich schon seinen Gedichten aus dem Jahr 1916. in: Andrea Student in München ist, geht damit end- Bartl / Antonie Magen (Hrsg.): Auf den Schultern des Anderen. Festschrift für Helmut Koopmann gültig zu Ende, nur in einigen von Brechts zum 75. Geburtstag, Paderborn 2008, S. 133–143 aussagekräftigsten Selbstzeugnissen und [darin auf S. 134 Brechts Brief an Carl Ehrenberg schönsten Gedichten klingt sie nach. ¶ vom 16.12.1916]. Literaturhinweis: postuliert. Ausgehend vom heutigen rheuma- Rheumatisches Fieber? tologischen Wissensstand lässt sich aus den vorliegenden Dokumenten nicht ableiten, Prof. Dr. med. Henning Zeidler, Medizi- dass Brecht sicher ein rheumatisches Fieber nische Hochschule Hannover, hat bei der hatte. […] Eine mögliche psychosomatische Zeitschrift für Rheumatologie einen Artikel Genese durch funktionelle Herzbeschwerden „Bertolt Brecht. Hatte er wirklich ein rheu- muss selbst dann postuliert werden, wenn eine matisches Fieber?“ eingereicht, der soeben zeitweise vorangegangene organische Ursache veröffentlicht wurde: Z Rheumatol 2020 nicht ausgeschlossen werden kann. […] Sein - 79: 1050-1056, https://doi.org/10.1007/ Tod infolge einer bakteriellen Endokarditis s00393-020-00846-8. In der Zusammenfas- mit Nachweis von Coli-Bakterien infolge eines sung schreibt der Autor: urologischen Eingriffs mit nachfolgenden Fie- […] Wegen Herzbeschwerden und neuro- berschüben und Pyelonephritis ist durch die muskulärer Symptome in seiner Jugend wurde Auswertung ärztlicher Dokumente belegt und bei ihm retrospektiv ein rheumatisches Fieber zweifelsfrei nachvollziehbar. ¶ Dreigroschenheft 1/2021
„Gespräch zwischen Bi Bannholzer (Paula Gross) Der Augsburger und Dr. Bunge über Bertolt Brecht am 9. und 10. Dezember 1960 in Augsburg“ (BBA Z 3/22-40) Gerhard Gross, der in Augsburg lebende ihn natürlich vorher nicht und wußte nicht, Sohn von Paula Groß, geb. Banholzer, und daß er Brecht kennt. ihrem Ehemann Hermann Groß, hat uns auf die Existenz eines noch unveröffentlich- Bunge: Er hieß damals auch noch nicht ten Tonbands aufmerksam gemacht, das im Müllereisert, nicht wahr? Bertolt-Brecht-Archiv Berlin liegt: Ein Inter- Groß: Er hieß Otto Müller. Er hat sich view von Paula Groß, 1960 geführt von Hans den Namen ja erst später dazugeben las- Bunge – also deutlich vor Werner Frisch, der sen, weil er immer empört war über den sein im Juni 1966 mit ihr geführtes Gespräch Namen Müller. Und wehe, wenn wir den erst 1975 veröffentlichte. Hans Bunge war Namen Müllereisert zu nennen vergaßen! von 1956 bis 1962 Leiter des Bertolt-Brecht- Ich habe am Anfang oft noch Müller ge- Archivs. Wir haben vom Archiv Berlin eine sagt; dann hat er dafür auch meinen Na- digitalisierte Version des Tonbands sowie den men nur halb genannt als Rache. Bei mei- Scan einer Schreibmaschinenabschrift erhal- ner Bekanntschaft mit ihm handelte es sich ten (BBA Z 3/22-40). Die Abschrift ist gegen- damals um ein Pfand; er wollte eigentlich über dem Tonband geringfügig redigiert und einen Finderlohn, weil eine Freundin von es sind einige handschriftlichen Korrekturen mir etwas verloren hatte. Wir haben dar- eingetragen, jedoch wurden Schreibfehler bei über verhandelt, und während wir die Stra- Namen („Bannholzer“, „Hack“) und Auslas- ße entlanggegangen sind, stand drüben auf sungen von unverstandenen Worten nicht der anderen Seite ein anderer Gymnasiast. nachgebessert. Wir dokumentieren den Text Der winkte ihn zu sich hinüber, und beide der Abschrift unkorrigiert; einige Anmer- haben zusammen gesprochen. Brecht frag- kungen sollen das Verständnis erleichtern. te dabei (das hat er mir später erzählt) den Die Rechte liegen zu gleichen Teilen bei den Müllereisert: ‚Wer ist dieses Mädchen?‘ Der Erben der damaligen Interviewpartner: Wir sagte: ‚Das ist die Bannholzer‘, und Brecht danken für die großzügige Genehmigung. meinte darauf: ‚Das sage ich dir gleich, (mf) damit du es weißt: das Mädchen möchte ich haben.