Jüdische Illustrierte - Verlagsbeilage Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg

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Jüdische Illustrierte - Verlagsbeilage Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg
Jüdische Illustrierte
  Verlagsbeilage Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg
BERLIN, DEN 9. JUNI 2016   3. SIWAN 5776        71. JAHRGANG   NR. 23
Jüdische Illustrierte - Verlagsbeilage Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg
2|            INHALT                                                                                                                                  Jüdische Illustrierte

                            Ein Stück Europa
 EDITORIAL Die Heidelberger Hochschule als Spiegelbild aktueller Entwicklung
            von Johannes Heil                                                                               der Wissenschaft des Judentums im 19. und frü-
                                                                                                            hen 20. Jahrhundert ergangen, und ihre Hoch-
Eine ganze Hochschule für das »kleine Fach« Jü-                                                             schulen und Seminare in Breslau und Berlin wur-
dische Studien – wo gibt es das noch einmal?                                                                den in der Zeit des Nationalsozialismus liqui-
Und erst recht: Wo werden die Jüdischen Studien                                                             diert.
gleich in der Breite von neun Teildisziplinen, von                                                             Heute bilden Lehre, Forschung und Hoch-
Bibel über Talmud bis zu Israelstudien angebo-                                                              schulleben eine Schnittstelle zwischen Judentum
ten? Wo wirkt Deutschlands einziger Hochschul-                                                              und der umgebenden Gesellschaft. Das 2009 in-
rabbiner? Und wo haben Studierende in Lehr-                                                                 mitten der Altstadt mit den vereinten Kräften des
amts-, Bachelor- oder Masterprogrammen für ihre                                                             Trägers, der öffentlichen Hand und privater Zu-
Studiengänge mehr Kombinationsmöglichkeiten                                                                 wendungsgeber errichtete Gebäude steht für die-
mit dem Angebot einer erstrangigen Volluniversi-                                                            se Offenheit: als Ort des Lernens und Forschens,
tät, die gleich nebenan liegt?                                                                              aber auch als Treffpunkt für Vorträge und Aus-
   Keine Frage, die Rede ist von Heidelberg und                                                             stellungen, oder in der koscheren Mensa – mitt-
von der Hochschule für Jüdische Studien. Hier                                                               lerweile ganz selbstverständlich.
geht es freilich nicht darum, weitere Superlative                                                              2019 wird die Hochschule 40 Jahre alt, und
zu addieren, wobei Heidelberg für Studierende                                                               von ihrer Gründung bis heute ist sie im Kleinen
sicher auch darin unschlagbar ist: dass dort so                                                             auch ein Spiegelbild deutscher Geschichte und
ziemlich alles, und dabei in vielem das Beste,                                                              europäischer Entwicklung: von den nach den Er-
gleich nebenan liegt. Ansonsten soll hier ganz                                                              fahrungen der Schoa noch immer tastenden
nüchtern auf Besonderheiten hingewiesen wer-                                                                Schritten der jüdischen Gemeinschaft über den
den, die nach bald 40 Jahren des Bestehens unse-                                                            Neuanfang bis hin zu einer in der Wissenschafts-
rer Hochschule schon so selbstverständlich er-                                                              landschaft und in der Gesellschaft fest etablierten
scheinen, dass sie es verdienen, wieder einmal in                                                           Institution des Austauschs und der Wissensver-
Erinnerung gerufen zu werden. Etwa, dass der                                                                mittlung. »Wer ein Haus baut, will bleiben, und
Zentralrat der Juden und mit ihm die kleine jüdi-                                                           wer bleiben will, erhofft sich Sicherheit« – was
sche Gemeinschaft sich 1979 auf das Wagnis ei-        HfJS-Rektor Johannes Heil                             Salomon Korn, Mitglied unseres Kuratoriums
ner eigenen Hochschulgründung einließen, und                                                                und lange entscheidende Jahre dessen Vorsitzen-
dass diese heute zugleich eine etablierte öffentli-   nem gemeinsamen Graduiertenkolleg, mit eige-          der, anlässlich der Eröffnung des jüdischen Ge-
che Angelegenheit ist, mit finanzieller Beteili-      nen Forschungszentren und Programmschwer-             meindezentrums 1986 in Frankfurt sagte, gilt
gung der Länder, insbesondere Baden-Württem-          punkten, international unter anderem mit der          auch für die Heidelberger Hochschule.
bergs, und des Bundes. Dass dort jeder studieren      Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva und der             40 Jahre – das heißt aber gleichzeitig auch,
kann, Juden und Nichtjuden, die gegenwärtig aus       Hebräischen Universität Jerusalem, mit der Karl-      dass all dies sich nur wenige Jahrzehnte entfernt
15 verschiedenen Ländern kommen. Aus den Er-          Franzens-Universität Graz und – als größter Ak-       von einer ganz anderen Vergangenheit bewegt
wartungen der Anfangsjahre an eine Hochschule         tivposten – mit dem Paideia-Institut für Jüdische     und man im Blick behalten muss, dass wir uns ge-
für die Ausbildung von Personal für die jüdischen     Studien in Stockholm.                                 genwärtig in einer Zeit unkalkulierbar dynami-
Gemeinden ist eine, wie es hochschulbürokra-              Das sind Eckwerte, die jede Bilanz zieren kön-    scher neo-autokratischer Kräfte, auch terroristi-
tisch heißt, »universitätsförmige« Spitzenhoch-       nen und sich gut für die Werbung eignen. Was sie      scher Bedrohungen und populistischer Bewegun-
schule mit Promotionsrecht geworden.                  tatsächlich bedeuten, wird aber erst bei näherem      gen aufhalten. Da erscheint die Hochschule für
   Daraus sind vielfältige Beziehungen und mehr       Hinsehen deutlich: Die Heidelberger Hochschule        Jüdische Studien Heidelberg geradezu als ein zen-
als bloß strategische Partnerschaften entstanden:     ist ein gelebtes Stück Pluralität inmitten Europas    trales Elementarteilchen für den Gegenentwurf:
mit der Universität Heidelberg in derzeit zwei ko-    und ein integraler, weithin vernetzter Teil der       als ein Stück Europa, wie es sein kann und aus
operativen Master-Studiengängen und der Zu-           deutschen Hochschullandschaft. Sie ist also keine     dem noch mehr werden kann. Dem wollen wir
sammenarbeit in Sonderforschungsbereichen,            mit Macht und Ressentiment randständig gehal-         uns stellen. Und dafür brauchen wir wissenshun-
mit Hochschulen in Frankfurt und Mainz in ei-         tene Minderheitenangelegenheit; so aber war es        grige Mitstreitende.

                                             INHALT                                                                         IMPRESSUM
Das Eigene und das Andere                   Seite 4   Netzwerk am Neckar                         Seite 18           Jüdische Illustrierte
Die Bedeutung des jüdisch-christlichen Gesprächs      Mitglieder der Studierendenvertretung im Gespräch                      Chefredakteur: Detlef David Kauschke
                                                                                                                             Redaktion: Susanne Mohn, Ingo Way
Dekaloge                                    Seite 6    ABC des Judentums                         Seite 19                        Foto/Grafik: Marco Limberg
Die Gegner der jüdischen Ethik und die Zehn Gebote    Seit einem Jahr gibt es das Abraham Berliner Center                           Lektorat: Bettina Piper
Geschichte und Geschichten                  Seite 8   »Es ist mein Traumjob«                     Seite 20                 Druck: BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH
Über antike Schriftfunde in Israel                    Interview mit Hochschulrabbiner Shaul Friberg                                      Herausgeber:
                                                                                                                         Zentralrat der Juden in Deutschland K.d.ö.R.
»Ijev hot er gehejßn«                     Seite 10    Im Reich der 50.000 Bände                  Seite 21                         Gründer: Karl Marx sel. A.
Die Neuedition einer jiddischen Bibelübersetzung      Ein Tag in der Bibliothek Albert Einstein
Zeitloser Bestseller                       Seite 12   Schulfach Frieden                          Seite 22                Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg
                                                                                                                                Rektor Prof. Dr. Johannes Heil
Die hebräische Bibel als (Welt-)Literatur             Ergebnisse einer religionspädagogischen Fachtagung                             Landfriedstraße 12
                                                                                                                                      69117 Heidelberg
Illustrierte Provokationen                 Seite 14   Aus Heidelberg in die Welt                 Seite 23              Telefon 06221 / 54 19 200, Fax 06221 / 54 19 209
                                                                                                                                    E-Mail: info@hfjs.eu
Die Pessach-Haggada von Arthur Szyk                   Sechs Absolventen – und was aus ihnen geworden ist
                                                                                                            Eine Verwertung der urheberrechtlich geschützten Zeitungsbeiträge, Abbildungen,
Wir sind was?                              Seite 16                                                         Anzeigen etc. ist unzulässig.
Auf der Suche nach einer kollektiven Identität
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Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg                                                                                                                  |3

