Intermedialität revisited. Neue Perspektiven auf die Medienkunst

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Repositorium für die Medienwissenschaft

   Christiane Heibach
   Intermedialität revisited. Neue Perspektiven auf die
   Medienkunst
   2020
   https://doi.org/10.25969/mediarep/13651

   Veröffentlichungsversion / published version
   Rezension / review

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:
Heibach, Christiane: Intermedialität revisited. Neue Perspektiven auf die Medienkunst. In:
Zeitschrift für Medienwissenschaft. Heft 22: Medium | Format, Jg. 12 (2020), Nr. 1, S. 202–
206. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/13651.

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https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
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   INTERMEDIALITÄT REVISITED
   Neue Perspektiven auf die Medienkunst
   von CHRISTIANE HEIBACH

Janna Houwen: Film and Video Intermediality. The               Medien Radio, Fernsehen und die gerade entstehende
Question of Medium Specificity in Contemporary Moving          Videotechnologie entscheidende Rollen übernehmen.
Images, New York, London (Bloomsbury) 2017                     Demgemäß werden insbesondere Performanz, Interak-
                                                               tivität, Intermedialität und Selbstreflexivität als Unter-
Claudia Benthien, Jordis Lau, Maraike M. Marxsen:
                                                               schiede zu den klassischen Kunstformen betont.
The Literariness of Media Art, New York (Routledge) 2019
                                                                   All diese Kennzeichen finden sich aber auch schon in
Irena Barbara Kalla, Patrycja Poniatowska,                     den Experimenten der frühen Avantgarden des 20. Jahr-
Dorota Michułka (Hg.): On the Fringes of Literature and        hunderts, auch wenn diese mit anderen medialen Kon-
Digital Media Culture. Perspectives from Eastern and Western   stellationen arbeiteten. Gerade im Hinblick auf deren
Europe, Leiden, Boston (Brill / Rodopi) 2018                   Analyse hat sich für die Medienästhetik insbesondere
                                                               der Begriff der Intermedialität als zentral erwiesen, und
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Die Beobachtung, dass die interaktive Medienkunst ein
                                                               zwar aufgrund der ihm inhärenten Paradoxie: Denn um
                                                               von Intermedialität als Vermischung medialer Struktu-
hybrides Phänomen ist, in dem sich unterschiedliche            ren sprechen zu können, benötigt man einen relativ ein-
Medien und Zeichensysteme mischen, die Barriere zwi-           deutigen Begriff vom Charakter und von den Funktionen
schen Kunst(-präsentation) und Betrachter_in durch-            der Medien, die jeweils intermedial zusammengefügt
lässig ist und somit der traditionelle Kunstbegriff ganz       werden. Dies wird besonders deutlich in der Diskussi-
generell herausgefordert wird, ist inzwischen fast trivial     on um die ästhetische Rolle der digitalen Medien: Aus-
zu nennen. Schon in den ersten Publikationen zu die-           stellungen wie Interact! (Wilhelm Lehmbruck Museum,
sem Thema Ende der 1990er Jahre werden diese Aspekte           Duisburg 1997), Schrift und Bild in Bewegung (Gasteig und
hervorgehoben.1 Einig sind sich deren Verfasser_innen          Rathausgalerie, München 2000) oder p0es1s. Digitale
zudem darin, dass die (interaktive) ‹Medienkunst› auf          Poesie (Kulturforum Potsdamer Platz, Berlin 2004) heben
ästhetische Strategien der Avantgarden zurückgreift,           Ende der 1990er / Anfang der 2000er Jahre insbesondere
die auch schon vor dem Siegeszug der digitalen Medien          auf die materiellen Möglichkeiten ab, die nur die digita-
mit ähnlichen Grenzüberschreitungen experimentieren.           len Medien bereithalten.2
Die Entstehung von ‹Medienkunst› als Genre, also als               Insofern bewegen sich die Diskurse um Medienkunst
Kunstart mit bestimmten Merkmalen, wird jedoch meist           immer schon in einem Spannungsfeld zwischen medien-
auf die 1960er Jahre datiert, als Künstler wie John Cage       spezifischen/-materiellen Eigenschaften und deren Ver-
und Nam June Paik mit interaktiven Installationen und          schwimmen, wenn nicht gar Verschwinden in intermedi-
Performances auftreten, in denen die elektronischen            alen Konstellationen – eine Diagnose, die Janna Houwen

