Ivan Alboresi - Theater Nordhausen
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Ivan Alboresi WINTERREISE oder Stationen einer Flucht Musik von Franz Schubert und Davidson Jaconello Spielzeit 2020/2021 Hannah Law, Alfonso López González, Philipp Franke
BESETZUNG Choreografie Ivan Alboresi Bariton Philipp Franke Bühne Wolfgang Kurima Rauschning Klavier Youngrang Kim Kostüme Birte Wallbaum Ballett TN LOS! 1. Gute Nacht Otylia Gony, Urko Fernandez Marzana, Thibaut Lucas Nury, Eleonora Peperoni 2. Die Wetterfahne Camilla Matteucci, Luca Scaduto Dramaturgie Juliane Hirschmann 3. Gefrorne Tränen Otylia Gony Trainingsleitung und Assistenz Ilka von Häfen 4. Erstarrung Hannah Law, Eleonora Peperoni, Joshua Raimond Ballettrepetition Nivia Hillerin-Filges Lowe, Kino Luque, Thibaut Lucas Nury, Luca Scaduto Inspizienz Annette Franzke 5. Der Lindenbaum Martina Pedrini, Hannah Law, Alfonso López González, Joshua Raimond Lowe 6. Wasserflut Ayako Kikuchi, Alfonso López González, Urko Technische Leitung Jürgen Bley/Kerstin Bayer Fernandez Marzana Technische Einrichtung Ines Schöffl 7. Auf dem Flusse Urko Fernandez Marzana, Hannah Law, Camilla Beleuchtung Mario Kofend Matteucci, Eleonora Peperoni, Kino Luque, Thibaut Ton Jörg Wiegleb Lucas Nury, Luca Scaduto 8. Rückblick Otylia Gony, Alfonso López González 9. Irrlicht Kino Luque 10. Rast Luca Scaduto 11. Frühlingstraum Ensemble 12. Einsamkeit Ensemble 13. Die Post Otylia Gony, Ayako Kikuchi, Hannah Law, Camilla Matteucci, Martina Pedrini, Eleonora Peperoni 14. Der greise Kopf Alfonso López González, Kino Luque 15. Die Krähe Urko Fernandez Marzana 16. Letzte Hoffnung Ayako Kikuchi, Urko Fernandez Marzana 17. Im Dorfe Hannah Law, Eleonora Peperoni, Thibaut Lucas Nury 18. Der stürmische Morgen Otylia Gony, Kino Luque, Luca Scaduto 19. Täuschung Otylia Gony, Kino Luque, Luca Scaduto 20. Der Wegweiser Alfonso López González, Kino Luque Uraufführung am 23. Oktober 2020, Theater Nordhausen 21. Das Wirtshaus Martina Pedrini, Joshua Raimond Lowe 22. Mut Otylia Gony, Ayako Kikuchi, Hannah Law, Eleonora Peperoni, Joshua Raymond Lowe, Kino Luque, Luca Scaduto 23. Die Nebensonnen Camilla Matteucci, Alfonso López González, Urko Fernandez Marzana, Thibaut Lucas Nury Herstellung der Dekorationen und Kostüme in den Werkstätten der Theater Nordhausen/Loh-Orchester Sondershausen GmbH: 24. Der Leiermann Ensemble Werkstattleiter Jonny Wilken, Gewandmeisterei/Damenschneiderei Doris Gunkel, Herrenschneiderei Angela Kretschmer, Tischlerei Jens Grabe, Malsaal Carsten Stürmer, Schlosserei Uwe Bräuer, Dekorationsabteilung Dörte Oeftiger, Theaterplastik Jeannine Heymann Bitte schalten Sie vor Beginn der Vorstellung Ihre Mobiltelefone und die Stundensignale an Armbanduhren aus. Bild- und Tonauf- nahmen während der Vorstellung können wir aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestatten. 4/5
GEDANKEN ZUM BALLETT „WINTERREISE“ Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“ hat „Aus der ‚Winterreise‘ greife ich in meiner choreo- vor allem seit dem 20. Jahrhundert zu einer unge- grafischen Interpretation verschiedene Themen auf: mein vielseitigen künstlerischen Auseinanderset- Das Verblassen von Erinnerungen, es ist, als würden zung angeregt. Komponisten haben ihn bearbeitet die Erinnerungen hineingezogen in ein schwarzes Loch. und ihm dabei neue Dimensionen hinzugefügt, Die Suche nach dem eigenen Weg. Und Sehnsüchte: die etwa Hans Zender mit zusätzlichen Klangeffekten Sehnsucht nach Liebe, die Sehnsucht zu Sterben, die in „Schuberts Winterreise – eine komponierte Sehnsucht nach dem Tod. Speziell die Todessehnsucht Interpretation“ für Tenor und kleines Orchester, ist ein sehr typisches Thema der Romantik, das auch uraufgeführt 1993. Literaten ließen sich inspirie- bei mir über dem ganzen Abend schwebt. Nicht zuletzt ren, darunter Elfride Jelinek zu dem gleichnamigen geht es um das Thema Verlassen-Werden: Vermutlich Theaterstück (2011) oder Peter Härtling zu seinem kennt fast jeder das Gefühl, wie einem der Boden unter Roman „Der Wanderer“. Auch bildende Künstler den Füßen weggezogen wird, wenn man verlassen wor- schufen Werke auf der Grundlage von Schuberts den ist, das Gefühl, alleine zu sein und die Frage, was Musik. man nun mit sich anfangen soll, wie es weitergeht. Eine tänzerische Aneignung des Zyklus, zum Teil Mit meinen Tänzern spreche ich über jeden einzelnen auch unter Verwendung von Hans Zenders Be- Text, wir lesen ihn, damit sich jeder bewusst ist, um arbeitung, findet in jüngster Zeit verstärktes Inter- was es geht.“ (Ivan Alboresi) esse. Obgleich sie weder Tanz- noch Theatermusik ist, inspirieren die Themen und die Vertonungen „Das zentrale Element in meiner Produktion ist der der „Winterreise“ die Choreografen, so auch den Mantel. Er symbolisiert für mich Verschiedenes: Er Ballettdirektor des Balletts TN LOS! Ivan Alboresi. schützt und hält warm, er steht für das Leben, für Geborgenheit in einem Zuhause und bei einem anderen „Wir mussten – jetzt unter den aktuellen Corona-Be- Menschen. Er wird zu Beginn von den Tänzern an- dingungen – Stücke finden, die sich für die Maßgaben gezogen, als individueller Startpunkt ihrer Reise. Einer eignen. Da passt die ‚Winterreise‘ bestens. Die Musik ist Reise ins Innere, auf der Suche nach dem ‚Warum‘, die tiefsinnig und ergreifend, die Thematik sehr inspirie- gleichzeitig eine Flucht vor dem ‚Jetzt‘ ist. Wie orientie- rend und perfekt für ein Ballett, das überwiegend mit rungslos irren sie umher, auf der Suche nach Sinn oder Soli arbeitet, nicht mit einer durchgehenden Geschichte Erlösung im Tod. Diese Mäntel begleiten sie auf dem um ein Hauptpaar. In unserem Fall haben wir 12 ganzen Weg, erst zum Ende lassen sie diese los. So, Individuen auf der Bühne, jeder ist Solist, erzählt seine als hinge man nicht mehr an der eigenen Lebensge- eigene Geschichte, spielt eine eigene Rolle … Auch die schichte, an dem Verlassen-Worden-Sein. Ein Zeichen Nachdenklichkeit in der ‚Winterreise‘, die Selbstrefle- der Offenheit für einen Neuanfang, der Auflösung und xion und das Thema Vereinzelung passen so wunderbar Befreiung. Die Begrenzung entfällt. in unsere Zeit. So auch im Bühnenbild: Die Wände begrenzen den Bo- Und schließlich sind die Texte sehr metaphorisch, man den, die zur Verfügung stehende Bewegungsfläche. Die- hat als Choreograf sehr viele Freiheiten der Interpre- ser Bühnenraum löst sich schließlich auf und verstärkt tation. In unserem Fall war mir wichtig, die Gefühle so das Gefühl der Vereinsamung.“ (Ivan Alboresi) von jedem einzelnen Lied herauszuarbeiten. Was kenn- zeichnet es, was ist mir wichtig zu erzählen?“ (Ivan Alboresi) 6/7 Otylia Gony
DIE MUSIK von Juliane Hirschmann Franz Schuberts „Winterreise“ fragt, ob er etwas zu unserer ‚Winterreise‘ schreiben Mit der „Winterreise“ schuf Franz Schubert bis zum könnte. Er hat bereits mit vielen zeitgenössischen Herbst 1827, das heißt ein Jahr vor seinem frühen Tod, Choreografen gearbeitet. Seine atmosphärische einen Liederzyklus, der nicht nur als Höhepunkt sei- Musik bereitet jene von Schubert vor, ohne mit ihr nes eigenen Schaffens, sondern als Gipfel des roman- in Konkurrenz zu treten. Sie unterstreicht Stimmun- tischen Kunstliedes überhaupt gilt. In den 24 Liedern gen, schafft Spannungsmomente und die von mir nach den drei Jahren zuvor erschienenen Gedichten gewünschten Irritationen.