Jüdische Illustrierte - Verlagsbeilage Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg
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Jüdische Illustrierte Verlagsbeilage Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg BERLIN, DEN 9. JUNI 2016 3. SIWAN 5776 71. JAHRGANG NR. 23
2| INHALT Jüdische Illustrierte Ein Stück Europa EDITORIAL Die Heidelberger Hochschule als Spiegelbild aktueller Entwicklung von Johannes Heil der Wissenschaft des Judentums im 19. und frü- hen 20. Jahrhundert ergangen, und ihre Hoch- Eine ganze Hochschule für das »kleine Fach« Jü- schulen und Seminare in Breslau und Berlin wur- dische Studien – wo gibt es das noch einmal? den in der Zeit des Nationalsozialismus liqui- Und erst recht: Wo werden die Jüdischen Studien diert. gleich in der Breite von neun Teildisziplinen, von Heute bilden Lehre, Forschung und Hoch- Bibel über Talmud bis zu Israelstudien angebo- schulleben eine Schnittstelle zwischen Judentum ten? Wo wirkt Deutschlands einziger Hochschul- und der umgebenden Gesellschaft. Das 2009 in- rabbiner? Und wo haben Studierende in Lehr- mitten der Altstadt mit den vereinten Kräften des amts-, Bachelor- oder Masterprogrammen für ihre Trägers, der öffentlichen Hand und privater Zu- Studiengänge mehr Kombinationsmöglichkeiten wendungsgeber errichtete Gebäude steht für die- mit dem Angebot einer erstrangigen Volluniversi- se Offenheit: als Ort des Lernens und Forschens, tät, die gleich nebenan liegt? aber auch als Treffpunkt für Vorträge und Aus- Keine Frage, die Rede ist von Heidelberg und stellungen, oder in der koscheren Mensa – mitt- von der Hochschule für Jüdische Studien. Hier lerweile ganz selbstverständlich. geht es freilich nicht darum, weitere Superlative 2019 wird die Hochschule 40 Jahre alt, und zu addieren, wobei Heidelberg für Studierende von ihrer Gründung bis heute ist sie im Kleinen sicher auch darin unschlagbar ist: dass dort so auch ein Spiegelbild deutscher Geschichte und ziemlich alles, und dabei in vielem das Beste, europäischer Entwicklung: von den nach den Er- gleich nebenan liegt. Ansonsten soll hier ganz fahrungen der Schoa noch immer tastenden nüchtern auf Besonderheiten hingewiesen wer- Schritten der jüdischen Gemeinschaft über den den, die nach bald 40 Jahren des Bestehens unse- Neuanfang bis hin zu einer in der Wissenschafts- rer Hochschule schon so selbstverständlich er- landschaft und in der Gesellschaft fest etablierten scheinen, dass sie es verdienen, wieder einmal in Institution des Austauschs und der Wissensver- Erinnerung gerufen zu werden. Etwa, dass der mittlung. »Wer ein Haus baut, will bleiben, und Zentralrat der Juden und mit ihm die kleine jüdi- wer bleiben will, erhofft sich Sicherheit« – was sche Gemeinschaft sich 1979 auf das Wagnis ei- HfJS-Rektor Johannes Heil Salomon Korn, Mitglied unseres Kuratoriums ner eigenen Hochschulgründung einließen, und und lange entscheidende Jahre dessen Vorsitzen- dass diese heute zugleich eine etablierte öffentli- nem gemeinsamen Graduiertenkolleg, mit eige- der, anlässlich der Eröffnung des jüdischen Ge- che Angelegenheit ist, mit finanzieller Beteili- nen Forschungszentren und Programmschwer- meindezentrums 1986 in Frankfurt sagte, gilt gung der Länder, insbesondere Baden-Württem- punkten, international unter anderem mit der auch für die Heidelberger Hochschule. bergs, und des Bundes. Dass dort jeder studieren Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva und der 