Wer genau weiß, wie digitales Lesen im Unterricht erfolgreich gelingt, schreibe es uns - Josef Leisen

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Wer genau weiß, wie digitales Lesen im Unterricht erfolgreich gelingt, schreibe es uns - Josef Leisen
bbw

             Wer genau weiß, wie digitales Lesen im
             ­Unterricht erfolgreich gelingt, schreibe es uns
                                                           Teil 1

             Die Paradigmen der                                                                        se auf Papier (Abb. 1). Die Texte der ana-
                                                                                                       logen Schule sind multimodale analoge
             ­analogen und der digitalen
                                                                                                       Texte, d. h. es handelt sich um diskonti-
              Schule                                                                                   nuierliche Texte mit Fotos, Abbildungen,
             Ein Paradigma ist eine grundsätzliche                                                     Diagrammen, Tabellen, Graphen und vie-
             Denkweise. Schulparadigmen geben vor,                                                     len anderen Darstellungsformen (Abb. 2).
             wie Schule als Bildungsinstitution zu
                                                                                Josef Leisen
             denken ist, was gelernt werden soll, was                                                  Die digitale Schule ist geprägt durch die
             schulisches Lernen bedeutet, wie Schule,                                                  Paradigmen Digitalität, Vernetzung und
             Unterricht und Lernen zu organisieren         Etablierte Denkweisen sind zäh und lang-    Kollaboration (vgl. Krommer 2018). Hier
             sind, was von Lehrpersonen erwartet           lebig und auf Erhalt bedacht. Paradigmen    dominieren Hyperlinks, die Vernetzungen
             wird, usw. Paradigmen sind historisch         passen sich, solange dies möglich ist, an   herstellen und Clouds, die dem kollabo-
             gewachsene Rahmen, in denen Schule-           neue Bedingungen an und erfahren einen      rativen Arbeiten und der Interaktivität
             Unterricht-Lernen gedacht wird. Da ver-       radikalen Umbau erst dann, wenn sie an      dienen. Es dominieren multiple Texte,
             schiedene Denkweisen möglich sind, gibt       unüberwindbare Grenzen stoßen (vgl.         hinsichtlich der Textsorten und der medi-
             es verschiedene Paradigmen, z. B. behavi-     Analogie zu wissenschaftlichen Revolu-      alen Darstellung und die Texte selbst sind
             oristische, instruktivistische, konstrukti-   tionen in Kuhn 1981). In der Geschichte     multimodal (Abb. 3). Die Digitalität zeigt
             vistische, reformpädagogische, … die sich     der Pädagogik und der Unterrichtslehre      sich darin, dass die sichtbare Oberfläche
             in „Denkschulen“ finden und organisieren.     wurden mehr Paradigmenwechsel aus-          im Hintergrund durch Algorithmen er-
                                                           gerufen, als Revolutionen stattgefunden     zeugt und dynamisch verändert wird. Die
                                                           haben. Was sind die Paradigmen der ana-     Texte der digitalen Schule sind multiple
                                                           logen bzw. digitalen Schule?                vernetzte multimodale digitale Texte.

                                                           Die analoge Schule ist historisch geprägt   Die entscheidende Frage lautet: Wie ge-
                                                           durch Oralität, Skriptografie und Typo-     hen die Lernenden mit den jeweiligen
                                                           grafie (vgl. Krommer 2018). Es domi-        Texten um und welche Auswirkungen
                                                           nieren Hören und Sprechen, Schreiben,       hat das auf die Wirksamkeit des Ler-
                                                           ­Lesen auf analogen Medien, vorzugswei-     nens, also auf die Lerneffekte. Anders
bbw 1/2020

             Abb. 1: Die Paradigmen der analogen und
             digitalen Schule                              Abb. 2: Multimodale analoge Texte

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Wer genau weiß, wie digitales Lesen im Unterricht erfolgreich gelingt, schreibe es uns - Josef Leisen
Artikelreihe: Lehren und Lernen im Zeitalter der Digitalisierung

                                                                                         oder vielfältiger Texte (z. B. Hypertexte), um
                                                                                         ein globales Verständnis und eine gewisse
                                                                                         Expertise zu dem Thema zu erreichen.

