Informationen zu Bertolt BrecHt - Dreigroschenheft

 
WEITER LESEN
Informationen zu Bertolt BrecHt - Dreigroschenheft
Dreigroschenheft
      Informationen zu Bertolt Brecht

28. Jahrgang                                    Heft 1/2021

Jürgen Kuttner zum digitalen Brechtfestival 2021 (foto)
Dokumentiert: Gespräch Dr. Bunge – Paula Banholzer 1960
Verteidigung des Filmproduzenten Seymour Nebenzahl
Brecht und Jakob van Hoddis’ „Weltende“
Informationen zu Bertolt BrecHt - Dreigroschenheft
26.2. – 7.3.2021
#digitalbrecht
www.brechtfestival.de
Informationen zu Bertolt BrecHt - Dreigroschenheft
Inhalt

Editorial .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 2   Zwei sehr verschiedene Neuerscheinungen
Impressum.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 2       möchten wir kurz anzeigen (und verspre-
                                                                               chen, sie im nächsten Heft zu besprechen,
Brechtfestival                                                                 Rezensenten haben sich bereits gefunden):
Spektakel digital – wie geht das?
Fragen an die Macher des Brechtfestivals.  .  .  . 3

Der Augsburger
Brechts erste Liebe: Therese Ostheimer,                                        (1) Mit Unterstützung
eine Schülerin des Englischen Instituts.  .  .  .  . 5                         des Bertolt-Brecht-Ar-
                                                                               chivs wurde die letzte,
       Helmut Gier                                                             die „unvollendete“ Pro-
„Gespräch zwischen Bi Bannholzer (Paula                                        benarbeit Brechts, von
Groß) und Dr. Bunge über Bertolt Brecht
                                                                               der fast 100 Stunden
                                                                               Tonbänder existieren,
am 9. und 10. Dezember 1960 in Augsburg“                                       durchforscht und von
(BBA Z 3/22-40).  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 9          dem Regisseur Stephan
                                                                               Suschke zu einem zwei-
Film                                                                           stündigen Hörstück zusammengestellt und
„Denn wahrlich, er wird Sie heimsuchen“:                                       kommentiert, dazu ein Booklet in Anleh-
Eine Verteidigung des jüdischen                                                nung an die Modellbücher. Brecht probt
                                                                               Galilei 1955/56 – Ein Mann, der keine Zeit
Filmproduzenten Seymour Nebenzahl
                                                                               mehr hat. 3 CDs + Booklet, erschienen bei
gegen Joachim Lang, Bertolt Brecht & Co..  .  .  .  . 21                       Speak low, ISBN 978-3-940018-96-0, 25 €.
       Helmut G. Asper
                                                                               (2) Jürgen Hillesheim, Leiter der Augsbur-
Lyrik                                                                          ger Brecht-Forschungsstätte, hat der langen
                                                                               Liste seiner Bücher ein weiteres Opus hin-
Bertolt Brechts Vom armen B. B. als
                                                                               zugefügt, eine Sammlung und Interpretati-
Fortführung von Jakob van Hoddis’ Weltende . 38                                on des Baum-Motivs in Brechts Lyrik: Jür-
       Felix Latendorf                                                         gen Hillesheim, „Immer
                                                                               unbändiger die Lust, noch
Rezensionen                                                                    größer zu werden …“ Das
                                                                               Motiv des Baumes in der
Literaturhinweis: Rheumatisches Fieber?.  .  .  . 8
                                                                               Lyrik Bertolt Brechts.
Zwei neue Brecht-Interpretationen von                                          Brecht – Werk und Kon-
Lackerschmid/Schlesinger .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  49                   text Band 10-2020, Kö-
                                                                               nigshausen & Neumann,
Happy End? Happy End. .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  51                   ISBN 978-3-8260-7097-6,
       Joachim Lucchesi                                                        44 €. ¶

Dreigroschenheft 1/2021
Informationen zu Bertolt BrecHt - Dreigroschenheft
Editorial                                                                           Impressum

In Zeiten einer sehr verbreitet erzwun-       Dreigroschenheft
genen Spontaneität von Veranstaltungs-        Informationen zu Bertolt Brecht
Ankündigungen/Absagen grenzt es an he-
                                              Gegründet 1994
roische Entschlussfreude, verbunden mit       Herausgeber 1994-2009: Kurt Idrizovic
Weitsicht, Schmerzresistenz und kreativer     www.dreigroschenheft.de
Furchtlosigkeit, dass bereits Ende Novem-
ber die Leiter des Augsburger (bzw. darauf-   Erscheint vierteljährlich zu Quartalsbeginn
                                              Einzelpreis: 7,50 €
hin weltweit erreichbaren) Brechtfestivals,   Jahresabonnement: 30,- €
Jürgen Kutter und Tom Kühnel, mit dem
neuen Augsburger Kulturreferenten Jürgen      Anschrift:
Enninger überein kamen, das kommende          Wißner-Verlag GmbH & Co. KG
Brechtfes­tival (26.2.–7.3.2021) von einem    Im Tal 12, 86179 Augsburg
                                              Telefon: 0821-25989-0
geplanten Spektakel Nr. 2 radikal umzu-       www.wissner.com
planen und umzuwandeln zu einem #di-          redaktion@dreigroschenheft.de
gitalbrecht. Und Jürgen Kuttner, der Stress   vertrieb@dreigroschenheft.de
entweder nicht kennt oder darin aufblüht,
fand sogar noch Zeit, unsere Fragen zu be-    Bankverbindung: Wißner-Verlag GmbH & Co. KG
                                              Stadtsparkasse Augsburg
antworten – vielen Dank!                      Swift-Code: AUGSDE77
                                              IBAN: DE15 7205 0000 0000 0282 41
Gerhard Gross, Sohn von Paula Banholzer,
und die Erben von Hans Bunge haben uns        Redaktionsleitung: Michael Friedrichs (mf)
erlaubt, ein bisher unveröffentlichtes Do-
                                              Wissenschaftlicher Beirat: Dirk Heißerer, Tom Kuhn,
kument abzudrucken, ein frühes Interview      Joachim Lucchesi, Werner Wüthrich
Bunge/Banholzer (1960).
                                              Autorinnen und Autoren in dieser Ausgabe:
Helmut G. Asper hat detailliert nachver-      Helmut G. Asper, Hans Bunge, Michael Friedrichs,
folgt, wie ein jüdischer Filmproduzent im     Helmut Gier, Jürgen Kuttner, Wolfgang Lackerschmid,
                                              Felix Latendorf, Joachim Lucchesi, Stefanie Schlesinger
Dreigroschenfilm-Zusammenhang negativ
verzerrt dargestellt wurde.                   Titelbild: Jürgen Kuttner (links) und Tom Kühnel im Foyer
                                              der Brechtbühne Augsburg (Foto: Fabian Schreyer)
Helmut Gier hat neue Informationen zur
ersten Liebe Brechts, Therese Ostheimer,      Druck: WirmachenDruck GmbH, Backnang
zusammengetragen.                             ISSN: 0949-8028

Felix Latendorf hat einen Bezug von Brecht
zu Jakob van Hoddis herausgefunden.                                                Gefördert durch die
                                                                                   Stadt Augsburg

Und das ist noch nicht alles – lesen Sie
wohl! ¶                                                                            Gefördert durch den
                                                                                   Bert Brecht Kreis
                        Michael Friedrichs                                         Augsburg e.V.

                                                                          Dreigroschenheft 1/2021
Informationen zu Bertolt BrecHt - Dreigroschenheft
BrechtFestival
                  Spektakel digital – wie geht das?
                  Fragen an die Macher des Brechtfestivals