40 Jahre – das heißt aber gleichzeitig auch, kann, Juden und Nichtjuden, die gegenwärtig aus Hebräischen Universität Jerusalem, mit der Karl- dass all dies sich nur wenige Jahrzehnte entfernt 15 verschiedenen Ländern kommen. Aus den Er- Franzens-Universität Graz und – als größter Ak- von einer ganz anderen Vergangenheit bewegt wartungen der Anfangsjahre an eine Hochschule tivposten – mit dem Paideia-Institut für Jüdische und man im Blick behalten muss, dass wir uns ge- für die Ausbildung von Personal für die jüdischen Studien in Stockholm. genwärtig in einer Zeit unkalkulierbar dynami- Gemeinden ist eine, wie es hochschulbürokra- Das sind Eckwerte, die jede Bilanz zieren kön- scher neo-autokratischer Kräfte, auch terroristi- tisch heißt, »universitätsförmige« Spitzenhoch- nen und sich gut für die Werbung eignen. Was sie scher Bedrohungen und populistischer Bewegun- schule mit Promotionsrecht geworden. tatsächlich bedeuten, wird aber erst bei näherem gen aufhalten. Da erscheint die Hochschule für Daraus sind vielfältige Beziehungen und mehr Hinsehen deutlich: Die Heidelberger Hochschule Jüdische Studien Heidelberg geradezu als ein zen- als bloß strategische Partnerschaften entstanden: ist ein gelebtes Stück Pluralität inmitten Europas trales Elementarteilchen für den Gegenentwurf: mit der Universität Heidelberg in derzeit zwei ko- und ein integraler, weithin vernetzter Teil der als ein Stück Europa, wie es sein kann und aus operativen Master-Studiengängen und der Zu- deutschen Hochschullandschaft. Sie ist also keine dem noch mehr werden kann. Dem wollen wir sammenarbeit in Sonderforschungsbereichen, mit Macht und Ressentiment randständig gehal- uns stellen. Und dafür brauchen wir wissenshun- mit Hochschulen in Frankfurt und Mainz in ei- tene Minderheitenangelegenheit; so aber war es grige Mitstreitende. INHALT IMPRESSUM Das Eigene und das Andere Seite 4 Netzwerk am Neckar Seite 18 Jüdische Illustrierte Die Bedeutung des jüdisch-christlichen Gesprächs Mitglieder der Studierendenvertretung im Gespräch Chefredakteur: Detlef David Kauschke Redaktion: Susanne Mohn, Ingo Way Dekaloge Seite 6 ABC des Judentums Seite 19 Foto/Grafik: Marco Limberg Die Gegner der jüdischen Ethik und die Zehn Gebote Seit einem Jahr gibt es das Abraham Berliner Center Lektorat: Bettina Piper Geschichte und Geschichten Seite 8 »Es ist mein Traumjob« Seite 20 Druck: BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH Über antike Schriftfunde in Israel Interview mit Hochschulrabbiner Shaul Friberg Herausgeber: Zentralrat der Juden in Deutschland K.d.ö.R. »Ijev hot er gehejßn« Seite 10 Im Reich der 50.000 Bände Seite 21 Gründer: Karl Marx sel. A. Die Neuedition einer jiddischen Bibelübersetzung Ein Tag in der Bibliothek Albert Einstein Zeitloser Bestseller Seite 12 Schulfach Frieden Seite 22 Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg Rektor Prof. Dr. Johannes Heil Die hebräische Bibel als (Welt-)Literatur Ergebnisse einer religionspädagogischen Fachtagung Landfriedstraße 12 69117 Heidelberg Illustrierte Provokationen Seite 14 Aus Heidelberg in die Welt Seite 23 Telefon 06221 / 54 19 200, Fax 06221 / 54 19 209 E-Mail: info@hfjs.eu Die Pessach-Haggada von Arthur Szyk Sechs Absolventen – und was aus ihnen geworden ist Eine Verwertung der urheberrechtlich geschützten Zeitungsbeiträge, Abbildungen, Wir sind was? Seite 16 Anzeigen etc. ist unzulässig. Auf der Suche nach einer kollektiven Identität
Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg |3 Europäisches Kompetenzzentrum Von Saul zu Kafka Grußwort von VIELFALT Eine Auswahl aus unserem Kursangebot Barbara Traub Das Bild einer stillenden Mutter berührt uns intuitiv. In der Kunst taucht es seit Menschen- gedenken auf. Viele große Maler haben es in ihren Werken verarbeitet, man denke nur an Gauguin, Picasso und Chagall. So verwundert es auch nicht, wenn bereits unsere Weisen das Lernen der Tora durch unser Volk mit dem Aufsaugen der Mutter- milch durch das kleine Kind vergleichen. Gegründet 1979 in Deutschlands ältester Uni- versitätsstadt, ist die Hochschule für Jüdische Stu- dien Heidelberg (HfJS) erste Adresse nicht nur für das Erlernen der Tora, sondern für ein umfassen- des Studium jüdischer Kultur. Mit zehn Professu- ren ist sie das europäische Kompetenzzentrum für Jüdische Studien schlechthin. Entsprechend breit gefächert ist das Studienangebot. Es reicht vom Bachelor of Arts (B.A.) in Jüdischen Studien über Lehramtsstudien für jüdische Religionslehre und Master-of-Arts-Abschlüsse (M.A.) bis hin zur Promotion. Bunte Vielfalt herrscht auch bei den Studierenden: Ob angehende Lehrer für Reli- gionsunterricht, Gaststudenten aus Israel und dem europäischen Ausland, »Paideia«-Studenten, bis hin zu Senioren, die sich aus persönlichem Foto: Marco Limberg Interesse grundlegend mit dem Judentum M auseinandersetzen, entfaltet sich hier ein intensi- it unseren zehn Lehrstühlen bietet JÜDISCHE LITERATUREN ves und produktives studentisches Leben. die Hochschule ein breit gefächer- Vorlesung »Geschichte der modernen hebräi- Als Bildungsstätte stellt die HfJS eine wichtige tes Studienangebot für unsere Stu- schen Literatur« Säule jüdischer Identität und jüdischen Selbst- dierenden«, so die Studiendekanin Oberseminar »Kafka und das jiddische Theater« verständnisses dar. Der Zentralrat als ihr Träger Hanna Liss. Ein solch umfangreiches Angebot sieht sich daher nicht nur als Geldgeber, sondern findet sich eigentlich nur noch an den großen HEBRÄISCHE SPRACHWISSENSCHAFT die HfJS ist eines der Herzstücke und eine Her- Universitäten Israels, und in der Tat hatte bei der Seminar »Hebräische Onomastik. Einführung in zensangelegenheit des Zentralrats. Die HfJS Gründung der Hochschule 1979 die Hebräische hebräische Namengebung« bringt einen Reichtum an jüdischem Wissen über Universität Jerusalem mit ihrem Institute of Sprachkurs »Lektürekurs Rabbinisches He- Religion, Kultur und Tradition des jüdischen Vol- Jewish Studies (Machon le-Madda’e ha-Yahadut) bräisch: Biblische Gestalten aus rabbinischer kes, und sie verfügt über ein kompetentes und Pate gestanden. Sicht« hoch qualifiziertes Team an Lehrenden. Der nachfolgende exemplarische Einblick in Ich wünsche den Studierenden sowie den Leh- das Kursangebot der HfJS zeigt die Bandbreite JÜDISCHE PHILOSOPHIE UND GEISTESGE- renden einen regen und intensiven Austausch, der Jüdischen Studien, wie sie die elf Professorin- SCHICHTE viel Erfolg und Schawuot Sameach! nen und Professoren mit ihren sieben Wissen- Seminar »Ethik im Judentum« schaftlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen Proseminar »Einheit in der Vielfalt? Persönlich- im aktuellen Semester unterrichten. keiten, Positionen und Perspektiven zur Frage eines jüdischen Pluralismus« BIBEL UND JÜDISCHE BIBELAUSLEGUNG Seminar »Zwischen Tragik und Glanz: Die bibli- JÜDISCHE KUNST schen Erzählungen von Saul und David« Seminar »Eschet Chayil – Das Bild