  Europäisches
Kompetenzzentrum                                          Von Saul zu Kafka
            Grußwort von                                    VIELFALT Eine Auswahl aus unserem Kursangebot
            Barbara Traub
Das Bild einer stillenden Mutter berührt uns
intuitiv. In der Kunst taucht es seit Menschen-
gedenken auf. Viele große Maler haben es in ihren
Werken verarbeitet, man denke nur an Gauguin,
Picasso und Chagall. So verwundert es auch nicht,
wenn bereits unsere Weisen das Lernen der Tora
durch unser Volk mit dem Aufsaugen der Mutter-
milch durch das kleine Kind vergleichen.
   Gegründet 1979 in Deutschlands ältester Uni-
versitätsstadt, ist die Hochschule für Jüdische Stu-
dien Heidelberg (HfJS) erste Adresse nicht nur für
das Erlernen der Tora, sondern für ein umfassen-
des Studium jüdischer Kultur. Mit zehn Professu-
ren ist sie das europäische Kompetenzzentrum
für Jüdische Studien schlechthin. Entsprechend
breit gefächert ist das Studienangebot. Es reicht
vom Bachelor of Arts (B.A.) in Jüdischen Studien
über Lehramtsstudien für jüdische Religionslehre
und Master-of-Arts-Abschlüsse (M.A.) bis hin zur
Promotion. Bunte Vielfalt herrscht auch bei den
Studierenden: Ob angehende Lehrer für Reli-
gionsunterricht, Gaststudenten aus Israel und
dem europäischen Ausland, »Paideia«-Studenten,
bis hin zu Senioren, die sich aus persönlichem
                                                                                                                                                   Foto: Marco Limberg
Interesse grundlegend mit dem Judentum

                                                          M
auseinandersetzen, entfaltet sich hier ein intensi-                     it unseren zehn Lehrstühlen bietet      JÜDISCHE LITERATUREN
ves und produktives studentisches Leben.                                die Hochschule ein breit gefächer-      Vorlesung »Geschichte der modernen hebräi-
   Als Bildungsstätte stellt die HfJS eine wichtige                     tes Studienangebot für unsere Stu-      schen Literatur«
Säule jüdischer Identität und jüdischen Selbst-                         dierenden«, so die Studiendekanin       Oberseminar »Kafka und das jiddische Theater«
verständnisses dar. Der Zentralrat als ihr Träger         Hanna Liss. Ein solch umfangreiches Angebot
sieht sich daher nicht nur als Geldgeber, sondern         findet sich eigentlich nur noch an den großen         HEBRÄISCHE SPRACHWISSENSCHAFT
die HfJS ist eines der Herzstücke und eine Her-           Universitäten Israels, und in der Tat hatte bei der   Seminar »Hebräische Onomastik. Einführung in
zensangelegenheit des Zentralrats. Die HfJS               Gründung der Hochschule 1979 die Hebräische           hebräische Namengebung«
bringt einen Reichtum an jüdischem Wissen über            Universität Jerusalem mit ihrem Institute of          Sprachkurs »Lektürekurs Rabbinisches He-
Religion, Kultur und Tradition des jüdischen Vol-         Jewish Studies (Machon le-Madda’e ha-Yahadut)         bräisch: Biblische Gestalten aus rabbinischer
kes, und sie verfügt über ein kompetentes und             Pate gestanden.                                       Sicht«
hoch qualifiziertes Team an Lehrenden.                       Der nachfolgende exemplarische Einblick in
   Ich wünsche den Studierenden sowie den Leh-            das Kursangebot der HfJS zeigt die Bandbreite         JÜDISCHE PHILOSOPHIE UND GEISTESGE-
renden einen regen und intensiven Austausch,              der Jüdischen Studien, wie sie die elf Professorin-   SCHICHTE
viel Erfolg und Schawuot Sameach!                         nen und Professoren mit ihren sieben Wissen-          Seminar »Ethik im Judentum«
                                                          schaftlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen        Proseminar »Einheit in der Vielfalt? Persönlich-
                                                          im aktuellen Semester unterrichten.                   keiten, Positionen und Perspektiven zur Frage
                                                                                                                eines jüdischen Pluralismus«
                                                          BIBEL UND JÜDISCHE BIBELAUSLEGUNG
                                                          Seminar »Zwischen Tragik und Glanz: Die bibli-        JÜDISCHE KUNST
                                                          schen Erzählungen von Saul und David«                 Seminar »Eschet Chayil – Das Bild der starken
                                                          Übung »Lesepraktiken im antiken und rabbini-          Frau in der jüdischen Kunst«
                                                          schen Judentum«                                       Exkursion »SchUM-Städte«

                                                          TALMUD, CODICES UND RABBINISCHE                       JÜDISCHE RELIGIONSLEHRE, -PÄDAGOGIK
                                                          LITERATUR                                             UND -DIDAKTIK
                                                          Vorlesung »Israel im Spiegel der Halacha. Die         Vorlesung »Kain – Religiöse Gewalt und Gewalt-
                                                          Halacha im Spiegel des Staates Israel«                kritik«
                                                          Proseminar »Aggada in der Halacha und Halacha         Oberseminar »Die drei Heiligen Schriften in
                                                          in der Aggada«                                        einem Band – Trialog der Monotheisten«

                                                          GESCHICHTE DES JÜDISCHEN VOLKES                       PRAKTISCHE RELIGIONSLEHRE
                                                          Vorlesung »Geschichte des Zionismus«                  Übung »Tefila und Gemara«
                                                          Oberseminar »Juden über Christen – Christen           Übung »Traditionelles Lernen«
                                                          über Juden: Texte zu Juden und Christen im
                                                          Hochmittelalter«                                      Das komplette und ausführlich kommentierte
                                                                                                                Vorlesungsverzeichnis kann im Internet auf der
                                    Foto: Marco Limberg
                                                          ISRAEL- UND NAHOSTSTUDIEN                             Website der HFJS unter www.hfjs.eu/studium/vorle-
Barbara Traub, Vorstandsvorsitzende der Israeliti-        Seminar »Staat und Sprache in Israel und Palästina«   sungsvz/index.html eingesehen werden.
schen Religionsgemeinschaft Württemberg und               Blockseminar »Die deutsch-israelischen Bezie-
Vorsitzende des Kuratoriums der HfJS                      hungen im Schatten der Vergangenheit«                      www.hfjs.eu
Jüdische Illustrierte - Verlagsbeilage Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg
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                                     Das Eigene
                                   und das Andere
                                              DIALOG Die gegenwärtige Bedeutung
                                               des jüdisch-christlichen Gesprächs