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zum Anlass für eine medientheoretische und medienäs-
thetische Überprüfung nimmt. In ihrer 2017 erschienenen
Monografie zum intermedialen Verhältnis von Film und
Video steht die Frage nach der Medienspezifik schon im
Untertitel. Houwen beginnt ihre Ausführungen zunächst
mit einer Diskussion der Paradoxie des Intermedialitäts-
begriffs: «Thus, models of intermediality which suppo-
sedly demonstrate the end of medium specificity, are
often implicitly based on an originary ground on which
media do have essences, are fixed, and achieve a final
form.« (S. 5) Diese essenzialisierende Perspektive kriti-
siert Houwen insofern, als sie – mit Rekurs auf Rosalind
Krauss – dem technologischen Determinismus eine kon-
ventionalisierte Mediennutzung gegenüberstellt: Aus vier
verschiedenen Blickwinkeln heraus diskutiert sie am Bei-
spiel des Verhältnisses von Film und Video, inwieweit be-
stimmte Eigenschaften den jeweiligen Medien tatsächlich
‹eingeschrieben› sind und wo soziale Zuschreibungen des       Inhärenz von medialen Eigenschaften, die beim Video in
Mediengebrauchs sich in einer gewissen Standardisie-          der Ad-hoc-Produktion und damit der Herstellung eines
rung der Funktionen niedergeschlagen haben, die ganz          «referential-reality effect» liegen, beim Film in dessen
und gar nicht in der technischen Struktur des Mediums         hochgradiger Technizität und medienästhetischer Ge-
angelegt sind. Die vier Themenschwerpunkte umfassen           staltbarkeit, die einen «constructed-reality effect» er-
den Realitätseffekt, das Phänomen des (dis)embodiment,        zeugt (siehe S. 51 ff.). Doch genau in dieser Zuspitzung
soziale Strukturen sowie Aspekte der Gewalt.                  wird der konventionalisierte Aspekt solcher Zuschrei-
    In allen Kapiteln ist die Theoriediskussion eng mit       bungen manifest: «It is through the typicality of certain
konkreten künstlerischen Beispielen verflochten. So wird      features that the two media are specified and differen-
im Falle der Realitätseffekte besonders deutlich, wie Film-   tiated from each other. However, none of this relies on
regisseur_innen die konventionalisierten Einsatzformen        unique, inevitable technological features. It is mostly a
vor allem der Videotechnologie reproduzieren: In Michael      conventional distinction.» (S. 58)
Hanekes Film Benny’s Video (A/CH 1992) übernehmen Vi-             In ähnlicher Weise, aber mit jeweils verschiedenen
deosequenzen dokumentarische Funktion und erzeugen            Rahmungen und Referenzen diskutiert Houwen auch die
mit ihrem Amateurcharakter (verwackelte Bilder, schlech-      anderen Aspekte: Unter dem Titel «(Dis)embodiment»
te Farbqualität) Präsenz- und Unmittelbarkeitseffekte.        verhandelt sie auf der Basis von Jean Baudrys Theorie des
Atom Egoyans Film Family Viewing (CA 1987) stellt das         Kino-Dispositivs und Laura Marks’ Konzept des haptic
Videofilmen dem exzessiven Fernsehgenuss gegenüber,           cinema die Frage der medialen Konstellationen und ihrer
wobei Ersteres als Überwachungsaktivität in einen Ge-         Rezeptionsmodi. Dabei greift sie auf die dualistische
gensatz zur Passivität des Fernsehens gestellt wird. Kras-    Zuspitzung von Margaret Morse zurück, die zwischen
simir Terzievs Dokumentation Battles of Troy (CH 2005)        proszenischen Künsten (Film) und Präsentationsküns-
über die fragwürdigen Bedingungen, unter denen die            ten (Installation) unterscheidet. Erstere fesseln im Sinne
Massenszenen des Blockbusters Troja (Regie: Wolfgang          von Baudry die Zuschauer_innen an ihre Sitze und kon-
Petersen, USA /MT /UK 2004) gedreht wurden, arbeitet          frontieren sie mit der Leinwand, während Letztere – als
schließlich mit von den Statist_innen während der Dreh-       Installationen – das Publikum integrieren, wodurch es
arbeiten heimlich aufgenommenen Videosequenzen, die           gesamtleiblich wahrnehmen kann (vgl. S. 94). Auch hier
als Authentizitätsgaranten einen wesentlichen Anteil an       wartet Houwen mit überzeugenden Beispielen auf, um
der Beweisführung der Dokumentation haben.                    diese Differenzierung nach und nach aufzulösen.
    Zunächst scheint sich damit zu bestätigen, was                In den letzten beiden Teilen wird dann der rein ästhe-
Houwen eigentlich in Frage stellen will, nämlich eine         tische Raum der intermedialen Verhältnisse verlassen,