                                                                                         Der Lernende werde mit einem multimo-
                                                                                         dalen analogen Text konfrontiert. Mittels
                                                                                         seines Vorwissens (blaues neuronales
                                                                                         Netz in der Abb. 4) liest er nach verschie-
                                                                                         denen Lesestilen wiederholend etwas aus
                                                                                         dem Text heraus und hinein und dabei
                                                                                         vergrößert sich sein Wissensnetz und
                                                                                         durch das intensive Lesen entsteht eine
                                                                                         Bindung an den Text. (Die Größe der Text-
Abb. 3: Multiple vernetzte multimodale digitale Texte                                    seite in Abb. 4 symbolisiert die Zeitdauer
                                                                                         und die Intensität der Beschäftigung.)
                                                                                         Der Lernende versteht den Text. Das ge-
formuliert: Können die Denkweisen der        1. Orientierendes (überfliegendes) Le-      schieht bei anspruchsvollen und heraus-
analogen Schule überhaupt auf die digi-      sen (skimming): Den Text zur Orientie-      fordernden Texten jedoch erfahrungsge-
tale Schule übertragen werden? Müssen        rung im eigenen Tempo zügig lesen, ohne     mäß nur, wenn passende Leseaufträge
und können sie angepasst werden oder         alles verstehen zu wollen und zu müssen.    gegeben werden. Der Leseauftrag „Lesen
müssen sie gar ersetzt werden? Die Fra-      2. Selektives (suchendes) Lesen (scan-      Sie den Text!“ reicht nicht.
ge wird an einem Ausschnitt schulischen      ning): Aus dem Text gewünschte Daten,
                                                                                          Die Lesedidaktik stellt ein großes
Lernens, nämlich dem Lernen an und mit       Fakten, Informationen, Begriffe, Sätze,
                                                                                          Arsenal an Leseaufträgen zur Ver-
Texten, behandelt.                           heraussuchen, ggf. markieren, heraus-
                                                                                          fügung (vgl. Leisen 2013).
                                             kopieren, um mit dem Text vertrauter zu
Das unterrichtlich                           werden.                                     Das verstehende Lesen von Fachtexten ist
                                             3. Intensives (genaues, detailliertes,      mit anstrengenden mentalen Denkopera-
­gesteuerte Lesen multi­
                                             totales) Lesen: Den Text verstehen wol-     tionen verbunden. Die Lerneffekte zeigen
 modaler analoger Texte                      len und intensiv, total, Wort für Wort,     sich in den Leseprodukten. Das können
Beim Lesen eines Textes, sei er analog       Satz für Satz, mit Bildern, Diagrammen,     analoge Denk-, Sprech-, Schreib-, Hand-
oder digital, werden mehrere Lesestile in    Tabellen, Karten, Verweise, … wiederho-     lungsprodukte sein oder auch digitale
unterschiedlicher Intensität angewandt.      lend lesen, bearbeiten und dabei Lesepro-   Produkte. Derart durch Leseaufträge gut
Der Lesestil sagt, wie ein Text gelesen      dukte erstellen.                            gesteuertes Lesen multimodaler analoger
wird. Hinter einem Lesestil steht immer      4. Extensives (kursorisches) Lesen:         Texte führt durch das intensive Lesen zu
eine entsprechende Absicht.                  Draufloslesen mehrerer, oft umfangreicher   verstehender Tiefe.

                                                                                                                                          bbw 1/2020

Abb. 4: Verstehendens tiefes Lesen eines multimodalen analogen Textes

                                                                                                                                           5
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             Abb. 5: Modell zum verstehenden tiefen Lesen von analogen Sachtexten im Unterricht

             Für das Lesen von analogen Sachtexten gibt   Das unterrichtlich g­ esteuerte              Texten etwas heraus und hinein und da-
             es ausgereifte und erprobte Konzepte und                                                  bei vergrößert sich sein Wissensnetz. (Die
                                                          Lesen multipler vernetzter
             Modelle. Das nachfolgende Modell (vgl.                                                    Größe der Tablets in Abb. 6 symbolisiert
             Abb. 5) zeigt wie die Leseschritte in eine   multimodaler digitaler Texte                 die Zeitdauer und Intensität der Beschäf-
             Lernumgebung für das Lesen eingebun-         Nun werde der Lernende mit multiplen         tigung.) Beim analogen Lesen widmet
             den werden und durch Leseaufträge und        vernetzten multimodalen digitalen Texten     sich der Lesende meistens ausschließlich
             Lesehilfen material und durch Moderation     konfrontiert. Auch hier liest der Lernende   einem einzigen Text und kann so eine
             und Rückmeldung personal gesteuert wer-      mittels seines Vorwissens (blaues neuro-     vertiefte Bindung an den Text aufbauen.
             den. Die Bedingungen für das gelingende      nales Netz in der Abb. 6) nach verschie-     Beim digitalen Lesen wird der Lesende mit
             verstehende tiefe Lesen sind eingefügt.      denen Lesestilen wiederholend aus den        multiplen vernetzten Texten konfrontiert
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             Abb. 6: Verstehendes breites Lesen von multiplen vernetzten multimodalen digitalen Texten mit vornehmlich digitalen Leseprodukten

