Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik - Amosinternational
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Internationale Zeitschrift für christliche Sozialethik Die Würde der Tiere ist antastbar Michael Rosenberger Der Mensch und seine Tiere Franz-Theo Gottwald/Isabel Boergen Tierwohl in der industriellen Nutztierhaltung Silvia Schroer Tierschutz und Tierethik im Alten Testament Heike Baranzke Interkulturelle Verständigung über Schlachten und Schächten Alberto Bondolfi Christlicher Beitrag zur Tierethik säkularer Gesellschaften Stjepan Baloban Soziallehre und Caritas in Kroatien Sozialinstitut Kommende Dortmund Sozialinstitut Kommende Dortmund 3/2014 3/2014 24.05.2012 23:28:11
Zu dem vom Ruhrbischof Dr. Franz-Josef Overbeck initiierten „Dialogprozess“ im www.evonik.de Ruhrbistum Essen für ein „Zukunftsbild“ zum christlichen Leben in der „Metropole Ruhr“ hat das Institut für kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen im Jahre 2014 den fünften Band seiner anerkannten ökumenischen Reihe mit Lebensbildern von Christinnen und Christen aus dem Ruhrgebiet vorgelegt. Dazu haben 16 Autorinnen und Autoren 17 neue Lebensbilder von engagierten und profilierten Christen vornehmlich aus dem Industriezeitalter des Ruhrgebiets aus verschiedenen Quellenbeständen erarbeitet. Engagierte Pfarrer und Ordensfrauen sind vertreten: Aus der ersten Priester-Generation im Ruhrbistum werden die Prälaten Paul Auferbeck und Professor Heribert Heinemann sowie Weihbischof Wolfgang Große vorgestellt. Als weiter im Ruhrgebiet wirkender Bischof wird der erst jüngst von der „Forschung endeckte“ französische Militärbischof im Rheinland Paul Rémond für den „Ruhrkampf“ vorgestellt. Christen an der Ruhr, Band 5 Herausgegeben von Reimund Haas und Jürgen Bärsch 2014, 240 Seiten, geb. 24,80 d. ISBN 978-3-402-10491-0 Impressum 8. Jahrgang 2014 Heft 3 Verlag und Anzeigenverwaltung Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG Herausgeber D–48135 Münster Prälat Dr. theol. Peter Klasvogt, Dortmund Tel. (0251) 69 01 31 Sozialinstitut Kommende Anzeigen: Petra Landsknecht, Tel. (0251) 69 01 33 Prof. Dr. Markus Vogt, München Anzeigenschluss: am 20. vor dem jeweiligen Erscheinungsmonat Prof. Dr. Joachim Wiemeyer, Bochum Erfüllungsort und Gerichtsstand: Münster Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen Sozialethiker Prof. Dr. Peter Schallenberg, Mönchengladbach Bezugsbedingungen Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle Preis im Abonnement jährlich: 49,80 c/sFr 85,- Stefan Lunte, F-Bresson/B-Brüssel Vorzugspreis für Studenten, Assistenten, Referendare: 39,80 c/sFr 69,20 Redaktion Einzelheft: 12,80 c/sFr 23,30; jeweils zzgl. Versandkosten Dr. phil. Dr. theol. Richard Geisen (Kommende, Dortmund) Alle Preise enthalten die gesetzliche Mehrwertsteuer. Dipl.-Theol. Detlef Herbers (Kommende, Dortmund) Abonnements gelten, sofern nicht befristet, jeweils bis auf Widerruf. Dr. phil. Wolfgang Kurek (KSZ, Mönchengladbach) Kündigungen sind mit Ablauf des Jahres möglich, sie müssen bis zum 15. November des laufenden Jahres eingehen. Wir machen Autos und Spritsparen Konzept Schwerpunktthema leichter. Das schont die Ressourcen und den Geldbeutel. Prof. Dr. Michael Rosenberger Bestellungen und geschäftliche Korrespondenz Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG Redaktionsanschrift D–48135 Münster Sozialinstitut Kommende, Redaktion Amosinternational, Tel. (0251) 69 01 36 Brackeler Hellweg 144, D–44291 Dortmund Mail redaktion@amosinternational.de Druck Internet amosinternational.de Druckhaus Aschendorff, Münster Ob Karosserie oder Verglasungen: Leichtbaukunststoffe Printed in Germany von Evonik machen Autofahren umweltfreundlicher. Bau- Erscheinungsweise teile mit unserem Hartschaumstoff ROHACELL ersetzen Die Zeitschrift erscheint vierteljährlich Umschlaggestaltung schweres Metall. Und unser PLEXIGLAS ersetzt schweres Glas. So sparen wir Gewicht und schließlich auch Benzin. (Februar, Mai, August, November) freistil – Büro für Visuelle Kommunikation, Werl Mit der Kreativität der Spezialchemie entwickeln wir Zu- kunftslösungen. Und mit der Kraft eines Industriekonzerns ISSN 1867–6421 versorgen wir die Weltmärkte. ef - amos 02_2012 - seiten001-056.indd 4 24.05.2012 23:28:11 ef - amos 02_2012 - seiten001-056.indd 4 24.05.2012 23:28:11
Inhalt Editorial Markus Vogt (München) Das Tier zwischen Produktionsfaktor und Würdeanspruch 2 Zu diesem Heft Schwerpunktthema Michael Rosenberger (Linz/Österreich) Der Mensch und seine Tiere 3 Einführung und Hinweise für eine zeitgemäße Tierethik Franz-Theo Gottwald, Isabel Boergen (München) Tierzucht, Tierhaltung und Ernährung 6 Tierwohl in der industriellen Nutztierhaltung und die Notwendigkeit systemarer Veränderungen am Beispiel Rind Silvia Schroer (Bern/Schweiz) Tierschutz und Tierethik im Alten Testament 13 Am Beispiel des Esels Heike Baranzke (Wuppertal) Im Zeichen des Lammes 20 Hintergründe und Optionen für eine interkulturelle Verständigung über die Tierschlachtung Alberto Bondolfi (Trient/Italien und Zürich/Schweiz) Der christliche Beitrag zur Tierethik säkularer Gesellschaften 27 Rückblick und aktuelle theologische Herausforderungen Tagungsbericht Kurt Remele (Graz/Österreich) Vergessene Tiere, verschwundener Metropolit 35 Bericht über die First Annual Oxford Summer School on Animal Ethics Andreas Kuhnlein (Unterwössen/Chiemgau) Der Mensch – Krönung oder Krebsgeschwür? 28 Ulme, 1998 Buchbesprechungen Interdisziplinarität der Christlichen Sozialethik 38 Wo steht die Umweltethik? 39 Wettstreit um Ressourcen 40 Die Moral der Energiewende 42 Sozialprinzipien und Finanzverfassung 43 Internetethik 44 Soziales Europa? 46 Ethik und Migration 47 Auswandererberatung und Auswandererfürsorge 49 Dokumentation Stjepan Baloban (Zagreb/Kroatien) Kirchliche Soziallehre und Caritas in der Transformationsgesellschaft Kroatiens 50 Zur aktuellen Entwicklung und zur Geschichte seit 1990 Der Überblick Summaries 54 Résumés 55 Bisherige Schwerpunktthemen und Vorschau 56 Impressum U2 MOSINTERNATIONAL 8. Jg. (2014) Heft 3 1 amos 03_2014 - seiten001-056.indd 1 03.08.2014 17:43:03
