Wer genau weiß, wie digitales Lesen im Unterricht erfolgreich gelingt, schreibe es uns - Josef Leisen
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
bbw Wer genau weiß, wie digitales Lesen im Unterricht erfolgreich gelingt, schreibe es uns Teil 1 Die Paradigmen der se auf Papier (Abb. 1). Die Texte der ana- logen Schule sind multimodale analoge analogen und der digitalen Texte, d. h. es handelt sich um diskonti- Schule nuierliche Texte mit Fotos, Abbildungen, Ein Paradigma ist eine grundsätzliche Diagrammen, Tabellen, Graphen und vie- Denkweise. Schulparadigmen geben vor, len anderen Darstellungsformen (Abb. 2). wie Schule als Bildungsinstitution zu Josef Leisen denken ist, was gelernt werden soll, was Die digitale Schule ist geprägt durch die schulisches Lernen bedeutet, wie Schule, Paradigmen Digitalität, Vernetzung und Unterricht und Lernen zu organisieren Etablierte Denkweisen sind zäh und lang- Kollaboration (vgl. Krommer 2018). Hier sind, was von Lehrpersonen erwartet lebig und auf Erhalt bedacht. Paradigmen dominieren Hyperlinks, die Vernetzungen wird, usw. Paradigmen sind historisch passen sich, solange dies möglich ist, an herstellen und Clouds, die dem kollabo- gewachsene Rahmen, in denen Schule- neue Bedingungen an und erfahren einen rativen Arbeiten und der Interaktivität Unterricht-Lernen gedacht wird. Da ver- radikalen Umbau erst dann, wenn sie an dienen. Es dominieren multiple Texte, schiedene Denkweisen möglich sind, gibt unüberwindbare Grenzen stoßen (vgl. hinsichtlich der Textsorten und der medi- es verschiedene Paradigmen, z. B. behavi- Analogie zu wissenschaftlichen Revolu- alen Darstellung und die Texte selbst sind oristische, instruktivistische, konstrukti- tionen in Kuhn 1981). In der Geschichte multimodal (Abb. 3). Die Digitalität zeigt vistische, reformpädagogische, … die sich der Pädagogik und der Unterrichtslehre sich darin, dass die sichtbare Oberfläche in „Denkschulen“ finden und organisieren. wurden mehr Paradigmenwechsel aus- im Hintergrund durch Algorithmen er- gerufen, als Revolutionen stattgefunden zeugt und dynamisch verändert wird. Die haben. Was sind die Paradigmen der ana- Texte der digitalen Schule sind multiple logen bzw. digitalen Schule? vernetzte multimodale digitale Texte. Die analoge Schule ist historisch geprägt Die entscheidende Frage lautet: Wie ge- durch Oralität, Skriptografie und Typo- hen die Lernenden mit den jeweiligen grafie (vgl. Krommer 2018). Es domi- Texten um und welche Auswirkungen nieren Hören und Sprechen, Schreiben, hat das auf die Wirksamkeit des Ler- Lesen auf analogen Medien, vorzugswei- nens, also auf die Lerneffekte. Anders bbw 1/2020 Abb. 1: Die Paradigmen der analogen und digitalen Schule Abb. 2: Multimodale analoge Texte 4
Artikelreihe: Lehren und Lernen im Zeitalter der Digitalisierung oder vielfältiger Texte (z. B. Hypertexte), um ein globales Verständnis und eine gewisse Expertise zu dem Thema zu erreichen. Der Lernende werde mit einem multimo- dalen analogen Text konfrontiert. Mittels seines Vorwissens (blaues neuronales Netz in der Abb. 4) liest er nach verschie- denen Lesestilen wiederholend etwas aus dem Text heraus und hinein und dabei vergrößert sich sein Wissensnetz und durch das intensive Lesen entsteht eine Bindung an den