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Wer genau weiß, wie digitales Lesen im Unterricht erfolgreich gelingt, schreibe es uns - Josef Leisen
Artikelreihe: Lehren und Lernen im Zeitalter der Digitalisierung

zu denen er, wenn überhaupt, nur verein-       analogen Lesen das intensive Lesen mit
zelt eine Bindung aufzubauen vermag.           Zeit und Anstrengung dominiert. Der             Zum Autor:
                                               Grund liegt darin, dass der analoge Text        Josef Leisen war Professor für Didaktik
 Die Flüchtigkeit des extensiven Le-
                                               ein knappes Gut ist. Der Lesende hat in         der Physik an der Universität Mainz und
 sens führt nicht in die Tiefe, sondern
                                               der Regel nur diesen einen Text und muss        Leiter des Studienseminars in Koblenz
 in die Breite.
                                               sich zum Verstehen auf Gedeih und Ver-
                                                                                               Kontakt: leisen@josefleisen.de
Falls das unterrichtliche Lesen gesteu-        derb darauf einlassen. Die Vielzahl der zur
                                                                                                         www.josefleisen.de
ert ist, benötigt der Lernende auch hier       Verfügung stehenden multiplen digitalen
passende Leseaufträge. „Recherchieren          Texte durch ihre Vernetzungen führt zur
Sie im Netz!“ reicht nicht. Der Lernende       Dominanz des extensiven Lesens.
wäre überfordert. Die Lerneffekte zei-                                                        Textkompetenzen, die Lerneffekte hin-
                                                Die verführerische Kraft des Hyper-
gen sich auch hier in den Leseprodukten.                                                      sichtlich Tiefe und Breite und schließlich
                                                links führt dazu, dass die multiplen
Das können zwar auch analoge Produkte                                                         die mit dem Medium verbundenen Ziele.
                                                Texte vorwiegend orientierend und
sein, jedoch sind es überwiegend digitale
                                                selektiv gelesen werden.                       „Die Ziele, die sich in einem ausschließ-
Produkte. Wer sich in der digitalen Welt
                                                                                               lich auf Buch und Schrift basierenden
aufhält, verbleibt auch erwartungsgemäß        Wenn erforderlich werden auch ausge-
                                                                                               Unterricht realistischerweise erreichen
darin, wenn die Aufgabenstellung nicht         wählte digitale Texte oder Textpassagen
                                                                                               lassen, unterscheiden sich signifikant
explizit etwas anderes fordert.                intensiv bearbeitet. Die Gefahr besteht
                                                                                               von den Zielen, die man mit Buch,
                                               darin, dass die Gelegenheiten zum inten-
                                                                                               Schrift, Tablet und Internetzugang
Unterschiede zwischen dem                      siven Lesen nicht gesehen oder verpasst
                                                                                               ansteuern kann. Der wahre Mehrwert
                                               werden und am Ende nicht zustande
unterrichtlich gesteuerten                                                                     digitaler Medien besteht also nicht
                                               kommen. Dieses Lesen führt mehr in die
analogen und digitalen                         Breite und weniger in die Tiefe.
                                                                                               darin, alte Ziele schneller zu erreichen,
Lesen                                                                                          sondern völlig neue Zieldimensionen
                                                                                               erstmals zu erschließen, die im Ideal-
Worin unterscheidet sich das unterricht-       Das Medium ändert alles, die Art des
                                                                                               fall gesellschaftlich und individuell be-
lich gesteuerte analoge vom digitalen          Umgangs, die Lesestile, die Leseschritte,
                                                                                               deutsam sind (vgl. hierzu Rosa 2017).“
Lesen? Die vergleichende Betrachtung           die Lesedauer, die Intensität, die Anstren-
                                                                                               (Wampfler & Krommer 2019)
der Abbildungen 4 und 6 zeigt, dass beim       gung, die entstehenden Leseprodukte, die

   Verstehendes Lesen multimodaler                                     Verstehender Umgang mit multiplen
   ­analoger Texte                                                     multimodalen digitalen Texten