Editorial S eit 2002 ist der Tier- schutz in Deutsch- land verfassungsrecht- Das Tier zwischen lich verankert (Art. 20a GG). Die Schweiz spricht Produktionsfaktor und den Tieren bzw. Kreatu- ren „Würde“ zu (Verfas- sung Art. 120 Satz 2; Würdeanspruch Tierschutzgesetz Art. 1). Im deutschen Tierschutz- chung als Partner oder Familienmit- nerseits und alles Graduelle überschrei- Markus Vogt gesetz ist von den „Mit- glieder. Auf der anderen Seite steht ei- tender geistig-moralischer Differenz geschöpfen“ die Rede, de- ne historisch beispiellose Entfremdung andererseits zu bestimmen? Die Ko- ren „Leben und Wohlbefinden zu schüt- von Tieren im Rahmen der modernen härenzdefizite im Tierschutz weisen auf zen“ ist und denen niemand „ohne Nutztierhaltung sowie der zunehmend eine offene Flanke des menschlichen vernünftigen Grund Schmerzen, Lei- urbanisierten Zivilisation, die mit ho- Selbstverständnisses in der gegenwär- den oder Schäden zufügen“ darf (§ 1). hem Tempo die Lebensräume zahlrei- tigen europäischen Kulturordnung hin. Was aber ist der ethische bzw. recht- cher Tierarten zerstört und den Men- Der tiefe Graben zwischen dem An- liche Status von einem Mitgeschöpf? schen in ihrem Alltag nur wenig Raum spruch, das Tier als „Mitgeschöpf“ in Und was ist in diesem Kontext ein ver- für Begegnung mit Tieren lässt. Durch seiner Würde zu achten, und der Sys- nünftiger Grund? Die gängige recht- den enormen Druck zur Produktions- temlogik des gesellschaftlich-ökono- liche Umschreibung als „triftig“, „ein- steigerung ist die Nutztierhaltung trotz mischen Verwertungsdrucks ist nicht sichtig“, „von einem schutzwürdigen des europaweit verbesserten Rechts- zu übersehen und führt zu emotional Interesse getragen“ und „auf ein ver- schutzes für Tiere in einer tiefen Krise. aufgeladenen und polarisierten De- tretbares Maß reduziert“ hilft nicht viel Gründungsvater einer ethischen batten. Die folgenden Beiträge gehen weiter. Die Begriffe „Mitgeschöpf“ und Theorie des Tierschutzes ist Jeremy diesem vielschichtigen Themenfeld „Würde der Kreatur“ durchbrechen die Bentham (1748–1832): Sein Maßstab anhand von „Tiergeschichten“ nach – vorherrschende rechtssystematische ist das Wohlergehen aller empfin- Pferd, Esel, Rind und Schaf stehen für Unterscheidung von Person und Sa- dungsfähigen Lebewesen. Unter Wohl- je ein Schwerpunktthema im Mittel- che, ohne den eigenständigen Existenz- ergehen versteht er das Streben nach punkt – und suchen nach sozialethi- wert des Tieres näher klären zu können. Lust und die Vermeidung von Leid. Da schen Orientierungslinien. Aufgrund Grundlegende Fragen stehen zur er auch Tieren diese Fähigkeit in abge- der vor allem europarechtlich zuneh- Debatte: Wo steht das Tier in der Wer- stufter Form zuerkennt, ist seine Ethik menden Verordnung von Ethikkom- teskala? Lässt sich Tierschutz nur alt- unmittelbar auch auf diese anwendbar. missionen auch für den Schutz von ruistisch im Sinne abwägungsfähiger Für die Tierhaltung können auf dieser Wirbeltieren besteht hier in der inter- Rücksichtnahme nach Abstufung der Grundlage verhaltensbiologische In- disziplinären Forschungslandschaft jeweils empirisch nachweisbaren Emp- dikatoren des Wohlbefindens und der Orientierungsbedarf. Dabei sind auch findungsfähigkeit begründen oder ist er Tiergesundheit bestimmt werden, um theologische Aspekte relevant, wie die kategorisch in der Ethik zu verankern? Regeln für eine artgerechte Haltung First Annual Oxford Summer School on Die Diskussion um Tierschutz ist von festzulegen. Animal Ethics zu „Religion and Ani- einer tiefen Diskrepanz geprägt: Auf Auch wenn die deutschen Tier- mal Protection“ zeigt, über die in die- der einen Seite steht das zunehmende schutzstandards im internationalen sem Heft berichtet wird. Wissen über Empfinden, Bedürfnisse, Vergleich relativ hoch sind, wird die Das vorliegende Heft von Amos- Sozialverhalten und kognitives Vermö- Praxis dem darin formulierten An- international, das der Tierethik gewid- gen von Tieren. Es führt in der Wis- spruch oft nicht gerecht. Hinter der met ist, geht theologisch-ethischen, senschaft zur Annahme eines fließen- Unsicherheit im Vollzug steht ein un- philosophischen und gesellschaftlichen den Übergangs zwischen Mensch und gelöstes philosophisch-theologisches Zusammenhängen nach und sucht Tier und in der Bevölkerung zu einer Problem: Wie ist das Mensch-Tier- nach kohärenten Kriterien für prakti- verbreiteten emotionalen Annäherung Verhältnis zwischen den beiden Polen zierbaren Tierschutz im Kontext mo- an Tiere sowie zu ihrer Vermenschli- enger biologischer Verwandtschaft ei- derner Gesellschaft. 2 MOSINTERNATIONAL 8. Jg. (2014) Heft 3 amos 03_2014 - seiten001-056.indd 2 03.08.2014 17:43:03
Schwerpunktthema Der Mensch und seine Tiere Einführung und Hinweise für eine zeitgemäße Tierethik In dem eindrucksvollen Lied „Erbarme dich“ auf seiner CD „Einhandsegler“ aus dem Jahr 2000 schildert der Liedermacher Reinhard Mey einen Transport von Pferden aus Litauen nach Sardinien, wo sie geschlachtet werden sollen. Diese letzte Reise der Tie- re über 3000 Kilometer quer durch Europa, die rein ökonomische Gründe hat, ist mit unsäglichen Qualen verbunden. Festgebunden im engen Transporter sind den Tieren nur wenige kurze Pausen gestattet. Mit Schlägen und Elektroschocks werden sie je- weils wieder in den Transporter hineingetrieben – die Behandlung ist so, dass die Tie- re keinen Widerstand leisten, aber doch aufrecht stehend am Ziel ankommen, denn Michael sonst gibt es für sie keine Schlachtprämie. Rosenberger A uf diese detaillierte und unend- lich triste Beschreibung des Tier- transports in den drei Strophen des küls, das alle tierethischen Dämme ein- gerissen hat, haben Nutztiere höchste Priorität, wenn eine Tierethik entwor- Menschen besonders viel Fleisch kau- fen wollen. 3) Eine moderne Tierethik muss so- Lieds antwortet der Liedermacher im fen werden soll. dann vor allem hinschauen. Zweimal Refrain jeweils mit einem eindring- 2) Diese Ethik muss sich folglich betont der Refrain des genannten Lie- lichen Appell, der den ZuhörerInnen erstens sozialethisch fragen, was sie des: „Sieh hin!“ Dieser Hinweis ist gut einen Schauer über den Rücken jagt: dem ökonomischen Druck entgegen- biblisch. In den beiden lukanischen „Erbarme dich, erbarme dich! Erbar- setzen kann: Kurzfristig durch gesetz- Gleichnissen von der Barmherzigkeit me dich der Kreatur, sieh hin und sag liche Verordnungen und Verbote, aber wird jeweils davon gesprochen, dass nicht, es ist nur Vieh! Sieh hin und er- auch mittelfristig durch ökonomische die handelnden Personen zunächst hin- barme dich!