Text. (Die Größe der Text- Abb. 3: Multiple vernetzte multimodale digitale Texte seite in Abb. 4 symbolisiert die Zeitdauer und die Intensität der Beschäftigung.) Der Lernende versteht den Text. Das ge- formuliert: Können die Denkweisen der 1. Orientierendes (überfliegendes) Le- schieht bei anspruchsvollen und heraus- analogen Schule überhaupt auf die digi- sen (skimming): Den Text zur Orientie- fordernden Texten jedoch erfahrungsge- tale Schule übertragen werden? Müssen rung im eigenen Tempo zügig lesen, ohne mäß nur, wenn passende Leseaufträge und können sie angepasst werden oder alles verstehen zu wollen und zu müssen. gegeben werden. Der Leseauftrag „Lesen müssen sie gar ersetzt werden? Die Fra- 2. Selektives (suchendes) Lesen (scan- Sie den Text!“ reicht nicht. ge wird an einem Ausschnitt schulischen ning): Aus dem Text gewünschte Daten, Die Lesedidaktik stellt ein großes Lernens, nämlich dem Lernen an und mit Fakten, Informationen, Begriffe, Sätze, Arsenal an Leseaufträgen zur Ver- Texten, behandelt. heraussuchen, ggf. markieren, heraus- fügung (vgl. Leisen 2013). kopieren, um mit dem Text vertrauter zu Das unterrichtlich werden. Das verstehende Lesen von Fachtexten ist 3. Intensives (genaues, detailliertes, mit anstrengenden mentalen Denkopera- gesteuerte Lesen multi totales) Lesen: Den Text verstehen wol- tionen verbunden. Die Lerneffekte zeigen modaler analoger Texte len und intensiv, total, Wort für Wort, sich in den Leseprodukten. Das können Beim Lesen eines Textes, sei er analog Satz für Satz, mit Bildern, Diagrammen, analoge Denk-, Sprech-, Schreib-, Hand- oder digital, werden mehrere Lesestile in Tabellen, Karten, Verweise, … wiederho- lungsprodukte sein oder auch digitale unterschiedlicher Intensität angewandt. lend lesen, bearbeiten und dabei Lesepro- Produkte. Derart durch Leseaufträge gut Der Lesestil sagt, wie ein Text gelesen dukte erstellen. gesteuertes Lesen multimodaler analoger wird. Hinter einem Lesestil steht immer 4. Extensives (kursorisches) Lesen: Texte führt durch das intensive Lesen zu eine entsprechende Absicht. Draufloslesen mehrerer, oft umfangreicher verstehender Tiefe. bbw 1/2020 Abb. 4: Verstehendens tiefes Lesen eines multimodalen analogen Textes 5
bbw Abb. 5: Modell zum verstehenden tiefen Lesen von analogen Sachtexten im Unterricht Für das Lesen von analogen Sachtexten gibt Das unterrichtlich g esteuerte Texten etwas heraus und hinein und da- es ausgereifte und erprobte Konzepte und bei vergrößert sich sein Wissensnetz. (Die Lesen multipler vernetzter Modelle. Das nachfolgende Modell (vgl. Größe der Tablets in Abb. 6 symbolisiert Abb. 5) zeigt wie die Leseschritte in eine multimodaler digitaler Texte die Zeitdauer und Intensität der Beschäf- Lernumgebung für das Lesen eingebun- Nun werde der Lernende mit multiplen tigung.) Beim analogen Lesen widmet den werden und durch Leseaufträge und vernetzten multimodalen digitalen Texten sich der Lesende meistens ausschließlich Lesehilfen material und durch Moderation konfrontiert. Auch hier liest der Lernende einem einzigen Text und kann so eine und Rückmeldung personal gesteuert wer- mittels seines Vorwissens (blaues neuro- vertiefte Bindung an den Text aufbauen. den. Die Bedingungen für das gelingende nales Netz in der Abb. 6) nach verschie- Beim digitalen Lesen wird der Lesende mit verstehende tiefe Lesen sind eingefügt. denen Lesestilen wiederholend aus den multiplen vernetzten Texten konfrontiert bbw 1/2020 Abb. 6: Verstehendes breites Lesen von multiplen vernetzten multimodalen digitalen Texten mit vornehmlich digitalen Leseprodukten 6