“ (Ivan Alboresi) von Wilhelm Müller schildert Schubert das seelische Erleben eines von der Liebe Enttäuschten, ja mehr Verbindung zur Gegenwart noch eines Suchenden, eines Wanderers, der nirgend- Der kanadische Tänzer und Komponist Davidson wo zu Hause ist, sich von der Gesellschaft immer wei- Jaconello schuf zu Ivan Alboresis Ballett „Winter- ter entfernt. Die Musik nimmt in ergreifender, oftmals reise“ eine Art Geräuschkulisse, die Schuberts erschütternder Weise jede Gefühlsregung auf, gibt Musik unterstützt und weitere Assoziationsräume Hoffnung, Einsamkeit, Verzweiflung, zunehmender schafft. Jaconello hat sich als Komponist auf Tanz- Todessehnsucht einen Ausdruck, dessen Sogkraft sich und Theaterproduktionen spezialisiert und schöpft Hörende kaum entziehen können. dabei aus seiner langjährigen Erfahrung als Tänzer weltweit. Kennzeichnend sind Kompositionen, die „Die Musik Schuberts treibt einen nach vorne, Orchesterfarben mit zeitgenössischen Sound–De- innerlich, man kann nicht stehen bleiben. So ist auch signtechniken kombinieren. Er komponierte für der Abend konzipiert. Man wird immer von einem Choreografen wie Jiří Pokorný und Ihsan Rustem zum nächsten Lied weitergezogen. Man bekommt sowie etliche Ballettcompagnien (u. a. National- kaum mit, dass das eine beendet ist und das nächste theater Mannheim, Netherlands Dance Theater 2, schon begonnen hat. Der Abend ist wie ein einziger West Australian Ballet). „Wichtig ist, immer mit Ein- Gedankenfluss. fachheit zu beginnen und von dort aus aufzubauen. Für mich war klar, dass ich etwas anderes hinzu- Im Theater wirkt so vieles zusammen. Choreografie, fügen möchte. Die Freunde von Schubert waren da- Inszenierung, Licht, Kostüme, Video, Bühnenbild und mals so verstört, als sie die ‚Winterreise‘ zum ersten Ton fügen sich zusammen, um unsere Welt im Thea- Mal gehört haben. Das war etwas außergewöhnlich ter zu erschaffen. Manchmal braucht es nur einen Brutales damals, Trauriges, Depressives. Wie können einfachen Ton. Eine Klanglandschaft, ein Dröhnen, wir für unsere Generation im Jahr 2020 diese Ge- eine Glocke, eine Stimme. Ein andermal braucht es ein fühle so wieder hervorrufen? Wie können wir die Orchester mit 100 Personen. Aber das Einfache darf gleiche Spannung finden wie damals? Ich habe den nicht vergessen oder übersehen werden.“ (Davidson kanadischen Komponisten Davidson Jaconello ge- Jaconello) Philipp Franke
Camilla Matteucci, Eleonora Peperoni, Thibaut Lucas Nury, Hannah Law, Joshua Raymond Lowe, Ayako Kikuchi, Philipp Franke Eleonora Peperoni, Camilla Matteucci, Martina Pedrini, Hannah Law Urko Fernandez Marzana, Camilla Matteucci, Alfonso López González Youngrang Kim, Urko Fernandez Marzana
DIE SCHÖPFER DES LIEDERZYKLUS von Juliane Hirschmann Der Dichter Wilhelm Müller Bibliothek in Dessau. Entfaltung einer umfassenden französischer Truppen in Wien. 1819: Vollendung des „Forellenquintetts“ Der romantische Dichter Wilhelm Müller wurde vor und vielseitigen Publikationstätigkeit. Aufnahme in 1811: Komposition des ersten vollständig (Klavierquintett A-Dur). allem bekannt durch seine von Franz Schubert ver- die Freimaurerloge „Minerva zu den drei Palmen“ in erhaltenen Liedes „Hagars Klage“. 1820: Aufführung der Oper „Die Zauberharfe“. tonten Gedichtzyklen „Die schöne Müllerin“ und Leipzig. 