BESPRECHUNGEN                                                                             203
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um die gesellschaftlichen Dimensionen («Social Struc-        nahe, dies – wie es hier geschieht – mit Rekurs auf den
tures») sowie die Machtverhältnisse im Hinblick auf die      Russischen Formalismus zu tun. Doch erweist sich diese
Gewalt- und Diskriminierungspotenziale («Violent Fea-        Referenz als schlüssig begründet, und zwar durch die
tures») beider Medien zu analysieren. Dabei scheint sich     deutliche Traditionslinie der Medienkunst zu den frü-
erneut ein standardisiertes Zuschreibungsverhältnis zu       hen Avantgarden, deren ästhetische Experimente mit
zeigen: Video eignet sich danach primär zum Individu-        geschriebener und gesprochener Sprache – so die Au-
al- und Bekenntnismedium, während der Film das Zeug          torinnen – die Grundlage für die prinzipiell transmedi-
zum öffentlich-aktivistischen Protestmedium hat – eine       ale Sprachauffassung der russischen Formalisten bildet
Wertung, die eng mit den jeweiligen Produktionsbedin-        (vgl. S. 7). Argumentativ schließt die Studie – trotz an-
gungen verbunden ist. Doch auch hier wird deutlich,          derer Schwerpunktsetzung – sogar deutlich an Houwen
dass diese Kennzeichnungen weniger medieninhärent            an, da Benthien et al. ebenfalls die Kritik an der Konzen-
als konventionalisiert sind – letztlich gibt es doch nur     tration der medienwissenschaftlichen Diskurse auf die
eine «‹soft determination›» (Raymond Williams), ge-          Medienmaterialität zum Ausgangspunkt für die Suche
mäß der Medien als «‹work on a material for a specific       nach einem erweiterten Blickwinkel machen.
purpose within necessary conditions›» definiert werden           Der Russische Formalismus ist – so die These – der-
(Williams zit. n. Houwen, S. 157). Dies zumindest ist eine   art breit perspektiviert, dass er Analyseinstrumente für
der wichtigsten Quintessenzen dieser durchgehend auf         trans- und intermediale Phänomene bereitstellt, die als
hohem Niveau argumentierenden Monografie.                    Scharnier zu aktuellen, zwischen Literatur- und Medien-
    Eine auf den ersten Blick ganz andere Herange-           wissenschaft angelegten Diskursen fungieren können,
hensweise an intermediale Kunst wählt der aus einem          beispielsweise zu Julia Kristevas Intertextualitätstheorie,
DFG -Forschungsprojekt hervorgegangene Band The              zu Jay David Bolters und Richard Grusins Remediation-
Literariness of Media Art. Claudia Benthien, Jordis Lau      Konzept und zu Ludwig Jägers Transkriptions-Modell
und Maraike M. Marxsen legen eine breit angelegte Stu-       oder zu den Filmwissenschaften (mit Rekurs u. a. auf Tom
die zur Medienkunst vor, die sich auf die Spurensuche        Gunning, Vivian Sobchack und Laura Marks, vgl. S. 39 ff.).
nach der Arbeit mit Sprache in audiovisuellen Medien         Wahrnehmung, Materialität und soziale Faktoren wür-
begibt. Es liegt allerdings angesichts der methodischen      den, so die Autorinnen, zudem im Russischen Formalis-
Zäsur durch die Postmoderne und die dadurch erfolgte         mus gleichermaßen berücksichtigt (vgl. S. 21). Vor allem
Erweiterung des literaturwissenschaftlichen Diskurses        aber greifen sie die Befunde zur Ostranenie auf, also zur
auf kulturwissenschaftliche Fragen nicht unbedingt           verfremdenden Wirkung von Literatur und Poesie, die
                                                             deren ästhetischen Charakter ausmache – und zwar
                                                             in ihren jeweiligen akustischen wie auch schriftlichen
                                                             Manifestationen. Das ist es auch, was die Autorinnen
                                                             mit ‹Literarizität› meinen. Da diese jedoch als transme-
                                                             diales Phänomen aufgefasst wird, variiert ihr Charakter
                                                             von Medium zu Medium. Daher kann insbesondere die
                                                             Medienkunst in ihrer grundlegenden intermedialen An-
                                                             lage zwischen Visualität und Auditivität, die sowohl Text
                                                             als auch gesprochene Sprache integriert, diese mit dem
                                                             Bild und der Bewegung verbindet und so eine gesamt-
                                                             leibliche Rezeption herausfordert, als Neubelebung (und
                                                             letztlich auch Erweiterung) der Sprachästhetik aufgefasst
                                                             werden: «Media art contributes to a revitalization of lan-
                                                             guage and awareness, and connects the linguistic and
                                                             sensorial aspects of this experience.» (S. 43)
                                                                 Ausgehend von dieser theoretischen Rahmung un-
                                                             tersuchen die Autorinnen eine Vielzahl von Film- und
                                                             Videoarbeiten sowie Medienkunstinstallationen3 von