   ■   V erstehendes analoges Lesen ist ein hermeneutischer           ■   V erstehendes digitales Lesen bedeutet „Inhalte von
        Prozess des mehrfachen „Herauslesens“ und „Hineinle-                Texten / Dokumenten gezielt mit ihren Metadaten kog-
        sens“ nach v­ erschiedenen Lesestilen, um die kognitiven            nitiv zu kombinieren und für ein verstehendes Lesen zu
        und sprach­lichen Verstehenslücken zwischen dem                     nutzen.“ (Philipp 2018).
        Wissensnetz des Lesers und dem Text zu schließen.
                                                                       ■   V orrangig ist das zeitintensive extensive Lesen unter
   ■   V orrangig ist das intensive Lesen mit Zeit und Anstren-            Nutzung der Konnektivität der Texte und der kollabora-
        gung und der Erstellung von Leseprodukten.                          tiven Erstellung von digitalen Leseprodukten.
   ■    naloges Lesen ist einsam, aber der Austausch ist
       A                                                               ■   Digitales Lesen ist gleichzeitig einsam und kollaborativ.
       kollektiv.

Tab. 1: Vergleich des verstehenden Lesens analoger und digitaler Texte

Die Frage nach dem Mehrwert des einen          2018). Die durch die unterschiedlichen         Ziele und Lerneffekte. Die analogen und
                                                                                                                                           bbw 1/2020

Lesens gegenüber dem anderen und um-           Medien evozierten Textkompetenzen un-          digitalen Textkompetenzen werden nach-
gekehrt ist unlauter (vgl. auch Krommer        terscheiden sich und folglich auch die         folgend einander gegenübergestellt.

                                                                                                                                            7
Wer genau weiß, wie digitales Lesen im Unterricht erfolgreich gelingt, schreibe es uns - Josef Leisen
bbw

                 Analoge Textkompetenzen                                            Digitale Textkompetenzen

                 ■    T extkompetenz bezeichnet die „individuelle Fähigkeit,       1. Rezeptives Erfassen und produktive Nutzung der
                       Texte lesen, schreiben und zum Lernen nutzen zu kön-             ­Multimodalität eines Textes
                       nen“ (Portmann-Tselikas 2008).
                                                                                    2. Rezeption und Produktion der spezifischen Zeichen-
                 ■    L esekompetenz beinhaltet die Fähig­keit mit passenden           struktur eines digitalen Textes
                       Lesestilen und geeigneten Lesestrategien
                                                                                    3. Kompetenter rezeptiver und produktiver Umgang mit
                       – relevante Informationen aus Texten zu lokalisieren,
                                                                                        der Konnektivität eines digitalen Textes
                       – Texte zu verstehen,
                       – sie zu bewerten und                                        4. Erfassen und Nutzen der Textsorte eines digitalen Textes
                       – über sie zu reflektieren.                                      und der damit verbundenen kommunikativen Funktionen

                 ■    T extkompetenz erfasst die Fähigkeit und Motivation,         5. Rezeptives Erfassen und kompetentes produktives Ge-
                       sich auf Texte einzulassen und sich mit deren Inhalten           stalten aller mit der Intentionalität eines digitalen Textes
                       auseinanderzusetzen.                                             verbundenen Herausforderungen
                                                                                    6. Umgang mit den ethisch-normativen Aspekten der in
                                                                                        sozialen Netzwerken entstehenden digitalen Texte
                                                                                    Wampfler & Krommer, SEMINAR 3 (2019), S. 77-79

             Tab. 2: Vergleich von analogen und digitalen Textkompetenzen

             Prof. Josef Leisen (OStD a. D.)                                                                                                          n

             Literatur (Teil 1):

             Kammerer, Yvonne (2019): Textverständnis beim Lesen         Fortbildung
             digitaler und gedruckter Texte. SEMINAR 3 (2019), 64-72

             Krommer, Axel (2018): Wider den Mehrwert! Oder: Ar-
             gumente gegen einen überflüssigen Begriff. https://
                                                                         „Sprachsensibler
             axelkrommer.com/2018/09/05/wider-den-mehrwert-
             oder-argumente-gegen-einen-ueberfluessigen-be-              Fachunterricht“
             griff/

             Kuhn, Thomas S. (1981): Die Struktur wissenschaft­          Referent: Prof. Josef Leisen, OStD a.D.
             licher Revolutionen. Mit einem Postskriptum von 1969.
             5. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main