der starken Übung »Lesepraktiken im antiken und rabbini- Frau in der jüdischen Kunst« schen Judentum« Exkursion »SchUM-Städte« TALMUD, CODICES UND RABBINISCHE JÜDISCHE RELIGIONSLEHRE, -PÄDAGOGIK LITERATUR UND -DIDAKTIK Vorlesung »Israel im Spiegel der Halacha. Die Vorlesung »Kain – Religiöse Gewalt und Gewalt- Halacha im Spiegel des Staates Israel« kritik« Proseminar »Aggada in der Halacha und Halacha Oberseminar »Die drei Heiligen Schriften in in der Aggada« einem Band – Trialog der Monotheisten« GESCHICHTE DES JÜDISCHEN VOLKES PRAKTISCHE RELIGIONSLEHRE Vorlesung »Geschichte des Zionismus« Übung »Tefila und Gemara« Oberseminar »Juden über Christen – Christen Übung »Traditionelles Lernen« über Juden: Texte zu Juden und Christen im Hochmittelalter« Das komplette und ausführlich kommentierte Vorlesungsverzeichnis kann im Internet auf der Foto: Marco Limberg ISRAEL- UND NAHOSTSTUDIEN Website der HFJS unter www.hfjs.eu/studium/vorle- Barbara Traub, Vorstandsvorsitzende der Israeliti- Seminar »Staat und Sprache in Israel und Palästina« sungsvz/index.html eingesehen werden. schen Religionsgemeinschaft Württemberg und Blockseminar »Die deutsch-israelischen Bezie- Vorsitzende des Kuratoriums der HfJS hungen im Schatten der Vergangenheit« www.hfjs.eu
4| Jüdische Illustrierte Das Eigene und das Andere DIALOG Die gegenwärtige Bedeutung des jüdisch-christlichen Gesprächs v o n Fr e d e r e k M u s a l l und Jonas Leipziger I m Anfang ist die Beziehung« (Martin Buber, Ich und Du). Mit Martin Buber ins Haus zu fallen, hat im Rahmen des jüdisch-christ- lichen Gesprächs ja irgendwie Tradition, ist aber auch ebenso vorhersehbar wie redundant. Trotzdem drückt dieses Zitat für die im Folgen- den skizzierten Gedanken etwas Grundlegendes aus: nämlich, dass es im jüdisch-christlichen Ge- spräch von Beginn an ein bewusstes In-Bezie- hung-Setzen gibt. Ein Dialog ist aber mehr als nur bloße Begegnung im Gespräch; er ist die bewuss- te Bereitschaft und Entscheidung, sich selbst zu hinterfragen. In verschiedenen, vor allem judaistischen Ar- beiten der letzten Jahrzehnte wurde deutlich, dass die Anfänge von Judentum und Christentum in der Spätantike neu zu denken sind. Insbesondere Forschungen von Daniel Boyarin und Peter Schä- fer haben die Beziehungen zwischen Judentum und Christentum in der Antike neu beleuchtet. Diese haben für unser Verständnis der spätanti- ken Ursprünge der beginnenden Trennung von dem, was wir heute als (rabbinisches) Judentum und als Christentum kennen, einen Paradigmen- wechsel eingeleitet. Daniel Boyarins Werk hat si- cherlich am stärksten dazu beigetragen, unsere geprägten Vorstellungen von den Anfängen von ter-Tochter-Modell« von Mutter Israel und Tochter Christentum sind bislang noch nicht ansatzweise Christentum und Judentum und vom sogenann- Christentum diese historischen Entwicklungen von der universitären Theorie in die religiöse Pra- ten »Parting of the Ways«, dem Auseinanderge- nicht mehr adäquat beschreiben zu können; eher xis der Religionsgemeinschaften transformiert hen der Wege von Judentum und Christentum, sind beide »Tochterreligionen«, die beide aus dem worden: So kann es unseres Erachtens nach nicht neu zu zeichnen. biblischen Judentum hervorgingen. Boyarin geht dabei bleiben, dass, frei nach Karl Kraus, der Ur- So ist deren gemeinsame Geschichte in der sogar so weit und sagt, »dass alles, was traditionell sprung das Ziel ist und bleibt; jene Erkenntnisse Spätantike bis