           v o n Fr e d e r e k M u s a l l
            und Jonas Leipziger

I
       m Anfang ist die Beziehung« (Martin Buber,
       Ich und Du). Mit Martin Buber ins Haus zu
       fallen, hat im Rahmen des jüdisch-christ-
       lichen Gesprächs ja irgendwie Tradition, ist
aber auch ebenso vorhersehbar wie redundant.
Trotzdem drückt dieses Zitat für die im Folgen-
den skizzierten Gedanken etwas Grundlegendes
aus: nämlich, dass es im jüdisch-christlichen Ge-
spräch von Beginn an ein bewusstes In-Bezie-
hung-Setzen gibt. Ein Dialog ist aber mehr als nur
bloße Begegnung im Gespräch; er ist die bewuss-
te Bereitschaft und Entscheidung, sich selbst zu
hinterfragen.
    In verschiedenen, vor allem judaistischen Ar-
beiten der letzten Jahrzehnte wurde deutlich, dass
die Anfänge von Judentum und Christentum in
der Spätantike neu zu denken sind. Insbesondere
Forschungen von Daniel Boyarin und Peter Schä-
fer haben die Beziehungen zwischen Judentum
und Christentum in der Antike neu beleuchtet.
Diese haben für unser Verständnis der spätanti-
ken Ursprünge der beginnenden Trennung von
dem, was wir heute als (rabbinisches) Judentum
und als Christentum kennen, einen Paradigmen-
wechsel eingeleitet. Daniel Boyarins Werk hat si-
cherlich am stärksten dazu beigetragen, unsere
geprägten Vorstellungen von den Anfängen von          ter-Tochter-Modell« von Mutter Israel und Tochter       Christentum sind bislang noch nicht ansatzweise
Christentum und Judentum und vom sogenann-            Christentum diese historischen Entwicklungen            von der universitären Theorie in die religiöse Pra-
ten »Parting of the Ways«, dem Auseinanderge-         nicht mehr adäquat beschreiben zu können; eher          xis der Religionsgemeinschaften transformiert
hen der Wege von Judentum und Christentum,            sind beide »Tochterreligionen«, die beide aus dem       worden: So kann es unseres Erachtens nach nicht
neu zu zeichnen.                                      biblischen Judentum hervorgingen. Boyarin geht          dabei bleiben, dass, frei nach Karl Kraus, der Ur-
    So ist deren gemeinsame Geschichte in der         sogar so weit und sagt, »dass alles, was traditionell   sprung das Ziel ist und bleibt; jene Erkenntnisse
Spätantike bis zum Beginn des 4. Jahrhunderts         als Christentum identifiziert wurde, im Einzelnen       über die langen und engen – und in der weiteren
n.d.Z. offen sowie verflochten und stellt einen       auch schon in einigen jüdischen Bewegungen [ne-         Entwicklung von Spätantike über das Mittelalter
wechselseitigen Prozess der Ausdifferenzierung        ben der Jesus-Bewegung] im ersten Jahrhundert           bis in die Neuzeit auch für das Judentum dann
dar – demnach entstand das Christentum weder          und später existiert hat«.                              auch bekannterweise bedrohlichen und antijüdi-
mit Jesus noch mit Paulus: Das Trennen der Wege          Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse über die       schen – Verflechtungen sind wichtig und müssen
ist ein Ergebnis von gegenseitigen Beeinflussun-      geschwisterlichen Ursprünge von Judentum und            zur Kenntnis genommen werden. Aber dabei soll-
gen in den ersten Jahrhunderten, in denen gerade
noch keine Trennung vorhanden ist, in denen
man noch nicht von den uns bekannten Entitäten
»Christentum« und »Judentum« als voneinander
verschiedenen Religionen ausgehen kann. Erst
am Ende eines langen Prozesses entwickelte sich,
so Boyarin, im 4. Jahrhundert die Ausdifferenzie-
                                                                                     Frederek Musall ist Professor
rung in das rabbinische Judentum auf der einen                                       für Jüdische Philosophie und
Seite und das orthodoxe Christentum auf der an-
deren Seite.                                                                         Geistesgeschichte.
TOCHTERRELIGIONEN Angesichts dieser Er-
kenntnisse scheint auch das lange gepflegte »Mut-
Jüdische Illustrierte - Verlagsbeilage Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg
Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg                                                                                                                  |5

te es nicht bleiben: Es stellt sich die Frage, was in   an theologiebildenden Implikationen alles ent-          christlichen Theologien arbeiten, zeigt, wie span-
der Gegenwart im gemeinsamen Miteinander der            hält. Gleichzeitig meinen wir, es reicht nicht aus,     nend die gemeinsame kritische Analyse von Glau-
Religionen aus jenem Wissen gemacht wird; wie           dass sich die Kirchen in Deutschland von Luthers        benstraditionen ist. So wird hier beispielhaft deut-
das gemeinsame Gespräch gestaltet wird; wie das         Antijudaismus/frühneuzeitlichem Antisemitis-            lich, dass auch solche fundamentalen Begriffe wie
Miteinander angesichts von Gemeinsamkeiten              mus »nur« distanzieren oder diesen gar zu relati-       »Tradition«, »Heilige Schrift«, »Kanon« oder »Of-
und bleibenden Differenzen ausgehandelt wird.           vieren suchen: So müssten auf noch breiterer Ba-        fenbarung«, von denen man meinen könnte, sie
                                                        sis als bisher protestantisch-theologische Themen       seien doch in den jeweiligen Religionsgemein-
SCHLAGLICHTER Wir beide sind wie andere An-             neu durchdacht werden, wie das Verhältnis von           schaften klar und offensichtlich, auch immer wie-
gehörige der Hochschule für Jüdische Studien            »Gesetz« und »Evangelium«, die klassische Recht-        der von Neuem zu analysieren sind.
Heidelberg auch in verschiedenen Kontexten in           fertigungslehre oder die Verhältnissetzung von             4.) Daher sind Räume für ein gemeinsames in-
interreligiöse Gespräche involviert. Einige Schlag-     Hebräischer Bibel zum Neuen Testament. Die Ar-          terreligiöses Diskutieren so bedeutsam: als Werk-
lichter dieses Engagements – hier im jüdisch-           beit im jüdisch-christlichen Gespräch zeigt, wie        statt/Laboratorium, in dem Ideen für Kritik und
christlichen Gespräch – sollen jene Diskurse ver-       fruchtbar und wie inspirierend solche Revisionen        Selbstkritik entstehen, um theologische und ge-
deutlichen:                                             theologischer Denkmuster sein können.                   sellschaftliche Revisionen vorzunehmen, um un-
   1.) In den sich nähernden evangelischen Feier-          2.) Sie zeigt auch, wie wichtig es ist, genau zu     ser Verhältnis als Juden und Christen im Beson-
lichkeiten zum Reformationsjubiläum 2017, das           differenzieren: So ist zu bedauern, dass auf christ-    deren und der Religionsgemeinschaften im Allge-
an den sogenannten Thesenanschlag des Witten-           licher Seite noch zu selten wahrgenommen wird,          meinen immer wieder neu auszuhandeln; und
berger Reformators Martin Luther erinnern wird,         dass Juden und Christen zwar die Hebräische Bi-         um im und für ein Miteinander sprachfähig zu
kulminieren verschiedene Themen: Wie präsen-            bel/das »Alte Testament« als gemeinsame Grund-          werden.
tiert die Evangelische Kirche in Deutschland ihr        lage teilen, dass aber in ihrer Rezeptionsgeschich-
                                                                                                                DISTANZ Gerade die aktuellen Ereignisse in
                                                                                                                Deutschland zeigen, wie wichtig solche Räume
                                                                                                                eines interreligiösen Miteinanders sind und wie
                                                                                                                wichtig auch neue Formen des Diskurses werden;
                                                                                                                neue Formen, die dazu motivieren, immer wieder
                                                                                                                neue Blickwinkel auf das religiös »Andere« zu su-
                                                                                                                chen und einzunehmen; die Raum geben, um die
                                                                                                                Positionen des Eigenen in Bezug auf das Andere
                                                                                                                zu verändern. Und ähnlich wie im Kino bedarf es
                                                                                                                eben manchmal auch der Distanz – gerade der
                                                                                                                Distanz zum Eigenen –, um das auf der Leinwand
                                                                                                                Abgebildete zu erfassen. Denn die durch das in-
                                                                                                                terreligiöse Gespräch eingegangene Beziehung ist
                                                                                                                ein dialektisches Verhältnis, welches sich nicht
                                                                                                                nur durch die beiden Pole Eigenes und Anderes
                                                                                                                ausdrückt, sondern ein oszillierendes Spektrum
                                                                                                                von Positionen und Optionen eröffnet. Was im
                                                                                                                Gegenzug aber auch erfordert, dass man die dar-
                                                                                                                aus resultierenden Spannungen auszuhalten
                                                                                                                lernt.
                                                                                                                   5.) Dennoch begegnet man immer wieder auch
                                                                                                                Asymmetrien in der Gesprächsarbeit, die sich
                                                                                                                nicht so einfach auslösen lassen: Juden sind ge-
                                                                                                                wöhnlich in der Unterzahl, und dann sitzen sie
                                                                                                                häufig noch mehreren Theologen gegenüber, als
                                                                                                                ausgebildeten Religionsexperten. Folglich passiert
                                                                                                                es nicht selten, dass man im Gespräch dann doch
                                                                                                                nicht die gleiche Sprache spricht.
                                                                                                                   Und schließlich gilt es zu bedenken, dass sich
                                                                                                                Religionen in der Moderne trotz deren entspre-
Selbstverständnis auch und gerade angesichts der        te der Zugriff daraus ein ganz anderer geworden         chender Suche und Streben nicht auf Eindeutig-
bekannten antijüdischen Schriften, gar des antijü-      ist; dass es gerade nicht ausreicht, mit Bibelversen    keit(en) reduzieren lassen. Denn man stößt immer
dischen Werkes Martin Luthers? Wie geht sie mit         (d.h. durch die schriftliche Tora) jüdische Traditio-   häufiger auf andere Erscheinungs- und Ausdruk-
antijüdischen Topoi der Theologie Luthers und           nen zu verstehen, sondern dass erst die rabbini-        ksformen des Religiösen als die gewohnten, die
anderer Reformatoren um? Welche Schlüsse wer-           sche und die rabbinisch geprägte jüdische Tradi-        etwa religiöse Traditionsliteratur in anderen Re-
den für das gegenwärtige theologische Selbstver-        tions- und Rezeptionsgeschichte (d.h. als münd-         zeptionsmedien (Comic, Film, Internet) artikulie-
ständnis gezogen?                                       liche Tora) das Judentum in seiner Vielfalt bis         ren und nicht selten ein neues religiöses Selbst-
   So werden auch jüdische Gesprächspartner im          heute widerspiegelt.                                    verständnis ausformen.
jüdisch-christlichen Gespräch immer wieder her-             3.) Das gemeinsame Arbeiten von Nachwuchs-             Dennoch, das christlich-jüdische Gespräch
ausgefordert – und müssen zunächst einmal auch          wissenschaftlern im Frankfurter Graduiertenkol-         blickt auf einen wichtigen und radikalen Para-
erst in einem Lernprozess verstehen lernen, was         leg »Theologie als Wissenschaft«, in dem Promo-         digmenwechsel gerade innerhalb christlicher
nun beispielsweise Luthers Rechtfertigungslehre         vierende aus den jüdischen, muslimischen und            Theologie(n) und Kirche(n) im 20. Jahrhundert
                                                                                                                zurück. Aber es sind zunehmend auch die Heraus-
                                                                                                                forderungen der pluralen Gesellschaft, die Juden,
                                                                                                                Muslime und Christen als gesellschaftliche Ak-
                                                                                                                teure in die Verantwortung nimmt im gemeinsa-
                                                                                                                men Kampf gegen Antisemitismus, Islamophobie,
            Jonas Leipziger ist Wissenschaftlicher                                                              Rassismus und andere Formen sozialer Ausgren-
                                                                                                                zung. Wodurch deutlich wird, dass sich das be-
             Assistent am Lehrstuhl für Bibel und                                                               wusste Miteinander in gemeinsamen Zielen for-
                                                                                                                mulieren sollte. Von daher besteht der nächste
                        Jüdische Bibelauslegung.                                                                anzustrebende Paradigmenwechsel vielleicht ja
                                                                                                                darin, das jüdisch-christliche Gespräch endlich in
                                                                                                                den Rahmen »Religion in der pluralen Gesell-
                                                                                                                schaft« einzubetten und dort zu verorten.
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                                                       Dekaloge
             RELIGION Selbst Gegner der jüdischen Ethik beziehen sich auf die
                       Zehn Gebote – auch dann, wenn sie sie abschaffen wollen