“ Anreize (Subventionen) bzw. Strafen schauen, Priester und Levit ebenso wie Dieses Lied birgt eine Menge An- (gestaffelte Tiernutzungssteuern). Sie Samariter und Vater (Lk 10,31–33; satzpunkte für eine ethische und theo- muss sich zweitens individualethisch 15,20). Die moderne Tierindustrie ist logische Reflexion auf den Themen- (tugendethisch) fragen, wie die sym- schwerpunkt dieses Heftes, Tierschutz bolischen Codes, die den Lebensmittel- Die Tierindustrie versucht, und Tierethik in sozialethischer Per- konsum maßgeblich steuern, langfris- das von ihr verursachte 1 spektive. Einige davon möchte ich kurz tig verändert werden können. Solange Leid der Nutztiere nennen: der Fleischkonsum einer der stärksten unsichtbar zu halten 1) Die Frage des Tierschutzes muss Ausweise von Männlichkeit ist, wer- in der gegenwärtigen Industriegesell- den Männer auch bei höheren Preisen mit allen Mitteln bemüht, das mit ihr schaft auf Nutztiere fokussiert wer- kaum auf fleischarme Ernährung um- verbundene Tierleid unsichtbar zu ma- den. Auch der Umgang des modernen steigen. Und solange die Fleischmen- chen. Zuchtstationen, Massentierhal- Menschen mit Wildtieren und selbst- ge auf dem Teller der wichtigste Indi- tungsbetriebe und Großschlachthöfe verständlich auch mit Heimtieren, den kator für Wohlstand ist, werden arme befinden sich fernab menschlicher sogenannten „pets“, ist keineswegs Siedlungen, das abgepackte Schnitzel ethisch irrelevant. Aber nicht nur we- gen ihrer enormen Zahl, sondern auch 1 Siehe hierzu Michael Rosenberger 2014, Im Brot der Erde den Himmel schmecken. wegen der viel größeren Eingriffstiefe Ethik und Spiritualität der Ernährung, München. Dort besonders Kapitel 7 über die tier- und der Wucht des ökonomischen Kal- ethischen Aspekte der Ernährung. MOSINTERNATIONAL 8. Jg. (2014) Heft 3 3 amos 03_2014 - seiten001-056.indd 3 03.08.2014 17:43:04
Schwerpunktthema lässt das Schwein nicht mehr erken- ethik, besonders im Nutztierbereich, technisch rationalisierten und nahezu nen, von dem es stammt. Wer aber aber, bewusst oder unbewusst, auch perfektionierten Systems. Dies wird an Nutztiere gut behandeln will, muss hin- das diesbezügliche Potenzial christli- der industriellen Milchviehzucht und schauen und ihre Bedürfnisse wahr- cher Spiritualität. Die Aufsätze dieses -haltung sowie an der Fleischrinder- nehmen. Hefts wollen sich daher auf die Spur mast eindrucksvoll und detailreich auf- 4) Das Hinschauen allein reicht machen, dieses Potenzial zu heben. Sie gezeigt. Dabei muss man wissen, dass nicht aus. Um im Tier die „Kreatur“ tun es bis auf den letzten, summari- die Rinder vergleichsweise noch am zu erkennen und nicht nur das „Vieh“, schen Aufsatz jeweils aus der Perspek- besten abschneiden – die anderen braucht es nach Reinhard Mey eine ent- tive eines Nutztieres: Des Rinds (Franz- Nutztiere werden noch erheblich grau- sprechende Grundhaltung: Erbarmen. Theo Gottwald/Isabel Boergen), des samer behandelt, wobei die Grundpro- Zunächst einmal ist „Erbarmen“ gleich- Esels (Silvia Schroer) und des Lamms bleme bei allen Nutztierarten dieselben bedeutend mit „Mitgefühl“ (Empathie) (Heike Baranzke), die damit diese Ein- sind. Gibt es überhaupt Alternativen? oder „Mitleid“. Doch ist es wohl kein führung, die das Pferd in den Mittel- Gottwald und Boergen bejahen diese Zufall, dass Mey nicht einen der säku- punkt stellt, perfekt weiterführen. Frage und plädieren für den „System- laren Begriffe wählt, sondern das de- Unter den Titel „Tierzucht, Tierhal- wandel zu einer extensiven, ökologi- zidiert religiös gefärbte Wort „Erbar- tung und Ernährung – Tierwohl in der schen Zucht und Haltung des Rindes men“. Es scheint, dass er einer spiritu- industriellen Nutztierhaltung und die als Mehrnutzungstier.“ (S. 12) ellen Sicht auf das Tier mehr zutraut Notwendigkeit systemarer Veränderun- „Tierschutz und Tierethik im Alten als einer nur rationalen Tierethik. Auch gen am Beispiel Rind“ stellen Franz- Testament am Beispiel des Esels“ ist der Begriff der „Kreatur“ unterstützt Theo Gottwald und Isabel Boergen ih- der Beitrag von Silvia Schroer über- diese Vermutung. re Ausführungen, die exemplarisch das schrieben. Der Esel ist im alten Orient 5) Formal ist Meys Lied ein Kyrie Dilemma der modernen industrialisier- neben dem Rind das wichtigste Haus- der kirchlichen Liturgie. Rituale kön- ten Tierhaltung aufzeigen. Eingangs und Nutztier. Er wird als Last-, Arbeits- nen eine ungeheuer starke Kraft ent- und Reittier verwendet, nicht aber als falten, wenn sie als das wahrgenom- Ein extrem hoher Zugtier, als das er im Vergleich zu Rind men werden, was sie sind: Symboli- Fleischkonsum und und Pferd zu schwach wäre. Im Alten sche Handlungssequenzen, die eine die lauter werdenden Testament gilt der Esel jedoch nicht wie hohe Emotionalität auslösen und dichte Forderungen nach in den Nachbarländern Israels als stör- Speichermedien von Werten sein kön- Tierschutz passen nicht rischer Dummkopf, sondern wird als nen. Umgekehrt kann der Verlust von zusammen geduldig und ausdauernd, ja mitunter Ritualen den Verlust der in ihnen gesi- sogar als klug gelobt. Wenn er starr- cherten Werte mitverursachen, wie sich schildern die AutorInnen die extrem köpfig ist, dann höchstens aus Klug- am Beispiel des rituellen Schlachtens schizophrene Situation moderner In- heit. Insofern zeichnet die Bibel ein gut zeigen lässt. dustriegesellschaften: Auf der einen sehr positives Bild des Esels. „Daher 6) Der, der sich erbarmen soll, wird Seite werden die Forderungen nach spielt er in Erzählungen wie Gesetzes- in Meys Lied nicht genannt. Doch mit Tierschutz immer lauter, auf der ande- texten des Alten Testaments eine kei- ein bisschen Gespür für die Tradition ren Seite bleibt der Fleischkonsum neswegs nebensächliche Rolle. Respekt des Abendlandes kann wohl kaum ge- quantitativ wie qualitativ unverändert. und Sorge für den Esel, auf dessen Ar- leugnet werden, dass hier zunächst der Theorie und Praxis der KonsumentIn- beitsleistung man angewiesen war, und Schöpfer angesprochen ist, der sich nen im Umgang mit dem Nutztier klaf- die Tendenz, ihn auszubeuten, werden des Geschöpfs erbarmen soll. In einer fen himmelweit auseinander. In diesem gleichermaßen erkennbar.