• Die Würfel sind gefallen, am 24. Novem-      „Brecht-Stadt“ noch stärker außerhalb zu
  ber meldete die Lokalpresse: Das Brecht-     verorten. Und nicht zuletzt ist dieses For-
  festival 2021 wird komplett digital. Was     mat, das ja ein wenig an einen Adventska-
  waren die Beweggründe?                       lender erinnert („jeden Tag ein neues Tür-
                                               chen …“), zwar sehr aufwendig (es ist ja im
Es ist der Versuch, Planbarkeit herzustel-     Grunde ein eigenes künstlerisches Projekt),
len in Zeiten, in denen die Politik nur „auf   aber die positiven Rückmeldungen, das In-
Sicht“ fährt. Das können wir uns nicht lei-    teresse, zeigen, dass es sich lohnt, so etwas
sten. Im Festival arbeiten wir ja mit vielen   zu machen.
Künstlern zusammen, die Planungssicher-
heit brauchen. Uns schien es auch unver-       • Es sollte eigentlich ein großes Spektakel
antwortlich, einfach so weiter zu planen,        am Gaswerk werden, ähnlich wie letztes
um dann im Februar eventuell feststellen         Jahr im Martinipark. Geht Spektakel
zu müssen, dass eine Präsenzveranstal-           digital?
tung nicht möglich ist. Und dann im letz-
ten Moment auf Digitalität und Streaming       Nein! Nein! Nein! Wie macht man in einer
umzuschalten, wäre künstlerisch und auch       Fernbeziehung Kinder?! Die avanciertesten
vom Aufwand her nicht zu vertreten. Es         digitalen Medien, die raffiniertesten Apps
geht uns nicht zuletzt um einen verantwor-     können die persönliche Präsenz, das face-
tungsvollen Umgang mit Steuergeldern.          to-face, die Berührung, die vom Warten
Den letzten Ausschlag gab die Absage des       schmerzenden Beine, das erwartungsfrohe
Christkindlesmarktes in Augsburg …             Summen in einem Theaterraum, kurz be-
                                               vor es losgeht, nicht ersetzen. Aber nichts
• Wie lief die Abstimmung zwischen Kul-        zu machen ist keine Alternative oder wie es
  turreferat und Festivalleitung?              in einem Telegramm des österreichischen
                                               Generalstabs im ersten Weltkrieg hieß: Die
Sehr gut und verständnisvoll.                  Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst! In-
                                               sofern: We’ll try our very best!
• Ihr habt ja schon insofern vorgebaut, als
  ihr seit Anfang September täglich einen      • Was bedeutet der Wechsel ins Digitale
  Brecht-Appetithappen im „Arbeits-              finanziell, einerseits für die Kalkulation,
  journal“ des Festivals anbietet, auf der       andererseits für die Besucher*innen?
  Homepage und in den sozialen Medien.
                                               Das Budget, mit dem wir arbeiten, hat sich
Diese Idee ist zum einen aus der Vorahnung     nicht verändert. Was wir zur Verfügung
entstanden, dass die sommerliche Corona-       gehabt hätten, um ein analoges Festival zu
Idylle trügt und wir uns (und natürlich die    machen, nehmen wir jetzt für die digitale
Interessenten und potentiellen Besucher)       Ausgabe. Mit dem schönen Nebeneffekt,
auf ein im Netz präsentiertes Festival vor-    dass deutlich mehr Mittel in die künstle-
bereiten sollten. Zum anderen ist es auch      rische Produktion fließen als in kostspielige
die Chance, das Festival und Augsburg als      Hygienemaßnahmen. Die Besucher*innen

Dreigroschenheft 1/2021                                                                       
Informationen zu Bertolt BrecHt - Dreigroschenheft
BrechtFestival

                 können für einen kleinen, einstelligen Obo-     in den allermeisten Fällen auf eine netzba-
                 lus einen Festivalpass erwerben, mit dem        sierte, digitale Präsentationsform umzuori-
                 sie alle Inhalte des Festivals durchstöbern     entieren. So kann man darauf gespannt sein
                 können. Zusätzlich wollen wir Konferenz-        – was sich die Beteiligten haben einfallen
                 formate anbieten, an denen man kostenlos        lassen. Jedenfalls werden wir nicht einfach
                 teilnehmen kann.                                Bühnenpräsentation abfilmen …

                 • Was sind die Hauptattraktionen, soweit        • Wie wird man teilnehmen können?
                   das jetzt schon feststehen kann?
                                                                 Im Netz. Auf jeden Fall auf: www.brechtfe-
                 Die Hauptattraktionen sind natürlich            stival.de, wir bemühen uns aber auch um
                 Brecht und die Frauen, mit denen er Bett        andere Kanäle. In dieser Hinsicht ist ja das
                 und Schreibtisch teilte! Ich nenne hier nur:    Augsburger Staatstheater deutschlandweit
                 Margarete Steffin, Elisabeth Hauptmann,         ein wirklicher Vorreiter. Vielleicht können
                 Ruth Berlau und Helene Weigel. Ansonsten        wir da noch die eine oder andere Anregung
                 bin ich ja ein entschiedener Feind der in       „übernehmen“.
                 letzter Zeit so verbreiteten Ranking- und
                 Bestsellerlisten, und von daher will ich dazu   • Vielen Dank, toitoitoi, und: Man sieht
                 nichts sagen! Wir werden, wie beim letzten        sich. ¶
                 Mal, „pro-minente“ und „kontra-minente“
                 Künstler*innen dabei haben. Auf jeden Fall        (Die Fragen stellte Michael Friedrichs, geant-
                 aber ist es uns gelungen, die Künstler*innen,     wortet hat Jürgen Kuttner, Stand: 30.11.2020)
                 die wir für das Spektakel angefragt hatten,

                                                                                      Dreigroschenheft 1/2021
Informationen zu Bertolt BrecHt - Dreigroschenheft
Brechts erste Liebe: Therese Ostheimer,

                                                                                                  Der Augsburger
eine Schülerin des Englischen Instituts
    Helmut Gier

Die ersten Mädchen, um die der junge             derum den Anstoß zu meiner Veröffentli-
Brecht in Augsburg warb, Therese Osthei-         chung eines Briefs Brechts an Therese Ost-
mer und Maria Rosa Amann, waren beide            heimer vom Juli 1916, des ersten erhaltenen
Schülerinnen des Englischen Instituts. Diese     Liebesbriefs von ihm und zugleich längsten
Schule war die dem Elternhaus Brechts am         Briefs, den er in seinem Leben schreiben
nächsten gelegene Höhere Mädchenschule,          sollte, zusammen mit einem begleitenden
an der er zudem jeden Tag auf seinem Weg         Aufsatz „Der Gymnasiast Brecht und seine
zum Realgymnasium vorbeikam. Daran               erste Liebe“ in derselben Literaturzeitschrift
lässt sich ablesen, wie klein die Welt des da-   1988. Es waren dies überhaupt die ersten
mals, im Jahr 1916, immerhin schon acht-         autobiografischen Zeugnisse aus dem wich-
zehnjährigen Brecht noch war. Nachdem            tigen Jahr 1916, in dem Brecht bekanntlich
im letzten „Dreigroschenheft“ Maria Rosa         zum ersten Mal den Verfassernamen „Bert
Amann, das Mädchen, mit dem Brecht erst-         Brecht“ verwendete. Bis heute ist im üb-
mals eine engere Beziehung einging, und          rigen nur ein einziges weiteres Selbstzeug-
ihr familiäres und schulisches Umfeld breit      nis Brechts aus diesem Jahr hinzugekom-
dargestellt wurden, soll daran anknüpfend        men, ein von mir veröffentlichter Brief vom
an Therese Ostheimer erinnert werden und,        16. Dezember 1916 an den damals in Augs­
ergänzt um kleinere Details, auf dem heu-        burg wirkenden städtischen Kapellmeister
tigen Stand des Wissens ihr Ausbildungs-         und Komponisten Carl Ehrenberg.
und Lebensweg knapp umrissen werden.
Der Jugendfreund des jungen Augsburger           Hanns Otto Münsterer widmete in seinem
Dichters Hanns Otto Münsterer sah in ihr         1963 erstmals erschienenen Buch „Bert
„Brechts erste, allerdings unerwiderte Lie-      Brecht. Erinnerungen aus den Jahren 1917–
be“.                                             22“ dem Werben Brechts um Therese Ost-
                                                 heimer vergleichsweise viel Raum – mehr
Ins volle Licht der Öffentlichkeit trat The-     als der Beziehung zu Paula Banholzer! –, ob-
rese Ostheimer erst durch die Veröffent-         wohl er Brecht erst im Herbst 1917 kennen-
lichung der Tagebuchaufzeichnungen               lernte. Aus Diskretion nannte er aber nur
Brechts vom 10. bis 22. Oktober des Jahres       den Vornamen von Therese Ostheimer und
1916 zusammen mit einem Kommentar                bezeichnete sie ansonsten immer nur als die
„Brecht im Gehäuse“ durch den dama-              „schöne Gärtnerin“ nach ihrem Wohnort
ligen Leiter des Brecht-Archivs Gerhard          in der Gartenstraße 19. Hanns Otto Mün-
Seidel in der Zeitschrift „Sinn und Form“        sterer wurde mit dem Werben Brechts um
im Jahre 1986. Denn im Mittelpunkt dieser        dieses Mädchen deshalb vertraut, da der
Aufzeichnungen steht die Beschwörung der         am 12. April 1900 geborene jüngere Bruder
verzehrenden Sehnsucht nach der „kleinen         Therese Ostheimers, Karl, sein Klassenka-
Ostheimer“: „Aber ich musste die kleine          merad am Humanistischen Gymnasium bei
Ostheimer sehen oder ihre stillen Augen,         St. Anna war und er dadurch Zutritt in das
denn ich muss wieder etwas haben, an das         Elternhaus hatte. Brecht nutzte diese Ver-
ich den ganzen Tag und die ganze Nacht           bindung sofort aus, um dem Mädchen wie-
denken kann.“ Diese Publikation gab wie-         der – letztlich ohne Erfolg – nachzu­stellen.