         von Daniel Krochmalnik                        Sünden wider das Leben, das in allem »Rauben             nozidalen Ausrottung der jüdischen Ethik aus
                                                       und Totschlagen« ist (III, 10)? Hier klingen schon       dem deutschen Volk einen entscheidenden strate-

J
      emand hat einmal die beiden Tafeln mit den       das Programm und die Sprache eines anderen an.           gischen Vorsprung für das globale Völkerringen
      Zehn Geboten als »Katechismus der He-                                                                     zu gewinnen.«
      bräer in mosaischer Zeit« bezeichnet – an        NATUR Mitten im Zweiten Weltkrieg veröffent-                Die deutschen Bischöfe haben lange ge-
      den zehn Fingern abzählbar, aus den wie ein      lichte der Regisseur Armin Robinson in New               braucht, um die Worte vom Sinai wiederzufin-
      Buch geöffneten beiden Händen ablesbar, in       York das Buch Die zehn Gebote. Hitlers Krieg ge-         den. Zehn Jahre, nachdem die Deutschen Chris-
die beiden Herzkammern einschreibbar. Jeden-           gen die Moral mit zehn Erzählungen von emi-              ten 1933 im Berliner Sportpalast die Abschaf-
falls haben sich Katechismen aller Art der Form        grierten Autoren, die jeweils einen Gebotsverstoß        fung des Alten Testaments als »Judenbuch« ge-
des Dekalogs bedient, auch dann, wenn sie sich         in Nazideutschland schildern. Den Reigen eröff-          fordert hatten, ließen die deutschen Bischöfe
gegen die ursprünglichen Empfänger des Deka-           nete Thomas Mann mit seiner Novelle Das Ge-              1943 einen Dekalog-Hirtenbrief von den Kanzeln
logs, ja, gegen den ursprünglichen Dekalog selbst      setz. Die Idee zu diesem Buch stammte von dem            verlesen: »Tötung ist in sich schlecht, auch wenn
richteten. Um hier nur zwei oder drei besonders        ehemaligen Hitlervertrauten Hermann Rausch-              sie angeblich im Interesse des Gemeinwohls ver-
krasse Beispiele zu erwähnen: 1926 veröffentlich-      ning. Im Vorwort schildert er eine Szene, die sich       übt würde: An schuld- und wehrlosen Geistes-
te der Deutsche und Österreichische Alpenverein,       kurz nach der Ermächtigung Hitlers in der                schwachen und -kranken, an unheilbar Siechen
der soeben einen »Arierparagrafen« beschlossen         Reichskanzlei abgespielt haben soll. Nach einer          und tödlich Verletzten, an erblich Belasteten und
hatte, zehn Bergsteigergebote gegen die Ver-           Filmvorführung habe sich der »Führer« im Kreis           lebensuntüchtigen Neugeborenen, an unschuldi-
schandelung der Bergwelt.                              seiner Vertrauten in einen seiner gewohnten hys-         gen Geiseln und entwaffneten Kriegs- oder Straf-
   Sogar die Wehrmacht schrieb 1942 dem deut-          terischen Ausbrüche hineingesteigert: »Dieses            gefangenen, an Menschen fremder Rassen und
schen Soldaten »10 Gebote« ins Soldbuch. Sie be-       teuflische ›Du sollst, du sollst!‹ Und dann dieses       Abstammung.« Bezeichnenderweise kommt das
ginnen nicht, wie man in Anbetracht von Ver-           törichte ›Du sollst nicht!‹ Das muss endlich aus         Volk, aus dem Moses und Jesus stammten, auf
nichtungskrieg und Völkermord erwarten würde,          unserem Blut verschwinden, dieser Fluch vom              dem Höhepunkt des Völkermordes nur unter
mit einem Mordgebot, vielmehr: »Kein Gegner            Berg Sinai. (...) Was gegen die Natur ist, ist gegen     dem Sammelbegriff »Menschen fremder Rassen
darf getötet werden, der sich ergibt, auch nicht       das Leben selbst. (...) Du sollst nicht stehlen?         und Abstammung« vor.
der Freischärler.« Schließlich verkündete auch
die SED auf ihrem 5. Parteitag »10 Gebote der so-
zialistischen Moral und Ethik«, wovon das zehnte
gebietet: »Du sollst Solidarität mit den um ihre
nationale Befreiung kämpfenden … Völkern
üben« – es sei denn, so muss man hinzufügen, es
handele sich um die »nationale Befreiung« des
                                                                                       Daniel Krochmalnik ist Inhaber des
eigenen deutschen Volkes oder des jüdischen Vol-                                       Lehrstuhls für Jüdische Religionslehre,
kes, dessen Zionismus in der DDR als Verbrechen
galt.                                                                                  -pädagogik und -didaktik.
VERSCHÄRFUNG Diese eher komischen Nachah-
mungsversuche stehen am Ende einer langen Rei-
he von Dekalogrevisionen. Jesus überbietet Mo-
ses: »Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt
wurde: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der      Falsch! (...) Alles Leben ist Diebstahl. (...) Der Tag      Thomas Mann hatte viel früher klar ausge-
wird dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage         wird kommen, an dem ich den Geboten die neuen            sprochen, dass »der deutsche Judenhass (…) den
euch: Ein jeder, der seinem Bruder zürnt, wird         Gesetzestafeln entgegenhalten will.«                     christlich-antiken Fundamenten der abendländi-
dem Gericht verfallen sein« (Mat 21, 22). Jesus           Es gibt Zweifel an der Glaubwürdigkeit                schen Gesittung (gilt)«, und wurde deswegen auf
predigt nach Matthäus auf dem Berg eine Ver-           Rauschnings, aber Hitler hat sich haargenau an           Vorschlag von Ernst von Weizsäcker ausgebür-
schärfung und Verinnerlichung der zweiten Tafel        diese Erklärung gehalten. Im Warschauer Ghetto           gert. Seine Erzählung Das Gesetz beendet Tho-
der Gebote auf dem Sinai.                              kannten schon kleine Kinder die neuen Tafeln.            mas Mann 1943 mit einem Fluch gegen Nietz-
   Eine weitere Überbietung des Dekalogs in            Von einem fast verhungerten Achtjährigen ist fol-        sche, Hitler und Verwandte: »Aber Fluch dem
puncto Wahrhaftigkeit und Redlichkeit fordert          gender Schrei überliefert: »Ich will rauben und          Menschen, der da aufsteht und spricht: ›Sie (i. e.
Nietzsches Zarathustra – in der »entscheidenden        stehlen. Ich will essen. Ich will ein Deutscher          die Gebote) gelten nicht mehr.‹ Fluch ihm, der
Partie« seines Also sprach Zarathustra »Von alten      sein!« Hitlers »neuen Gesetzestafeln« mit der Li-        euch lehrt: ›Auf, ihr seid ihrer ledig! Lügt, mor-
und neuen Tafeln«. Dieser neue Prophet ruft sei-       zenz zum Töten und zum Rauben standen die                det, raubt, (…) denn so steht’s dem Menschen an,
nen Jüngern zu: »Zerbrecht, zerbrecht mir die          alten Tafeln und ihre Träger im Weg.                     und sollt meinen Namen preisen, weil ich euch
alten Tafeln!« (III, 7 u. 10). Seine neuen Gesetzes-                                                            Freiheit verkündete.‹«
tafeln des Übermenschen kehren Punkt für               TÖTUNGSVERBOT Gunnar Heinsohn geht in sei-
Punkt die alten Tafeln um. Ist nicht, fragt Zara-      nem Buch Warum Auschwitz? nicht weniger als              Weiterführend: Daniel Krochmalnik: »Triskai-
thustra, das Begehren Ausdruck des Lebens und          42 Theorien zur Erklärung des Holocaust durch            dekalog«, in: A. Bertino, E. Poljakova, A. Rupschus,
der Ehebruch die natürliche Folge schlechter           und stellt fest, dass die Juden vor allem als Ver-       B. Alberts (Hg.): »Zur Philosophie der Orientierung
Ehen (III, 16)? Sind nicht die Gebote »Du sollst       körperung des Tötungsverbotes verfolgt wurden:           (Festschrift zum 70. Geburtstag v. Werner Stegmai-
nicht rauben!«, »Du sollst nicht totschlagen!«         »Hitler«, so Heinsohn, »hat versucht, mit der ge-        er)«. Berlin/Boston 2016, S. 293–309
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                                             Foto: cinetext
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                                    Geschichte
                                  und Geschichten
      ARCHÄOLOGIE Über einige antike Schriftfunde der letzten Jahre in Israel