Artikelreihe: Lehren und Lernen im Zeitalter der Digitalisierung zu denen er, wenn überhaupt, nur verein- analogen Lesen das intensive Lesen mit zelt eine Bindung aufzubauen vermag. Zeit und Anstrengung dominiert. Der Zum Autor: Grund liegt darin, dass der analoge Text Josef Leisen war Professor für Didaktik Die Flüchtigkeit des extensiven Le- ein knappes Gut ist. Der Lesende hat in der Physik an der Universität Mainz und sens führt nicht in die Tiefe, sondern der Regel nur diesen einen Text und muss Leiter des Studienseminars in Koblenz in die Breite. sich zum Verstehen auf Gedeih und Ver- Kontakt: leisen@josefleisen.de Falls das unterrichtliche Lesen gesteu- derb darauf einlassen. Die Vielzahl der zur www.josefleisen.de ert ist, benötigt der Lernende auch hier Verfügung stehenden multiplen digitalen passende Leseaufträge. „Recherchieren Texte durch ihre Vernetzungen führt zur Sie im Netz!“ reicht nicht. Der Lernende Dominanz des extensiven Lesens. wäre überfordert. Die Lerneffekte zei- Textkompetenzen, die Lerneffekte hin- Die verführerische Kraft des Hyper- gen sich auch hier in den Leseprodukten. sichtlich Tiefe und Breite und schließlich links führt dazu, dass die multiplen Das können zwar auch analoge Produkte die mit dem Medium verbundenen Ziele. Texte vorwiegend orientierend und sein, jedoch sind es überwiegend digitale selektiv gelesen werden. „Die Ziele, die sich in einem ausschließ- Produkte. Wer sich in der digitalen Welt lich auf Buch und Schrift basierenden aufhält, verbleibt auch erwartungsgemäß Wenn erforderlich werden auch ausge- Unterricht realistischerweise erreichen darin, wenn die Aufgabenstellung nicht wählte digitale Texte oder Textpassagen lassen, unterscheiden sich signifikant explizit etwas anderes fordert. intensiv bearbeitet. Die Gefahr besteht von den Zielen, die man mit Buch, darin, dass die Gelegenheiten zum inten- Schrift, Tablet und Internetzugang Unterschiede zwischen dem siven Lesen nicht gesehen oder verpasst ansteuern kann. Der wahre Mehrwert werden und am Ende nicht zustande unterrichtlich gesteuerten digitaler Medien besteht also nicht kommen. Dieses Lesen führt mehr in die analogen und digitalen Breite und weniger in die Tiefe. darin, alte Ziele schneller zu erreichen, Lesen sondern völlig neue Zieldimensionen erstmals zu erschließen, die im Ideal- Worin unterscheidet sich das unterricht- Das Medium ändert alles, die Art des fall gesellschaftlich und individuell be- lich gesteuerte analoge vom digitalen Umgangs, die Lesestile, die Leseschritte, deutsam sind (vgl. hierzu Rosa 2017).“ Lesen? Die vergleichende Betrachtung die Lesedauer, die Intensität, die Anstren- (Wampfler & Krommer 2019) der Abbildungen 4 und 6 zeigt, dass beim gung, die entstehenden Leseprodukte, die Verstehendes Lesen multimodaler Verstehender Umgang mit multiplen analoger Texte multimodalen digitalen Texten ■ V erstehendes analoges Lesen ist ein hermeneutischer ■ V erstehendes digitales Lesen bedeutet „Inhalte von Prozess des mehrfachen „Herauslesens“ und „Hineinle- Texten / Dokumenten gezielt mit ihren Metadaten kog- sens“ nach v erschiedenen Lesestilen, um die kognitiven nitiv zu kombinieren und für ein verstehendes Lesen zu und sprachlichen Verstehenslücken zwischen dem nutzen.