             Leisen, Josef (2013): Handbuch Sprachförderung im
             Fach – Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis.
             Stuttgart: Klett
                                                                         Dienstag, 11. Februar 2020,
             Rosa, Lisa (2017): Lernen im digitalen Zeitalter. Online-
             Quelle: https://shiftingschool.wordpress.com/2017/11/       15.00 Uhr – 18.00 Uhr
             28/lernen-im-digitalen-zeitalter/
                                                                         Berufskolleg am Goldberg
             Wampfler Philippe & Krommer, Axel (2019): Lesen im
             digitalen Zeitalter. SEMINAR 3(2019), 73-84
                                                                         Goldbergstraße 58-60
                                                                         45894 Gelsenkirchen Buer
             Zierer, Klaus; Christina Lachner (2019): Warum eine ge-
bbw 1/2020

             lingende Digitalisierung im Schulkontext in entschei-
             dender Weise von der Lehrerprofessionalität abhängt?
             Beruflicher Bildungsweg 1 (2019), 3-7

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Wer genau weiß, wie digitales Lesen im Unterricht erfolgreich gelingt, schreibe es uns - Josef Leisen
bbw

             Wer genau weiß, wie digitales Lesen im
             Unterricht erfolgreich gelingt, schreibe es uns
                                                           Teil 2

             Unterschiede zwischen dem                                                                  ennutzung deutlich von der der heutigen
                                                                                                        und der zukünftigen Generationen.
             Lernen mit analogen und
             digitalen Medien                                                                           Das intensive Lesen, ob analog oder digi-
             Das Medium ist mehr als ein Informati-                                                     tal, führt im Sinne des expliziten Lernens
             onsträger und ein bloßes Werkzeug. Das                                                     zu selbsterarbeitetem Wissen und im
             Medium greift tief in die Lernvorgänge                                                     Sinne des impliziten Lernens zu verschie-
                                                                                 Josef Leisen
             ein. Beim Lernen wird u. a. Wissen gene-                                                   denen Erwerbsprozessen. Das Medium
             riert. Wissen ist etwas Selbsterarbeite-                                                   schlägt in voller Wucht durch. Beim ana-
             tes und deutlich von reiner Information       werbsprozesse ist und im prozeduralen        logen Lesen werden andere Strategien
             zu unterscheiden. Um Wissen zu erwer-         Langzeitgedächtnis verankert oder ge-        und Routinen genutzt und routinisiert als
             ben und im semantischen Gedächtnis            speichert werden.                            beim digitalen Lesen. Die Frage ist nicht,
             zu speichern, müssen die Wissensele-                                                       ob das Medium intensives Lesen ermög-
             mente in kognitiven Schleifen das Ge-         Die Kompetenzen und Routinen in der          licht, sondern in welchem Maße es dazu
             hirn durchlaufen haben. Wer viel weiß,        Handhabung des jeweiligen Mediums und        zwingt.
             kann leicht neues mit altem Wissen in         in der Nutzung von passenden Strategi-
             vielfältiger Art und Weise verknüpfen.        en – z. B. Lesestrategien, Suchstrategien,   Neben dem expliziten und impliziten Ler-
             Wer wenig weiß, muss jedes Mal wie-           Schreibstrategien – entscheiden maß-         nen ist das emergente Lernen bekannt.
             der ganze Netzwerke zusammenschal-            geblich über die Lernerfolge mit. Routi-     Mit emergentem Lernen ist ein Lernen
             ten, anstatt nur neue Verknüpfungen           nen und Strategien, die im prozeduralen      gemeint, bei dem sich Lernergebnisse
             in bestehende einzuziehen. Wissen ist         Gedächtnis gespeichert sind, entlasten       spontan und ungeplant herausbilden
             der stärkste Einflussfaktor auf das           nämlich das Arbeitsgedächtnis. Wer nach      und diese Ergebnisse durch die Interak-
             Textverstehen. Der so skizzierte Lernbe-      Unterschieden zwischen dem Lernen mit        tion der Lernenden untereinander ent-
             griff umfasst das explizite (intentionale)    analogen und digitalen Medien fragt und      stehen. Jeder kennt Situationen, in denen
             Lernen, das im semantischen Langzeit-         untersucht, muss die Kompetenzen bzgl.       einem „ein Licht aufging". Diese Heureka-
             gedächtnis verankert oder gespeichert         der Routinen und Strategien miterfassen.     Momente entstehen oft ungeplant, beim
             wird. Lernen umfasst auch das implizi-        Fraglos unterscheidet sich die Sozialisa-    Stöbern in der Bibliothek, beim Surfen im
             te Lernen, das charakteristisch für Er-       tion früherer Generationen in der Medi-      Netz, im zwanglosen Gespräch, auf dem