‘ (Die genauen Worte weiß ich Bunge: Frau Groß, können Sie mir bitte natürlich nicht.) Daraufhin hat Müller- erzählen, wie Sie Brecht kennengelernt ha- eisert tatsächlich mich dem Brecht sozu- ben? sagen überlassen. Was mir natürlich gar Groß: Es ist ja schon sehr, sehr lange her, nicht recht war, denn mir hat ja Müllerei- und ich muß mich etwas zusammenneh- sert besser gefallen. Lange Zeit hat dann men, damit ich das auch genau erzähle. Ich Brecht versucht, mich kennenzulernen, war damals ungefähr 15 Jahre alt – wenn und ich habe es immer verstanden (auch ich es überhaupt schon ganz war; ich weiß meine Freundinnen sind mir zu Hilfe ge- nicht mehr genau. Ich ging zur Schule, und kommen), auszuweichen. Es kam die Eis- es war damals schon so, daß die Schüler der laufzeit und da habe ich mich verstecken anderen Schulen nach den Mädchen (nach können – die anderen haben aufgepaßt, uns) geblinzelt haben; auf diese Weise wur- wenn er gekommen ist, und ich bin davon. de ich bekannt mit Müllereisert. Ich kannte Das ist über ein Jahr so gegangen, bis wir Dreigroschenheft 1/2021
richtig bekannt waren. Da hat er es auf fol- Mark ich weiß nicht mehr genau. Er hat Der Augsburger gende Weise fertig gebracht, daß er mich es nicht bezahlt, war aber immer auf dem eines Tages angesprochen hat und sagte, Eislaufplatz. Den Mann, der die Billette sein Freund Heini Hack (?) möchte mich kontrollierte, hat er einmal in ein Gespräch gerne kennenlernen. Da wußte er eben verwickelt und gesagt: ‚Ich beobachte ganz genau, daß ich dem ja genauso einen schon längst Ihre Menschenkenntnis; daß Korb geben werde wie allen anderen, aber Sie jedem ansehen, ob er ohne Karte hier er sagte sich (und das hat er mir gegenüber hereinkommen will, und jeden abfassen. später auch zugegeben): wenn ich auch Woran sehen Sie denn das?‘ Da sagte der: sage, daß ich den Heini Hack (?) nicht ken- ‚Das weiß ich schon, wenn einer so zögert, nenlernen will, ist er jedenfalls mit mir ins hin- und herläuft und immer schaut, dann Gespräch gekommen, und auf diese Weise weiß ich schon, der hat keine Karte und ist er mit mir bekannt; er kennt mich und will rein.‘ Brecht hatte ja auch keine Karte kann immer noch mit mir gehen. Und das und wollte nur mit dem bekannt werden, war auch so. Er ist dann einfach auf mich damit er sieht: Ach ja, der kommt ja im- zugekommen und hat ‚Grüß Gott‘ gesagt. mer. Und so ist er auch immer ohne Karte Ich habe dann auch nicht den Mut gehabt, aufs Eis gegangen. Er hat gewußt, daß ich noch was zu sagen, und so sind wir näher auf dem Eisplatz bin, und dachte, da kann bekannt geworden. Wir waren dann viel in er mich erwischen. diesen Lech-Auen, die er ja so liebte, oder Erstens ist er nicht so gut gelaufen, daß mir in dem berühmten Kauzlgäßchen (?) – das so viel Freude gemacht hätte, und au- das ist ja am Englischen Institut und dürfte ßerdem hat es mir noch mehr Freude ge- bald nach ihm benannt werden, denn da macht, ihm davonzulaufen – na ja, das war haben wir immer unser Stelldichein ge- vielleicht ein bißchen Widerspruchsgeist. habt. Es war gerade die Mitte des Weges Meine Freundinnen haben immer mitge- von ihm zu mir. holfen: sie haben mich verständigt, wenn er gekommen ist. Dann habe ich mich Bunge: Ihre Eltern wohnten nicht hier? versteckt und wenn er dann in dem Auf- Groß: Wir wohnten im Mittleren (?) Kreuz, enthaltsraum gesucht hat, bin ich wieder und Brecht wohnte in der Bleichstraße. Er aufs Eis rausgegangen. Das haben wir lange kam mir dann ein Stück entgegen, und ich so getrieben. Ab und zu bin ich natürlich ihm. Dann war es natürlich so, daß man da schon mit ihm gefahren. Aber so arg war nicht so gesehen wurde, ich war ja noch in mir nicht daran gelegen. der Schule und durfte mich gar nicht mit ihm treffen, das mußte alles ganz heimlich Bunge: Aber seine Chancen sind dann ge- gehen. stiegen? Groß: Ja, allmählich schon; weil er ange- Bunge: Sie erzählten das letzte Mal noch, fangen hat, zu sprechen. Und in diesem wie er versucht hat, auf der Eisbahn an Sie Moment hatte er gewonnen. Er konnte so heranzukommen. intensiv auf einen einsprechen! Er konnte Groß: Das habe ich eigentlich vorhin schon stundenlang sprechen, und ich habe mei- erwähnt. Er hat ja damals schon erzählt, stens nichts gesagt. Da habe ich dann doch wie er es gemacht hat, daß er überhaupt gemerkt, daß das ein ganz interessanter auf den Eisplatz gekommen ist, ohne etwas Mensch ist, und da habe ich ihn dann auch zu bezahlen. Denn da war man abonniert, lieber gewonnen. und das Abonnement kostete 3 oder 5 Heiner Hagg. Bunge: Das war ungefähr, als Sie 17 waren? Neues Kautzengäßchen. 10 Dreigroschenheft 1/2021