“ (Philipp 2018). Wissensnetz des Lesers und dem Text zu schließen. ■ V orrangig ist das zeitintensive extensive Lesen unter ■ V orrangig ist das intensive Lesen mit Zeit und Anstren- Nutzung der Konnektivität der Texte und der kollabora- gung und der Erstellung von Leseprodukten. tiven Erstellung von digitalen Leseprodukten. ■ naloges Lesen ist einsam, aber der Austausch ist A ■ Digitales Lesen ist gleichzeitig einsam und kollaborativ. kollektiv. Tab. 1: Vergleich des verstehenden Lesens analoger und digitaler Texte Die Frage nach dem Mehrwert des einen 2018). Die durch die unterschiedlichen Ziele und Lerneffekte. Die analogen und bbw 1/2020 Lesens gegenüber dem anderen und um- Medien evozierten Textkompetenzen un- digitalen Textkompetenzen werden nach- gekehrt ist unlauter (vgl. auch Krommer terscheiden sich und folglich auch die folgend einander gegenübergestellt. 7
bbw Analoge Textkompetenzen Digitale Textkompetenzen ■ T extkompetenz bezeichnet die „individuelle Fähigkeit, 1. Rezeptives Erfassen und produktive Nutzung der Texte lesen, schreiben und zum Lernen nutzen zu kön- Multimodalität eines Textes nen“ (Portmann-Tselikas 2008). 2. Rezeption und Produktion der spezifischen Zeichen- ■ L esekompetenz beinhaltet die Fähigkeit mit passenden struktur eines digitalen Textes Lesestilen und geeigneten Lesestrategien 3. Kompetenter rezeptiver und produktiver Umgang mit – relevante Informationen aus Texten zu lokalisieren, der Konnektivität eines digitalen Textes – Texte zu verstehen, – sie zu bewerten und 4. Erfassen und Nutzen der Textsorte eines digitalen Textes – über sie zu reflektieren. und der damit verbundenen kommunikativen Funktionen ■ T extkompetenz erfasst die Fähigkeit und Motivation, 5. Rezeptives Erfassen und kompetentes produktives Ge- sich auf Texte einzulassen und sich mit deren Inhalten stalten aller mit der Intentionalität eines digitalen Textes auseinanderzusetzen. verbundenen Herausforderungen 6. Umgang mit den ethisch-normativen Aspekten der in sozialen Netzwerken entstehenden digitalen Texte Wampfler & Krommer, SEMINAR 3 (2019), S. 77-79 Tab. 2: Vergleich von analogen und digitalen Textkompetenzen Prof. Josef Leisen (OStD a. D.) n Literatur (Teil 1): Kammerer, Yvonne (2019): Textverständnis beim Lesen Fortbildung digitaler und gedruckter Texte. SEMINAR 3 (2019), 64-72 Krommer, Axel (2018): Wider den Mehrwert! Oder: Ar- gumente gegen einen überflüssigen Begriff. https:// „Sprachsensibler axelkrommer.com/2018/09/05/wider-den-mehrwert- oder-argumente-gegen-einen-ueberfluessigen-be- Fachunterricht“ griff/ Kuhn, Thomas S. (1981): Die Struktur wissenschaft Referent: Prof. Josef Leisen, OStD a.D. licher Revolutionen. Mit einem Postskriptum von 1969. 5. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main Leisen, Josef (2013): Handbuch Sprachförderung im Fach – Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis. Stuttgart: Klett Dienstag, 11. Februar 2020, Rosa, Lisa (2017): Lernen im digitalen Zeitalter. Online- Quelle: https://shiftingschool.wordpress.com/2017/11/ 15.00 Uhr – 18.00 Uhr 28/lernen-im-digitalen-zeitalter/ Berufskolleg am Goldberg Wampfler Philippe & Krommer, Axel (2019): Lesen im digitalen Zeitalter. SEMINAR 3(2019), 73-84 Goldbergstraße 58-60 45894 Gelsenkirchen Buer Zierer, Klaus; Christina Lachner (2019): Warum eine ge- bbw 1/2020 lingende Digitalisierung im Schulkontext in entschei- dender Weise von der Lehrerprofessionalität abhängt? Beruflicher Bildungsweg 1 (2019), 3-7 8