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INTERMEDIALITÄT REVISITED

den 1960er Jahren bis zur Gegenwart – zum einen im
Hinblick auf die Integration von Text und Stimme, zum
anderen in Bezug auf die Integration literarischer Genres
(Poesie, Drama, Prosa), um abschließend ihr Augenmerk
auf Adaptionen literarischer Werke in der Medienkunst
zu richten. Im Gegensatz zu Houwen, die sich auf weni-
ge Beispiele beschränkt (und damit das Risiko eingeht,
zu selektiv vorzugehen), entscheiden sich Benthien et al.
für eine überblicksartige Materialsammlung, die einen
Zeitraum von nahezu 60 Jahren umfasst und vor allem          mit autor_innenzentrierten Kunstprojekten beschäfti-
Beispiele aus dem deutschsprachigen und anglophonen          gen, vermehrt inter- und transmediale sowie vernetzte
Raum berücksichtigt. Diese Vielfalt hat Vor- und Nachtei-    Schreib- und Rezeptionspraktiken in den Fokus gerückt.
le: Die Vorteile liegen eindeutig in der geradezu kompen-    Agata Zarzycka beschäftigt sich beispielsweise mit den
dienhaften Übersicht, mit der Literarizität in den unter-    vielfältigen Aneignungen von Edgar Allan Poe und seinen
schiedlichsten audiovisuellen Formaten herausgearbeitet      Erzählungen im Netz (S. 46–60) und kann überzeugend
wird. Die Nachteile bestehen – und das verwundert an-        herausarbeiten, dass sich in verschiedenen subkulturellen
gesichts des Mediums Buch nicht – in erster Linie darin,     Szenen der Popkultur so etwas wie ein ikonischer Umgang
dass trotz zahlreicher Schwarzweiß-Abbildungen sehr viel     mit der Person Poe konstituiert hat, der Mythenbildung
Arbeit auf die Beschreibung der Werke verwendet werden       mit Kommerz verbindet. Dabei verselbstständigt sich die
muss und so die analytische Ebene teilweise in den Hin-      Appropriation der Person Poes und seiner Geschichten zu
tergrund rückt. Auch gerät durch die thematische Grup-       eigenständigen ästhetischen Konstrukten, wie beispiels-
pierung im Hinblick auf die verschiedenen Formen von         weise in den real-person fictions, die Person und Motive sei-
Literarizität die zeit- und kulturspezifische Einordnung     ner Erzählungen miteinander verquicken (vgl. S. 54).
der Werke teilweise aus dem Blick. Wenn beispielsweise           Aleksandra Małecka und Piotr Marecki beschäftigen
in Bezug auf Peter Weibels partizipative Performance Das     sich mit einer anderen Form digitaler Textproduktion,