Groß: Ja, ich glaube. Er ist vier Jahre älter Groß: Ja, das kann stimmen. Das war übri- Der Augsburger gewesen. gens sehr nett: Ich habe das Kochen gelernt in Augsburg, in der „Tiroler Weinstube“. Da Bunge: Und Müllereisert hat also verzichtet, hat Brecht mal gesagt, daß er eines Tages wie es mit dem Freund ausgemacht war? mit dem Dr. Brüstle kommt, und ich solle Groß: Wir sind schon miteinander be- ihnen zeigen, was ich kochen kann. Dann freundet gewesen und zusammengekom- haben sie sich Pfannkuchen bestellt, Ome- men. Aber Müllereisert kam mir damals lette, die ich machen sollte. Ich hatte natür- vor, als ob er Brecht völlig hörig gewesen lich Angst und ließ das die Köchin machen. wäre: er hat alles getan, was Brecht von Die hat gleich fünf Eier genommen für je- ihm verlangte. So war es ja auch bei Cas den (also etwas, was man sonst gar nicht Neher. Der war damals in München, und macht); die sind so hoch geworden! Beide Brecht ist nach Berlin gekommen. Ich waren natürlich ganz überrascht über diese weiß noch, wie Brecht zu mir gesagt hat, wunderbaren Omelette, und ich hatte sie Cas solle auf gut Glück einfach mitgehen gar nicht gemacht! und seine Stellung in München aufgeben. So habe ich ja den Dr. Brüstle noch öfter ge- Er wußte ja gar nicht, ob er in Berlin et- sehen, aber näher kannte ich ihn natürlich was bekommt, aber er hat es tatsächlich auch nicht. auch getan auf Brechts Rat hin. Das war natürlich gut für ihn, aber das wußte er ja Bunge: Der Dr. Bayerl gehörte nicht eigent- damals noch gar nicht. lich zu den engen Freunden dazu? Groß: Nein. Ich kannte ihn schon durch Bunge: Wer gehörte sonst noch zu der Brecht, aber weiß nicht mehr woher. Aber Freundesgruppe, die Sie damals kennenge- Brecht war nie befreundet mit ihm. lernt haben? Groß: Da war vor allem der Georg Pfan- Bunge: Was hatte Brecht für eine Meinung zelt. über ihn? Groß: Dazu will ich mich lieber nicht äu- Bunge: Kann man sagen, daß das sein be- ßern; ich weiß das nicht so genau. ster Freund war? Groß: Ja, das kann man sagen. Dann war Bunge: Sie haben sich dann ja regelrecht in da noch einer, den ich nicht nennen möch- Brecht verliebt? te; ich glaube, er liebt es nicht, genannt zu Groß: Ja. Allmählich habe ich ihn auch werden. zuhause vorgestellt, obwohl meine Eltern es nicht haben wollten. Er hat dann doch Bunge: Als Freund Brechts zur damaligen umgesattelt: er hatte doch zuerst Philoso- Zeit? Ja. Aber dann gehörte ja Hartmann phie studiert und meinte dann, daß mein noch dazu. Vater es vielleicht eher genehmigt, daß ich Groß: Ja. Mit dem war ich weniger zusam- mit ihm bekannt bin, wenn er auch Medizin men. Eine lange Zeit hat Brecht auch mit studiert. Wenigstens hat er das mir so ge- dem Dr. Brüstle verkehrt, der Redakteur bei sagt (ich weiß ja nicht, ob es stimmte), und der Münchener „Abendzeitung“ war. dann hat er umgesattelt. Bunge: Brüstle hat mal einen Artikel ge- Bunge: Ihr Vater war Arzt? schrieben über die Bekanntschaft mit Groß: Ja. Er hat meinen Vater ja sehr ge- Brecht; er meint, daß er der erste Entdecker schätzt. Wenn er bei uns eingeladen war Brechts war insofern, als er die ersten Ge- und mein Vater sprach, sagte Brecht öfter dichte von Brecht veröffentlicht hat. zu mir, so etwas Herrliches könne man Dreigroschenheft 1/2021 11
Wort für Wort niederschreiben, so gut spre- Bunge: Brecht hatte ja ziemlich bald ein ei- Der Augsburger che mein Vater. Aber es war eigentlich ganz genes Zimmer. einfach; er hat ja auch etwas geschriftstel- Groß: Ach, das hatte er ja schon immer. Das lert, aber nur auf medizinischem Gebiet. war oben, so ein Dachzimmer; zwei Fenster gingen zur Frühlingsstraße raus. Das war Bunge: Gab es bestimmte Themen, die die seine „Bude“, wo er alle seine Freunde emp- beiden dann miteinander besprochen ha- fangen hat. Da hat er sogar meinen zwei ben? Brüdern mal Nachhilfestunden gegeben Groß: Daran kann ich mich jetzt nicht mehr im Französischen. Ich habe mich schon ge- entsinnen. Es war lediglich, daß mein Vater wundert, daß es jetzt so oft heißt, er wäre vielleicht aus seiner Jugendzeit erzählte oder schlecht gewesen im Französischen. Das überhaupt solche Sachen. Aber die Themen könnte ich nie behaupten, denn er hat sehr könnte ich jetzt nicht mehr nennen, es