1812: Musikunterricht bei Antonio Salieri, 1821: Erste Schubertiade als gesellige, musikalisch- „Die Winterreise“. Weitere Komponisten vertonten 1821: Hochzeit mit Adelheid Basedow; zwei hochangesehener Hofkapellmeister in Wien. literarische Zusammenkunft des Schubert-Kreises. seine Gedichte, darunter Johannes Brahms, Gia- Kinder mit ihr, u.a. Friedrich Max, späterer 1813: Ausbildung zum Lehrer. Komposition der Metternich wird österreichischer Staatskanzler. como Meyerbeer und Max Reger. Neu an Müllers deutscher Sprach- und Religionswissenschaftler. 1. Sinfonie. 1822: Fertigstellung der Oper „Alfonso und Lyrik war zu ihrer Zeit ein von Illusionen freies Mo- Publikation von 12 Gedichten unter dem Titel 1814: Schulgehilfe an der Schule des Vaters. Erste Estrella“. Komposition der „Unvollendeten“. derne-Bewusstsein, die Reflexion einer Trost- und „Wanderlieder von Wilhelm Müller. Die Winterrei- Goethe-Vertonung mit der Ballade „Gretchen am 1823: Komposition des Liederzyklus „Die schöne Hoffnungslosigkeit. Er arbeitete ferner als Philologe, se. In 12 Liedern“ im Almanach „Urania“, weitere 10 Spinnrad“. Müllerin“ (Gedichte von Wilhelm Müller). Erste Essayist, Editor, Übersetzer und Bibliothekar. Er Gedichte des Zyklus erscheinen in „Deutsche 1815/1816: Freundschaft mit dem Dichter und Anzeichen einer Geschlechtskrankheit. wurde lange als Biedermeierpoet unterschätzt. Blätter“. Schauspieler Franz von Schober. Komposition von 1824: Komposition des Streichquartetts „Der Tod 1824: Ernennung zum Hofrat. Veröffentlichung fast 250 Liedern, darunter der „Erlkönig“ (Goethe). und das Mädchen“. 1794: Geburt am 7. Oktober in Dessau. sämtlicher 24 Gedichte der „Winterreise“ in Müllers 2. bis 4. Sinfonie. Ende des Unterrichts bei Salieri. 1825: Entstehung der Sinfonie C-Dur (der 1812: Beginn eines Philologiestudiums in Berlin. Sammlung „Gedichte aus den hinterlassenen 1817: Bekanntschaft mit dem Bariton Johann „Großen“), darin Erweiterung der klassischen Form. 1813/1814: Als freiwilliger Gardejäger Teilnahme an Papieren eines reisenden Waldhornisten“, die Michael Vogl, einem der wichtigsten Sänger an der 1827: Komposition des Liederzyklus „Winterreise“. den antinapoleonischen Befreiungskriegen. 1814 Gedichte sind ein „Reflex grundlegender Fremdheits- Wiener Hofoper. Er sang Schuberts Lieder und 1828: Entstehung der Lieder, die posthum als Ernennung zum Leutnant. und Verlorenheitserfahrung“ (Bernd Leistner). machte sie bekannt. Komposition von rund 60 „Schwanengesang“ veröffentlicht werden. Tod am 1814: Entstehung von Gedichten als Reflex einer 1826: Erkrankung an Keuchhusten. Regietätigkeit Liedern. 19. November in Wien. Krisensituation, Fremdlingsmotiv und Vereinzelung am Herzoglichen Stadttheater Dessau. 1818: Erste öffentliche Aufführung der „Ouvertüre als Thema. Rückkehr nach Berlin. Beitritt zur neu 1827: Tod Müllers am 1. Oktober 1827 infolge im italienischen Stil“. gegründeten Berlinischen Gesellschaft für deutsche eines Herzinfarktes. Sprache. Ab 1816: Besuch von literarischen Salons in Berlin, Bekanntschaft u. a. mit Achim von Arnim, Clemens Der Komponist Franz Schubert Brentano und Ludwig Tieck. Herbst 1816/Winter Franz Schubert gilt als einer der bedeutendsten 1817: Im literarischen Zirkel im Haus des Berliners romantischen Komponisten. Obwohl er mit 31 Staatsrates von Stägemann entsteht ein geselliges Jahren früh verstarb, hinterließ er ein umfang- Liederspiel mit einer schönen Müllerin als reiches, vielseitiges und einflussreiches Werk, Mittelpunkt; Müller entwickelt daraus den Zyklus darunter sieben vollendete und mehrere unvollen- „Die schöne Müllerin“. dete Sinfonien (u. a. die „Unvollendete“ in h-Moll), 1817/1818: Bei einem Aufenthalt in Wien Kontakt geistliche Werke, zehn vollendete Opern, Schau- zu Exilgriechen. Müllers Parteinahme für deren spielmusik, Kammermusik, Klavierstücke. Seine Freiheitsbestrebungen gegen die türkischen rund 600 Lieder gelten als seine bedeutendsten Besatzer mündet später in die „Griechenlieder“. Schöpfungen. Reise nach Italien. 