                Explizites (Intentionales) Lernen                                  Implizites Lernen (= Erwerben)

                ■   bewusstes und gesteuertes Lernen                               ■   ohne bewusste Kontrolle oder Steuerung
                ■   charakteristisch für unterrichtliche Lernprozesse              ■   charakteristisch für Erwerbsprozesse
                ■   gezielter Kompetenzaufbau                                      ■   zufälliger Kompetenzaufbau
                ■   d eklaratives WAS-Wissen wird im semantischen                 ■   p rozedurales WIE-Wissen wird im prozeduralen
                     ­Gedächtnis gespeichert                                            ­Gedächtnis gespeichert
                ■    äßig robuste Speicherung und an bewusste
                    m                                                              ■   s ehr robuste Speicherung und müheloser Gebrauch
                    ­Erinnerung gebunden.                                               ohne bewusste Erinnerung
bbw 2/2020

             Tab. 3: Vergleich von explizitem und implizitem Lernen

 4
Artikelreihe: Lehren und Lernen im Zeitalter der Digitalisierung

Spaziergang, beim Gedankenverlieren, in          3. Wie unterstütze ich?                        5. Welche Leseprodukte stelle ich her und
entspannten Situationen. Nach einem              4. Wie strukturiere ich den Lernprozess?          wie gestalte ich sie?
Diktum von Werner Heisenberg entsteht                Darf, muss oder soll er überhaupt          6. Wie kommuniziere und wie kollabo­
Physik im Gespräch. Heureka-Momente                  strukturiert sein? Ist selbstorganisier-       riere ich mit anderen?
entstehen in der Kommunikation. Das                  tes Lernen zwingend und wie organi-        7. W ie gehe ich mit den ethisch-norma-
emergente Lernen wird oft im episodi-                siere ich das?                                 tiven Aspekten um?
schen Gedächtnis mit sehr bewusster Er-          5. Wie und was diagnostiziere, bewerte
innerung bzgl. Ort und Zeit gespeichert.             und benote ich?                            In Anbetracht der Fragen mag die ana-
Das digitale extensive Lesen befördert                                                          loge Lernwelt übersichtlich und handlich
das emergente Lernen, verbunden mit              Diese Fragen der Lehrpersonen müssen           erscheinen. Der eingeschränkte Umfang
der Gefahr des Sich-Verlierens. Zwei Fra-        mit konkreten unterrichtspraktischen           der analogen Texte, deren Übersichtlich-
gen stellen sich an dieser Stelle.               Vorschlägen und Unterstützungen be­            keit, die geringe Anzahl der Verweise, die
Frage 1: Kann es emergentes Lernen im            antwortet werden. Andernfalls droht,           dauerhafte Präsenz der Texte fördert die
strukturierten geleiteten Lernen geben?          dass die in der Digitalität liegenden          Konzentration auf und die Intensität mit
Frage 2: Unter welchen Bedingungen               Lerngelegenheiten verdampfen. Hier             der Auseinandersetzung, da der analoge
gibt es emergentes Lernen beim struktu-          steht noch viel Entwicklungsarbeit an.         Text im Vergleich zu den Texten aus der
rierten geleiteten Lernen oder braucht es                                                       digitalen Welt ein knappes Gut ist.
dazu das unstrukturierte und/oder selb-          Weder digitales Lehren noch digitales
storganisierte Lernen?                           Lernen sind Selbstläufer. Fraglos sind die     Die digitalen Texte hingegen sind un-
                                                 Lernenden in der Regel den Lehrperso-          zählig durch die Vernetzung (multipel),
Die Fragen stehen im Zusammenhang                nen in der Handhabung digitaler Medien         vielfältig in der Darstellung (multimo-
mit der Frage, wie viel selbstorganisiertes      und Plattformen weit überlegen. Nicht          dal), unübersichtlich im Umfang und in