zum Beginn des 4. Jahrhunderts als Christentum identifiziert wurde, im Einzelnen über die langen und engen – und in der weiteren n.d.Z. offen sowie verflochten und stellt einen auch schon in einigen jüdischen Bewegungen [ne- Entwicklung von Spätantike über das Mittelalter wechselseitigen Prozess der Ausdifferenzierung ben der Jesus-Bewegung] im ersten Jahrhundert bis in die Neuzeit auch für das Judentum dann dar – demnach entstand das Christentum weder und später existiert hat«. auch bekannterweise bedrohlichen und antijüdi- mit Jesus noch mit Paulus: Das Trennen der Wege Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse über die schen – Verflechtungen sind wichtig und müssen ist ein Ergebnis von gegenseitigen Beeinflussun- geschwisterlichen Ursprünge von Judentum und zur Kenntnis genommen werden. Aber dabei soll- gen in den ersten Jahrhunderten, in denen gerade noch keine Trennung vorhanden ist, in denen man noch nicht von den uns bekannten Entitäten »Christentum« und »Judentum« als voneinander verschiedenen Religionen ausgehen kann. Erst am Ende eines langen Prozesses entwickelte sich, so Boyarin, im 4. Jahrhundert die Ausdifferenzie- Frederek Musall ist Professor rung in das rabbinische Judentum auf der einen für Jüdische Philosophie und Seite und das orthodoxe Christentum auf der an- deren Seite. Geistesgeschichte. TOCHTERRELIGIONEN Angesichts dieser Er- kenntnisse scheint auch das lange gepflegte »Mut-
Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg |5 te es nicht bleiben: Es stellt sich die Frage, was in an theologiebildenden Implikationen alles ent- christlichen Theologien arbeiten, zeigt, wie span- der Gegenwart im gemeinsamen Miteinander der hält. Gleichzeitig meinen wir, es reicht nicht aus, nend die gemeinsame kritische Analyse von Glau- Religionen aus jenem Wissen gemacht wird; wie dass sich die Kirchen in Deutschland von Luthers benstraditionen ist. So wird hier beispielhaft deut- das gemeinsame Gespräch gestaltet wird; wie das Antijudaismus/frühneuzeitlichem Antisemitis- lich, dass auch solche fundamentalen Begriffe wie Miteinander angesichts von Gemeinsamkeiten mus »nur« distanzieren oder diesen gar zu relati- »Tradition«, »Heilige Schrift«, »Kanon« oder »Of- und bleibenden Differenzen ausgehandelt wird. vieren suchen: So müssten auf noch breiterer Ba- fenbarung«, von denen man meinen könnte, sie sis als bisher protestantisch-theologische Themen seien doch in den jeweiligen Religionsgemein- SCHLAGLICHTER Wir beide sind wie andere An- neu durchdacht werden, wie das Verhältnis von schaften klar und offensichtlich, auch immer wie- gehörige der Hochschule für Jüdische Studien »Gesetz« und »Evangelium«, die klassische Recht- der von Neuem zu analysieren sind. Heidelberg auch in verschiedenen Kontexten in fertigungslehre oder die Verhältnissetzung von 4.) Daher sind Räume für ein gemeinsames in- interreligiöse Gespräche involviert. Einige Schlag- Hebräischer Bibel zum Neuen Testament. Die Ar- terreligiöses Diskutieren so bedeutsam: als Werk- lichter dieses Engagements – hier im jüdisch- beit im jüdisch-christlichen Gespräch zeigt, wie statt/Laboratorium, in dem Ideen für Kritik und christlichen Gespräch – sollen jene Diskurse ver- fruchtbar und wie inspirierend solche Revisionen Selbstkritik entstehen, um theologische und ge- deutlichen: theologischer Denkmuster sein können. sellschaftliche Revisionen vorzunehmen, um un- 1.) In den sich nähernden evangelischen Feier- 2.) Sie