Dreigroschenheft 1/2021                                                                     
Der Augsburger

                 Zeugnis 1912, vor dem Übertritt an die Lehrerinnenbildungsanstalt (Archiv Institut Augsburg)

                 Er ließ seinen Freund ein Zusammentreffen                 Hanns Otto Münsterer als streng katholisch
                 im Theater vermitteln und ihr im Septem-                  beschrieben, so sollte der Sohn Karl Pfarrer
                 ber 1917 das Gedicht „Romantik“ zustel-                   werden. Die weitere schulische Laufbahn
                 len, das „im Gedenken an diese erste und                  der sehr guten Schülerin Therese verlief im
                 scheue Liebe“, so Münsterer, entstanden                   Gegensatz zu der von Maria Rosa Amann
                 ist. Das umworbene Mädchen muss einen                     ganz geradlinig. Am 19. September 1909 trat
                 tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben,                    sie an die Höhere Mädchenschule des Eng-
                 denn noch am 15. April 1919 erzählt Brecht                lischen Instituts über, nach der Absolvie-
                 Hanns Otto Münsterer von seinen Bemü-                     rung von drei Klassen konnte sie im Herbst
                 hungen um ihre Gunst.                                     1912 an die Lehrerinnenbildungsanstalt am
                                                                           Englischen Institut übertreten, da dafür die
                 Die am 1. November 1898 geborene The-                     Vollendung des 13. Lebensjahrs die Voraus-
                 rese Ostheimer gehörte demselben Jahr-                    setzung war. Wie ihre ältere, am 17. Juni
                 gang 1898 an wie Brecht, sie war somit fast               1897 geborene Schwester Marie Ostheimer
                 drei Jahre älter als Maria Rosa Amann. Ein                zwei Klassen über ihr durchlief sie die sechs
                 dreiviertel Jahr jünger als der im Februar                vorgeschriebenen Klassen und schloss ihre
                 geborene Brecht, wurde sie ein Jahr später                Ausbildung im Sommer 1918 ab. Ihre er-
                 als dieser am 1. September 1905 eingeschult               ste Stelle als Aushilfslehrerin bekam sie in
                 (wahrscheinlich in der in der Nähe der Gar-               Scheffau im Allgäu, heute ein Gemeindeteil
                 tenstraße gelegenen St.-Anna-Volksschule).                von Scheidegg, von dort kehrte sie nach den
                 Ihr Vater war Königlicher Postverwalter,                  amtlichen Aufenthalts­bescheinigungen am
                 die Atmosphäre im Elternhaus wird von                     5. Februar 1919 ins Augsburger Elternhaus

                                                                                                    Dreigroschenheft 1/2021
Ein Foto der Abschlussklasse der Lehrerinnen-

                                                                                               Der Augsburger
bildungsanstalt am Englischen Institut in der
Frauentorstraße 1918. Zwei Kreuze über den
Köpfen bezeichnen Therese Ostheimer (rechts)
und Anna Kratzer, geb. Sedlmeyr (links). Frau
Kratzer überließ als 88-Jährige das Foto der
„Augs­burger Allgemeinen“ für den Abdruck am
14. Februar 1987.

zurück, um als Schulamtsbewerberin
auf eine neue Stelle zu warten, die sie
erst im April 1920 in Neuburg an der
Donau erhielt.

Im Sommer 1919 machte Therese
Ostheimer einen Besuch in einem
Lehrerhaus in Kimratshofen, wo ihr
erzählt wurde, dass eine Augsburger
Arzttochter dort bei der Hebamme
Walburga Frick untergebracht war
und bis nach ihrer Niederkunft dort
bliebe. Therese Ostheimer erfuhr da-
mit, dass Paula Banholzer von Brecht
ein un­ehe­liches Kind erwartete, was
vor der Augsburger Gesellschaft ver-
borgen bleiben sollte. Deshalb veranlasste       geben konnten. Darunter befand sich auch
Brecht Ernestine Müller, die Cousine sei-        die Klassenkameradin Anna Kratzer, geb.
nes Freundes Rudolf Hartmann, Therese            Sedlmeyr, die noch ein Foto der Abschluss-
Ostheimer zu schreiben, sie möge doch            klasse am Englischen Institut mit ihrer
über die „unglückselige Kimratshofener           Mitschülerin besaß. Vom 1. Mai 1924 bis
Geschichte“ Stillschweigen bewahren, da          30. September 1932 unterrichtete Therese
„das Unglück für Frl. B. und ihre Familie        Ostheimer an der Volksschule in dem nahe
… groß genug“ sei, und wenn es bekannt           Memmingen gelegenen Ort Westerheim,
würde, wäre es „bei der Bosheit der Leute        später war sie bis zu ihrer Pensionierung
für die Familie B. sehr schrecklich“. Seit Fe-   Lehrerin in Heimertingen, ebenfalls bei
bruar 1919 hielt sich Therese Ostheimer das      Memmingen. Dort verbrachte sie auch als
ganze Jahr über wieder in ihrer Heimatstadt      Oberlehrerin im Ruhestand ihre letzten
auf. So konnte es im Jahr 1919 noch einmal       Jahre bis zu ihrem Tod am 18. Mai 1977. Sie
zu einem Treffen mit Brecht in Gesellschaft      blieb wie ihre Schwester Maria unverheira-
kommen: „Wir unterhielten uns, aber wir          tet und kinderlos, wie das gemäß dem bis
spürten, ohne Aussprache, dass wir nicht         1951 geltenden Lehrerinnen-Zölibat von
mehr zusammenkommen dürfen. Wir sa-              einem „Fräulein Lehrerin“ auch erwartet
hen uns nie mehr.“                               wurde.

Die Berichte über Veröffentlichungen der         Spät um die Mitte des Jahres 1916 scheint
Tagebuchaufzeichnungen und des Briefs            Brecht ein ernsthafteres Interesse an der
in der „Augsburger Allgemeinen“ riefen           Gunst des weiblichen Geschlechts ent-
Zeitzeugen auf den Plan, die über den Le-        wickelt zu haben; die Gymnasialzeit ging
bensweg von Therese Ostheimer Auskunft           schon zu Ende, als er im Frühjahr 1917

Dreigroschenheft 1/2021                                                                   
zum ersten Mal Zärtlichkeiten mit einem              Literatur
Der Augsburger

                 Mädchen, wohl Maria Rosa Amann, aus-                 Bertolt Brecht: Tagebuchaufzeichnungen 1916, in: Sinn
                 tauschte. Mit dem Werben um zwei Schü-                  und Form 38 (1986), S. 1133–1135.
                 lerinnen des Englischen Instituts beginnt
                 diese Phase in der Entwicklung des jungen            Gerhard Seidel: Brecht im Gehäuse, in: Sinn und Form
                 Dichters, in der er meist gleichzeitig meh-             38 (1986), S. 1136–1141.
                 reren Mädchen aus dem Augsburger Bür-                Bertolt Brecht: Brief an Therese Ostheimer, in: Sinn und
                 gertum nachstellt und sich in sie verliebt.             Form 40 (1988), S. 5–7.
                 Zum überwiegenden Teil besuchen sie die
                 Höheren Töchterschulen der Stadt, There-             Helmut Gier: Der Gymnasiast Brecht und seine erste
                 se Ostheimer und Maria Rosa Amann das                   Liebe, in: Sinn und Form 40 (1988), S. 8–15.
                 Englische Institut, Paula Banholzer die Ma-          Hanns Otto Münsterer: Bert Brecht. Erinnerungen aus
                 ria-Theresia-Oberschule, Marietta Neher                 den Jahren 1917–22, Zürich 1963, S. 120–123.
                 das Stetten-Institut und Ernestine Müller
                 St. Ursula. Der Ausdruck von Brechts Ge-             Therese Ostheimer: Brief an Bibliotheksdirektor Dr.
                 fühlswelt ihnen gegenüber schwankt dabei                Bellot, Heimertingen, den 13.11.1975, Staats- und
                                                                         Stadtbibliothek Augsburg.
                 zwischen zärtlicher, sentimentaler Emp-
                 findsamkeit und verletzender Rohheit. Die-           Günter Ott: Bitte um Audienz bei der schönen Gärtne-
                 ser Zeitabschnitt endet nach vier Jahren im            rin, in: Augsburger Allgemeine, 14. Februar 1987,
                 Winter 1920/21, als er eine Affäre mit der             S. 7.
                 Opernsängerin Marianne Zoff beginnt. Als
                                                                      Günter Ott: Noch einmal Brechts ‚Gärtnerin‘, in: Augs-
                 er einige Jahre später der Schauspielerin
                                                                        burger Allgemeine, 21. Februar 1987, S. 20.
                 Helene Weigel begegnet, dominiert auch
                 in seinen Liebesbeziehungen die Welt des             Helmut Gier: Brechts erste Begegnung mit einem Kom-
                 Theaters. Die Augsburger Jugendzeit als                 ponisten und Dirigenten. Tod und Verklärung in
                 Bürgerschreck, in der er zugleich schon                 seinen Gedichten aus dem Jahr 1916. in: Andrea
                 Student in München ist, geht damit end-                 Bartl / Antonie Magen (Hrsg.): Auf den Schultern
                                                                         des Anderen. Festschrift für Helmut Koopmann
                 gültig zu Ende, nur in einigen von Brechts
                                                                         zum 75. Geburtstag, Paderborn 2008, S. 133–143
                 aussagekräftigsten Selbstzeugnissen und                 [darin auf S. 134 Brechts Brief an Carl Ehrenberg
                 schönsten Gedichten klingt sie nach. ¶                  vom 16.12.1916].