Lernen zwingend, notwendig und mög-              die Handhabungskompetenz ist die Her-          der Struktur und in der Regel kurzfristig
lich ist. Auch wenn die forschungsbe-            ausforderung, sondern die Nutzung zum          präsent (vernetzt). Die suggestive Kraft
legten Antworten auf beide Fragen noch           gezielten expliziten und impliziten Lernen     des Hyperlinks verführt die Lernenden
ausstehen, ist anzunehmen, dass das ex­          im Sinne der Wissenskonstruktion. Wis-         allzu leicht zum Weiterklicken, satt zum
tensive digitale Lesen mehr selbstor­            sen ist etwas Selbsterarbeitetes und von       Verweilen. Intensives Arbeiten benötigt
ganisiertes Lernen einfordert.                   reiner Information zu unterscheiden. Der       Zeit zum Verweilen und Anstrengung
                                                 Vorteil digitaler Medien liegt darin, ein-     für die mentalen kognitiven Denk­
Unterschiede zwischen dem                        fach und jederzeit gezielt an Informatio-      operationen. Um die Lernenden an den
                                                 nen zu gelangen. Um diese in Wissen zu         Umgang mit digitalen Texten heranzu-
analogen und digitalen
                                                 transferieren und im semantischen und          führen, könnte man die „weite Welt der
Lehren                                           prozeduralen Gedächtnis zu speichern,          Texte" durch im Sinne von WebQuests
Für das Lesen von analogen Sachtexten            müssen die Wissenselemente in kogni-           vorübergehend einschränken. Die Ent-
gibt es ausgereifte und erprobte Konzep-         tiven Schleifen das Gehirn durchlaufen         wicklung einer praxistauglichen Didaktik
te, Modelle und Vorschläge für Leseauf-          haben.                                         des Lehrens und Lernens für die digitale
träge (vgl. Auswahlliste an Leseaufträgen                                                       Schule bleibt ein Desiderat.
unter www.download.josefleisen.de/aus-           Die Transformation von Informationen
wahlliste.pdf). Diese fehlen noch für das        in Wissen ist die Herausforderung der          Mit „palliativer Didaktik"
Lesen von digitalen Texten. Die Konzepte         digitalen Schule. Die digitalen Medien
                                                                                                (Krommer 2018) von der
zum analogen Lesen lassen sich nicht             sind hier Segen und Fluch gleichzeitig.
einfach auf das Lesen von multiplen              Den Lernenden stellen sich folgenreiche        analogen Schule zur digi­
vernetzten multimodalen digitalen Tex-           Fragen:                                        talen Schule?
ten übertragen. Hier muss neu gedacht                                                           In der didaktischen Welt der analogen
werden. Aus Mangel an Vorschlägen und            1. Welche Dokumente suche ich in wel-         Medien gibt es eine lange Tradition, viel
Erfahrungen sind die Lehrkräfte unsicher             cher Modalität?                            Hintergrundwissen, eine umfangreiche
und ihnen stellen sich beim digitalen Le-        2. Was wähle ich aus, wie verbinde ich        Handreichungsliteratur, viele Erfahrun-
sen folgende Fragen:                                 die Teile?                                 gen und viele Studien über Lerneffekte
                                                 3. Welchen Dokumenten kann ich ver-           dazu. Ganz anders in der digitalen Welt.
1. Welche Leseaufträge gebe ich?                     trauen?                                    Es liegen viel programmatische Entwür-
                                                                                                                                             bbw 2/2020

2. Welche Materialien / Medien / ­Strate­gien   4. Wie strukturiere ich meinen Lese­          fe und viele Zukunftsvisionen mit hohen
    gebe ich?                                        prozess?                                   Erwartungen vor, jedoch noch wenige