Recht mit Füßen treten von 1968 vornehmlich auf die Fra-     nämlich der Übersetzung literarischer Werke mittels
ge nach dem Verhältnis von Signifikat und Signifikant        algorithmischer Programme – in diesem speziellen Fall
Bezug genommen wird, dann vermisst man die Referenz          geht es um die Urfassung des Theaterstücks Ubu Roi, das
auf die Protestkunst im Kontext der 68er-Bewegung (vgl.      1888 als Marionettentheater unter dem Titel Ubu Roi ou
S. 103 f.). Doch das ist Kritik auf hohem Niveau: Was hier   les Polonais von Alfred Jarry, damals noch Schüler, ver-
auch von den beiden (noch nicht promovierten) Mitauto-       fasst wurde: Die Autor_innen haben dieses Werk mittels
rinnen Lau und Marxsen geleistet wird, ist beeindruckend     Google Translate ins Polnische übersetzt und das Ergeb-
in der theoretischen Reflexionstiefe wie auch in der Viel-   nis in Buchform veröffentlicht. Die Grundfrage, die hier
zahl der angeführten Beispiele.                              verhandelt wird, ist nicht etwa die nach der sprachlichen
    Der Sammelband On the Fringes of Literature and Digi-    und semantischen Angemessenheit der Übersetzung,
tal Media Culture von 2018 geht auf eine 2015 in Breslau     sondern nach den praxeologischen Implikationen eines
abgehaltene Tagung zurück, die sich aus literatur-, film-    solchen Vorgehens. Dabei rückt vor allem die Frage nach
und medienwissenschaftlicher Perspektive mit inter- und      der Kreativität in den Fokus, die zunächst mit Referenz
transmedialen Erzählformen beschäftigte. Als Antho-          auf Kenneth Goldsmith beantwortet wird:
logie naturgemäß heterogener als die beiden anderen
Publikationen, spannt der Band ein breites Spektrum an          Thus, we propose to interpret the GT [Google Trans-
Themen auf, die nicht nur an die Untersuchungen zu di-          late] translation […] as an «uncreative translation»
gitaler Literatur und ihrer verschiedenen Spielarten aus        mirroring the term «uncreative writing» introduced
dem anglophonen Raum anschließen, sondern auch                  by Goldsmith. In this light, appropriating even an en-
einen Blick auf ästhetische Produktionen in Osteuro-            tire text in a way that is meaningful and innovative can
pa ermöglichen. Dabei werden im Unterschied zu den              legitimately be considered artistic expression and a
anderen beiden Bänden, die sich schwerpunktmäßig                new work. (S. 81)