                 Literaturhinweis:                                      postuliert. Ausgehend vom heutigen rheuma-
                 Rheumatisches Fieber?                                  tologischen Wissensstand lässt sich aus den
                                                                        vorliegenden Dokumenten nicht ableiten,
                 Prof. Dr. med. Henning Zeidler, Medizi-                dass Brecht sicher ein rheumatisches Fieber
                 nische Hochschule Hannover, hat bei der                hatte. […] Eine mögliche psychosomatische
                 Zeitschrift für Rheumatologie einen Artikel            Genese durch funktionelle Herzbeschwerden
                 „Bertolt Brecht. Hatte er wirklich ein rheu-           muss selbst dann postuliert werden, wenn eine
                 matisches Fieber?“ eingereicht, der soeben             zeitweise vorangegangene organische Ursache
                 veröffentlicht wurde: Z Rheumatol 2020                 nicht ausgeschlossen werden kann. […] Sein
                 - 79: 1050-1056, https://doi.org/10.1007/              Tod infolge einer bakteriellen Endokarditis
                 s00393-020-00846-8. In der Zusammenfas-                mit Nachweis von Coli-Bakterien infolge eines
                 sung schreibt der Autor:                               urologischen Eingriffs mit nachfolgenden Fie-
                      […] Wegen Herzbeschwerden und neuro-              berschüben und Pyelonephritis ist durch die
                      muskulärer Symptome in seiner Jugend wurde        Auswertung ärztlicher Dokumente belegt und
                      bei ihm retrospektiv ein rheumatisches Fieber     zweifelsfrei nachvollziehbar. ¶

                                                                                               Dreigroschenheft 1/2021
„Gespräch zwischen Bi Bannholzer (Paula Gross)

                                                                                                Der Augsburger
und Dr. Bunge über Bertolt Brecht
am 9. und 10. Dezember 1960 in Augsburg“ (BBA Z 3/22-40)

Gerhard Gross, der in Augsburg lebende           ihn natürlich vorher nicht und wußte nicht,
Sohn von Paula Groß, geb. Banholzer, und         daß er Brecht kennt.
ihrem Ehemann Hermann Groß, hat uns
auf die Existenz eines noch unveröffentlich-     Bunge: Er hieß damals auch noch nicht
ten Tonbands aufmerksam gemacht, das im          Müllereisert, nicht wahr?
Bertolt-Brecht-Archiv Berlin liegt: Ein Inter-   Groß: Er hieß Otto Müller. Er hat sich
view von Paula Groß, 1960 geführt von Hans       den Namen ja erst später dazugeben las-
Bunge – also deutlich vor Werner Frisch, der     sen, weil er immer empört war über den
sein im Juni 1966 mit ihr geführtes Gespräch     Namen Müller. Und wehe, wenn wir den
erst 1975 veröffentlichte. Hans Bunge war        Namen Müllereisert zu nennen vergaßen!
von 1956 bis 1962 Leiter des Bertolt-Brecht-     Ich habe am Anfang oft noch Müller ge-
Archivs. Wir haben vom Archiv Berlin eine        sagt; dann hat er dafür auch meinen Na-
digitalisierte Version des Tonbands sowie den    men nur halb genannt als Rache. Bei mei-
Scan einer Schreibmaschinenabschrift erhal-      ner Bekanntschaft mit ihm handelte es sich
ten (BBA Z 3/22-40). Die Abschrift ist gegen-    damals um ein Pfand; er wollte eigentlich
über dem Tonband geringfügig redigiert und       einen Finderlohn, weil eine Freundin von
es sind einige handschriftlichen Korrekturen     mir etwas verloren hatte. Wir haben dar-
eingetragen, jedoch wurden Schreibfehler bei     über verhandelt, und während wir die Stra-
Namen („Bannholzer“, „Hack“) und Auslas-         ße entlanggegangen sind, stand drüben auf
sungen von unverstandenen Worten nicht           der anderen Seite ein anderer Gymnasiast.
nachgebessert. Wir dokumentieren den Text        Der winkte ihn zu sich hinüber, und beide
der Abschrift unkorrigiert; einige Anmer-        haben zusammen gesprochen. Brecht frag-
kungen sollen das Verständnis erleichtern.       te dabei (das hat er mir später erzählt) den
Die Rechte liegen zu gleichen Teilen bei den     Müllereisert: ‚Wer ist dieses Mädchen?‘ Der
Erben der damaligen Interviewpartner: Wir        sagte: ‚Das ist die Bannholzer‘, und Brecht
danken für die großzügige Genehmigung.           meinte darauf: ‚Das sage ich dir gleich,
(mf)                                             damit du es weißt: das Mädchen möchte
                                                 ich haben.‘ (Die genauen Worte weiß ich
Bunge: Frau Groß, können Sie mir bitte           natürlich nicht.) Daraufhin hat Müller-
erzählen, wie Sie Brecht kennengelernt ha-       eisert tatsächlich mich dem Brecht sozu-
ben?                                             sagen überlassen. Was mir natürlich gar
Groß: Es ist ja schon sehr, sehr lange her,      nicht recht war, denn mir hat ja Müllerei-
und ich muß mich etwas zusammenneh-              sert besser gefallen. Lange Zeit hat dann
men, damit ich das auch genau erzähle. Ich       Brecht versucht, mich kennenzulernen,
war damals ungefähr 15 Jahre alt – wenn          und ich habe es immer verstanden (auch
ich es überhaupt schon ganz war; ich weiß        meine Freundinnen sind mir zu Hilfe ge-
nicht mehr genau. Ich ging zur Schule, und       kommen), auszuweichen. Es kam die Eis-
es war damals schon so, daß die Schüler der      laufzeit und da habe ich mich verstecken
anderen Schulen nach den Mädchen (nach           können – die anderen haben aufgepaßt,
uns) geblinzelt haben; auf diese Weise wur-      wenn er gekommen ist, und ich bin davon.
de ich bekannt mit Müllereisert. Ich kannte      Das ist über ein Jahr so gegangen, bis wir

Dreigroschenheft 1/2021
richtig bekannt waren. Da hat er es auf fol-    Mark ich weiß nicht mehr genau. Er hat
Der Augsburger

                 gende Weise fertig gebracht, daß er mich        es nicht bezahlt, war aber immer auf dem
                 eines Tages angesprochen hat und sagte,         Eislaufplatz. Den Mann, der die Billette
                 sein Freund Heini Hack (?) möchte mich         kontrollierte, hat er einmal in ein Gespräch
                 gerne kennenlernen. Da wußte er eben            verwickelt und gesagt: ‚Ich beobachte
                 ganz genau, daß ich dem ja genauso einen        schon längst Ihre Menschenkenntnis; daß
                 Korb geben werde wie allen anderen, aber        Sie jedem ansehen, ob er ohne Karte hier
                 er sagte sich (und das hat er mir gegenüber     hereinkommen will, und jeden abfassen.
                 später auch zugegeben): wenn ich auch           Woran sehen Sie denn das?‘ Da sagte der:
                 sage, daß ich den Heini Hack (?) nicht ken-     ‚Das weiß ich schon, wenn einer so zögert,
                 nenlernen will, ist er jedenfalls mit mir ins   hin- und herläuft und immer schaut, dann
                 Gespräch gekommen, und auf diese Weise          weiß ich schon, der hat keine Karte und
                 ist er mit mir bekannt; er kennt mich und       will rein.‘ Brecht hatte ja auch keine Karte
                 kann immer noch mit mir gehen. Und das          und wollte nur mit dem bekannt werden,
                 war auch so. Er ist dann einfach auf mich       damit er sieht: Ach ja, der kommt ja im-
                 zugekommen und hat ‚Grüß Gott‘ gesagt.          mer. Und so ist er auch immer ohne Karte
                 Ich habe dann auch nicht den Mut gehabt,        aufs Eis gegangen. Er hat gewußt, daß ich
                 noch was zu sagen, und so sind wir näher        auf dem Eisplatz bin, und dachte, da kann
                 bekannt geworden. Wir waren dann viel in        er mich erwischen.
                 diesen Lech-Auen, die er ja so liebte, oder     Erstens ist er nicht so gut gelaufen, daß mir
                 in dem berühmten Kauzlgäßchen (?) –            das so viel Freude gemacht hätte, und au-
                 das ist ja am Englischen Institut und dürfte    ßerdem hat es mir noch mehr Freude ge-
                 bald nach ihm benannt werden, denn da           macht, ihm davonzulaufen – na ja, das war
                 haben wir immer unser Stelldichein ge-          vielleicht ein bißchen Widerspruchsgeist.
                 habt. Es war gerade die Mitte des Weges         Meine Freundinnen haben immer mitge-
                 von ihm zu mir.                                 holfen: sie haben mich verständigt, wenn
                                                                 er gekommen ist. Dann habe ich mich
                 Bunge: Ihre Eltern wohnten nicht hier?          versteckt und wenn er dann in dem Auf-
                 Groß: Wir wohnten im Mittleren (?) Kreuz,       enthaltsraum gesucht hat, bin ich wieder
                 und Brecht wohnte in der Bleichstraße. Er       aufs Eis rausgegangen. Das haben wir lange
                 kam mir dann ein Stück entgegen, und ich        so getrieben. Ab und zu bin ich natürlich
                 ihm. Dann war es natürlich so, daß man da       schon mit ihm gefahren. Aber so arg war
                 nicht so gesehen wurde, ich war ja noch in      mir nicht daran gelegen.
                 der Schule und durfte mich gar nicht mit
                 ihm treffen, das mußte alles ganz heimlich      Bunge: Aber seine Chancen sind dann ge-
                 gehen.                                          stiegen?
                                                                 Groß: Ja, allmählich schon; weil er ange-
                 Bunge: Sie erzählten das letzte Mal noch,       fangen hat, zu sprechen. Und in diesem
                 wie er versucht hat, auf der Eisbahn an Sie     Moment hatte er gewonnen. Er konnte so
                 heranzukommen.                                  intensiv auf einen einsprechen! Er konnte
                 Groß: Das habe ich eigentlich vorhin schon      stundenlang sprechen, und ich habe mei-
                 erwähnt. Er hat ja damals schon erzählt,        stens nichts gesagt. Da habe ich dann doch
                 wie er es gemacht hat, daß er überhaupt         gemerkt, daß das ein ganz interessanter
                 auf den Eisplatz gekommen ist, ohne etwas       Mensch ist, und da habe ich ihn dann auch
                 zu bezahlen. Denn da war man abonniert,         lieber gewonnen.
                 und das Abonnement kostete 3 oder 5
                 	 Heiner Hagg.                                 Bunge: Das war ungefähr, als Sie 17 waren?
                 	 Neues Kautzengäßchen.