bbw Wer genau weiß, wie digitales Lesen im Unterricht erfolgreich gelingt, schreibe es uns Teil 2 Unterschiede zwischen dem ennutzung deutlich von der der heutigen und der zukünftigen Generationen. Lernen mit analogen und digitalen Medien Das intensive Lesen, ob analog oder digi- Das Medium ist mehr als ein Informati- tal, führt im Sinne des expliziten Lernens onsträger und ein bloßes Werkzeug. Das zu selbsterarbeitetem Wissen und im Medium greift tief in die Lernvorgänge Sinne des impliziten Lernens zu verschie- Josef Leisen ein. Beim Lernen wird u. a. Wissen gene- denen Erwerbsprozessen. Das Medium riert. Wissen ist etwas Selbsterarbeite- schlägt in voller Wucht durch. Beim ana- tes und deutlich von reiner Information werbsprozesse ist und im prozeduralen logen Lesen werden andere Strategien zu unterscheiden. Um Wissen zu erwer- Langzeitgedächtnis verankert oder ge- und Routinen genutzt und routinisiert als ben und im semantischen Gedächtnis speichert werden. beim digitalen Lesen. Die Frage ist nicht, zu speichern, müssen die Wissensele- ob das Medium intensives Lesen ermög- mente in kognitiven Schleifen das Ge- Die Kompetenzen und Routinen in der licht, sondern in welchem Maße es dazu hirn durchlaufen haben. Wer viel weiß, Handhabung des jeweiligen Mediums und zwingt. kann leicht neues mit altem Wissen in in der Nutzung von passenden Strategi- vielfältiger Art und Weise verknüpfen. en – z. B. Lesestrategien, Suchstrategien, Neben dem expliziten und impliziten Ler- Wer wenig weiß, muss jedes Mal wie- Schreibstrategien – entscheiden maß- nen ist das emergente Lernen bekannt. der ganze Netzwerke zusammenschal- geblich über die Lernerfolge mit. Routi- Mit emergentem Lernen ist ein Lernen ten, anstatt nur neue Verknüpfungen nen und Strategien, die im prozeduralen gemeint, bei dem sich Lernergebnisse in bestehende einzuziehen. Wissen ist Gedächtnis gespeichert sind, entlasten spontan und ungeplant herausbilden der stärkste Einflussfaktor auf das nämlich das Arbeitsgedächtnis. Wer nach und diese Ergebnisse durch die Interak- Textverstehen. Der so skizzierte Lernbe- Unterschieden zwischen dem Lernen mit tion der Lernenden untereinander ent- griff umfasst das explizite (intentionale) analogen und digitalen Medien fragt und stehen. Jeder kennt Situationen, in denen Lernen, das im semantischen Langzeit- untersucht, muss die Kompetenzen bzgl. einem „ein Licht aufging". Diese Heureka- gedächtnis verankert oder gespeichert der Routinen und Strategien miterfassen. Momente entstehen oft ungeplant, beim wird. Lernen umfasst auch das implizi- Fraglos unterscheidet sich die Sozialisa- Stöbern in der Bibliothek, beim Surfen im te Lernen, das charakteristisch für Er- tion früherer Generationen in der Medi- Netz, im zwanglosen Gespräch, auf dem Explizites (Intentionales) Lernen Implizites Lernen (= Erwerben) ■ bewusstes und gesteuertes Lernen ■ ohne bewusste Kontrolle oder Steuerung ■ charakteristisch für unterrichtliche Lernprozesse ■ charakteristisch für Erwerbsprozesse ■ gezielter Kompetenzaufbau ■ zufälliger Kompetenzaufbau ■ d eklaratives WAS-Wissen wird im semantischen ■ p rozedurales WIE-Wissen wird im prozeduralen Gedächtnis gespeichert Gedächtnis gespeichert ■ äßig robuste Speicherung und an bewusste m ■ s ehr robuste Speicherung und müheloser Gebrauch Erinnerung gebunden. ohne bewusste Erinnerung bbw 2/2020 Tab. 3: Vergleich von explizitem und implizitem Lernen 4
Artikelreihe: Lehren und Lernen im Zeitalter der Digitalisierung Spaziergang, beim Gedankenverlieren, in 3. Wie unterstütze ich? 5. Welche Leseprodukte stelle ich her und entspannten Situationen. Nach einem 4. Wie strukturiere ich den Lernprozess? wie gestalte ich sie? Diktum von Werner Heisenberg entsteht Darf, muss oder soll er überhaupt 6. Wie kommuniziere und wie kollabo Physik im Gespräch. Heureka-Momente strukturiert sein? Ist selbstorganisier- riere ich mit anderen? entstehen in der Kommunikation. Das tes Lernen zwingend und wie organi- 7. W ie gehe ich mit den ethisch-norma- emergente Lernen wird oft im episodi- siere ich das? tiven Aspekten um? schen Gedächtnis mit sehr bewusster Er- 5. Wie und was diagnostiziere, bewerte innerung bzgl. Ort und Zeit gespeichert. und benote ich? In Anbetracht der Fragen mag die ana- Das digitale extensive Lesen befördert loge Lernwelt übersichtlich und handlich das emergente Lernen, verbunden mit Diese Fragen der Lehrpersonen müssen erscheinen. Der eingeschränkte Umfang der Gefahr des Sich-Verlierens. Zwei Fra- mit konkreten unterrichtspraktischen der analogen Texte, deren Übersichtlich- gen stellen sich an dieser Stelle. Vorschlägen und Unterstützungen be keit, die geringe Anzahl der Verweise, die Frage 1: Kann es emergentes Lernen im antwortet werden. Andernfalls droht, dauerhafte Präsenz der Texte fördert die strukturierten geleiteten Lernen geben? dass die in der Digitalität liegenden Konzentration auf und die Intensität mit Frage 2: Unter welchen Bedingungen Lerngelegenheiten verdampfen. Hier der Auseinandersetzung, da der analoge gibt es emergentes Lernen beim struktu- steht noch viel Entwicklungsarbeit an. Text im Vergleich zu den Texten aus der rierten geleiteten Lernen oder braucht es digitalen Welt ein knappes Gut ist. dazu das unstrukturierte und/oder selb- Weder digitales Lehren noch digitales storganisierte Lernen? Lernen sind Selbstläufer. Fraglos sind die Die digitalen Texte hingegen sind un- Lernenden in der Regel den Lehrperso- zählig durch die Vernetzung (multipel), Die Fragen stehen im Zusammenhang nen in der Handhabung digitaler Medien vielfältig in der Darstellung (multimo- mit der Frage, wie viel selbstorganisiertes und Plattformen weit überlegen. Nicht dal), unübersichtlich im Umfang und in Lernen zwingend, notwendig und mög- die Handhabungskompetenz ist die Her- der Struktur und in der Regel kurzfristig lich ist. Auch wenn die forschungsbe- ausforderung, sondern die Nutzung zum präsent (vernetzt). Die suggestive Kraft legten Antworten auf beide Fragen noch gezielten expliziten und impliziten Lernen des Hyperlinks verführt die Lernenden