ist gut gesprochen und meinen Brüdern (die zu lange her. auch in seiner(?) Klasse waren) die Nach- hilfestunden sehr gut gegeben. Ich war nie Bunge: Haben Sie Brechts Elternhaus ken- der Meinung, daß er da schlecht war. Er hat nengelernt? doch auch sogar schon Übersetzungen im Groß: Ja. Ich habe die Mutter noch gekannt, Französischen gemacht. die dann gestorben ist; 1920 glaube ich. Ich war vorher noch bei ihr, als sie schon sehr Bunge: Wie sah es in seinem Zimmer aus? krank war. Sie hat mir damals sehr leid ge- Groß: Ach Gott, ein Durcheinander war das! tan, denn sie war ja immer ans Bett gefes- Ein paar Masken waren drin, Totenmasken. selt. Brecht hat seine Mutter sehr geliebt. Ziemlich einfach, aber alles voll Schriften und Papieren. Mich wunderte, daß er noch Bunge: Was bestand für ein Verhältnis zum was gefunden hat. Er hat oft gesagt, daß ihm Vater? mitten in der Nacht plötzlich was einfällt, Groß: Das war auch gut. was er dann sofort aufschreiben muß, damit er es nicht wieder vergißt. Deshalb muß bei Bunge: Er war doch auch sicher eine große ihm alles griffbereit daliegen. Er hat schein- Respektsperson für Brecht? bar viel in der Nacht geschrieben. Groß: Also die Mutter mochte er ja lieber. Der Vater war halt ein richtiger Kaufmann Bunge: So lange Sie ihn kannten, hat er im- und hat ihn zuerst ja nicht verstanden, sei- mer geschrieben? ne Art zu schreiben. Aber ich habe den Va- Groß: Ja. ter später gesprochen, als Brecht die Staats- angehörigkeit aberkannt wurde. Da hat er Bunge: Waren Sie manchmal dabei, wenn er alles getan, um das zu verhindern. Da hat dichtete? er mir dann gesagt, daß er sehr einverstan- Groß: Doch. Er hat auch z.B. TROMMELN den ist mit der Art, wie er schreibt. Das war IN DER NACHT mit mir sehr gut durch- viel später. Aber am Anfang hat er gesagt besprochen. Er hat es mir auch gewidmet. (das hat Brecht mir selbst erzählt): ‚Mußt Es war vielleicht von ihm natürlich ein Höf- du so schreiben, ist das nötig?‘ Da war er lichkeitsakt, als er sagte, ich hätte ihm dazu nicht dafür. viele Gedanken gegeben. Dieses Rollen des Zuges, das man am Anfang hört, habe ich Karl Banholzer hat 1913 eine Dissertation an der ihm wohl vorgeschlagen, aber ich muß Universität München über das Thema „Der Einfluß des Nichtstillens auf das Schicksal der Neugebore- laut Tonband, durch Nebengeräusch schwer ver- nen“ im Augsburger Verlag Haas & Grabherr veröf- ständlich: „die auch im Gymnasium waren“. Ihre fentlicht. Brüder waren jünger als Paula. 12 Dreigroschenheft 1/2021
sagen, daß es nicht sehr viel war. Er sagte, Marianne erwartet von Brecht ein Kind. Da Der Augsburger weil ich so viel Vorschläge dabei gemacht war ich doch überrascht und sagte: Soviel hätte, hat er mir die TROMMELN IN DER ich weiß, bin ich mit ihm verlobt. Er sagte NACHT gewidmet. dann: ‚Fahren Sie sofort rüber, das müssen wir jetzt gleich klären.‘ Wir sind dann mit Bunge: Er nannte Sie immer Bi. Wie kam dem Zug hingefahren, er hat gleich einen denn der Name zustande? Wagen genommen (Marianne war an der Groß: Das kam durch folgendes: er hat Bahn), und dann haben wir Brecht in Mün- mich verglichen und sagte, ich sei eigentlich chen gesucht. Marianne und ich sind in die bittersüß; das kürzte er dann ab, Bi ist die Kammerspiele gegangen, und er hat solange Abkürzung von bittersüß. ‚bittersweet‘ hat in einem Lokal gewartet. Wir haben Brecht er damals eigentlich gesagt. auch tatsächlich da aufgetrieben und gesagt, daß wir ihn sprechen möchten. Wir haben Bunge: Dieser Name galt nur für ihn, oder uns dann mit ihm in einem Café in der Nähe bürgerte er sich überhaupt ein? getroffen. Marianne hat dann angefangen Groß: Nein, das hat niemand sonst gesagt. und gesagt: ‚Also, wen von uns beiden willst du heiraten?