            v o n Vi k t o r G o l i n e t s               Dazu kommt, dass die beiden Namen nicht nur       raelischen Forschern als Argument im Streit um
                                                        hebräisch sein, sondern auch einer anderen ka-       die Schriftlichkeit im Alten Israel verwendet. Da-

D
           as Land Israel ist reich an historischen     naanäischen Sprache angehören können. Der Na-        bei geht es auch um die Frage, ob es das davidi-
           Orten und archäologischen Stätten. Je-       me Beda (geschrieben mit Ain am Ende) ist bis        sche Reich gab, wie der Tanach es beschreibt, oder
           des Jahr werden archäologische Ausgra-       jetzt in keiner weiteren Sprache belegt. Der Name    ob Jerusalem im 10. Jahrhundert eine unbedeuten-
           bungen an mehreren Orten durchge-            Ischbaal kommt dagegen in der Bibel vor, wurde       de Kleinstadt war. Im zweiten Fall dürften die bib-
führt, und dabei werden viele Funde gemacht, die        aber bis jetzt außerbiblisch nicht belegt. Der Na-   lischen Geschichten von David und seinem Reich
für die Geschichte des Landes in allen Perioden         me bedeutet »Mann (der Gottheit) Baal«, und in       erst um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahr-
seiner Besiedlung von Bedeutung sind.                   der Bibel ist es der Name eines des Söhne Sauls,     tausends erstanden sein und keinen Kern an his-
   Besonders interessant sind Schriftfunde, da sie      der der zweite König von Israel war (1 Chronik       torischen Begebenheiten enthalten. Diese Position
im Gegensatz zu »stummen« Artefakten viel leich-        8,34; 9,39). Im Text des Buches Samuel wurde der     wird vor allem von Israel Finkelstein vertreten,
ter ausgewertet und viel genauer im historischen        Name Ischbaal zu Ischboschet, »Mann der Schan-       dem Archäologen und Historiker an der Universi-
Kontext platziert werden können. Historiker und         de«, verändert, um die Erwähnung der heidni-         tät Tel Aviv. Yosef Garfinkel, Archäologe an der
Sprachforscher können dadurch neues Material            schen Gottheit aus dem Text zu entfernen (2 Sa-      Hebräischen Universität und der Ausgräber von
erhalten. Dabei ist es von großer Bedeutung, wenn       muel 2,8ff.).                                        Khirbet Qeiyafa, hält dagegen, dass die Schriftfun-
ein Fund nicht aus dem Antiquitätenhandel, son-            Diese Inschrift von Khirbet Qeiyafa dokumen-      de von Qeiyafa die Benutzung der Schrift am Ran-
dern aus professionell geführten Ausgrabungen           tiert die Benutzung von zwei Namen am Ende des       de von Juda schon im 11. oder 10. Jahrhundert do-
stammt. Denn im letzteren Fall kann man der             11. Jahrhunderts v.d.Z. im judäischen Einzugsge-     kumentieren. Garfinkel und andere Forscher pos-
Echtheit des Artefakts sicher sein. Zudem erlaubt       biet. Die beiden Inschriften von Qeiyafa belegen     tulieren, dass die Sprache der Inschriften Hebrä-
seine Lage im Ausgrabungskontext eine einiger-          auch den Gebrauch der Schrift am Ende jenes          isch ist und die Texte somit die ältesten archäolo-
maßen genaue zeitliche Datierung. Und am meis-          Jahrhunderts. Diese Tatsache wird von einigen is-    gischen Belege dieser Sprache sind.
ten freuen sich sowohl Spezialisten als auch inter-                                                              Allerdings – wie oben schon erwähnt – kann
essierte Laien, wenn Schriftfunde Informationen                                                              die Frage nach der Sprache nicht so schnell beant-
zu aus anderen Quellen Bekanntem enthalten. Ei-                                                              wortet werden, auch wenn die Annahme, dass die
nige epigrafische Funde aus den Ausgrabungen                                                                 Sprache Hebräisch ist, viel Plausibilität hat. Auf
der letzten Jahre sollen hier vorgestellt werden.                                                            jeden Fall wird die fünfzeilige, nicht komplett ver-
                                                                                                             standene Inschrift von Khirbet Qeiyafa im Ab-
ISCHBAAL 2012 wurden bei Ausgrabungen in                                                                     flugbereich des Ben-Gurion-Flughafens in der
Khirbet Qeiyafa (30 Kilometer südwestlich von                                                                Ausstellung der technischen und kulturellen Er-
Jerusalem) Reste eines Kruges ausgegraben, der                                                               folge des modernen Israel als das älteste hebräi-
folgende eingeritzte Besitzer- oder Adressatenauf-                                                           sche Schriftzeugnis vorgestellt.
schrift enthält: »Ischbaal, der Sohn von Beda«.
Diese Inschrift ist aus drei Gründen interessant.                                                            DEUTUNGSHOHEIT Ausgrabungen in Jerusalem
Erstens kann der Krug aufgrund des archäologi-                                                               erwecken naturgemäß besonderes Interesse bei
schen Kontextes in die Zeit von 1020–980 v.d.Z.                                                              Spezialisten und Laien und schaffen es sehr
datiert werden. Somit können auch die Buchsta-                                                               schnell in die Nachrichten. Zum einen sind sie für
benformen der Inschrift auf der Zeitlinie der                                                                Touristen viel leichter wahrzunehmen und zu be-
Entwicklung der semitischen Konsonantenschrift                                                               sichtigen als Ausgrabungen an vielen weiteren
platziert werden. Zweitens ist es schon der zweite                                                           Orten im Lande. Zum anderen werden ihre Er-
Schriftfund von Khirbet Qeiyafa: 2008 wurde dort                                                             gebnisse oder auch schon allein das Planen und
eine fünfzeilige, mit Tinte geschriebene Inschrift                                                           Ausgraben schnell mit historischer Deutungsho-
ausgegraben, deren Lesung und Deutung immer                                                                  heit und mit politischen Ansprüchen in Verbin-
noch ungenau ist. Der neue Fund kann helfen, die                                                             dung gebracht. Obwohl bis jetzt keine amtliche
erste Inschrift zu verstehen. Drittens liefern die                                                           Gründungsurkunde von Jerusalem ausgegraben
Namen der Inschrift neues sprachliches Material.                                                             wurde, feierte die Stadt im Jahre 1996 offiziell
Die Forscher, die die Inschrift in einer Publikation                                                         3000 Jahre ihres Bestehens. Während einige ara-
vorgestellt haben, gehen davon aus, dass die Spra-                                                           bisch-palästinensische Kreise zum Beispiel die
che der Inschrift Althebräisch ist. Dies ist möglich,                  Viktor Golinets ist                   Tatsache bestreiten, dass es auf dem Tempelberg
allerdings kann die sprachliche Zugehörigkeit                                                                je einen jüdischen Tempel gab, betrachten man-
nicht aus dem Text erschlossen werden. Der                           Juniorprofessor am                      che jüdische und christliche Kreise die Ausgra-
Grund dafür liegt in der Tatsache, dass die Schrift
keine Merkmale enthält, die sie als hebräische
                                                                Lehrstuhl für Hebräische                     bungen als Mittel, jüdische Ansprüche auf die
                                                                                                             Stadt und den Berg beweisen zu können. Auf
charakterisieren ließen.                                            Sprachwissenschaft.                      jeden Fall fördern Ausgrabungen in Jerusalem
Jüdische Illustrierte - Verlagsbeilage Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg
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                                                                                                                                                   Foto: Tal Rogovski