“ (S. 13) Es ist Strophe allerdings flüstert Mey in ei- Kontext bewegt sich die industrielle einleuchtend, dass etliche Gesetzestex- ner Pause des Refrains ganz leise und Zucht, Haltung, Schlachtung und Ver- te der Tora den Esel als kostbaren Be- kaum hörbar „Mensch“. Mensch, erbar- arbeitung von Nutztieren. „Es ist sym- sitz schützen, etwa wenn eingeschärft me dich. Genau das ist die Logik der ptomatisch für diese Art der rationa- wird, einen fremden Esel nicht zu be- lukanischen Theologie der Barmher- lisierten Tierindustrie, dass sich die gehren und einen Esel, der sich ver- zigkeit: „Seid barmherzig, wie es auch künstlichen, technisch aufwändigen laufen hat, seinem Besitzer zurückzu- euer Vater ist!“ (Lk 6,36) Mensch, er- und kostspieligen Lösungen als Nor- bringen. Erstaunlich ist aber, dass der barme dich (Lk 10) wie Gott sich er- malität durchgesetzt haben.“ Das Tier Tierschutz dem Besitzschutz in der Bi- barmt (Lk 15). wird nicht mehr als eigenständiges Le- bel nicht nachsteht. In verschiedenen bewesen mit Bedürfnissen und Stre- Normen wird dies eindrücklich sicht- Das Lied von Reinhard Mey zeigt die bungen gesehen, sondern nur noch als bar. Das Gebot der Sabbatruhe als ein Dringlichkeit einer zeitgemäßen Tier- Kosten- und Produktionsfaktor eines „Grundrecht“ auch für das Tier stellt 4 MOSINTERNATIONAL 8. Jg. (2014) Heft 3 amos 03_2014 - seiten001-056.indd 4 03.08.2014 17:43:04
Die Würde der Tiere ist antastbar die Krönung dieser Bemühungen dar, heit und Hierarchie zwischen Mensch KURZBIOGRAPHIE dem sozial schwächer gestellten Lebe- und Tier einerseits sowie ihrer Gleich- Michael Rosenberger (*1962), Dr. wesen ein gutes Leben zu ermöglichen. heit als Lebewesen andererseits. Im theol., ist seit 2002 Professor für Mo- Heike Baranzke reflektiert in ihrem späten Mittelalter und besonders in der raltheologie an der Katholisch-Theo- Beitrag „Im Zeichen des Lammes. Hin- Neuzeit führt die Betonung des ersten logischen Privatuniversität Linz; For- tergründe und Optionen für eine inter- Pols zu einer zunehmenden Instrumen- schungsschwerpunkte: Schöpfungs- kulturelle Verständigung über die Tier- talisierung des Tieres allein für den ethik und Schöpfungsspiritualität, schlachtung“ den gesellschaftlichen menschlichen Nutzen, die in der In- Determinismus und Willensfreiheit, Umgang mit der Tiertötung. Ausge- dustrialisierung der Mensch-Tier-Be- Neurowissenschaften und Theologie; hend von der rituellen Schlachtung, ziehung seit dem 18. Jahrhundert gip- aktuelle Publikationen zum Thema die im Judentum und Islam bis heute felt. Die moderne Evolutionsbiologie Tierethik: praktiziert wird, zeigt sie, wie in die- und Genetik hingegen unterstreichen – Im Brot der Erde den Himmel schme- sem Ritual Mitgeschöpflichkeit mit mehr den zweiten Pol der Ähnlichkeit cken. Ethik und Spiritualität der Er- und Ehrfurcht vor dem Tier symboli- und Verwandtschaft zwischen Mensch nährung, München 2014; siert werden. Dem stellt sie das Sym- und Tier und stellen das hierarchisch- – Tierische Organe für den Menschen? bol der Metzgerzunft im christlichen anthropozentrische Modell des Ratio- Erwägungen der theologischen Tier- Abendland gegenüber, das Lamm Got- nalismus zunehmend in Frage. Die neu- ethik, in: Münchener theologische tes, das „ein Handwerks- und Kunden- este „Tierphilosophie“ ist hier einzu- Zeitschrift 65 (2014), 27–36; ethos, kein Ethos der Tiertötung“ (S. 23) ordnen, denn ihre Analyse des Denkens, – Einzigartige Berufung. Überlegungen transportiert. In dieser für die Tiertö- Sprechens und Lachens der Tiere im- zu einer „Existenzialethik des Tieres“, tung „anästhesierten“ Gesellschaft, die pliziert eine inhärente Tendenz zu rein in: Rosenberger/Winkler (Hg.): Jedem sich darauf konzentrierte, das Tier zu graduellen, nicht aber prinzipiellen Un- Tier (s)einen Namen geben? Die In- betäuben, um im gleichen Atemzug terschieden zwischen Mensch und Tier. dividualität des Tieres und ihre Re- umso grausamer zu töten, konnte es Auf diesem Hintergrund untersucht levanz für die Wissenschaften, Linz dahin kommen, dass die Tierschutzbe- Bondolfi die verschiedenen Ansätze ge- 2014, Download unter: www.wiege- wegung für den Antisemitismus miss- genwärtiger Tierethiken, die in unter- linz.at/band7, 119–130; braucht wurde, indem man das Schäch- schiedlichen Graden speziesistisch bzw. – Füttern und gefüttert werden. Tier- ten vordergründig aus Tierschutzgrün- egalitär angelegt sind. Damit bereitet ethische Aspekte menschlicher Er- den kritisierte, in Wahrheit aber das er das Feld für eine Integration der bei- nährung, in: Theologisch-praktische Judentum als rückständig abqualifizie- den Pole Egalität und Differenz durch Quartalschrift 162 (2014), 158–165. ren wollte. Da die Debatte im 21. Jh. die zeitgenössische Theologie, die er mit der Kritik am islamischen Schäch- aber noch als ausständig betrachtet. ten in einer weiteren Spielart wieder auflebt, wird es Zeit für eine interkul- Die Zugehörigkeit der Tiere Tier als Besitz eines Menschen ange- turelle Verständigung, wie sie im von zum Menschen darf auch sehen werden. Aber weder besteht das der EU geförderten DIALREL-Projekt bei den Nutztieren nicht Recht nur aus privatrechtlichen Nor- derzeit stattfindet und für die Baranzke auf ein Besitzverhältnis men noch ist das Recht mit der Ethik wichtige Impulse bereitstellt. reduziert werden deckungsgleich. Diese aber kann das „Der christliche Beitrag zur Tier- Tier nur in seiner engen Zugehörigkeit ethik säkularer Gesellschaften“ ist „Der Mensch und seine Tiere“. Un- zum Menschen würdigen. Und damit schließlich das Thema des syntheti- ter diesem Titel fasse ich die vier Bei- die große Verantwortung reflektieren, schen Artikels von Alberto Bondolfi. träge zum Thema Tierschutz/Tierethik die der Mensch gegenüber seinen Mit- Wie könnte ein christlicher Beitrag zu zusammen. „Seine“ Tiere? Wie ist das geschöpfen trägt. einer modernen säkularen Tierethik zu verstehen? Ist „seine“ hier im wört- aussehen? Bondolfi stellt seine Über- lichen Sinne possessiv gemeint, so dass legungen in den Kontext der geschicht- die Tiere – Rind und Esel, Lamm und lichen Entwicklung der Wahrnehmung Pferd und alle anderen Nutztiere – sein des Tieres. Namentlich unterscheidet Besitz sind wie es der Satz „der Mensch er drei Phasen: Die antike Wahrneh- und sein Auto“ ausdrückt? Oder ist mung der Tiere sowohl in der Bibel als „sein“ hier eher im Sinne der Verant- auch in der griechischen Philosophie wortlichkeit und Zugehörigkeit zu le- ist gekennzeichnet durch den Aufbau sen wie in dem Satz „der Mensch und einer Grundspannung von Ungleich- seine Kinder“? Privatrechtlich mag ein MOSINTERNATIONAL 8. Jg. (2014) Heft 3 5 amos 03_2014 - seiten001-056.indd 5 03.08.2014 17:43:04