zeigt auch, wie wichtig es ist, genau zu ser Verhältnis als Juden und Christen im Beson- lichkeiten zum Reformationsjubiläum 2017, das differenzieren: So ist zu bedauern, dass auf christ- deren und der Religionsgemeinschaften im Allge- an den sogenannten Thesenanschlag des Witten- licher Seite noch zu selten wahrgenommen wird, meinen immer wieder neu auszuhandeln; und berger Reformators Martin Luther erinnern wird, dass Juden und Christen zwar die Hebräische Bi- um im und für ein Miteinander sprachfähig zu kulminieren verschiedene Themen: Wie präsen- bel/das »Alte Testament« als gemeinsame Grund- werden. tiert die Evangelische Kirche in Deutschland ihr lage teilen, dass aber in ihrer Rezeptionsgeschich- DISTANZ Gerade die aktuellen Ereignisse in Deutschland zeigen, wie wichtig solche Räume eines interreligiösen Miteinanders sind und wie wichtig auch neue Formen des Diskurses werden; neue Formen, die dazu motivieren, immer wieder neue Blickwinkel auf das religiös »Andere« zu su- chen und einzunehmen; die Raum geben, um die Positionen des Eigenen in Bezug auf das Andere zu verändern. Und ähnlich wie im Kino bedarf es eben manchmal auch der Distanz – gerade der Distanz zum Eigenen –, um das auf der Leinwand Abgebildete zu erfassen. Denn die durch das in- terreligiöse Gespräch eingegangene Beziehung ist ein dialektisches Verhältnis, welches sich nicht nur durch die beiden Pole Eigenes und Anderes ausdrückt, sondern ein oszillierendes Spektrum von Positionen und Optionen eröffnet. Was im Gegenzug aber auch erfordert, dass man die dar- aus resultierenden Spannungen auszuhalten lernt. 5.) Dennoch begegnet man immer wieder auch Asymmetrien in der Gesprächsarbeit, die sich nicht so einfach auslösen lassen: Juden sind ge- wöhnlich in der Unterzahl, und dann sitzen sie häufig noch mehreren Theologen gegenüber, als ausgebildeten Religionsexperten. Folglich passiert es nicht selten, dass man im Gespräch dann doch nicht die gleiche Sprache spricht. Und schließlich gilt es zu bedenken, dass sich Religionen in der Moderne trotz deren entspre- Selbstverständnis auch und gerade angesichts der te der Zugriff daraus ein ganz anderer geworden chender Suche und Streben nicht auf Eindeutig- bekannten antijüdischen Schriften, gar des antijü- ist; dass es gerade nicht ausreicht, mit Bibelversen keit(en) reduzieren lassen. Denn man stößt immer dischen Werkes Martin Luthers? Wie geht sie mit (d.h. durch die schriftliche Tora) jüdische Traditio- häufiger auf andere Erscheinungs- und Ausdruk- antijüdischen Topoi der Theologie Luthers und nen zu verstehen, sondern dass erst die rabbini- ksformen des Religiösen als die gewohnten, die anderer Reformatoren um? Welche Schlüsse wer- sche und die rabbinisch geprägte jüdische Tradi- etwa religiöse Traditionsliteratur in anderen Re- den für das gegenwärtige theologische Selbstver- tions- und Rezeptionsgeschichte (d.h. als münd- zeptionsmedien (Comic, Film, Internet) artikulie- ständnis gezogen? liche Tora) das Judentum in seiner Vielfalt bis ren und nicht selten ein neues religiöses Selbst- So werden auch jüdische Gesprächspartner im heute widerspiegelt. verständnis ausformen. jüdisch-christlichen Gespräch immer wieder her- 3.) Das gemeinsame Arbeiten von Nachwuchs- Dennoch, das christlich-jüdische Gespräch ausgefordert – und müssen zunächst einmal auch wissenschaftlern im Frankfurter Graduiertenkol- blickt auf einen wichtigen und radikalen Para- erst in einem Lernprozess