jedes Jahr zwar zu erwartendes, aber in den Ein-       enthalten. Der eine ist vom Siegel eines »Gedaliah,   schichte, die auf dem Boden Israels ablief, also für
zelheiten doch eindrucksvolles Material zutage.        Sohn von Pashur« und der andere vom Siegel            die vorchristliche Zeit. Da für die Erschließung
   Wenn man an die Schriftfunde denkt, so kann         eines »Jehukal, Sohn von Schelamjahu, Sohn von        der ältesten Schichten alles oberhalb von ihnen
nur Material erwartet werden, das die zerstöreri-      Schawi«. Beide Bullen sind deshalb bemerkens-         Liegende entfernt werden muss, wird die Erfor-
schen Lagerungsbedingungen im feuchten Boden           wert, weil ein »Gedaliah, Sohn von Pashur« und        schung der jüngeren Perioden etwas vernachläs-
über Jahrtausende überstehen konnte, wohin es          ein »Jehukal, Sohn von Schelamjahu« im Buch des       sigt. Zwar ist man sehr begierig, auf so viel Fläche
meistens nach einem Brand gelang. Somit können         Propheten Jeremia 38,1 als Beamte des Königs          wie möglich zu graben, um ein so weit wie mög-
keine organischen Schriftträger wie Papyrus, Per-      Zedekia erwähnt werden. Ob die Siegelabdrücke         lich vollständiges Bild der antiken Bebauung, Le-
gament oder Holz erwartet werden. Was dem              in der Tat von den Personen stammen, die im           bensweise und Geschichte zu haben, aber manch-
Zahn der Zeit trotzen kann, sind Inschriften auf       Buch Jeremia vorkommen, kann nicht nachgewie-         mal gibt es Interessenkonflikte zwischen
Stein, Tonscherben oder Metall. Eine prominent         sen werden. Jedoch sprechen ihr Fundort in der        Archäologen mit den hinter ihnen stehenden
vertretene Textgattung sind Siegel, die man auf        Nähe des königlichen Palastes sowie die Zugehö-       Organisationen und den Menschen, die auf einem
Steinen eingravierte, sowie Tonabdrücke dieser         rigkeit der Abdrücke auf der einen Seite und der      geschichtsträchtigen Boden wohnen. Bei Ausgra-
Siegel, die sogenannten Bullen.                        Namen in der Bibel auf der anderen Seite dersel-      bungen im Dorf Silwan (hebräisch: Schiloach) in
                                                       ben zeitlichen Schicht dafür, dass es sich nicht um   Jerusalem wurden aus einigen Häusern palästi-
FRAGMENTE Im Mai 2012 fand man bei den Aus-            die zufällige Namensgleichheit verschiedener Per-     nensische Bewohner umgesiedelt, um in der Ge-
grabungen in der Davidstadt einen Teil einer Bul-      sonen handelt.                                        gend auszugraben und sie in einen archäologi-
le. Das Stück, das 1,5 Zentimeter misst, enthält                                                             schen Park zu verwandeln.
Reste einer dreizeiligen Inschrift. In der mittleren   SCHICHTEN Fälle wie dieser machen deutlich,              Wie schon oben erwähnt, ist auch das Interes-
Zeile ist »Bethlehem« zu lesen, womit offensicht-      dass archäologische Funde, so spannend sie auch       se mancher christlicher Kreise an Ausgrabungen
lich die judäische Stadt gemeint ist. Der Abdruck      sind, sich nicht ohne Weiteres mit biblischen Ge-     in Israel groß. Hier freut man sich über jeden
wird auf das Ende des 8. bzw. den Anfang des 7.        schichten verbinden lassen. Die Frage, ob und wie     Fund, der die biblischen Berichte zu stützen
Jahrhunderts v.d.Z. datiert und stellt die älteste     man die inschriftlich belegten Namen mit den          scheint. Dabei können die Funde sehr großzügig
außerbiblische Erwähnung der Stadt dar. Da der         aus der Bibel bekannten Personen in Verbindung        ausgelegt und die historischen Zusammenhänge
Text nur fragmentarisch erhalten ist, wissen wir       bringen kann, wurde von Lawrence Mykytiuk in          nicht sehr eng gesehen werden. Als etwa im Jahr
nicht, wem das Siegel gehörte und in welchem           dem Buch Identifying Biblical Persons in North-       2005 bei Ausgrabungen der Philisterstadt Gath
Kontext die Stadt Beth-lehem genannt wurde.            west Semitic Inscriptions of 1200–539 B.C.E.          (heute Tel es-Safi) ein Ostrakon mit den Namen
Wahrscheinlich handelt es sich dabei um den            (2004) diskutiert.                                    Awlt und Wlt gefunden wurde, wollte man diese
Abdruck eines administrativen Siegels, das den            Viele Historiker und Archäologen interessieren     nichtsemitischen Namen mit dem Namen des
Warentransfer       oder    Steuerabgaben        do-   sich vor allem für die ältesten Perioden der Ge-      Philisters Goliath in Verbindung bringen, der
kumentierte.                                                                                                 ebenfalls nichtsemitisch ist. Die Nachrichtena-
    Im Alten Israel besaß jede amtliche Person ein                                                           genturen haben den Fund durch schrille Über-
Siegel – oder sogar mehrere –, mit dem man auf                                                               schriften angekündigt, die folgendermaßen iro-
Papyrus oder Leder geschriebene Briefe und Do-                                                               nisch zusammengefasst werden können: »Eine
kumente versiegelte. Auch Könige besaßen Siegel.                                                             Inschrift, die den Namen Goliath nicht enthält,
Bei den Ausgrabungen in Ophel, dem Bereich süd-                                                              bestätigt die Richtigkeit der biblischen Berichte
lich des Tempelberges, fand das Team um die is-                                                              über David.«
raelische Archäologin Eilat Mazar im Jahr 2009                                                                  Die wissenschaftliche Unparteilichkeit lehrt
eine Bulle mit der Aufschrift »[Gehört] Hiskia,                                                              aber, die Funde leidenschaftslos und nicht tenden-
dem Sohn von Ahaz, König von Juda«. Der Name                                                                 ziös zu betrachten und zu interpretieren. Dadurch
des Königs Hiskia (Regierungszeit 725–698 v.d.Z.)                                                            wird man nicht nur der alten Geschichte und den
war bis jetzt nur auf Bullen erwähnt, die aus dem                                                            unzähligen Generationen, die diese Geschichte
Antiquitätenhandel kamen und deren Fundorte                                                                  durchlebten, gerecht. Die Unparteilichkeit hilft
unbekannt waren.                                                                                             auch zu erkennen, wie moderne Menschen sich
    Die Bulle kann eindeutig König Hiskia zuge-                                                              auf die Ereignisse der Vergangenheit beziehen,
wiesen werden, da die Aufschrift genügend Iden-                                                              und wie Geschichte(n) heutzutage, etwa an den jü-
tifikationsinformation liefert und es im Alten Ju-                                                           dischen Feiertagen, erinnert oder wie sie, auch mit
da nur einen König Hiskia gab, dessen Vater Ahaz                                                             politischen Intentionen, konstruiert wird oder
war. Neben diesem Abdruck fand das Team von                                                                  werden. Die Schriftfunde können aufgrund ihres
Eilat Mazar auch viele andere. Unter ihnen gibt es     Oben: Krug von Qeiyafa jar Unten: Bulle des           Charakters manchen Deutungen besser widerste-
zwei weitere, die bemerkenswerte Aufschriften          Siegels von »Gedaliah, Sohn von Pashur«               hen als die schriftlosen Artefakte.
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                  »Ijev hot er gehejßn«
                                PHILOLOGIE In Heidelberg entsteht die Edition
             einer jiddischen Bibelübersetzung aus dem frühen 19. Jahrhundert