1819: Lehrer an der Herzoglichen Gelehrtenschule 1797: 31. Januar, Geburt in Wien-Lichtental als in Dessau. Beginn der Zusammenarbeit mit dem Sohn eines Lehrers. Verleger Brockhaus in Leipzig, Müller arbeitet für 1808: Aufnahme als Hofsängerknabe an das ihn als Übersetzer, Rezensent, Biograf und Wiener Stadtkonvikt. Herausgeber. 1809: Clemens Wenzel Fürst Metternich wird 1820: Ernennung zum Leiter der Herzoglichen österreichischer Außenminister. Einmarsch Ensemble
„SCHAUERLICHE LIEDER“ – VERSUCH EINER ANNÄHERUNG von Juliane Hirschmann Die Lieder des Zyklus sind kompositorische Deutungen des Textes. Häufig Er gilt als „Klassiker des deutschen Liedes“, als „Lieder- bildet dabei das Klavier eine Kulisse, vor der sich fürst“, als Schöpfer des romantischen Kunstliedes, die Singstimme bewegt. Die Begleitung kann die dessen „göttlichen Eingebungen“ schon Zeitgenossen inneren Vorgänge des lyrischen Ichs abbilden, den zu Tränen rührten: Franz Schubert sprengte in Text kommentieren, ihm widersprechen und vieles etlichen seiner rund 600 Liedkompositionen Grenzen, mehr. In dem berühmten Lied „Der Lindenbaum“ aus hob die Gattung Lied in eine völlig neue Sphäre. der „Winterreise“ suggeriert das bewegte Klavier- Das vorherrschende ästhetische Ideal um 1800 war vorspiel das Rauschen der Blätter und schafft eine das einfache Strophenlied. Der deutsche Musik- Art Szene. Mit dem Einsatz der Singstimme scheint theoretiker Heinrich Christoph Koch beschrieb es ein einfaches Strophenlied anzusetzen: Die Gesangs- im Jahr 1802 in seinem damals weit verbreiteten melodie ist ebenso schlicht wie die ihr genau folgende „Musikalischen Lexikon“ als „jedes lyrische Gedicht von und sie stützende Begleitung. Diese „harmlose“ Musik mehrern Strophen, welches zum Gesange bestimmt, und spiegelt die im Text heraufbeschworene Idylle in der mit einer solchen Melodie verbunden ist, die bey jeder Vergangenheit. Doch wenig später wird die Einheit Strophe wiederholt wird, und die zugleich die Eigenschaft von Singstimme und Begleitung aufgebrochen, die hat, daß sie von jedem Menschen, der gesunde und nicht Bassstimme dominant, die Harmonik verdunkelt Joshua Raymond Lowe, Martina Pedrini ganz unbiegsame Gesangsorgane besitzt, ohne Rücksicht sich. Von der anfänglichen Harmonie ist kaum etwas auf künstliche Ausbildung derselben, vorgetragen werden geblieben, in der Gegenwart herrscht, so beschreibt kann.“ Einfach und schlicht also sollte ein Lied sein, es der Text, „tiefe Nacht“, die „kalten Winde“ blasen, leicht singbar für jedermann, mit immer der gleichen Todessehnsucht wird angedeutet. Schubert folgt dem Melodie und Begleitung für jede Textstrophe ver- Textinhalt genau, ein strikt angewendetes Strophen- sehen, und, so lässt sich ergänzen, mit einer Klavier- lied wäre den kontrastierenden Gefühlswelten nicht begleitung, die den Gesang lediglich zu unterstützen gerecht geworden. hatte, ohne dabei dem Gedicht eine zusätzliche Mit hochexpressiven Mitteln gab Schubert der Ausdrucksebene hinzuzufügen. symbolischen Welt Wilhelm Müllers insgesamt Dieses noch von Johann Wolfgang von Goethe musikalisch Gestalt: Man hört die gefrorenen Tränen, entscheidend mitbestimmte Liedideal verlor jedoch die vereisten Flüsse, die aufbrausenden Wetterfahnen bereits um die Wende zum 19. Jahrhundert an Be- oder die unruhig flackernden Irrlichter. deutung, indem Komponisten der Musik bei der Die Kunstlieder Schuberts