Schwerpunktthema Tierzucht, Tierhaltung und Ernährung Tierwohl in der industriellen Nutztierhaltung und die Notwendigkeit systemarer Veränderungen am Beispiel Rind Am Beispiel von Rinderzucht und Rinderhaltung wird deutlich, wie die ausschließliche Orientierung am Kriterium der Effizienz den Tierschutz ausblendet. In den industrialisierten Formen der Milch- und Fleischproduktion spiegelt sich eine eingeschränkte und technokratische Sichtweise auf Umwelt, Tier und Mensch. Das Ziel eines artgerechten Umgangs mit Nutztieren macht ei- nen Systemwechsel erforderlich. Denn nur bei entsprechenden politischen Rahmenbedingungen und verändertem Verbraucher- verhalten kann die Rückbesinnung auf extensive Tierhaltung realisiert werden. Franz-Theo Gottwald Isabel Boergen O bwohl Milch und Fleischproduk- te im Überfluss vorhanden sind und konsumiert werden, lässt sich die und Wurstwaren seit einigen Jahren 1 leicht rückläufig ist , holen Nationen wie China und Indien immer mehr auf. auch konsumethisch Berücksichtigung finden muss. Die Politik wehrt hinsichtlich des industrialisierte Tierhaltung in Europa Die Folgen sind fatal. Die weltweit Themas Tierwohl in der Landwirtschaft kaum zurückdrängen. Immer größere schätzungsweise 56 Milliarden land- Forderungen regelmäßig ab, das hat die Ställe für immer mehr Tiere werden wirtschaftlich genutzten Tiere fressen Bundesregierung nicht zuletzt mit der gebaut, obgleich sich die Erkenntnis die Erde kahl, verbrauchen lebenswich- viel kritisierten Novelle des Tierschutz- durchgesetzt hat, dass diese Form der tige Ressourcen und hinterlassen rie- gesetzes eindrücklich bewiesen. Die In- Landwirtschaft schwere ökologische sige Mengen an Fäkalien und Schad- dustrie ist ausschließlich an Leistung Schäden anrichtet. Das Tierwohl ge- gasen. Die industrielle Tierhaltung ist und Effizienz interessiert: Jahrzehnte- rät trotz aller Skandalberichte aus dem auch mit verantwortlich für Bodende- lang wurden die so genannten „Nutz- Blick – ein Umstand, der nicht nur aus gradation, Verlust von Biodiversität, tiere“ immer weiter optimiert und an tierethischer Sicht bedenklich ist, son- Verschmutzung von Luft, Gewässern Systeme angepasst, sämtliche tieretho- dern der auch ein fragwürdiges tech- und Böden durch Schwermetalle, Nit- logischen Erkenntnisse der vergange- 2 nokratisches Verständnis von Leben rate und Pharmarückstände sowie für nen Jahrzehnte ignoriert. 3, 4 offenbart und befördert. Am Beispiel den Ausstoß klimarelevanter Gase. Die Wissenschaft kann Tierwohl an- der industriellen Zucht von Milchkü- Auch stellt sich die generelle Frage hand verschiedenster Parameter vali- hen und Fleischrindern wird im folgen- nach der ethischen Vertretbarkeit der de messen; doch eine Implementierung den Beitrag dargestellt, wie der Mensch Tiernutzung. Die tierethische Diskus- der Erkenntnisse in die landwirtschaft- mit sogenannten Nutztieren verfährt sion ist in der Mitte der Gesellschaft liche Praxis findet kaum statt. und wie die moderne Tierhaltung zum angekommen. Sie zeigt: Lebensmittel Für die meisten Verbraucher schließ- Wohl aller revolutioniert werden muss. tierischen Ursprungs besitzen eine mo- lich zählt vorwiegend der Preis. Zwar ralische Relevanz, die sowohl politisch, sind sie in Umfragen immer vorn da- im Hinblick auf die Produzenten als bei, wenn es um mehr Tierschutz geht. Tiere essen – Moral vergessen? Der globale Fleischkonsum erreichte 1 Momentan liegt er bei ca. 60 kg pro Kopf/Jahr 2012 mit 42,5 Kilogramm pro Kopf/ 2 Vgl. Gottwald & Nowak 2007, 7; Gottwald & Boergen 2014, 270. Jahr einen Höchststand. Während in 3 FAO 2006, 112. 4 Deutschland der Verzehr von Fleisch- Für einen Überblick zur Klimaproblematik siehe Gottwald 2012. 6 MOSINTERNATIONAL 8. Jg. (2014) Heft 3 amos 03_2014 - seiten001-056.indd 6 03.08.2014 17:43:04
Die Würde der Tiere ist antastbar Im Supermarkt schweigt das morali- se Selektionspraxis auf Milchhoch- Laktationen ist nicht nur züchterisch, 5 sche Gewissen jedoch eisern. Dieser leistungsvererber wird nicht nur hin- sondern auch ökonomisch eine Kata- 11 verhängnisvollen Mischung aus poli- sichtlich der Inzuchtgefahr zunehmend strophe. Der mit den frühzeitigen tischem Kleinmut, Gewinnoptimierung, zu einem Problem, sie ist auch ursäch- Zwangsmerzungen einhergehende 7 Ignoranz und Verdrängung ist es ge- lich für zahlreiche Erkrankungen. Zu- ständige Wechsel innerhalb einer Her- schuldet, dass industrielle Tierhaltung dem führt sie zu einer stark reduzier- de ist außerdem aus Tierschutzsicht ab- heute zu den drängendsten Herausfor- ten Verfügbarkeit von geeigneten Tie- zulehnen. Eine hohe Zwangsmerzungs- ren für die Zucht und einem dauerhaft rate liegt meist in einem Leistungsab- Verbraucher sprechen sich verarmten Genpool. Es ist symptoma- fall oder in produktionsbedingten in Umfragen für mehr tisch für diese Art der rationalisierten Erkrankungen wie Fruchtbarkeitsstö- Tierschutz aus, doch im Tierindustrie, dass sich die künstlichen, rungen, Immunschwäche sowie Euter- 12,13 Supermarkt schweigt ihr technisch aufwändigen und kostspieli- und Klauenkrankheiten begründet. Gewissen eisern gen Lösungen als Normalität durchge- setzt haben, während „normale“, natür- Die Zucht orientiert derungen einer agrarpolitischen Wen- liche, einfache und kostengünstige Ver- sich ausschließlich am de geworden ist und dennoch kein fahren zunehmend als zu riskant oder ökonomischen Nutzen und 8 durchgreifender politischer Versuch zu arbeitsintensiv verbannt werden. an der Kompatibilität mit unternommen wird, die Lage zu ent- Nicht nur die Züchtungsverfahren, technischen Systemen schärfen. auch die Zuchtziele sorgen für Pro- Dabei geht es nicht nur um tierethi- bleme: Durch die einseitigen Zuchtzie- Der Fehler liegt nicht nur im Sys- sche Fragen, sondern auch um ethische le und das Ignorieren von Merkmals- tem selbst, sondern in dem dahinter- Fragen der Generationengerechtigkeit, beziehungen kommt es nachweislich stehenden Weltbild. Die reduktionis- des Biodiversitätserhalts und der Er- zu einer negativen Beeinträchtigung tische und technokratische Sichtweise