                                                                                                                                              5
bbw
             unterrichtspraktische Vorschläge und                    einfacher und besser erreicht werden                           einzureißen. Abzuwarten bis diese vor-
             Erfahrungen einer digitalen Schule ganz                 können, verkennt den Eigenwert der di-                         liegt geht auch nicht. Durch die Digita-
             im Geist der genannten Paradigmen,                      gitalen Medien                                                 lisierung der Gesellschaft und Schule
             nämlich Digitalität, Vernetzung und Kol-                                                                               dringt die Digitalität ungestüm in die
             laboration. (vgl. Krommer 2018). „Es geht                 „Anstatt zeitgemäßes, offenes, kol-                          Köpfe der Lernenden ein und Schule
             darum, dass die gesamte Gesellschaft                      laboratives Lernen und Lehren zu er-                         steht dem macht- und ratlos gegenüber.
             durch die Kultur der Digitalität (vgl. Stal-              möglichen, werden Formen des tradi-                          Folglich muss im laufenden Betrieb eine
             der 2016) in eine neue Denk-Nährlösung,                   tionellen Unterrichts in ein digitales                       „Digital-Didaktik" entwickelt werden.
             „a new medium to think and imagine dif-                   Mäntelchen gehüllt.“ (Krommer 2019)                          Wer genau weiß, wie diese aussieht und
             ferently" (Manovich 2013, S. 13) getaucht                                                                              in der Praxis des Alltagsunterrichts funk-
             wird, in der auch solche Begriffe wie „Ler-             Eine Didaktik, die digitale Medien im Geist                    tioniert, möge es uns schreiben.
             nen" und „Wissen" neue Bedeutungen er-                  der analogen Medien nutzt, bezeichnet
             halten (vgl. hierzu z.B. Weinberger 2011)."             Krommer als „palliative Didaktik", eine Di-                    Prof. Josef Leisen (OStD a. D.)                    n
             (zitiert nach Krommer 2018)                             daktik, die das Weiterleben der analogen
                                                                     Schule künstlich am Leben hält.
             Wie entwickelt sich eine analoge Schu-                                                                                   Zum Autor:
             le zur digitalen Schule? Eine Schule, die               Ob sich die „Palliativ-Didaktik" als Brü-
                                                                                                                                      Josef Leisen war Professor für Didaktik
             lediglich Kreidetafeln durch Smartboards                ckendidaktik zur „Digital-Didaktik" eig-
                                                                                                                                      der Physik an der Universität Mainz und
             und Bücher durch Tablets ersetzt, ist                   net, muss man hinterfragen. Solange es
                                                                                                                                      Leiter des Studienseminars in Koblenz
             keine digitale Schule. Wer digitale Me-                 keine überzeugende und praxistaugliche
                                                                                                                                      Kontakt: leisen@josefleisen.de
             dien als Werkzeuge versteht, mit denen                  „Digital-Didaktik" gibt, ist es riskant, das
                                                                                                                                                www.josefleisen.de
             die Ziele der analogen Schule schneller,                Gebäude der analogen Schule vorschnell

             Literatur (gesamt):

             Kammerer, Yvonne (2019): Textverständnis beim Lesen     Leisen, Josef (2013): Handbuch Sprachförderung im              Wampfler Philippe & Krommer, Axel (2019): Lesen im
             digitaler und gedruckter Texte. SEMINAR 3(2019), 64-    Fach – Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis.           digitalen Zeitalter. SEMINAR 3(2019), 73-84
             72                                                      Stuttgart: Klett
                                                                                                                                    Weinberger, David (2011): Too big to know. New York:
             Krommer, Axel (2018): Wider den Mehrwert! Oder:         Manovich, Lev (2013): Software Takes Command. New              Basic Books.
             Argumente gegen einen überflüssigen Begriff. https://   York/London/Oxford/New Delhi/Sydney: Bloomsbury.
                                                                                                                                    Zierer, Klaus; Christina Lachner (2019): Warum eine ge-
             axelkrommer.com/2018/09/05/wider-den-mehrwert-          Philipp, Maik (2018): Multiple Modelle des Leseverste-         lingende Digitalisierung im Schulkontext in entschei-
             oder-argumente-gegen-einen-ueberfluessigen-be-                                                                         dender Weise von der Lehrerprofessionalität abhängt?
                                                                     hens multipler Texte – Eine Synopse aktueller kogni-
             griff/                                                                                                                 Beruflicher Bildungsweg 1(2019), 3-7
                                                                     tiver Modellierungen aus lesedidaktischer Perspektive.
                                                                     https://www.leseforum.ch/sysModules/obxLeseforum/
             Krommer, Axel (2019): Paradigmen und palliative Di-
                                                                     Artikel/646/2018_3_de_philipp.pdf
             daktik. Oder: Wie Medien Wissen und Lernen prägen.
             https://www.digitalitaet2019.philosophie.uni-muen-      Stalder, Felix (2016): Kultur der Digitalität. Berlin: Suhr-
             chen.de/downloads/abstract_krommer.pdf                  kamp.

             Kuhn, Thomas S. (1981): Die Struktur wissenschaftli-    Rosa, Lisa (2017): Lernen im digitalen Zeitalter.
             cher Revolutionen. Mit einem Postskriptum von 1969.     ­Online-Quelle: https://shiftingschool.wordpress.com/
             5. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main                  2017/11/28/lernen-im-digitalen-zeitalter/

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bbw 2/2020

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