                 10                                                                   Dreigroschenheft 1/2021
Groß: Ja, ich glaube. Er ist vier Jahre älter   Groß: Ja, das kann stimmen. Das war übri-

                                                                                                 Der Augsburger
gewesen.                                        gens sehr nett: Ich habe das Kochen gelernt
                                                in Augsburg, in der „Tiroler Weinstube“. Da
Bunge: Und Müllereisert hat also verzichtet,    hat Brecht mal gesagt, daß er eines Tages
wie es mit dem Freund ausgemacht war?           mit dem Dr. Brüstle kommt, und ich solle
Groß: Wir sind schon miteinander be-            ihnen zeigen, was ich kochen kann. Dann
freundet gewesen und zusammengekom-             haben sie sich Pfannkuchen bestellt, Ome-
men. Aber Müllereisert kam mir damals           lette, die ich machen sollte. Ich hatte natür-
vor, als ob er Brecht völlig hörig gewesen      lich Angst und ließ das die Köchin machen.
wäre: er hat alles getan, was Brecht von        Die hat gleich fünf Eier genommen für je-
ihm verlangte. So war es ja auch bei Cas        den (also etwas, was man sonst gar nicht
Neher. Der war damals in München, und           macht); die sind so hoch geworden! Beide
Brecht ist nach Berlin gekommen. Ich            waren natürlich ganz überrascht über diese
weiß noch, wie Brecht zu mir gesagt hat,        wunderbaren Omelette, und ich hatte sie
Cas solle auf gut Glück einfach mitgehen        gar nicht gemacht!
und seine Stellung in München aufgeben.         So habe ich ja den Dr. Brüstle noch öfter ge-
Er wußte ja gar nicht, ob er in Berlin et-      sehen, aber näher kannte ich ihn natürlich
was bekommt, aber er hat es tatsächlich         auch nicht.
auch getan auf Brechts Rat hin. Das war
natürlich gut für ihn, aber das wußte er ja     Bunge: Der Dr. Bayerl gehörte nicht eigent-
damals noch gar nicht.                          lich zu den engen Freunden dazu?
                                                Groß: Nein. Ich kannte ihn schon durch
Bunge: Wer gehörte sonst noch zu der            Brecht, aber weiß nicht mehr woher. Aber
Freundesgruppe, die Sie damals kennenge-        Brecht war nie befreundet mit ihm.
lernt haben?
Groß: Da war vor allem der Georg Pfan-          Bunge: Was hatte Brecht für eine Meinung
zelt.                                           über ihn?
                                                Groß: Dazu will ich mich lieber nicht äu-
Bunge: Kann man sagen, daß das sein be-         ßern; ich weiß das nicht so genau.
ster Freund war?
Groß: Ja, das kann man sagen. Dann war          Bunge: Sie haben sich dann ja regelrecht in
da noch einer, den ich nicht nennen möch-       Brecht verliebt?
te; ich glaube, er liebt es nicht, genannt zu   Groß: Ja. Allmählich habe ich ihn auch
werden.                                         zuhause vorgestellt, obwohl meine Eltern
                                                es nicht haben wollten. Er hat dann doch
Bunge: Als Freund Brechts zur damaligen         umgesattelt: er hatte doch zuerst Philoso-
Zeit? Ja. Aber dann gehörte ja Hartmann         phie studiert und meinte dann, daß mein
noch dazu.                                      Vater es vielleicht eher genehmigt, daß ich
Groß: Ja. Mit dem war ich weniger zusam-        mit ihm bekannt bin, wenn er auch Medizin
men. Eine lange Zeit hat Brecht auch mit        studiert. Wenigstens hat er das mir so ge-
dem Dr. Brüstle verkehrt, der Redakteur bei     sagt (ich weiß ja nicht, ob es stimmte), und
der Münchener „Abendzeitung“ war.               dann hat er umgesattelt.

Bunge: Brüstle hat mal einen Artikel ge-        Bunge: Ihr Vater war Arzt?
schrieben über die Bekanntschaft mit            Groß: Ja. Er hat meinen Vater ja sehr ge-
Brecht; er meint, daß er der erste Entdecker    schätzt. Wenn er bei uns eingeladen war
Brechts war insofern, als er die ersten Ge-     und mein Vater sprach, sagte Brecht öfter
dichte von Brecht veröffentlicht hat.           zu mir, so etwas Herrliches könne man

Dreigroschenheft 1/2021                                                                    11
Wort für Wort niederschreiben, so gut spre-             Bunge: Brecht hatte ja ziemlich bald ein ei-
Der Augsburger

                 che mein Vater. Aber es war eigentlich ganz             genes Zimmer.
                 einfach; er hat ja auch etwas geschriftstel-            Groß: Ach, das hatte er ja schon immer. Das
                 lert, aber nur auf medizinischem Gebiet.               war oben, so ein Dachzimmer; zwei Fenster
                                                                         gingen zur Frühlingsstraße raus. Das war
                 Bunge: Gab es bestimmte Themen, die die                 seine „Bude“, wo er alle seine Freunde emp-
                 beiden dann miteinander besprochen ha-                  fangen hat. Da hat er sogar meinen zwei
                 ben?                                                    Brüdern mal Nachhilfestunden gegeben
                 Groß: Daran kann ich mich jetzt nicht mehr              im Französischen. Ich habe mich schon ge-
                 entsinnen. Es war lediglich, daß mein Vater             wundert, daß es jetzt so oft heißt, er wäre
                 vielleicht aus seiner Jugendzeit erzählte oder          schlecht gewesen im Französischen. Das
                 überhaupt solche Sachen. Aber die Themen                könnte ich nie behaupten, denn er hat sehr
                 könnte ich jetzt nicht mehr nennen, es ist              gut gesprochen und meinen Brüdern (die
                 zu lange her.                                           auch in seiner(?) Klasse waren) die Nach-
                                                                         hilfestunden sehr gut gegeben. Ich war nie
                 Bunge: Haben Sie Brechts Elternhaus ken-                der Meinung, daß er da schlecht war. Er hat
                 nengelernt?                                             doch auch sogar schon Übersetzungen im
                 Groß: Ja. Ich habe die Mutter noch gekannt,             Französischen gemacht.
                 die dann gestorben ist; 1920 glaube ich. Ich
                 war vorher noch bei ihr, als sie schon sehr             Bunge: Wie sah es in seinem Zimmer aus?
                 krank war. Sie hat mir damals sehr leid ge-             Groß: Ach Gott, ein Durcheinander war das!
                 tan, denn sie war ja immer ans Bett gefes-              Ein paar Masken waren drin, Totenmasken.
                 selt. Brecht hat seine Mutter sehr geliebt.             Ziemlich einfach, aber alles voll Schriften
                                                                         und Papieren. Mich wunderte, daß er noch
                 Bunge: Was bestand für ein Verhältnis zum               was gefunden hat. Er hat oft gesagt, daß ihm
                 Vater?                                                  mitten in der Nacht plötzlich was einfällt,
                 Groß: Das war auch gut.                                 was er dann sofort aufschreiben muß, damit
                                                                         er es nicht wieder vergißt. Deshalb muß bei
                 Bunge: Er war doch auch sicher eine große               ihm alles griffbereit daliegen. Er hat schein-
                 Respektsperson für Brecht?                              bar viel in der Nacht geschrieben.
                 Groß: Also die Mutter mochte er ja lieber.
                 Der Vater war halt ein richtiger Kaufmann               Bunge: So lange Sie ihn kannten, hat er im-
                 und hat ihn zuerst ja nicht verstanden, sei-            mer geschrieben?
                 ne Art zu schreiben. Aber ich habe den Va-              Groß: Ja.
                 ter später gesprochen, als Brecht die Staats-
                 angehörigkeit aberkannt wurde. Da hat er                Bunge: Waren Sie manchmal dabei, wenn er
                 alles getan, um das zu verhindern. Da hat               dichtete?
                 er mir dann gesagt, daß er sehr einverstan-             Groß: Doch. Er hat auch z.B. TROMMELN
                 den ist mit der Art, wie er schreibt. Das war           IN DER NACHT mit mir sehr gut durch-
                 viel später. Aber am Anfang hat er gesagt               besprochen. Er hat es mir auch gewidmet.
                 (das hat Brecht mir selbst erzählt): ‚Mußt              Es war vielleicht von ihm natürlich ein Höf-
                 du so schreiben, ist das nötig?‘ Da war er              lichkeitsakt, als er sagte, ich hätte ihm dazu
                 nicht dafür.                                            viele Gedanken gegeben. Dieses Rollen des
                                                                         Zuges, das man am Anfang hört, habe ich
                 	 Karl Banholzer hat 1913 eine Dissertation an der     ihm wohl vorgeschlagen, aber ich muß
                    Universität München über das Thema „Der Einfluß
                    des Nichtstillens auf das Schicksal der Neugebore-   	 laut Tonband, durch Nebengeräusch schwer ver-
                    nen“ im Augsburger Verlag Haas & Grabherr veröf-        ständlich: „die auch im Gymnasium waren“. Ihre
                    fentlicht.                                              Brüder waren jünger als Paula.