hatten schon auf die Textinterpretation allmählich mehr Raum gewährten Zeitgenossen eine besondere Wirkung, mitunter und damit auch nicht selten die einfache strophische brachen sie beim Hören in Tränen aus. So berichtet Gestaltung hinter sich ließen. Schon Ludwig van der Komponist Ferdinand Hiller, der im März 1827 mit Beethoven gab einer neuen Entwicklung bedeutende seinem Lehrer Johann Nepomuk Hummel nach Wien Impulse, an die nicht nur Schubert, sondern auch kam: „Eine kurze Weile nachdem man die Mittagstafel Komponisten wie Robert Schumann und Johannes verlassen, setzte sich Schubert ans Klavier, [dem Sänger Brahms anknüpften. Johann Michael] Vogel zur Seite – wir andern machten Was sich bei Beethoven bereits abzeichnete, wurde es uns in dem großen Salon bequem, wo es jedem am in Schuberts umfangreichem Liedschaffen zum allein besten schien, und dann begann ein einziges Konzert. [...] bestimmenden Prinzip: Er folgte keinem abstrakten Von meiner Rührung, von meinem Enthusiasmus darf ich Formmodell mehr, sondern leitete die Vertonungen nicht sprechen – aber mein Meister, der doch schon fast individuell ganz aus seiner Interpretation des zu- ein halbes Jahrhundert Musik hinter sich hatte, war so grundeliegenden Gedichts ab. Seine Liedvertonungen tief ergriffen, daß Tränen auf seinen Wangen perlten.“ Urko Fernandez Marzana, Otylia Gony
Für seine „Winterreise“ fand Schubert in Wilhelm verlorenen, vereinsamten Liebhabers. Einsamkeit Müllers Gedichtzyklus „Die Winterreise“ eine literari- und Fremdheit, eine zunehmende Distanz zu den sche Vorlage, die selbst schon von einer ergreifenden Menschen und dem Leben gegenüber sind allgegen- Expressivität beherrscht ist. Der 1794 in Dessau wärtige Gefühle auf der Wanderschaft. Glück gibt geborene Dichter, der als Freiwilliger am anti-napo- es nur in der Vergangenheit, die Gegenwart ist leonischen Befreiungskrieg teilnahm und sich für geprägt von Kälte. den Unabhängigkeitskampf der Griechen gegen die Diese Dialektik wird von Beginn an entfaltet. Das türkischen Besatzer einsetzte, schrieb zahlreiche erste Lied „Gute Nacht“ entlässt den von der verdeckt gesellschaftskritische Gedichte. Die ersten Geliebten Verlassenen sogleich in die unwirtliche zwölf Gedichte der „Winterreise“ veröffentlichte Mül- Gegenwart, die ihn im Weiteren immer wieder ler 1823, im Jahr darauf erschien der komplette Zyklus einholt, wenn er sich an einstiges Glück zu erinnern mit 24 Gedichten. Schubert entdeckte den ersten versucht. Neben dem „Lindenbaum“ beschreibt Teil im Februar 1827 in der Bibliothek seine Freundes unter anderem das Lied „Rückblick“ die Unver- Franz von Schober und setzte sie wenig später in einbarkeit von schöner Erinnerung und kalter Musik. Noch im selben Jahr fielen ihm die restlichen Gegenwart. Der Versuch, in den Traum zu fliehen, zwölf Gedichte in die Hände, die er vermutlich im scheitert („Frühlingstraum“). Im zweiten Teil des Spätsommer vertonte. So entstanden zwei deutlich Zyklus wird das Streben hin zum Tod immer be- voneinander unterschiedene Teile mit jeweils zwölf deutender. „Eine Straße muss ich gehen, die noch Liedern. Schubert war bereits unheilbar krank, als er keiner ging zurück“ heißt es im „Wegweiser“ Kino Luque, Alfonso López González sich an die Vertonung der finsteren Gedichte machte. (Nr. 20). Die „Winterreise“ schließt mit dem Lied Letzte Korrekturen nahm er im November 1828 auf „Der Leiermann“. Dieser steht „drüben hinterm dem Sterbebett vor. Dorfe“, ist also wie der Wanderer ein Außenseiter. Die „Winterreise“ ist oft mit Schuberts Biografie in Immerfort sind die gleichen leeren Quinten und