ausstehen, ist anzunehmen, dass das ex im Sinne der Wissenskonstruktion. Wis- allzu leicht zum Weiterklicken, satt zum tensive digitale Lesen mehr selbstor sen ist etwas Selbsterarbeitetes und von Verweilen. Intensives Arbeiten benötigt ganisiertes Lernen einfordert. reiner Information zu unterscheiden. Der Zeit zum Verweilen und Anstrengung Vorteil digitaler Medien liegt darin, ein- für die mentalen kognitiven Denk Unterschiede zwischen dem fach und jederzeit gezielt an Informatio- operationen. Um die Lernenden an den nen zu gelangen. Um diese in Wissen zu Umgang mit digitalen Texten heranzu- analogen und digitalen transferieren und im semantischen und führen, könnte man die „weite Welt der Lehren prozeduralen Gedächtnis zu speichern, Texte" durch im Sinne von WebQuests Für das Lesen von analogen Sachtexten müssen die Wissenselemente in kogni- vorübergehend einschränken. Die Ent- gibt es ausgereifte und erprobte Konzep- tiven Schleifen das Gehirn durchlaufen wicklung einer praxistauglichen Didaktik te, Modelle und Vorschläge für Leseauf- haben. des Lehrens und Lernens für die digitale träge (vgl. Auswahlliste an Leseaufträgen Schule bleibt ein Desiderat. unter www.download.josefleisen.de/aus- Die Transformation von Informationen wahlliste.pdf). Diese fehlen noch für das in Wissen ist die Herausforderung der Mit „palliativer Didaktik" Lesen von digitalen Texten. Die Konzepte digitalen Schule. Die digitalen Medien (Krommer 2018) von der zum analogen Lesen lassen sich nicht sind hier Segen und Fluch gleichzeitig. einfach auf das Lesen von multiplen Den Lernenden stellen sich folgenreiche analogen Schule zur digi vernetzten multimodalen digitalen Tex- Fragen: talen Schule? ten übertragen. Hier muss neu gedacht In der didaktischen Welt der analogen werden. Aus Mangel an Vorschlägen und 1. Welche Dokumente suche ich in wel- Medien gibt es eine lange Tradition, viel Erfahrungen sind die Lehrkräfte unsicher cher Modalität? Hintergrundwissen, eine umfangreiche und ihnen stellen sich beim digitalen Le- 2. Was wähle ich aus, wie verbinde ich Handreichungsliteratur, viele Erfahrun- sen folgende Fragen: die Teile? gen und viele Studien über Lerneffekte 3. Welchen Dokumenten kann ich ver- dazu. Ganz anders in der digitalen Welt. 1. Welche Leseaufträge gebe ich? trauen? Es liegen viel programmatische Entwür- bbw 2/2020 2. Welche Materialien / Medien / Strategien 4. Wie strukturiere ich meinen Lese fe und viele Zukunftsvisionen mit hohen gebe ich? prozess? Erwartungen vor, jedoch noch wenige 5
bbw unterrichtspraktische Vorschläge und einfacher und besser erreicht werden einzureißen. Abzuwarten bis diese vor- Erfahrungen einer digitalen Schule ganz können, verkennt den Eigenwert der di- liegt geht auch nicht. Durch die Digita- im Geist der genannten Paradigmen, gitalen Medien lisierung der Gesellschaft und Schule nämlich Digitalität, Vernetzung und Kol- dringt die Digitalität ungestüm in die laboration. (vgl. Krommer 2018). „Es geht „Anstatt zeitgemäßes, offenes, kol- Köpfe der Lernenden ein und Schule darum, dass die gesamte Gesellschaft laboratives Lernen und Lehren zu er- steht dem macht- und ratlos gegenüber. durch die Kultur der Digitalität (vgl. Stal- möglichen, werden Formen des tradi- Folglich muss im laufenden Betrieb eine der 2016) in eine neue Denk-Nährlösung, tionellen Unterrichts in ein digitales „Digital-Didaktik" entwickelt werden. „a new medium to think and imagine dif- Mäntelchen gehüllt.