‘ Er war ziemlich verdattert (ich Bunge: Denn ich habe Sie ja eigentlich nur habe schon fast wieder Mitleid gehabt) und deshalb wiedererkannt, weil die Frau von sagte: ‚Alle beide‘. Wir waren gar nicht lan- dem Vetter ‚Bi‘ sagte. ge drin, es war alles sehr kurz; Marianne ist Groß: Ja, die wissen das auch noch. Es kann dann aufgestanden und hat gesagt: ‚Ich will schon sein, daß auch die Freunde so sagten, dich nicht mehr‘. Ich stand auch sofort auf; aber sonst hat mich niemand so genannt; er hat mich noch halten wollen. Aber ich das war nur der Name für Brecht. Wie er bin sofort weggegangen und sagte ‚Nein‘; sich auch von mir Bidi nennen ließ; ich dann sind wir beide davongegangen. Wie weiß nicht, ob andere je zu ihm Bidi sagten, ich dann abends heimgefahren bin (wir wa- so wollte er nur von mir genannt sein. ren noch eine Stunde zusammen und haben zu Abend gegessen), sagte Marianne: ‚Das Bunge: Und wie kam der Name zustande? weiß ich ja bestimmt, daß der mit Ihnen Haben Sie ihn erfunden? nach Augsburg rüberfährt und Sie wieder Groß: Nein, das wollte er schon so haben. rumkriegen will.‘ Ich sagte: ‚Das kann doch Aber woher der kam, das kann ich jetzt nicht nicht möglich sein.‘ Als ich dann im Zug mehr sagen. Das weiß ich nicht mehr. saß (es war ein Schnellzug; die Türen waren zu und das ganze Abteil besetzt), dauerte Bunge: Sie erzählten mir das letzte Mal die es keine zehn Minuten, als Brecht schon an Geschichte, als er in München war und Sie der Tür erschien und mir ein Zeichen gab, in Augsburg, und als die Marianne auf- ich solle rauskommen. Ich habe natürlich tauchte. strikt den Kopf abgewandt und zum Fenster Groß: Das war ja damals zuerst sehr unan- hinausgesehen. Er ist weiter draußen ste- genehm und war mir auch peinlich. Aber es hengeblieben, und so oft ich nur den Kopf mußte gemacht werden, denn wenn plötz- gedreht habe gab er mir sofort ein Zeichen, lich zwei Bräute da sind, dann muß das ge- daß ich rauskommen soll, denn er konnte klärt werden. Jedenfalls hat mich der Ver- ja nicht gut rein, weil er dann das mit mir lobte von der Marianne in Augsburg auf- nicht hätte besprechen können. Aber ich gesucht und mich gebeten, sofort mit ihm bin auf dem ganzen Weg von München ein- nach München zu fahren, um festzustellen, fach nicht rausgegangen; ich habe gedacht: wer eigentlich der richtige Verlobte ist. Er nein, jetzt ist es aus, ich will von ihm nichts sagte, er sei mit Marianne verlobt, aber die mehr wissen, Schluß. Als ich dann in Augs- Dreigroschenheft 1/2021 13
burg ausgestiegen bin, hat er mich natürlich gemacht und aufgesetzt; die Marianne hat Der Augsburger abgefangen und mich gebeten, ich möchte unterschrieben, und wir haben unterschrie- ihn doch wenigstens anhören; soviel müß- ben. Ich bin dann aber, allerdings später, te ich doch noch für ihn übrig haben, daß mal zu meinem Rechtsanwalt gegangen ich ihn anhöre. Wir sind dann in Augsburg und habe ihm den Vertrag gezeigt. Da hat gleich in die Halle am Bahnhof gegangen; er gesagt: So einen Vertrag gibt es ja gar wir haben uns in das Restaurant gesetzt, nicht, das kann man ja gar nicht vertraglich und da hat er mir nachher sein Leid geklagt. festlegen.‘ Aber das wußte ich nicht (und er Er sagte, daß er doch nur mich heiraten wahrscheinlich auch nicht); das haben wir will und die Marianne niemals, das käme nicht gewußt, und wir waren ja noch sehr gar nicht in Frage. ‚Die Marianne mag ich jung. nicht, sie ist so böse; ich weiß genau, daß Es stand jedenfalls fest, daß er die Marianne ich mich mit ihr nicht vertragen kann; sie heiratet und daß er sich dann so bald wie will natürlich haben, daß ich sie wegen dem möglich (wenn das Kind da ist) scheiden Kind heirate, aber ich kann es nicht‘, hat er läßt. Er hat sich zwar scheiden lassen, aber gesagt und hat mich natürlich wieder weich inzwischen hat er ja schon wieder die Hele- gekriegt. Das muß im November gewesen ne Weigel gekannt. sein, weil er dann ausgerechnet hat: im Februar heiraten wir dann. Ich habe dann Bunge: Aber er hat Sie ja trotzdem doch nie aber später erfahren, daß er Marianne ein loslassen wollen? Telegramm geschickt hat mit dem Inhalt: Groß: Nein, er hat mich nie aufgeben wol- ‚Herzliche Grüße‘ (oder so etwas), ‚Hanne- len. Inzwischen hatte ich doch meinen Peter‘. Das war so zu verstehen: wenn das Mann kennengelernt; jedenfalls wurde mir Kind ein Mädchen wird, heißt es Hanne, auch von zuhause gesagt, ich solle doch wenn es ein Junge wird, heißt es Peter. Das einen anderen Mann heiraten, etwas So- hat mir später die Marianne erzählt. lides, etwas anderes als diesen Brecht, auf den doch kein Verlaß sei; ich wurde eben Bunge: Das Telegramm hat er noch von sehr beeinflußt, so daß ich mir selbst ge- Augsburg abgeschickt? dacht habe, daß es vielleicht besser ist, Groß: Ja, das müßte eigentlich noch am wenn ich einen anderen heirate. Er und gleichen Abend abgeschickt worden sein. mein Mann sind sich dann mal gegenüber- Und zu mir hat er so gesagt. gestanden und hatten einen stundenlangen Ich wußte das natürlich nicht und war jetzt Kampf, wen ich jetzt heiraten soll. Mein der Meinung, daß alles in Ordnung ist. Aber Mann hat sich wahnsinnig aufgeregt und schon etwas später ist er wieder gekommen hat ihm immer vorgehalten: ‚Was wollen und hat gesagt: ‚Die Marianne tritt nicht denn Sie überhaupt, Sie sind ja verheiratet!