verstehen lernen, was leg »Theologie als Wissenschaft«, in dem Promo- digmenwechsel gerade innerhalb christlicher nun beispielsweise Luthers Rechtfertigungslehre vierende aus den jüdischen, muslimischen und Theologie(n) und Kirche(n) im 20. Jahrhundert zurück. Aber es sind zunehmend auch die Heraus- forderungen der pluralen Gesellschaft, die Juden, Muslime und Christen als gesellschaftliche Ak- teure in die Verantwortung nimmt im gemeinsa- men Kampf gegen Antisemitismus, Islamophobie, Jonas Leipziger ist Wissenschaftlicher Rassismus und andere Formen sozialer Ausgren- zung. Wodurch deutlich wird, dass sich das be- Assistent am Lehrstuhl für Bibel und wusste Miteinander in gemeinsamen Zielen for- mulieren sollte. Von daher besteht der nächste Jüdische Bibelauslegung. anzustrebende Paradigmenwechsel vielleicht ja darin, das jüdisch-christliche Gespräch endlich in den Rahmen »Religion in der pluralen Gesell- schaft« einzubetten und dort zu verorten.
6| Jüdische Illustrierte Dekaloge RELIGION Selbst Gegner der jüdischen Ethik beziehen sich auf die Zehn Gebote – auch dann, wenn sie sie abschaffen wollen von Daniel Krochmalnik Sünden wider das Leben, das in allem »Rauben nozidalen Ausrottung der jüdischen Ethik aus und Totschlagen« ist (III, 10)? Hier klingen schon dem deutschen Volk einen entscheidenden strate- J emand hat einmal die beiden Tafeln mit den das Programm und die Sprache eines anderen an. gischen Vorsprung für das globale Völkerringen Zehn Geboten als »Katechismus der He- zu gewinnen.« bräer in mosaischer Zeit« bezeichnet – an NATUR Mitten im Zweiten Weltkrieg veröffent- Die deutschen Bischöfe haben lange ge- den zehn Fingern abzählbar, aus den wie ein lichte der Regisseur Armin Robinson in New braucht, um die Worte vom Sinai wiederzufin- Buch geöffneten beiden Händen ablesbar, in York das Buch Die zehn Gebote. Hitlers Krieg ge- den. Zehn Jahre, nachdem die Deutschen Chris- die beiden Herzkammern einschreibbar. Jeden- gen die Moral mit zehn Erzählungen von emi- ten 1933 im Berliner Sportpalast die Abschaf- falls haben sich Katechismen aller Art der Form grierten Autoren, die jeweils einen Gebotsverstoß fung des Alten Testaments als »Judenbuch« ge- des Dekalogs bedient, auch dann, wenn sie sich in Nazideutschland schildern. Den Reigen eröff- fordert hatten, ließen die deutschen Bischöfe gegen die ursprünglichen Empfänger des Deka- nete Thomas Mann mit seiner Novelle Das Ge- 1943 einen Dekalog-Hirtenbrief von den Kanzeln logs, ja, gegen den ursprünglichen Dekalog selbst setz. Die Idee zu diesem Buch stammte von dem verlesen: »Tötung ist in sich schlecht, auch wenn richteten. Um hier nur zwei oder drei besonders ehemaligen Hitlervertrauten Hermann Rausch- sie angeblich im Interesse des Gemeinwohls ver- krasse Beispiele zu erwähnen: 1926 veröffentlich- ning. Im Vorwort schildert er eine Szene, die sich übt würde: An schuld- und wehrlosen Geistes- te der Deutsche und Österreichische Alpenverein, kurz nach der Ermächtigung Hitlers in der schwachen und -kranken, an unheilbar Siechen der soeben einen »Arierparagrafen« beschlossen Reichskanzlei abgespielt haben soll. Nach einer und tödlich Verletzten, an erblich Belasteten und hatte, zehn Bergsteigergebote gegen die Ver- Filmvorführung habe sich der »Führer« im Kreis lebensuntüchtigen Neugeborenen, an unschuldi- schandelung der Bergwelt. seiner Vertrauten in einen seiner gewohnten hys- gen Geiseln und entwaffneten Kriegs- oder Straf- Sogar die Wehrmacht schrieb 1942 dem deut- terischen Ausbrüche hineingesteigert: »Dieses gefangenen, an Menschen fremder Rassen und schen Soldaten »10 Gebote« ins Soldbuch. Sie be- teuflische ›Du sollst, du sollst!