          von Roland Gruschka

D
           as Übersetzen der Bibel ins Jiddische
           hat eine lange Geschichte, die bis in die
           Anfänge der aschkenasischen Kultur im
           Deutschland des Mittelalters zurück-
reicht und auch in der Gegenwart längst nicht ab-
geschlossen ist. Die jiddischen Bibelübersetzungen
der älteren Zeit gingen vermutlich aus Hilfsmit-
teln hervor, die Lehrer und Gelehrte für den Unter-
richt der Jungen im Lesen der Hebräischen Bibel
anfertigten, wie zum Beispiel Glossare oder Interli-
nearübersetzungen. Zu einem großen Teil handelt
es sich bei den Übersetzungen des ausgehenden
Mittelalters und der Frühen Neuzeit im Grunde
um Paraphrasen, in denen der jiddische Überset-
zungstext entweder mit Kommentaren und Ausle-
gungen vermischt oder aber mit Erzählungen aus
Talmud und Midrasch ausgeschmückt wurde.
   War der erste Typus, verkörpert etwa durch das
Sefer Ha-Maggid (Erstdruck 1623–27), vor allem
für das selbstständige religiöse Lernen und als Be-
gleitung für das Studium des Originals gedacht,
diente der zweite Typus, dessen bedeutendster
Vertreter die bekannte Zene-Rene (um 1600) ist, in
jüdischen Familien als Erbauungslektüre. Bei all-
dem blieben jiddische Bibelübersetzungen dem
hebräischen Original stets nachgeordnet. Das Kon-
zept eines jiddischen Prosa-Übersetzungstextes
mit kanonischem Status war dem aschkenasischen
Judentum fremd.

SÄKULAR Nicht allein traditionelle jüdische Ge-
lehrte und Lehrer betätigten sich als Übersetzer
der Bibel ins Jiddische. Auch säkulare Intellektuel-
le und Schriftsteller wie Scholem-Jankew Abramo-
witsch, bekannt als Mendele Mojcher-Sforim
(1835–1917), oder Jitzchok Lejbusch Peretz (1852–
1915) haben ausgewählte Bibeltexte übersetzt,
zum Teil auch in Versen. Im Vordergrund solcher
Unternehmungen standen nicht etwa theologi-
sche oder im engeren Sinne religiöse Bestrebun-
gen, sondern künstlerische Zielsetzungen und ein
sozialreformerisches, später auch kultur- und
sprachpolitisches Engagement.
   Pragmatische Ziele verfolgte in den ersten Jahr-
zehnten des 19. Jahrhunderts ein prominenter Ver-
treter der Haskala, Menachem Mendel Lefin
(1749–1826), der im Grenzland zwischen dem da-
mals österreichischen Galizien und dem damals
russischen Podolien lebte – einem Gebiet in der
heutigen Westukraine. Lefin, der nach seinem po-
dolischen Geburtsort Satanow (heute Sataniw)
auch Satanower genannt wurde, gehörte zu jener
Generation jüdischer Aufklärer in Osteuropa, die
ihre Ideen noch in unmittelbarem Austausch mit
dem Kreise Moses Mendelssohns und seiner Schü-
ler entwickelten. Während eines Aufenthaltes in
Berlin in den 1780er-Jahren konnte sich Lefin auch     Ausschnitt aus Lefins Ausgabe des Buches Mischle von 1814. Links das hebräische Original ...
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mit dem Mendelssohn’schen Projekt einer hebrä-            Anders als bei den traditionellen älteren jiddi-      Lefin wählte dagegen bewusst den jiddischen
isch kommentierten Ausgabe der Tora mit hoch-          schen Bibelparaphrasen waren bei Lefin (wie zu-       Dialekt seiner podolischen Heimat als Überset-
deutscher Übersetzung näher bekannt machen.            vor schon bei Mendelssohn) Übersetzungsteil           zungssprache. In seinen Augen besaß das Jiddi-
Dieses Projekt gab ihm den Anstoß zu seinen eige-      und Kommentar klar voneinander getrennt. Der          sche das Potenzial, sich zu einem Medium für an-
nen – nicht deutschen, sondern jiddischen – Bibel-     jiddische Prosa-Übersetzungstext sollte nach Le-      spruchsvolle aufgeklärte »Übersetzungen und
übersetzungen.                                         fins Vorstellungen aus sich selbst heraus ver-        Volksschriften« (wozu er natürlich auch seine Bi-
                                                       ständlich sein. Auch in sprachlicher Hinsicht         belübersetzungen zählte) zu entwickeln. Dies trug
DIALEKT Lefin übersetzte die Bücher Mischle, Ko-       strebte Lefin eine Modernisierung an. Zu Lefins       ihm Jahrzehnte später die Anerkennung der Jiddi-
helet, Ijov, Echa und Tehillim und verfasste dazu      Zeit waren die traditionellen jiddischen Bibelpa-     schisten, der Aktivisten der jiddischen Sprachbe-
hebräische Kommentare. Als jüdischer Aufklärer         raphrasen noch in Varietäten einer altertümli-        wegung, ein. Auch seine Übersetzungen lobten sie
war Lefin ein vehementer Gegner des Chassidis-         chen überregionalen Buchsprache verfasst, die         ohne Einschränkung als gelungen, wenn nicht
mus. Daher versuchte er, den Bibeltext in einer        sich bereits deutlich von dem zu Beginn des 19.       sprachlich und stilistisch sogar zukunftsweisend.
Weise zu übersetzen, die den bei den Chassidim         Jahrhunderts in Osteuropa gesprochenen Jid-           Um einen kleinen Eindruck von der Übersetzung
beliebten, zum Teil von der Kabbala geprägten          disch unterschied und daher zunehmend weniger         zu geben: In der Aussprache des modernen Stan-
Auslegungen keine Anknüpfungspunkte bot.               verstanden wurde.                                     dardjiddisch, der jiddischen Literatursprache der
                                                                                                             Gegenwart, würde etwa der erste Vers von Lefins
                                                                                                             Übersetzung des Buches Ijov lauten: »A man is ge-
                                                                                                             wesn in land Uz, Ijev hot er gehejßn.«

                                                                                                             EDITION Von Lefins jiddischen Bibelübersetzun-
                                                                                                             gen wurde zu seinen Lebzeiten nur die Ausgabe
                                                                                                             des Buches Mischle gedruckt, die 1814 in kleiner
                                                                                                             Auflage in Tarnopol erschien. Seine jiddische
                                                                                                             Übersetzung des Buches Ijov hat sich hingegen
                                                                                                             nur in einer einzigen Handschrift erhalten, die
                                                                                                             heute in der Israelischen Nationalbibliothek in
                                                                                                             Jerusalem aufbewahrt wird.
                                                                                                                An der Hochschule für Jüdische Studien Heidel-
                                                                                                             berg wird von 2016 bis 2019 im Rahmen eines von
                                                                                                             der DFG geförderten Forschungsprojekts unter der
                                                                                                             Leitung von Juniorprofessor Roland Gruschka eine
                                                                                                             kritische Edition der Ijov-Übersetzung Lefins er-
                                                                                                             stellt, die den Text im jiddischen Original (in hebrä-
                                                                                                             ischer Schrift) durch einen wissenschaftlichen Ap-
                                                                                                             parat und eine Einleitung erschließen wird. Be-
                                                                                                             teiligt sind auch Kooperationspartner an den Uni-
                                                                                                             versitäten Düsseldorf, Trier, Syracuse und an der
                                                                                                             Rutgers University in New Jersey. Die Edition wird
                                                                                                             der Forschung ein bedeutendes Zeugnis der Ge-
                                                                                                             schichte jüdischen Bibelübersetzens, der jiddischen
                                                                                                             Sprachgeschichte und der osteuropäischen Haskala
                                                                                                             in umfassender Weise zugänglich machen.