‘ zurück. Sie besteht darauf, daß ich sie hei- Dann sagte Brecht: ‚Das ist eine Sache, die rate. Ich muß es jetzt machen, damit das zwischen uns beiden schon geklärt ist. Je- Kind einen Namen hat. Aber ich möchte denfalls soll die Bi sich entscheiden, wenn mich dann scheiden lassen, und dann hei- sie von uns beiden heiratet.‘ Dann mußte raten wir.‘ Ich bin aber nicht recht darauf ich mich entscheiden und habe mich für eingegangen, es ist mir nicht ganz geheuer Brecht entschieden. Mein Mann war dann vorgekommen. Da hat er gesagt, daß er es natürlich wahnsinnig gekränkt. Brecht mir schriftlich gibt, wir würden folgenden mußte noch am selben Abend nach Berlin, Vertrag machen: er würde jetzt die Marian- ich habe ihn noch zur Bahn gebracht; das ne heiraten (nur des Kindes wegen), daß war schon um sieben. Dann bin ich wieder sie sich aber danach scheiden lassen, damit nachhause gekommen, und mein Mann hat er mich heiraten kann. Der Vertrag wurde immer noch dagesessen. Er hat geweint und 14 Dreigroschenheft 1/2021
war ganz untröstlich. Ich habe das mitan- sich getroffen; sie hat dann bei uns zuhause Der Augsburger gesehen, meine Mutter hat es mitangesehen angerufen, ich möchte kommen. Da hat sie – wir wußten gar nicht, was wir mit dem mir den Vorschlag von Brecht unterbreitet, Mann überhaupt anfangen sollten. Um halb ich solle nach Berlin kommen. Sie hat auch elf Uhr nachts hat er noch dagesessen. Wir gleich einen Vertrag mitgebracht von einer haben ihm was zu essen angeboten, er hat Bank, die mich aufgenommen hätte (denn nichts angenommen. Es war mir so unange- damals war die große Arbeitslosigkeit); als nehm! Als er endlich gegangen ist, habe ich was ich da fungiert hätte, weiß ich heute gar ihn runterbegleitet. Wir mußten die Treppe nicht mehr, denn ich habe ja keinen Beruf runter und dann noch durch einen Torbo- gelernt. Es war alles geregelt, aber ich war gen durch. Da mußte ich aufsperren, und doch zu feige, so etwas zu machen. Es war dabei hat er mich dann so umgestimmt, daß mir zu ungewiß, denn: er war mit der Wei- es mir dann doch leid getan hat, und da bin gel noch nicht verheiratet damals. ich wankelmütig geworden. Was ich mir ja selbst nicht verzeihe, daß ich so wankelmü- Bunge: Mit der Marianne nicht mehr, aber tig sein konnte. Aber das war vielleicht bloß mit der Weigel noch nicht, und Sie holte er immer die dumme Gutmütigkeit. Ich habe nun noch dazu. Und dann gab er Ruhe, als dann zu meinem Mann gesagt: ‚Na ja, dann Sie dann nicht kamen? heirate ich halt dich‘ und mußte dem Brecht Groß: Er kam dann des öfteren nach Augs- dann wieder abschreiben. burg und hat mich aufgesucht, d.h. er ist vielmehr zu meiner Schwester hingegan- Bunge: Und was hat Brecht dann gemacht? gen und hat versucht, daß meine Schwe- Groß: Es war das erste Mal, daß ich eine ster mich zu sich holt, weil er sich in meine Zeit lang nichts von ihm gehört habe. Wohnung nicht getraut hat wegen meinem Wahrscheinlich hat er soviel zu tun gehabt, Mann. Er war auch bei meinem Bruder, der daß er mit anderen Dingen beschäftigt war. es möglich machen sollte, daß er mich zu Jedenfalls weiß ich nicht mehr genau, wie er sehen bekommt. Das war dann für mich so sich verhalten hat. Oder er hat sich gedacht etwas Riskantes – mein Mann war ja so ei- (wie immer): Ach, wenn ich nach Augsburg fersüchtig und auf Brecht so furchtbar böse. komme, werde ich das schon wieder hin- Wenn der irgend etwas gemerkt hätte! Er hat kriegen. Dann würde er mich schon wieder mir nämlich strikt erklärt: ‚Ich sage dir das umstimmen können. Und das hat er ja auch gleich, wenn ich den dabei erwische, daß er immer wieder versucht. kommt und dir nachstellt – ich erschieße ihn, darauf kannst du dich verlassen.