“ (Krommer 2019) Wer genau weiß, wie diese aussieht und ferently" (Manovich 2013, S. 13) getaucht in der Praxis des Alltagsunterrichts funk- wird, in der auch solche Begriffe wie „Ler- Eine Didaktik, die digitale Medien im Geist tioniert, möge es uns schreiben. nen" und „Wissen" neue Bedeutungen er- der analogen Medien nutzt, bezeichnet halten (vgl. hierzu z.B. Weinberger 2011)." Krommer als „palliative Didaktik", eine Di- Prof. Josef Leisen (OStD a. D.) n (zitiert nach Krommer 2018) daktik, die das Weiterleben der analogen Schule künstlich am Leben hält. Wie entwickelt sich eine analoge Schu- Zum Autor: le zur digitalen Schule? Eine Schule, die Ob sich die „Palliativ-Didaktik" als Brü- Josef Leisen war Professor für Didaktik lediglich Kreidetafeln durch Smartboards ckendidaktik zur „Digital-Didaktik" eig- der Physik an der Universität Mainz und und Bücher durch Tablets ersetzt, ist net, muss man hinterfragen. Solange es Leiter des Studienseminars in Koblenz keine digitale Schule. Wer digitale Me- keine überzeugende und praxistaugliche Kontakt: leisen@josefleisen.de dien als Werkzeuge versteht, mit denen „Digital-Didaktik" gibt, ist es riskant, das www.josefleisen.de die Ziele der analogen Schule schneller, Gebäude der analogen Schule vorschnell Literatur (gesamt): Kammerer, Yvonne (2019): Textverständnis beim Lesen Leisen, Josef (2013): Handbuch Sprachförderung im Wampfler Philippe & Krommer, Axel (2019): Lesen im digitaler und gedruckter Texte. SEMINAR 3(2019), 64- Fach – Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis. digitalen Zeitalter. SEMINAR 3(2019), 73-84 72 Stuttgart: Klett Weinberger, David (2011): Too big to know. New York: Krommer, Axel (2018): Wider den Mehrwert! Oder: Manovich, Lev (2013): Software Takes Command. New Basic Books. Argumente gegen einen überflüssigen Begriff. https:// York/London/Oxford/New Delhi/Sydney: Bloomsbury. Zierer, Klaus; Christina Lachner (2019): Warum eine ge- axelkrommer.com/2018/09/05/wider-den-mehrwert- Philipp, Maik (2018): Multiple Modelle des Leseverste- lingende Digitalisierung im Schulkontext in entschei- oder-argumente-gegen-einen-ueberfluessigen-be- dender Weise von der Lehrerprofessionalität abhängt? hens multipler Texte – Eine Synopse aktueller kogni- griff/ Beruflicher Bildungsweg 1(2019), 3-7 tiver Modellierungen aus lesedidaktischer Perspektive. https://www.leseforum.ch/sysModules/obxLeseforum/ Krommer, Axel (2019): Paradigmen und palliative Di- Artikel/646/2018_3_de_philipp.pdf daktik. Oder: Wie Medien Wissen und Lernen prägen. https://www.digitalitaet2019.philosophie.uni-muen- Stalder, Felix (2016): Kultur der Digitalität. Berlin: Suhr- chen.de/downloads/abstract_krommer.pdf kamp. Kuhn, Thomas S. (1981): Die Struktur wissenschaftli- Rosa, Lisa (2017): Lernen im digitalen Zeitalter. cher Revolutionen. Mit einem Postskriptum von 1969. Online-Quelle: https://shiftingschool.wordpress.com/ 5. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2017/11/28/lernen-im-digitalen-zeitalter/ Ihre Meinung interessiert uns! Schreiben Sie uns: bbw@vlbs.de bbw 2/2020 6
Sie können auch lesen