Verbindung gebracht worden. Seit 1823 wusste der Drehbewegungen im Klavier zu hören, die Melodie Komponist von seiner schweren Erkrankung, wahr- ist extrem schlicht, fast monoton. Hier sprechen scheinlich der Syphilis, die ihn mental veränderte. Einsamkeit, Leere, Trostlosigkeit, Stillstand. Sein Freund Johann Mayrhofer berichtete, Schubert Der „Winter“ ist in der deutschen Lyrik bekannt als sei „lange und schwer krank gewesen, er hatte nieder- Metapher für Einsamkeit, für Altern, Depression schlagende Erfahrungen gemacht, dem Leben war die und Tod, auch als ein Spiegel der Beziehung des Rosenfarbe abgestreift; für ihn war Winter eingetreten.“ Einzelnen zu seiner gesellschaftlichen Umwelt. Die Kälte, die unwirtliche winterliche Natur entspricht Die Themen dem Zustand der Seele desjenigen, der jenseits Schubert hat eine ganze Reihe von Gedichten der Gesellschaft steht. Die „Winterreise“ ist auch vertont, die das Thema „Wandern“ in den Mittel- gedeutet worden als Reaktion auf die Bedingungen punkt stellen. Seine Wanderer-Kompositionen im Metternich’schen System von Verfolgung und kulminieren in den Zyklen „Die schöne Müllerin“ Unterdrückung. und „Winterreise“ nach Gedichten von Wilhelm Müller. In der „Winterreise“ wird ein zurückgewie- „Die ziellose Reise des Wanderers in einer undurch- sener Liebhaber zum Wanderer, zum Heimatlosen. dringlichen Landschaft, das heißt: einer inkommen- Er verlässt die Stadt der Geliebten und begibt sich surablen Welt, die beherrscht ist von machtvollen, auf eine ziellose Reise durch eine von Kälte und Eis unpersönlichen, anonymen Institutionen und wo der durchzogene, unwirtliche Winterlandschaft. Die Tod herrscht – diese Reise repräsentiert die Situation Natur ist menschenleer und wird als abweisend des nach Freiheit und Selbstverwirklichung verlangen- empfunden. Todessehnsucht wächst: Schuberts den Individuums innerhalb der repressiven Machtaus- Liederzyklus entfaltet in 24 Momentaufnahmen übung des Staates der Metternich-Ära. Weit über die die Stimmungslagen eines enttäuschten, eines gern herangezogene privat-biografische Lesart hinaus 16/17 Luca Scaduto
ZUM WEITERLESEN UND -HÖREN Die Nordhäuser Stadtbibliothek „Rudolf Hagelstange“ hält folgende Medien zur „Winterreise“ für Sie bereit: könnte die solcherart gedachte und erfahrene politische „Im Laufe meiner Arbeit an der ‚Winterreise‘ habe Dimension der ‚Winterreise‘-Fabel auch Schuberts ich mich mehr und mehr in sie verliebt. Im Moment extrem psychische und physische Belastung während sind ‚Wasserflut‘ und ‚Die Krähe‘ meine Favoriten. Das der Komposition neu verstehbar machen.“ Zögerliche, Verharrende sowie das wunderbar fragile (Reinhold Brinkmann) musikalische Motiv der Klavierbegleitung der ‚Wasser- Literatur: flut‘ berühren mich sehr. Die Musik klingt für mich wie Harry Goldschmidt, Franz Schubert, ein Lebensbild, Leipzig 1986. (365 Seiten), mit Illustrationen Schuberts „Winterreise“ wirkte verstörend auf ein surrealer Totentanz. ‚Die Krähe‘ interpretiere ich als seine Freunde, als er sie ihnen erstmals vorstell- Vorboten des Todes. Das Tier ist für mich die Metapher Karla Höcker, „Die schöne unvergessliche Zeit“. Franz Schubert in seiner Welt, Berlin 1978. (245 Seiten), te. Das bezeugt der Bericht des Freundes und einer Krankheit, die uns befällt, und in uns die Sehn- mit zeitgenössischen Abbildungen. Förderers Joseph von Spaun: „Schubert wurde durch sucht nach dem Tod weckt.“ (Ivan Alboresi) einige Zeit düster gestimmt und schien angegriffen. Auf Michael Raeburn und Alan Kendall (Hrsg.), Geschichte der Musik, Bd. 2: Beethoven und das Zeitalter meine Frage, was in ihm vorgehe, sagte er nur, ‚nun, Die Krähe der Romantik, München 1993. (376 Seiten), mit Abbildungen (enthält u. a. Beitrag zu Franz Schubert) ihr werdet es bald hören und begreifen.