BESPRECHUNGEN                                                                             205
CHRISTIANE HEIBACH

Bei näherer Betrachtung der Komplexität der Daten-
bank, die Google Translate zugrunde liegt, enthüllt
sich nämlich ein eminent kreativer Charakter der
(scheinbar) automatisierten Übersetzung: Für die-
se greift der Algorithmus nicht nur auf ältere, nicht-
maschinell entstandene Übersetzungen des Werks
zurück, sondern stellt auch intertextuelle Bezüge
zu ähnlichen Topoi der polnischen Literatur her, die
monströse und dehumanisierte Gestalten (wie Ubu Roi
eine ist) zum Thema haben (vgl. S. 84). Auf diese Weise          1 Zu nennen wären im deutsch-
                                                              sprachigen Bereich z. B. Söke
wird eine datenbankbasierte Intertextualität zur Basis
                                                              Dinkla: Pioniere interaktiver Kunst
für die automatisierte Übersetzung, die dann doch             von 1970 bis heute. Myron Krueger,
wieder auf menschliche Leistung (nämlich andere lite-         Jeffrey Shaw, David Rokeby, Lynn
                                                              Hershman, Grahame Weinbren, Ken
rarische Werke) verweist.                                     Feingold, Ostfildern 1997; Kai-Uwe
    Der gesamte Band erweist sich als spannendes Mo-          Hemken: Bilder in Bewegung.
saik verschiedenster Schreibpraktiken, die nicht immer        Traditionen digitaler Ästhetik, Köln
                                                              2000; Peter Gendolla u. a. (Hg.):
digital sind. Dirk de Geest beispielsweise analysiert         Formen interaktiver Medienkunst,
Handbücher kreativen Schreibens als aussagekräftige           Frankfurt / M. 2001. Die letztge-
Dokumente für die Analyse literarischer Dynamiken, in         nannte Publikation erschien mit
                                                              einer Mini-CD-ROM.
denen sich – wie in Kreativitätsratgebern generell – das         2 Zu dieser Zeit war Kunst
Spannungsfeld zwischen Regelhaftigkeit und arkani-            mit digitalen Medien noch eine
                                                              Marginalie im Kunstbetrieb. Die
schem Genius oder, etwas bodenständiger ausgedrückt,
                                                              genannten Ausstellungen trugen
«this tension between inspiration and transpiration»          wesentlich dazu bei, sie einer
manifestiert (S. 89 – 102, hier S. 93). Weitere Beiträge zu   größeren Öffentlichkeit zugäng-
                                                              lich zu machen und mussten
Narrativität in Computerspielen, zum transmedialen
                                                              daher auf ihre Spezifika abheben.
Erzählen, zur Blogosphäre in Polen sowie abschließend         Zu den Ausstellungen vgl. die
zum product placement in literarischen Erzählungen run-       entsprechenden Kataloge bzw.
                                                              Begleitpublikationen: Söke Dinkla
den den sehr empfehlenswerten Band zur Vielfalt von           (Hg.): Interact! Schlüsselwerke
ästhetischen Schreibpraktiken in unterschiedlichen me-        interaktiver Kunst, Ostfildern 1997;
dialen Konstellationen ab.                                    Bernd Scheffer (Hg.): Schrift und
                                                              Bild in Bewegung, München 2000;
    So divergent die drei Publikationen in ihren Heran-       Friedrich W. Block, Christiane
gehensweisen auch auftreten, sie zeigen doch eines            Heibach, Karin Wenz (Hg.): p0es1s.
sehr deutlich: Die Bezüge der Medienkunst, sei sie pri-       Digitale Poesie / Digital Poetry,
                                                              Ostfildern 2004.
mär bild- oder textbasiert oder genuin intermedial ver-          3 ‹Medienkunst› wird hier
fasst, sind derart komplex und vielfältig, dass sie unter-    in Abgrenzung von Film- oder
                                                              Videoarbeiten, die nicht installativ
schiedliche Herangehensweisen und theoretische wie
                                                              auftreten, verwendet und be-
ästhetische Kontextualisierungen rechtfertigen, ja sogar      zeichnet alle Installationen, die mit
erfordern. Aber genau darin sind auch wieder Gemein-          Film, Video und / oder digitalen
                                                              Medien arbeiten.
samkeiten und perspektivische Komplementaritäten zu
entdecken: sei es in den Versuchen, den Begriff der Inter-
medialität besser zu fassen, sei es in der Erkenntnis, dass
ästhetische Produktion auch auf ihre sozialen Kontexte
verweist – oder in der immer wieder neu zu stellenden
Frage, was uns Medienkunst nun eigentlich über uns sel-
ber und unsere Zeit mitteilen kann.
—
                         206                                                                                 Zf M 22, 1/2020
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