                                                                                                              Der Autor ist Jiddist und lehrt
                                                                                                                Jüdische Literaturen an der
                                                                                                                  Hochschule für Jüdische
                                                                                                                       Studien Heidelberg.
             ... rechts die jiddische Übersetzung. Im Fußteil steht ein hebräischer Kommentar.
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                        Zeitloser Bestseller
               TANACH Die Hebräische Bibel ist auch ein Stück (Welt-)Literatur

               von Hanna Liss                          nehmen, um den biblischen Text als sinnvoll,             staben mit ihrer Interpretation begonnen: Der
                                                       rational nachvollziehbar und damit als »wahr« zu         erste Buchstabe ist bekanntermaßen ein Bet, also

D
           ass die Bibel als Weltliteratur gilt, er-   beweisen. Eine solche »Wahrheit« eines Textes            ein Buchstabe, der nur nach einer Seite hin offen
           füllt uns Juden und Jüdinnen immer          benutzt die Bibel dann gerne als eine Art »Stein-        ist. Auf diese Weise soll angedeutet werden, dass
           wieder mit Stolz. Trotzdem übersehen        bruch« und sucht dort nach Argumentationshil-            man ebenso wenig danach fragen sollte, was oben
           wir manchmal, dass alle Diskussionen        fen. Aber der eigentliche Text gerät dabei ein we-       und unten ist, wie nach dem, was vorher war.
über sie eher die Erklärung der Welt zum Thema         nig aus dem Blickfeld und damit auch ein Stück           Allein das, was nach der Schöpfung in der Welt
haben. Dabei zeigen uns schon die jüdischen Aus-       Verständnis von der darin enthaltenen »Wahr-             passiert, soll im Blick behalten werden.
legungstraditionen, dass sowohl die Rabbinen als       heit« als literarischer »Wahrheit«.
auch die mittelalterlichen Schriftgelehrten die Bi-                                                             RASCHI Bei so viel buchstäblicher Spitzfindigkeit
bel vor allem auch als ein literarisches Werk rezi-    AUSLEGUNGSSACHE Die jüdischen Schriftge-                 wundert man sich nicht, dass bereits sehr früh er-
pierten. Geradezu exemplarisch lässt sich dies an      lehrten wussten sich hier stets durch Auslegung          kannt wurde, dass der erste Satz des ersten Berich-
einigen Texten belegen, die sich eingehend mit         zu helfen. Eine »wortwörtliche« Lesart ist für sie       tes zur Schöpfung aus genau sieben Wörtern be-
der Schöpfungsgeschichte beschäftigen. Sie füh-        nämlich gar keine Auslegung. Schließlich ver-            steht. Diese verweisen geradezu programmatisch
ren uns eindrucksvoll vor Augen, wie die Bibel als     sucht sie gar nicht erst, den biblischen Text als sol-   auf das insgesamt sechstägige Schöpfungswerk
Literatur verstanden wurde und welche Bedeu-           chen zu erklären, sondern »friert« ihren Inhalt          und den daran sich anschließenden Ruhetag. Im
tung sie als solche auch für heutige Leser haben       ein. Deshalb gehen wichtige Fragen wie »Was be-          Mittelalter lasen Juden den Schöpfungsbericht
kann.                                                  deutet das?« oder »Was will ein Text uns lehren?«        interessanterweise gar nicht als Bericht über die
                                                       unter. Aber im jüdischen Denken stehen gerade            Weltschöpfung an sich, sondern betrachteten ihn
GELTUNGSANSPRUCH Beim Lesen biblischer                 diese im Mittelpunkt. Denn die Juden sind nicht          allein unter dem Blickwinkel dessen, was dieser
Texte in der Gegenwart werden zwei Aspekte ger-        einfach nur das »Volk des Buches«, sondern in            Text mit ihnen als jüdischen Lesern zu tun habe.
ne vermischt: die Frage nach dem Geltungsan-           erster Line auch das »Volk der (rabbinischen)            Und das beginnt schon mit der Frage, wieso er
spruch eines Textes und die nach seiner Bedeu-         Buch- und Schriftauslegung«.                             überhaupt in der Bibel steht. Denn eigentlich be-
tung, also nach seinen Deutungsmöglichkeiten.
Mit Blick auf die Diskussionen darüber, ob Gott
unsere Welt in sechs Tagen von jeweils 24 Stun-
den erschaffen hat oder nicht, herrscht heute ent-
weder eine supranaturalistische Meinung vor, die
jedoch deutlich weniger Anhänger hat als früher.
Oder aber wir erleben eine Haltung, die eine eher
                                                                                       Hanna Liss ist Inhaberin
historisierende Zugangsweise zu den Schriften                                          des Lehrstuhls für Bibel und
offenbart. Sie basiert manchmal auf der vielleicht
unbewussten Annahme, dass ein Text in der ei-                                          Jüdische Bibelauslegung.
nen oder anderen Weise mit einem oder mehre-
ren realen Ereignissen korrelieren muss.
   Die Textreihenfolge korrespondiert also mit
einer Ereignisreihenfolge, und zwar deshalb, weil
wir meinen, dass dieser uns heilige Text auf jeden
Fall eine Wahrheit enthalten muss! Und so wird            Die Möglichkeit, dass der erste biblische Schöp-      trifft die Schöpfung ja nicht nur das Volk Israel,
aus der Reihenfolge der biblischen Abschnitte,         fungsbericht auf etwas ganz anderes hinweisen            sondern alle Menschen. So lesen wir bei Raschi
wie wir sie heute in der Bibel finden, eine Reihen-    möchte als lediglich auf den Tatbestand der Er-          im Kommentar zu Gen 1,1: »Am Anfang: R. Yiz-
folge der Ereignisse. Damit aber wird die eigentli-    schaffung der Welt in nur sechs Tagen, sollte also       chaq sagte: (Mit ›Am Anfang schuf ...‹) hätte die
che Frage nach der Bedeutung unseres Textes zu-        auf jeden Fall ernst genommen werden. Und wer            Tora eigentlich nicht anfangen dürfen, sondern
gunsten einer anderen Problemstellung zurück-          sich mit der jüdischen Auslegungsgeschichte be-          mit ›Dieser Monat sei euch der Anfang (der Mo-
gedrängt, nämlich: »Wie war es, wie kann es            schäftigt, wird kaum überrascht sein, dass die Auf-      natszählung)‹ (Ex 12,2), denn dies ist das erste
denn gewesen sein?« Eine solche Fragestellung          fassung, der biblische Schöpfungsbericht sei in          Gebot, das Israel (als einer Kultgemeinde) gege-
bringt allerdings ein irritierendes Entweder-Oder      erster Linie eine literarische Schöpfung, durchaus       ben wurde (...). Was (also) ist der Grund, dass (der
mit sich: Entweder muss eine Aussage der Bibel         schon in der Antike und im Mittelalter formuliert        Text mit) ›Im Anfang …‹ eröffnet? Die Kraft sei-
geglaubt werden, oder – wie es immer wieder im         wurde. Denn die Rabbinen und Schriftgelehrten            ner Taten hat er seinem Volk kundgetan, ihnen
Zusammenhang mit dem biblischen Schöpfungs-            haben gleich beim ersten Satz und hier sogar             das Erbe der Nationen zu geben (Ps 111,6): Wenn
bericht diskutiert wird – man muss alles unter-        schon beim ersten Wort und seinem ersten Buch-           nämlich die Völker der Welt zu Israel sagen soll-
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