nährungssicherung von morgen. Vor des Fundaments und einer Zunahme auf Umwelt, Tier und letztlich auch den 9 allem aber geht es um das Wohl der von Klauenerkrankungen. Bei einer Menschen spiegelt sich in kaum einem Tiere. Die Intensivtierhaltung orientiert jährlichen Milchleistung von bis zu Bereich so deutlich wider wie in der sich nicht am Tierwohl, sondern aus- 15.000 Liter müssen die Tiere außer- Nutztierhaltung. So nennt der Deut- schließlich an Effizienz. sche Holstein Verband e. V. (DHV) als Aufwendige Formen der Zuchtziel für Holsteins ein „gesundes technisch optimierten und gut melkbares Euter, das in Qua- Industrielle Milchviehzucht Zierzucht verdrängen die lität und Funktionsfähigkeit hohe Ta- natürlichen, einfachen und gesleistungen über viele Laktationen 4,3 Millionen Milchkühe leben in kostengünstigen Verfahren ermöglicht und die Ansprüche moder- 6 14 Deutschland (Stand: 2013). Die meis- ner Melksysteme erfüllt“ . So werden ten von ihnen gehören zur Rasse Deut- dem aufgrund des hohen Energiebe- sche Holstein Schwarzbunt, ein einsei- darfs zusätzlich Kraftfutter wie Soja 5 So geben etwa 87 % der befragten Ver- tig für die Milchproduktion genutztes erhalten. Der hohe Anteil an rauhfa- braucher an, Tierwohl in der Landwirtschaft Rind. Einige Spitzentiere dieser Ras- serarmem Futter führt häufig zu ge- wäre für sie von besonderem Interesse (vgl. se erreichen eine jährliche Milchleis- sundheitlichen Problemen wie einer Image-Studie Landwirtschaft 2012, i. m.a und TNS Emnid), doch kaufen 90 Prozent tung von 15.000 Litern und mehr. Den Übersäuerung des Pansens. Oberfläch- der Verbraucher im Discounter (TNS Emnid Weg auf die Welt finden die Indust- lich betrachtet sind hohe Milchleistun- Studie zum Ernährungsverhalten der Deut- rie-Kühe längst nicht mehr über Na- gen ökonomisch anzustreben. Doch schen, online unter www.bmel.de/Shared- tursprung; mit künstlicher Besamung muss man auch hinterfragen, wie viel Docs/Downloads/Umfragen/TNS-Emnid- und biotechnologischen Verfahren wie Kraftfutter, veterinärmedizinische Kos- EinkaufsErnaehrungsVerhaltenInDeutsch- land.pdf?__blob=publicationFile). Zyklussynchronisation, Superovula- ten und welcher Managementaufwand 6 Vgl. Statistisches Bundesamt 2013 tion, Embryonentransfer und In-Vitro- für diese Leistung notwendig waren, 7 Vgl. Hörning 2008, 60 ff. 8 Fertilisation wird die Fortpflanzung bis und wie hoch die Remontierungskos- Vgl. Jasper & Schmid 2001. 9 ins kleinste Detail optimiert. Auf diese ten aufgrund der kurzen Nutzungsdau- Vgl. Postler 2002, 24. 10 10 Weise können einzelne Hochleistung- er sind. Denn die mittlere „Nutzungs- Ebd., 23. 11 Ebd., 33. stiere Tausende Nachkommen zeugen. dauer“ einer Milchkuh endet heute 12 Kaske 2013, 40. Von besonders wertvollen Bullen wur- nach vier bis fünf Jahren – dabei kann 13 Vgl. Lotthammer 1999. den teilweise mehr als zwei Millionen ein Rind je nach Rasse gut 15 Jahre alt 14 Vgl. Deutscher Holstein Verband e. V. Erstbesamungen durchgeführt. Die- werden. Eine Nutzungsdauer von 2,5 2014. MOSINTERNATIONAL 8. Jg. (2014) Heft 3 7 amos 03_2014 - seiten001-056.indd 7 03.08.2014 17:43:04
Schwerpunktthema nicht nur die Tiere, sondern einzelne verlustraten in Deutschland liegen bei Bewegungsfreiheit verfügen. Auch So- Körperteile immer weiter an die Ma- 15 bis 20 Prozent. Neben Totgeburten zialkontakte können intensiver statt- nagementsysteme angepasst. Letzt- stellt ein unzureichendes Gesundheits- finden, was von Vorteil ist. Doch kann lich mündet dieses technokratische und Haltungsmanagement eine Ursa- es bei der Laufstallhaltung auch vor- 18 Verständnis von Leben in einer per- che für das Kälbersterben dar. kommen, dass innerhalb der Herde versen Konsequenz, die der Philosoph In der intensiven Milchproduktion rangniedrigere Tiere beeinträchtigt Gary L. Comstock erstmals Anfang können verschiedene Haltungsformen werden. Da Kühe Distanztiere sind und der 1990er Jahre mit dem Begriff des differenziert werden. natürlicherweise stets einen gewissen 15 AML-Tieres beschrieb. AML steht für Die traditionelle Form der Milch- Abstand zu anderen Individuen der Animal Microencephalic Lumps und viehhaltung ist die so genannte Anbin- Herde einhalten, muss bei der bauli- bedeutet wörtlich übersetzt in etwa dehaltung. Dabei wird die Kuh zumeist chen Ausgestaltung auf eine ausrei- 19 „Zellklumpentier mit Minimalgehirn“. im Kurzstand (180 cm x 120 cm) am chende Quadratmeterzahl pro Tier ge- Gemeint sind Tiere, die ausschließlich Hals durch einen Rahmen oder Ket- achtet werden, insbesondere im Liege- 25 auf den Nutzen für den Menschen re- ten fixiert. Die Liegefläche ist mit ei- bereich. duziert sind und denen jegliche Emp- ner Gummimatte, seltener mit Einstreu findungs- und Leidensfähigkeit wegge- bedeckt. Außerhalb des Liegebereichs Für die industrielle züchtet wurde. Im Falle der Milchkuh hinter den Tieren befindet sich ein Git- Milchproduktion werden wäre es eine Art lebendes Rieseneuter- ter für den Ablauf von Harn und Kot die Anbindehaltung und 20 tier, unfähig zu denken oder zu leiden, in den Fließmistkanal. die Laufstallhaltung anspruchslos und effizient. Betrachtet Diese Haltungsform schränkt die der artgerechten man die heutigen Auswüchse der in- Tiere in der Bewegungsfreiheit, Explo- Weidehaltung vorgezogen dustriellen Tierzucht, ist man von derlei rationsverhalten und ihren natürlichen Fantasien gar nicht allzu weit entfernt. Verhaltensweisen stark ein. Ein Rind Weitere Schwierigkeit bei der Lauf- legt auf der Weide an einem Tag bis zu stallhaltung ist die Verunreinigung der 13 Kilometer zurück, im Anbindestall Liegeflächen durch das diffuse Abset- Industrielle Milchviehhaltung können die Tiere lediglich stehen oder zen von Kot und Urin, was lebensmit- sich ablegen. Und selbst diese Bewe- telhygienisch wie auch mit Bezug auf Auch die jeweilige Haltungsform ist be- gungsabläufe werden durch die Hal- die Tier- bzw. Eutergesundheit proble- stimmender Faktor für das Wohlbefin- tungsform stark beeinträchtigt. Auch matisch ist. Spaltenböden als Abhilfe 16 den von Milchkühen. Natürlicherwei- das stark ausgeprägte Sozialverhalten haben sich als wenig hilfreich erwiesen, se leben Rinder in sozialen Verbänden ist in Anbindehaltung nicht möglich. da sie ein zusätzliches Verletzungsrisi- bestehend aus 20 bis 30 Muttertieren Da Nahrungsaufnahme und Ruhever- ko darstellen. Mit eingestreuten Liege- und ihren Kälbern. Die Kälber trinken halten herdensynchronisiert sind, kann plätzen sowie durch Aufrüstung von etwa zehn Monate lang bei der Mut- es bei mangelndem Platzangebot im Liegeboxen mit Nackenbügeln wird 21 ter. In der industriellen Milchproduk- Liegebereich zu Problemen kommen. versucht, das Problem in der Griff zu 26 tion jedoch werden sie in der Regel Auch aus Sicht der Tiergesundheit soll- bekommen. spätestens einige Tage nach der Geburt ten die Tiere wenigstens einmal am Tag von den Müttern getrennt. Die Nutz- Gelegenheit bekommen, sich möglichst 15 tierhaltungsverordnung sieht vor, dass frei zu bewegen – etwa um Beinerkran- Vgl. Comstock 1992. 