                 12                                                                             Dreigroschenheft 1/2021
sagen, daß es nicht sehr viel war. Er sagte,    Marianne erwartet von Brecht ein Kind. Da

                                                                                                  Der Augsburger
weil ich so viel Vorschläge dabei gemacht       war ich doch überrascht und sagte: Soviel
hätte, hat er mir die TROMMELN IN DER           ich weiß, bin ich mit ihm verlobt. Er sagte
NACHT gewidmet.                                 dann: ‚Fahren Sie sofort rüber, das müssen
                                                wir jetzt gleich klären.‘ Wir sind dann mit
Bunge: Er nannte Sie immer Bi. Wie kam          dem Zug hingefahren, er hat gleich einen
denn der Name zustande?                         Wagen genommen (Marianne war an der
Groß: Das kam durch folgendes: er hat           Bahn), und dann haben wir Brecht in Mün-
mich verglichen und sagte, ich sei eigentlich   chen gesucht. Marianne und ich sind in die
bittersüß; das kürzte er dann ab, Bi ist die    Kammerspiele gegangen, und er hat solange
Abkürzung von bittersüß. ‚bittersweet‘ hat      in einem Lokal gewartet. Wir haben Brecht
er damals eigentlich gesagt.                    auch tatsächlich da aufgetrieben und gesagt,
                                                daß wir ihn sprechen möchten. Wir haben
Bunge: Dieser Name galt nur für ihn, oder       uns dann mit ihm in einem Café in der Nähe
bürgerte er sich überhaupt ein?                 getroffen. Marianne hat dann angefangen
Groß: Nein, das hat niemand sonst gesagt.       und gesagt: ‚Also, wen von uns beiden willst
                                                du heiraten?‘ Er war ziemlich verdattert (ich
Bunge: Denn ich habe Sie ja eigentlich nur      habe schon fast wieder Mitleid gehabt) und
deshalb wiedererkannt, weil die Frau von        sagte: ‚Alle beide‘. Wir waren gar nicht lan-
dem Vetter ‚Bi‘ sagte.                          ge drin, es war alles sehr kurz; Marianne ist
Groß: Ja, die wissen das auch noch. Es kann     dann aufgestanden und hat gesagt: ‚Ich will
schon sein, daß auch die Freunde so sagten,     dich nicht mehr‘. Ich stand auch sofort auf;
aber sonst hat mich niemand so genannt;         er hat mich noch halten wollen. Aber ich
das war nur der Name für Brecht. Wie er         bin sofort weggegangen und sagte ‚Nein‘;
sich auch von mir Bidi nennen ließ; ich         dann sind wir beide davongegangen. Wie
weiß nicht, ob andere je zu ihm Bidi sagten,    ich dann abends heimgefahren bin (wir wa-
so wollte er nur von mir genannt sein.          ren noch eine Stunde zusammen und haben
                                                zu Abend gegessen), sagte Marianne: ‚Das
Bunge: Und wie kam der Name zustande?           weiß ich ja bestimmt, daß der mit Ihnen
Haben Sie ihn erfunden?                         nach Augsburg rüberfährt und Sie wieder
Groß: Nein, das wollte er schon so haben.       rumkriegen will.‘ Ich sagte: ‚Das kann doch
Aber woher der kam, das kann ich jetzt nicht    nicht möglich sein.‘ Als ich dann im Zug
mehr sagen. Das weiß ich nicht mehr.            saß (es war ein Schnellzug; die Türen waren
                                                zu und das ganze Abteil besetzt), dauerte
Bunge: Sie erzählten mir das letzte Mal die     es keine zehn Minuten, als Brecht schon an
Geschichte, als er in München war und Sie       der Tür erschien und mir ein Zeichen gab,
in Augsburg, und als die Marianne auf-          ich solle rauskommen. Ich habe natürlich
tauchte.                                        strikt den Kopf abgewandt und zum Fenster
Groß: Das war ja damals zuerst sehr unan-       hinausgesehen. Er ist weiter draußen ste-
genehm und war mir auch peinlich. Aber es       hengeblieben, und so oft ich nur den Kopf
mußte gemacht werden, denn wenn plötz-          gedreht habe gab er mir sofort ein Zeichen,
lich zwei Bräute da sind, dann muß das ge-      daß ich rauskommen soll, denn er konnte
klärt werden. Jedenfalls hat mich der Ver-      ja nicht gut rein, weil er dann das mit mir
lobte von der Marianne in Augsburg auf-         nicht hätte besprechen können. Aber ich
gesucht und mich gebeten, sofort mit ihm        bin auf dem ganzen Weg von München ein-
nach München zu fahren, um festzustellen,       fach nicht rausgegangen; ich habe gedacht:
wer eigentlich der richtige Verlobte ist. Er    nein, jetzt ist es aus, ich will von ihm nichts
sagte, er sei mit Marianne verlobt, aber die    mehr wissen, Schluß. Als ich dann in Augs-

Dreigroschenheft 1/2021                                                                     13
burg ausgestiegen bin, hat er mich natürlich    gemacht und aufgesetzt; die Marianne hat
Der Augsburger