‘ Eines Tages Eine Krähe war mit mir sagte er zu mir, ‚komm heute zu Schober, ich werde aus der Stadt gezogen, Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.), 1000 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen, Bd. 3: Von Friedrich von euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen. Ich ist bis heute für und für Schiller bis Joseph von Eichendorff, Leipzig 1996. (511 Seiten) (enthält u. a. Gedichte von Wilhelm Müller) bin neugierig, was ihr dazu sagt. Sie haben mich mehr um mein Haupt geflogen. angegriffen, als dieses je bei anderen Liedern der Fall Klaus Günzel, Die deutschen Romantiker. 125 Lebensläufe. Ein Personenlexikon, Düsseldorf 2008. Krähe, wunderliches Tier, war.‘ Er sang uns nun mit bewegter Stimme die ganze (398 Seiten), mit Illustrationen (enthält u. a. Biografie Wilhelm Müller) willst mich nicht verlassen? ‚Winterreise‘ durch. Wir waren über die düstere Stim- Meinst wohl bald als Beute hier mung dieser Lieder ganz verblüfft, und Schober sagte, Heinz-Georg Held, Romantik. Literatur, Kunst und Musik 1790–1840, Köln 2003. (190 Seiten), mit Illustrationen meinen Leib zu fassen? es habe ihm nur ein Lied, ‚Der Lindenbaum‘, gefallen. Schubert sagte hierauf nur, ‚mir gefallen diese Lieder Nun, es wird nicht weit mehr gehen CD: mehr als alle, und sie werden euch auch noch gefallen‘; an dem Wanderstabe. Franz Schubert, Die Winterreise. Rudolf Knoll, Bariton, Pilz 1991. (1 CD) und er hatte recht, bald waren wir begeistert von dem Krähe, lass mich endlich sehn Eindruck der wehmütigen Lieder, die Vogel meisterhaft Treue bis zum Grabe! Franz Schubert, Franz Schubert und die Frühromantik. Musik von Franz Schubert, Felix Mendelssohn vortrug.“ (Wilhelm Müller/Franz Schubert, „Winterreise“) Bartholdy, Verlag Das Beste GmbH 2000. (3 CDs + Beiheft) Stadtbibliothek „Rudolf Hagelstange“: Nikolaiplatz 1, Tel. (0 36 31) 69 62 67 Textnachweise: „Die Schöpfer des Zyklus“, Zusammenstellung von Juliane Hirschmann unter Verwendung von: Maria-Verena Leistner, „Zeittafel“ sowie Bernd Leist- ner „Biographischer Essay: Dichter, Literator, Philologe“, auf: wilhelm-mueller-gesellschaft.de; Ernst Hilmar, Franz Schubert, Reinbek bei Hamburg 2008 (6. Aufl.), Elisabeth Schmierer, Komponisten-Portraits. Bilder und Daten, Stuttgart 2003; Zitat Reinhold Brinkmann, aus: Ders., Musikalische Lyrik, politische Allegorie und die „heilʼge Kunst“: Zur Landschaft von Schuberts „Winterreise“, in: Archiv für Musikwissenschaft, 62/2, 2005, S. 75–97; Zitat Peter Härtling, aus: Ders., Der Wanderer (Roman), Darmstadt 1988. Die Ausführungen von Ivan Alboresi entstanden für dieses Programmheft. Der Artikel von Juliane Hirschmann ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft. Die Probenbilder von Marco Kneise entstanden wenige Tage vor der Premiere. 18/19 Ensemble
„Ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen. Ich bin begierig zu sehen, was Ihr dazu sagt. Sie haben mich mehr angegriffen, als das bei anderen Liedern der Fall war.“ (Franz Schubert) Impressum: Herausgeber: Theater Nordhausen/Loh-Orchester Sondershausen GmbH Intendant: Daniel Klajner, Käthe-Kollwitz-Straße 15, 99734 Nordhausen, Tel: (0 36 31) 62 60-0 Programmheft Nr. 5 der Spielzeit 2020/2021 Premiere: 23. Oktober 2020 Redaktion und Gestaltung: Dr. Juliane Hirschmann Satz und Layout: Ralph Haas, Abteilung Kommunikation und Marketing des Theaters Nordhausen
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