16 22 Vgl. EFSA 2009. Kälber ab einem Alter von 8 Wochen kungen vorzubeugen. 17 Sambraus 1993, 38. in Gruppen gehalten werden. Bis da- In Bayern, mit 1,2 Millionen Milch- 18 Schlag 2010, 50 f. 19 hin werden die meisten Kälber in Ein- kühen das Bundesland mit der größ- Zu unterscheiden sind neben dem zelhaltung, etwa in so genannten Käl- ten Bestandsdichte, ist die Anbinde- Kurzstand noch der Mittellangstand (Stand- beriglus gehalten. Die nicht artgerech- haltung noch immer stark verbreitet: fläche bis 220 cm) und Langstand (Stand- fläche > 220 cm). Letzteren kommt heute te Haltung, der fehlende Kontakt zu Rund 60 Prozent der Milchkühe sind 23 aufgrund des hohen Strohbedarfs und der Mutterkuh und Artgenossen zieht ei- so untergebracht. starken Tierverschmutzung kaum noch Be- ne Vielzahl von Problemen hinsichtlich Im gesamtdeutschen Durchschnitt deutung zu. 20 des Tierwohls nach sich. Die vermin- dominiert bei der Milchproduktion mit Methling & Unshelm 2002, 309 f. 24 21 derte Saugezeit an den Tränken vergli- 72 Prozent jedoch die Laufstallhal- Vgl. Schrader et al. 2006. 22 Vgl. EFSA 2009, 2. chen mit dem natürlichen Saugvorgang tung. Hinsichtlich des Tierwohls ist bei 23 Simon & Schön 2013, 5. am Euter führt zu Ersatzhandlungen der Laufstallhaltung grundsätzlich zu 24 Statistisches Bundesamt 2010. wie dem gegenseitigen Besaugen von begrüßen, dass die Kühe mit durch- 25 Vgl. Richter 2006, 91. 17 2 26 Artgenossen. Die derzeitigen Kälber- schnittlich 4,5 m pro Tier über mehr Ebd. 8 MOSINTERNATIONAL 8. Jg. (2014) Heft 3 amos 03_2014 - seiten001-056.indd 8 03.08.2014 17:43:04
Die Würde der Tiere ist antastbar Eine weitere Haltungsform ist die Aufstehen und Ablegen auf den rut- Hornanlagen verätzt bzw. ausgebrannt, Weidehaltung. In der industriellen schigen Böden. Weiterhin besteht hier was für das Tier erhebliche Schmerzen Milchproduktion ist die Vollweide- die Gefahr von schmerzhaften Gelenk- bedeutet. Eine Narkosepflicht gibt es 30 haltung kaum zu finden. Wachsen- und Klauenverletzungen. jedoch erst ab der 6. Lebenswoche, ob- de Herdengrößen, Aufwand und Leis- Wie auch bei den Milchkühen kön- wohl eine verminderte Schmerzemp- tungseinbußen machen diese Form der nen die Mastrinder wichtige angebo- findlichkeit von Jungtieren wissen- 31 Milchviehhaltung im Wettbewerb un- rene Verhaltensweisen nicht ausleben. schaftlich nicht haltbar ist. rentabel. Zudem sind Arbeitsaufwand In der intensiven Mast können sie we- Die schnelle Gewichtszunahme von und Milcherträge nicht konstant über der nennenswerte Strecken laufen, bis zu eineinhalb Kilo pro Tag erfor- das Jahr verteilt, da die Kühe im Win- noch können Sie der Futtersuche und dert eine immense Stoffwechselleis- ter trockengestellt werden. Eine ganz- dem Wiederkäuen angemessen nach- tung. Die Rinder erhalten hauptsäch- jährige Weidehaltung ist nicht zuletzt gehen. Auch das Sozialverhalten wird lich Maissilage und Sojaschrot, was, aufgrund der speziellen Ernährungs- stark beeinträchtigt. Die unnatürlich wie auch die rauhfutterarme Fütterung ansprüche von Hochleistungsmilchkü- von Milchkühen, zu Verdauungspro- hen kaum möglich. Dabei ist die Um- In der Laufstallhaltung blemen führt. wandlung von für den Menschen als können Mastrinder Die intensive Milchvieh- und Mast- Nahrungsquelle nicht nutzbarem Gras wichtige angeborene rinderhaltung in Deutschland ent- in wertvolle Proteine doch der große Verhaltensweisen nicht spricht nicht den natürlichen Bedürf- Vorteil der Wiederkäuer. ausleben nissen der Tiere und bringt neben den anfangs erwähnten Gesundheits-, Kli- homogene Gruppenzusammensetzung ma- und Umweltschäden erhebliche Industrielle Fleischrindermast in der Intensivmast erzeugt sozialen gesundheitliche und verhaltensbezo- Stress, hinzu kommt die Bewegungs- gene Probleme für die Tiere mit sich. In Deutschland gibt es rund 1,4 Mil- armut und Beschäftigungslosigkeit. Um diesen angemessen entgegenzu- lionen reine Fleischnutzungsrinder. Rangordnungskämpfe unter Rindern treten, braucht es einen radikalen Sys- Dazu kommen 4,9 Millionen Doppel- sind normal, enden jedoch in den sel- temwechsel: nutzungsrinder, die zur Milch- und tensten Fällen mit ernsthaften Verlet- • weg von der Fixierung auf einzel- 27 Fleischgewinnung dienen. Außer für zungen, sofern das unterlegene Tier ne Leistungsparameter in der Zucht, die Haltung von Kälbern fehlen auch sich entsprechend zurückziehen kann. • weg von einer nicht tiergerechten, detaillierte gesetzliche Regelungen für In der beengten industriellen Haltungs- ethisch nicht vertretbaren Tierhal- die Mastrinderhaltung. Bei der klas- umgebung jedoch können die Tiere sich tung, 28 sischen intensiven Bullenmast kann nicht aus dem Weg gehen. So wurden • weg von einem technokratischen zwischen Laufstall (Vollspaltenboden- genetisch hornlose Rinder gezüchtet Verständnis, das Mensch, Tier und haltung bzw. Liegeboxenlaufstall) und bzw. werden die Tiere standardmäßig Umwelt gleichermaßen missachtet. Anbindehaltung differenziert werden. enthornt. Dabei werden beim Kalb die Letztere ist ähnlich der Anbindehal- tung von Milchkühen, spielt aber bei der Mastrinderhaltung eine eher unter- Vom optimierten Effizienzrind zum langlebigen Alleskönner geordnete Rolle – nur etwa 18 Prozent der Mastrinder werden so gehalten; Die Anforderungen an landwirtschaft- bustheit werden in einer sich verän- mit 75 Prozent lebt die überwiegende lich genutzte Tiere werden sich durch dernden Welt zunehmend eine Rolle 29 32 Mehrheit in Laufstallsystemen. Die den Klimawandel – nicht nur in den spielen. Längst gibt es entsprechen- Mastzeit dauert bis zu 400 Tage; dann Ländern des Südens – deutlich ver- de Zuchtziele für einen Systemwech- haben die Bullen ihr Schlachtgewicht ändern. Anpassungsfähigkeit und Ro- sel in der Rinderhaltung. von bis zu 750 Kilogramm erreicht. Während der Mastzeit stehen einem 27 Statistisches Bundesamt 2014, 9. 