                 abgefangen und mich gebeten, ich möchte         unterschrieben, und wir haben unterschrie-
                 ihn doch wenigstens anhören; soviel müß-        ben. Ich bin dann aber, allerdings später,
                 te ich doch noch für ihn übrig haben, daß       mal zu meinem Rechtsanwalt gegangen
                 ich ihn anhöre. Wir sind dann in Augsburg       und habe ihm den Vertrag gezeigt. Da hat
                 gleich in die Halle am Bahnhof gegangen;        er gesagt: So einen Vertrag gibt es ja gar
                 wir haben uns in das Restaurant gesetzt,        nicht, das kann man ja gar nicht vertraglich
                 und da hat er mir nachher sein Leid geklagt.    festlegen.‘ Aber das wußte ich nicht (und er
                 Er sagte, daß er doch nur mich heiraten         wahrscheinlich auch nicht); das haben wir
                 will und die Marianne niemals, das käme         nicht gewußt, und wir waren ja noch sehr
                 gar nicht in Frage. ‚Die Marianne mag ich       jung.
                 nicht, sie ist so böse; ich weiß genau, daß     Es stand jedenfalls fest, daß er die Marianne
                 ich mich mit ihr nicht vertragen kann; sie      heiratet und daß er sich dann so bald wie
                 will natürlich haben, daß ich sie wegen dem     möglich (wenn das Kind da ist) scheiden
                 Kind heirate, aber ich kann es nicht‘, hat er   läßt. Er hat sich zwar scheiden lassen, aber
                 gesagt und hat mich natürlich wieder weich      inzwischen hat er ja schon wieder die Hele-
                 gekriegt. Das muß im November gewesen           ne Weigel gekannt.
                 sein, weil er dann ausgerechnet hat: im
                 Februar heiraten wir dann. Ich habe dann        Bunge: Aber er hat Sie ja trotzdem doch nie
                 aber später erfahren, daß er Marianne ein       loslassen wollen?
                 Telegramm geschickt hat mit dem Inhalt:         Groß: Nein, er hat mich nie aufgeben wol-
                 ‚Herzliche Grüße‘ (oder so etwas), ‚Hanne-      len. Inzwischen hatte ich doch meinen
                 Peter‘. Das war so zu verstehen: wenn das       Mann kennengelernt; jedenfalls wurde mir
                 Kind ein Mädchen wird, heißt es Hanne,          auch von zuhause gesagt, ich solle doch
                 wenn es ein Junge wird, heißt es Peter. Das     einen anderen Mann heiraten, etwas So-
                 hat mir später die Marianne erzählt.            lides, etwas anderes als diesen Brecht, auf
                                                                 den doch kein Verlaß sei; ich wurde eben
                 Bunge: Das Telegramm hat er noch von            sehr beeinflußt, so daß ich mir selbst ge-
                 Augsburg abgeschickt?                           dacht habe, daß es vielleicht besser ist,
                 Groß: Ja, das müßte eigentlich noch am          wenn ich einen anderen heirate. Er und
                 gleichen Abend abgeschickt worden sein.         mein Mann sind sich dann mal gegenüber-
                 Und zu mir hat er so gesagt.                    gestanden und hatten einen stundenlangen
                 Ich wußte das natürlich nicht und war jetzt     Kampf, wen ich jetzt heiraten soll. Mein
                 der Meinung, daß alles in Ordnung ist. Aber     Mann hat sich wahnsinnig aufgeregt und
                 schon etwas später ist er wieder gekommen       hat ihm immer vorgehalten: ‚Was wollen
                 und hat gesagt: ‚Die Marianne tritt nicht       denn Sie überhaupt, Sie sind ja verheiratet!‘
                 zurück. Sie besteht darauf, daß ich sie hei-    Dann sagte Brecht: ‚Das ist eine Sache, die
                 rate. Ich muß es jetzt machen, damit das        zwischen uns beiden schon geklärt ist. Je-
                 Kind einen Namen hat. Aber ich möchte           denfalls soll die Bi sich entscheiden, wenn
                 mich dann scheiden lassen, und dann hei-        sie von uns beiden heiratet.‘ Dann mußte
                 raten wir.‘ Ich bin aber nicht recht darauf     ich mich entscheiden und habe mich für
                 eingegangen, es ist mir nicht ganz geheuer      Brecht entschieden. Mein Mann war dann
                 vorgekommen. Da hat er gesagt, daß er es        natürlich wahnsinnig gekränkt. Brecht
                 mir schriftlich gibt, wir würden folgenden      mußte noch am selben Abend nach Berlin,
                 Vertrag machen: er würde jetzt die Marian-      ich habe ihn noch zur Bahn gebracht; das
                 ne heiraten (nur des Kindes wegen), daß         war schon um sieben. Dann bin ich wieder
                 sie sich aber danach scheiden lassen, damit     nachhause gekommen, und mein Mann hat
                 er mich heiraten kann. Der Vertrag wurde        immer noch dagesessen. Er hat geweint und

                 14                                                                   Dreigroschenheft 1/2021
war ganz untröstlich. Ich habe das mitan-       sich getroffen; sie hat dann bei uns zuhause

                                                                                                Der Augsburger
gesehen, meine Mutter hat es mitangesehen       angerufen, ich möchte kommen. Da hat sie
– wir wußten gar nicht, was wir mit dem         mir den Vorschlag von Brecht unterbreitet,
Mann überhaupt anfangen sollten. Um halb        ich solle nach Berlin kommen. Sie hat auch
elf Uhr nachts hat er noch dagesessen. Wir      gleich einen Vertrag mitgebracht von einer
haben ihm was zu essen angeboten, er hat        Bank, die mich aufgenommen hätte (denn
nichts angenommen. Es war mir so unange-        damals war die große Arbeitslosigkeit); als
nehm! Als er endlich gegangen ist, habe ich     was ich da fungiert hätte, weiß ich heute gar
ihn runterbegleitet. Wir mußten die Treppe      nicht mehr, denn ich habe ja keinen Beruf
runter und dann noch durch einen Torbo-         gelernt. Es war alles geregelt, aber ich war
gen durch. Da mußte ich aufsperren, und         doch zu feige, so etwas zu machen. Es war
dabei hat er mich dann so umgestimmt, daß       mir zu ungewiß, denn: er war mit der Wei-
es mir dann doch leid getan hat, und da bin     gel noch nicht verheiratet damals.
ich wankelmütig geworden. Was ich mir ja
selbst nicht verzeihe, daß ich so wankelmü-     Bunge: Mit der Marianne nicht mehr, aber
tig sein konnte. Aber das war vielleicht bloß   mit der Weigel noch nicht, und Sie holte er
immer die dumme Gutmütigkeit. Ich habe          nun noch dazu. Und dann gab er Ruhe, als
dann zu meinem Mann gesagt: ‚Na ja, dann        Sie dann nicht kamen?
heirate ich halt dich‘ und mußte dem Brecht     Groß: Er kam dann des öfteren nach Augs-
dann wieder abschreiben.                        burg und hat mich aufgesucht, d.h. er ist
                                                vielmehr zu meiner Schwester hingegan-
Bunge: Und was hat Brecht dann gemacht?         gen und hat versucht, daß meine Schwe-
Groß: Es war das erste Mal, daß ich eine        ster mich zu sich holt, weil er sich in meine
Zeit lang nichts von ihm gehört habe.           Wohnung nicht getraut hat wegen meinem
Wahrscheinlich hat er soviel zu tun gehabt,     Mann. Er war auch bei meinem Bruder, der
daß er mit anderen Dingen beschäftigt war.      es möglich machen sollte, daß er mich zu
Jedenfalls weiß ich nicht mehr genau, wie er    sehen bekommt. Das war dann für mich so
sich verhalten hat. Oder er hat sich gedacht    etwas Riskantes – mein Mann war ja so ei-
(wie immer): Ach, wenn ich nach Augsburg        fersüchtig und auf Brecht so furchtbar böse.
komme, werde ich das schon wieder hin-          Wenn der irgend etwas gemerkt hätte! Er hat
kriegen. Dann würde er mich schon wieder        mir nämlich strikt erklärt: ‚Ich sage dir das
umstimmen können. Und das hat er ja auch        gleich, wenn ich den dabei erwische, daß er
immer wieder versucht.                          kommt und dir nachstellt – ich erschieße
                                                ihn, darauf kannst du dich verlassen.‘ Ich
Bunge: Er hat ja trotz allem (auch trotz Ih-    habe das auch geglaubt – ob er es gemacht
rer Heirat) nicht auf Sie verzichten wollen?    hätte, weiß ich ja nicht. Jedenfalls habe ich
Groß: Nein. 4 Wochen vor der Heirat ist ja      es geglaubt und habe mir dann gedacht:
auch die Frau Weigel nach Augsburg gekom-       Nein, ich darf das nicht machen. Und dann
men und wollte mich nach Berlin holen. Da       habe ich ihm tatsächlich gesagt, er möchte
habe ich das nicht mehr machen können;          doch nicht mehr kommen.
ich konnte meiner Mutter das nicht antun.
Denn Brecht wollte alle beisammen haben.        Bunge: Ihr Mann hat dann ja leider auch die
                                                ganzen Briefe von Brecht vernichtet und die
Bunge: Das hat er sein ganzes Leben lang        Bilder.
so gemacht. Die Weigel hatte er beauftragt,     Groß: Die Briefe will ich nicht sagen: da
Sie zu holen?                                   hat schon meine Mutter damals den Fehler
Groß: Ja. Die Weigel ist gekommen (Mül-         gemacht. Das war so eine große Kiste voll,
lereisert war dabei). Im „Maxim“ haben sie      und sie hat beim Umzug (sie hat ja so vie-