‘ Ich Bunge: Er hat ja trotz allem (auch trotz Ih- habe das auch geglaubt – ob er es gemacht rer Heirat) nicht auf Sie verzichten wollen? hätte, weiß ich ja nicht. Jedenfalls habe ich Groß: Nein. 4 Wochen vor der Heirat ist ja es geglaubt und habe mir dann gedacht: auch die Frau Weigel nach Augsburg gekom- Nein, ich darf das nicht machen. Und dann men und wollte mich nach Berlin holen. Da habe ich ihm tatsächlich gesagt, er möchte habe ich das nicht mehr machen können; doch nicht mehr kommen. ich konnte meiner Mutter das nicht antun. Denn Brecht wollte alle beisammen haben. Bunge: Ihr Mann hat dann ja leider auch die ganzen Briefe von Brecht vernichtet und die Bunge: Das hat er sein ganzes Leben lang Bilder. so gemacht. Die Weigel hatte er beauftragt, Groß: Die Briefe will ich nicht sagen: da Sie zu holen? hat schon meine Mutter damals den Fehler Groß: Ja. Die Weigel ist gekommen (Mül- gemacht. Das war so eine große Kiste voll, lereisert war dabei). Im „Maxim“ haben sie und sie hat beim Umzug (sie hat ja so vie- Dreigroschenheft 1/2021 15
les gehabt; der Haushalt mußte verkleinert Bunge: Dann war noch so eine schöne Sa- Der Augsburger werden, denn wir hatten erst eine Zehn- che, die Sie mir erzählten: wie Sie ihn ein zimmerwohnung, und dann hat sie einen einziges Mal überlistet haben. viel kleineren Haushalt bekommen) alles Groß: Dabei schneidet er aber nicht gut weggetan, was für sie nicht wichtig war; ab, und ich auch nicht. Ich war eben jung, und gerade meine Briefe hat sie da schon und ich habe so furchtbar gern getanzt. Ich vernichtet. Aber die Fotografien hat mein durfte ja schon von zuhause aus kaum fort Mann alle vernichtet. (ich bin ziemlich streng behütet worden); es war ja damals viel strenger als jetzt, man Bunge: Aber Sie konnten sich beim letz- hat die jungen Mädchen garnicht fortgelas- ten Mal noch an ein Gedicht erinnern, das sen. In München hatte ich zwei Vettern, die Brecht Ihnen aufgeschrieben hat? Musiker waren; sie haben bei einer Kapelle Groß: Das ich im Album hatte, ja. Das muß gespielt. Einer der Vettern kam am Nach- ich sagen; es ist ganz gut, sonst vergesse ich mittag zu mir und wollte mich zu einem das, denn leider hat ja mein Mann diese Tanzabend einladen (Brecht war gerade Seite aus dem Album gerissen, auf der das da). Er sagte: Wie ist es, möchtest du nicht Gedicht stand. Es war so: heute zum Nationaltheater-Café kommen, zu dem ‚Bösen-Buben-Ball‘? (so hieß das). „Wer immer seinen Schuh gespart Ich habe natürlich sofort mit Freuden ‚Ja‘ Dem ward er nie zerfranst gesagt. Als ich zu Brecht hinschaute und Und wer nie müd noch traurig war sein Gesicht sah, dachte ich Um Gottes Wil- Der hat auch nie getanzt. len, das darf ich ja leider nicht! Dann sagte Wir tanzten nie ich: ‚Ach Sepp – leider, es geht doch nicht; Mit mehr Grazie ich kann doch nicht kommen‘, habe dem Als über die Gräber noch. aber mit einem Auge zugezwinkert, damit Gott pfeift die schönste Melodie er weiß: ich komme schon. Er hat das ver- Stets auf dem letzten Loch. standen und hat auch nichts mehr gesagt. Und wenn aus a/Alter/s- Schwäche (?) Brecht hatte nichts gemerkt (meinte ich), sogar und so war das in Ordnung. Endlich ist In Staub zerfällt dein Schuh Brecht gegangen, und ich war eifrig, habe Der grad wie du nur für Fußtritte war mich angezogen und fertiggemacht und War immer noch mehr als du.“ eine Freude gehabt, daß ich endlich auch auf den Ball gehen darf. Nun sind ja mei- Ich hoffe, daß es genau stimmt; jedenfalls ne Vettern dort gewesen, und meine Tante habe ich es nur noch so in Erinnerung. Ich hat es erlaubt. Das hätte sie ja sonst auch glaube schon, daß es genau ist. nicht getan, aber weil die beiden Vettern da waren, hat sie gesagt: ‚Ja, da darfst du ruhig Bunge: Gibt es noch andere Gedichte, die hingehen‘. Dann bin ich hingegangen – da er Ihnen gewidmet hat und an die Sie sich war eine Stimmung!, das hat mir so gut ge- erinnern? fallen, wir haben dann getanzt, und ich bin Groß: Ich weiß nur den „Alten Mann in nur so von einem Arm in den anderen ge- …… (?)“; den kann ich nicht mehr. Ich flogen; das war herrlich für mich. Es wurde weiß jetzt nicht mehr, ob es noch andere gerade eine ……… (?) getanzt (da war ich gab; es kann schon sein, aber momentan vielleicht eine Dreiviertelstunde auf dem weiß ich das garnicht. Française: „ein Kontratanz des 19. Jahrhunderts, also ein Tanz, bei dem die tanzenden Paare nicht für wohl „Der alte Mann im Frühling“, geschrieben sich tanzen, sondern alle miteinander eine Folge von 1919, GBA 13, 136-137. Tanzfiguren ausführen. Solche tänzerischen Gesell- 16 Dreigroschenheft 1/2021