28 Tier nur etwa 2,7 bis 4 Quadratmeter Aus Platzgründen wird hier nur auf die Bullenmast eingegangen. Die Ochsenmast zur Verfügung. Besonders bedenklich ist in Deutschland nur von geringer wirtschaftlicher Bedeutung; auch die Mast weiblicher mit Blick auf das Tierwohl ist die Hal- Rinder (Schlachtfärsen, Färsenvornutzung) ist aufgrund geringerer täglicher Gewichtszu- nahme weniger effektiv als die Bullenmast. tung von Mastrindern in Einraumlauf- 29 Statistisches Bundesamt 2010. ställen mit Vollspaltenböden. So ha- 30 Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz e. V. 2007, 7. ben die Bullen aufgrund des Körper- 31 Vgl. Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz e. V. 2012, 6. 32 gewichts und der Enge Probleme beim Gottwald & Boergen 2011, 256. MOSINTERNATIONAL 8. Jg. (2014) Heft 3 9 amos 03_2014 - seiten001-056.indd 9 03.08.2014 17:43:04
Schwerpunktthema • Ein wichtiges Zuchtziel ist die Ge- Auch in Deutschland wurde das Rind von Gras. Dadurch stellen sie keinen samtleistung, die ein Rind innerhalb lange Zeit als Dreinutzungstier einge- Nahrungskonkurrenten dar, sondern seines Lebens erreicht. Die Vorteile setzt: Neben seiner Eigenschaft als leben in einer wertvollen Symbiose mit einer hohen Lebensleistung liegen Pflug- und Ackertier versorgte das Rind der Natur. Sie halten das Gras kurz, auf der Hand: Die Nutzungsdauer seine Besitzer mit Milch und Fleisch, düngen mit ihren Ausscheidungen den wird signifikant erhöht, Remontie- Überschüsse konnten abverkauft wer- Boden, verbreiten die Samen und be- rungskosten gesenkt und die viel den. Noch heute sichern Rinder in vie- arbeiten mit ihren Huftritten den Bo- gepriesene ökonomische Effizienz len Teilen der Welt das Überleben von den. Damit tragen sie sogar zum Kli- 33 erhöht. Millionen kleinbäuerlich lebenden Fa- maschutz bei, weil das klimaschädli- • Mehr Nachkommen sorgen für ei- che Kohlendioxid in solchen extensiven ne bessere Selektionsintensität, die Als Grasfresser und Weidelandschaften nachweislich bes- Herdenstruktur ist ausgeglichener, Wiederkäuer sind Rinder ser im Boden gespeichert werden kann die Herde durch geringe Ersatzra- von Natur aus keine als etwa in modernen Ackerlandschaf- 36 ten generell stabiler und ruhiger. Nahrungskonkurrenten für ten. Auch mit Bezug auf das Methan- Weitere Vorteile, die auch ökono- die Menschen Problem ist die extensive der intensi- mische Relevanz besitzen, sind die ven Haltung im positiven Sinne weit gute Konstitution und der stabile milien. 70 Prozent der Menschen in voraus: Eine Hochleistungskuh in in- Gesundheitsstatus und die damit den weniger privilegierten Ländern tensiver Haltungsumgebung verursacht einhergehenden niedrigeren Be- sind direkt oder indirekt von der Tier- beispielsweise circa fünfmal so viel Me- 34 handlungskosten. haltung abhängig. Deren Ziegen, Rin- than wie ein Rind in extensiver Wei- • Auch die züchterische Fixierung der und Schafe werden nicht mit Ge- dehaltung in den Entwicklungslän- 37 auf die Bullen muss einer gleich- treide gemästet, sondern ernähren sich dern. wertigen Berücksichtigung beider Elterntiere weichen. Denn werden die Mutterlinien ignoriert, wird Von der Haltung bis zur Schlachtung: letztlich „die Hälfte des möglichen Erforderlich ist ein Systemwechsel 35 Zuchtfortschritts verschenkt“. Das Zuchtziel der Langlebigkeit muss Nicht nur die Rinderzucht, auch die Auch viele Managementpraktiken, schließlich um das Zuchtziel Mehr- Rinderhaltung müsste sich grundlegend die einen Eingriff ins Tierwohl dar- nutzung erweitert werden – analog ändern. In den tropischen Low-Input- stellen, sind veränderbar. Die Tren- zu den Züchtungsbemühungen für Systemen findet die Rinderhaltung oh- nung von Kuh und Kalb unmittelbar ein Zweinutzungshuhn. Ihre Viel- ne jegliche Ergänzungsfütterung statt. nach der Geburt ist nicht notwendig, fältigkeit war einst mit ein Grund Auch in den Industrienationen könn- wenn beide gemeinsam gehalten wer- für die Domestikation von Rindern. te Grünland viel stärker für eine ex- den. Bei der Mutterkuhhaltung wach- Schließlich sind sie wahre Alleskön- tensive Weidehaltung genutzt werden. sen die Kälber im Familienverband auf, ner: Sie liefern Milch, Fleisch, Fell, Großflächige Beweidungssysteme sind werden zehn bis zwölf Monate von der 39 Leder, Dünger und Fette, können ökonomisch tragfähig und erscheinen Mutterkuh gesäugt. Wenn die Tiere als Zug- und Transporttiere einge- nicht nur aus Gründen des Tierwohls, ausreichend Platz haben, ist auch das setzt werden. Das Rind zu speziali- sondern auch aus Sicht eines ange- schmerzhafte Enthornen nicht notwen- 38 sieren und seine Fähigkeiten gene- wandten Naturschutzes sinnvoll. Die dig. Bei der Haltung von Rindern als tisch derart zu kanalisieren mag für Weidehaltung entspricht den natürli- Mehrnutzungstiere auf Lebensleistung eine Weile eine clevere Idee gewe- chen Bedürfnissen von Rindern und er- weist die Herde außerdem eine kon- sen sein, um die Erträge zu erhöhen. möglicht weitgehend für das Tierwohl stante Struktur mit wesentlich weniger Aber das Rind ist kein Spezialist. Es relevante Verhaltensweisen wie Futter- Wechsel innerhalb des Bestandes auf. kann sehr viele verschiedene Din- aufnahmeverhalten, Wiederkäuen, So- Der Systemwechsel muss sich kon- ge und ist für diese Aufgaben von zialverhalten, Bewegungs- und Ruhe- sequenterweise auch bis zur Schlach- Natur aus bestens angepasst. Und verhalten. Eine ganzjährige Robusthal- 33 das Beste: Als Grasfresser und Wie- tung wird bereits vielerorts praktiziert; Postler 2002, 43. 34 derkäuer wandelt es für den Men- verfügt der Landwirt über entsprechend Ebd., 43. 35 Postler 2007, 22. schen nicht nutzbare Rohstoffe wie robuste Rassen, ist diese Form der Rin- 36 Gottwald & Boergen 2014, 269. Gras und Heu in wertvolle Protei- derhaltung die ursprünglichste und art- 37 Höper 1998, 145. ne um. Kaum ein landwirtschaftlich gerechteste. 38 Lange et al. 2009, 21. 39 genutztes Tier ist derart vielfältig. Hampel 1994, 8. 10 MOSINTERNATIONAL 8. Jg. (2014) Heft 3 amos 03_2014 - seiten001-056.indd 10 03.08.2014 17:43:04
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