Dreigroschenheft 1/2021                                                                   15
les gehabt; der Haushalt mußte verkleinert         Bunge: Dann war noch so eine schöne Sa-
Der Augsburger

                 werden, denn wir hatten erst eine Zehn-            che, die Sie mir erzählten: wie Sie ihn ein
                 zimmerwohnung, und dann hat sie einen              einziges Mal überlistet haben.
                 viel kleineren Haushalt bekommen) alles            Groß: Dabei schneidet er aber nicht gut
                 weggetan, was für sie nicht wichtig war;           ab, und ich auch nicht. Ich war eben jung,
                 und gerade meine Briefe hat sie da schon           und ich habe so furchtbar gern getanzt. Ich
                 vernichtet. Aber die Fotografien hat mein          durfte ja schon von zuhause aus kaum fort
                 Mann alle vernichtet.                              (ich bin ziemlich streng behütet worden);
                                                                    es war ja damals viel strenger als jetzt, man
                 Bunge: Aber Sie konnten sich beim letz-            hat die jungen Mädchen garnicht fortgelas-
                 ten Mal noch an ein Gedicht erinnern, das          sen. In München hatte ich zwei Vettern, die
                 Brecht Ihnen aufgeschrieben hat?                   Musiker waren; sie haben bei einer Kapelle
                 Groß: Das ich im Album hatte, ja. Das muß          gespielt. Einer der Vettern kam am Nach-
                 ich sagen; es ist ganz gut, sonst vergesse ich     mittag zu mir und wollte mich zu einem
                 das, denn leider hat ja mein Mann diese            Tanzabend einladen (Brecht war gerade
                 Seite aus dem Album gerissen, auf der das          da). Er sagte: Wie ist es, möchtest du nicht
                 Gedicht stand. Es war so:                          heute zum Nationaltheater-Café kommen,
                                                                    zu dem ‚Bösen-Buben-Ball‘? (so hieß das).
                 „Wer immer seinen Schuh gespart                    Ich habe natürlich sofort mit Freuden ‚Ja‘
                 Dem ward er nie zerfranst                          gesagt. Als ich zu Brecht hinschaute und
                 Und wer nie müd noch traurig war                   sein Gesicht sah, dachte ich Um Gottes Wil-
                 Der hat auch nie getanzt.                          len, das darf ich ja leider nicht! Dann sagte
                 Wir tanzten nie                                    ich: ‚Ach Sepp – leider, es geht doch nicht;
                 Mit mehr Grazie                                    ich kann doch nicht kommen‘, habe dem
                 Als über die Gräber noch.                          aber mit einem Auge zugezwinkert, damit
                 Gott pfeift die schönste Melodie                   er weiß: ich komme schon. Er hat das ver-
                 Stets auf dem letzten Loch.                        standen und hat auch nichts mehr gesagt.
                 Und wenn aus a/Alter/s- Schwäche (?)               Brecht hatte nichts gemerkt (meinte ich),
                 sogar                                              und so war das in Ordnung. Endlich ist
                 In Staub zerfällt dein Schuh                       Brecht gegangen, und ich war eifrig, habe
                 Der grad wie du nur für Fußtritte war              mich angezogen und fertiggemacht und
                 War immer noch mehr als du.“                       eine Freude gehabt, daß ich endlich auch
                                                                    auf den Ball gehen darf. Nun sind ja mei-
                 Ich hoffe, daß es genau stimmt; jedenfalls         ne Vettern dort gewesen, und meine Tante
                 habe ich es nur noch so in Erinnerung. Ich         hat es erlaubt. Das hätte sie ja sonst auch
                 glaube schon, daß es genau ist.                    nicht getan, aber weil die beiden Vettern da
                                                                    waren, hat sie gesagt: ‚Ja, da darfst du ruhig
                 Bunge: Gibt es noch andere Gedichte, die           hingehen‘. Dann bin ich hingegangen – da
                 er Ihnen gewidmet hat und an die Sie sich          war eine Stimmung!, das hat mir so gut ge-
                 erinnern?                                          fallen, wir haben dann getanzt, und ich bin
                 Groß: Ich weiß nur den „Alten Mann in              nur so von einem Arm in den anderen ge-
                 …… (?)“; den kann ich nicht mehr. Ich             flogen; das war herrlich für mich. Es wurde
                 weiß jetzt nicht mehr, ob es noch andere           gerade eine ……… (?) getanzt (da war ich
                 gab; es kann schon sein, aber momentan             vielleicht eine Dreiviertelstunde auf dem
                 weiß ich das garnicht.
                                                                    	 Française: „ein Kontratanz des 19. Jahrhunderts,
                                                                       also ein Tanz, bei dem die tanzenden Paare nicht für
                 	 wohl „Der alte Mann im Frühling“, geschrieben      sich tanzen, sondern alle miteinander eine Folge von
                    1919, GBA 13, 136-137.                             Tanzfiguren ausführen. Solche tänzerischen Gesell-

                 16                                                                           Dreigroschenheft 1/2021
Ball), und auf einmal – schon bei der ersten           taler(?) Straße werden wir ungefähr 20 Mi-

                                                                                                       Der Augsburger
Tour – erschien Brecht im Saal und winkte              nuten gegangen sein. Wir haben wenig ge-
mir, ich solle rauskommen. Da bin ich dann             redet. Ich war ein bißchen beleidigt und er
ein bißchen bockig geworden und dachte:                auch. Dann haben wir uns verabschiedet,
nein, immer dieses Befehlen und Nichts-                und ich ging also rauf in meine Wohnung.
Mir-Gönnen – das mag ich nicht; ich gehe               Als ich dann Licht machte, hat mich meine
nicht raus, ich möchte die ……… (?) zuen-               Tante gehört und sagte: ‚Was ist denn, es ist
de tanzen. Immer, wenn wieder eine Tour                doch erst elf Uhr, warum kommst du denn
vorbei war, hat er gewinkt, ich solle jetzt            schon?‘ Da habe ich gesagt: ‚Weißt du, jetzt
rauskommen. Aber ich bin nicht gegangen.               hat er mich schon wieder geholt, und ich
Als aber die ……… (?) zuende war und                    habe auf den Ball auch wieder nicht gedurft!‘
ich auf meinen Platz gehen mußte, hat er               Sie sagte: ‚Ach du armes Mädel, das ist ja
mich natürlich abgefangen und gesagt: ‚Ei-             allerhand‘. Dann habe ich gesagt: ‚Weißt du
nen Moment bitte, ich muß dich sprechen‘.              was, Tante, ich gehe jetzt wieder! Ich warte
Ich sagte: ‚Ach nein, ich habe gar keine               nur, bis der unten fort ist, und dann gehe
Lust‘. ‚Bitte, komm jetzt mit mir raus, ich            ich wieder zurück‘. Darauf meinte sie: ‚Ja,
muß dich unbedingt sprechen‘. Ich dach-                das machst du, jetzt gerade, weil er dir gar
te, er wird doch nicht wieder irgend­etwas             nichts gönnt‘. Dann habe ich eine Zeit lang
anstellen, und bin halt mit rausgegangen.              gewartet, kehrt gemacht und bin wieder ins
Draußen sagte er: ‚Ich möchte dich bitten,             Nationaltheater-Café gegangen, wo ich na-
sofort nachhause zu gehen. Du gehst jetzt              türlich mit Freuden empfangen worden bin
gleich.‘ Ich sagte: ‚Nein, ich mag nicht.‘ Er:         und bis in der Frühe um vier Uhr geblieben
‚Du gehst jetzt mit mir nachhause!‘ Und                bin.
ich wieder: ‚Nein, ich mag nicht‘. So ist das          Das ist das Einzige, was Brecht nicht erfah-
eine Zeit lang weiter gegangen, schließlich            ren hat; sonst hat er immer alles verhindert
sagte er: ‚Wenn du jetzt nicht mit mir gehst,          oder mir einen Strich durch die Rechnung
ist zwischen uns beiden Schluß.‘ Ich sagte:            gemacht. Und das mir das gelungen ist,
‚Gut, dann ist zwischen uns beiden Schluß.             freut mich heute noch!
Das ist mir schon recht.‘ Denn ich wußte
ja genau, daß er nicht Schluß machen wird.             Bunge: Er selber tanzte ja so wenig, daß er
Er hat dann gemerkt, daß er so auch nicht              sicher mit Ihnen nie weggegangen ist?
weiter kommt, und sagte: ‚Ich gehe nicht               Groß: Doch, einmal. Er wollte gern tanzen;
von der Stelle, bevor du nicht mit mir nach-           er war doch eigentlich so musikalisch, aber
hause gehst‘. Ich kannte ja seinen Dickkopf            er hat gar kein Gefühl für Rhythmus geha-
und wußte genau, daß er niemals weggehen               bt, als ob er die Musik gar nicht gehört hät-
würde, bevor ich nicht mitkomme. Ich dach-             te; mit dem ist man gar nicht zu Rande ge-
te mir, daß ich jetzt irgendetwas tun muß.             kommen. Aber einmal sind wir doch zum
Während wir noch sprachen, kam einer von               Tanzen gegangen, zusammen mit Müllerei-
meinen Tänzern heraus und fragte, warum                sert. Ich hatte vorher nichts gegessen, wir
ich denn nicht mehr käme. Ich sagte: ‚Einen            haben dann Wein getrunken, und das war
Moment, ich muß nur rasch nachhause ge-                für mich natürlich ungewohnt.
hen. Es ist etwas bei uns zuhause, aber ich
komme gleich wieder‘. Dann sagte ich zu                Fortsetzung am 10. Dezember 1960:
Brecht: ‚Also gut, ich gehe mit dir nachhau-
se‘. Dann sind wir zusammen abgeschoben.               Ich hatte, genau wie Bert Brecht und Mül-
Vom Nationaltheater-Café bis zur Schwan-               lereisert, einen kleinen Schwips bekommen.
   schaftsspiele waren bis zum Zweiten Weltkrieg be-   Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß
   liebt“ (Wikipedia).                                 ich das gemacht habe; ich habe jedenfalls

Dreigroschenheft 1/2021                                                                          17
Sie können auch lesen