Ball), und auf einmal – schon bei der ersten taler(?) Straße werden wir ungefähr 20 Mi- Der Augsburger Tour – erschien Brecht im Saal und winkte nuten gegangen sein. Wir haben wenig ge- mir, ich solle rauskommen. Da bin ich dann redet. Ich war ein bißchen beleidigt und er ein bißchen bockig geworden und dachte: auch. Dann haben wir uns verabschiedet, nein, immer dieses Befehlen und Nichts- und ich ging also rauf in meine Wohnung. Mir-Gönnen – das mag ich nicht; ich gehe Als ich dann Licht machte, hat mich meine nicht raus, ich möchte die ……… (?) zuen- Tante gehört und sagte: ‚Was ist denn, es ist de tanzen. Immer, wenn wieder eine Tour doch erst elf Uhr, warum kommst du denn vorbei war, hat er gewinkt, ich solle jetzt schon?‘ Da habe ich gesagt: ‚Weißt du, jetzt rauskommen. Aber ich bin nicht gegangen. hat er mich schon wieder geholt, und ich Als aber die ……… (?) zuende war und habe auf den Ball auch wieder nicht gedurft!‘ ich auf meinen Platz gehen mußte, hat er Sie sagte: ‚Ach du armes Mädel, das ist ja mich natürlich abgefangen und gesagt: ‚Ei- allerhand‘. Dann habe ich gesagt: ‚Weißt du nen Moment bitte, ich muß dich sprechen‘. was, Tante, ich gehe jetzt wieder! Ich warte Ich sagte: ‚Ach nein, ich habe gar keine nur, bis der unten fort ist, und dann gehe Lust‘. ‚Bitte, komm jetzt mit mir raus, ich ich wieder zurück‘. Darauf meinte sie: ‚Ja, muß dich unbedingt sprechen‘. Ich dach- das machst du, jetzt gerade, weil er dir gar te, er wird doch nicht wieder irgendetwas nichts gönnt‘. Dann habe ich eine Zeit lang anstellen, und bin halt mit rausgegangen. gewartet, kehrt gemacht und bin wieder ins Draußen sagte er: ‚Ich möchte dich bitten, Nationaltheater-Café gegangen, wo ich na- sofort nachhause zu gehen. Du gehst jetzt türlich mit Freuden empfangen worden bin gleich.‘ Ich sagte: ‚Nein, ich mag nicht.‘ Er: und bis in der Frühe um vier Uhr geblieben ‚Du gehst jetzt mit mir nachhause!‘ Und bin. ich wieder: ‚Nein, ich mag nicht‘. So ist das Das ist das Einzige, was Brecht nicht erfah- eine Zeit lang weiter gegangen, schließlich ren hat; sonst hat er immer alles verhindert sagte er: ‚Wenn du jetzt nicht mit mir gehst, oder mir einen Strich durch die Rechnung ist zwischen uns beiden Schluß.‘ Ich sagte: gemacht. Und das mir das gelungen ist, ‚Gut, dann ist zwischen uns beiden Schluß. freut mich heute noch! Das ist mir schon recht.‘ Denn ich wußte ja genau, daß er nicht Schluß machen wird. Bunge: Er selber tanzte ja so wenig, daß er Er hat dann gemerkt, daß er so auch nicht sicher mit Ihnen nie weggegangen ist? weiter kommt, und sagte: ‚Ich gehe nicht Groß: Doch, einmal. Er wollte gern tanzen; von der Stelle, bevor du nicht mit mir nach- er war doch eigentlich so musikalisch, aber hause gehst‘. Ich kannte ja seinen Dickkopf er hat gar kein Gefühl für Rhythmus geha- und wußte genau, daß er niemals weggehen bt, als ob er die Musik gar nicht gehört hät- würde, bevor ich nicht mitkomme. Ich dach- te; mit dem ist man gar nicht zu Rande ge- te mir, daß ich jetzt irgendetwas tun muß. kommen. Aber einmal sind wir doch zum Während wir noch sprachen, kam einer von Tanzen gegangen, zusammen mit Müllerei- meinen Tänzern heraus und fragte, warum sert. Ich hatte vorher nichts gegessen, wir ich denn nicht mehr käme. Ich sagte: ‚Einen haben dann Wein getrunken, und das war Moment, ich muß nur rasch nachhause ge- für mich natürlich ungewohnt. hen. Es ist etwas bei uns zuhause, aber ich komme gleich wieder‘. Dann sagte ich zu Fortsetzung am 10. Dezember 1960: Brecht: ‚Also gut, ich gehe mit dir nachhau- se‘. Dann sind wir zusammen abgeschoben. Ich hatte, genau wie Bert Brecht und Mül- Vom Nationaltheater-Café bis zur Schwan- lereisert, einen kleinen Schwips bekommen. schaftsspiele waren bis zum Zweiten Weltkrieg be- Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß liebt“ (Wikipedia). ich das gemacht habe; ich habe jedenfalls Dreigroschenheft 1/2021 17
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