‹ Und dann dieses Abstammung.« Bezeichnenderweise kommt das ginnen nicht, wie man in Anbetracht von Ver- törichte ›Du sollst nicht!‹ Das muss endlich aus Volk, aus dem Moses und Jesus stammten, auf nichtungskrieg und Völkermord erwarten würde, unserem Blut verschwinden, dieser Fluch vom dem Höhepunkt des Völkermordes nur unter mit einem Mordgebot, vielmehr: »Kein Gegner Berg Sinai. (...) Was gegen die Natur ist, ist gegen dem Sammelbegriff »Menschen fremder Rassen darf getötet werden, der sich ergibt, auch nicht das Leben selbst. (...) Du sollst nicht stehlen? und Abstammung« vor. der Freischärler.« Schließlich verkündete auch die SED auf ihrem 5. Parteitag »10 Gebote der so- zialistischen Moral und Ethik«, wovon das zehnte gebietet: »Du sollst Solidarität mit den um ihre nationale Befreiung kämpfenden … Völkern üben« – es sei denn, so muss man hinzufügen, es handele sich um die »nationale Befreiung« des Daniel Krochmalnik ist Inhaber des eigenen deutschen Volkes oder des jüdischen Vol- Lehrstuhls für Jüdische Religionslehre, kes, dessen Zionismus in der DDR als Verbrechen galt. -pädagogik und -didaktik. VERSCHÄRFUNG Diese eher komischen Nachah- mungsversuche stehen am Ende einer langen Rei- he von Dekalogrevisionen. Jesus überbietet Mo- ses: »Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der Falsch! (...) Alles Leben ist Diebstahl. (...) Der Tag Thomas Mann hatte viel früher klar ausge- wird dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage wird kommen, an dem ich den Geboten die neuen sprochen, dass »der deutsche Judenhass (…) den euch: Ein jeder, der seinem Bruder zürnt, wird Gesetzestafeln entgegenhalten will.« christlich-antiken Fundamenten der abendländi- dem Gericht verfallen sein« (Mat 21, 22). Jesus Es gibt Zweifel an der Glaubwürdigkeit schen Gesittung (gilt)«, und wurde deswegen auf predigt nach Matthäus auf dem Berg eine Ver- Rauschnings, aber Hitler hat sich haargenau an Vorschlag von Ernst von Weizsäcker ausgebür- schärfung und Verinnerlichung der zweiten Tafel diese Erklärung gehalten. Im Warschauer Ghetto gert. Seine Erzählung Das Gesetz beendet Tho- der Gebote auf dem Sinai. kannten schon kleine Kinder die neuen Tafeln. mas Mann 1943 mit einem Fluch gegen Nietz- Eine weitere Überbietung des Dekalogs in Von einem fast verhungerten Achtjährigen ist fol- sche, Hitler und Verwandte: »Aber Fluch dem puncto Wahrhaftigkeit und Redlichkeit fordert gender Schrei überliefert: »Ich will rauben und Menschen, der da aufsteht und spricht: ›Sie (i. e. Nietzsches Zarathustra – in der »entscheidenden stehlen. Ich will essen. Ich will ein Deutscher die Gebote) gelten nicht mehr.‹ Fluch ihm, der Partie« seines Also sprach Zarathustra »Von alten sein!« Hitlers »neuen Gesetzestafeln« mit der Li- euch lehrt: ›Auf, ihr seid ihrer ledig! Lügt, mor- und neuen Tafeln«. Dieser neue Prophet ruft sei- zenz zum Töten und zum Rauben standen die det, raubt, (…) denn so steht’s dem Menschen an, nen Jüngern zu: »Zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln und ihre Träger im Weg. und sollt meinen Namen preisen, weil ich euch alten Tafeln!« (III, 7 u. 10). Seine neuen Gesetzes- Freiheit verkündete.‹« tafeln des Übermenschen kehren Punkt für TÖTUNGSVERBOT Gunnar Heinsohn geht in sei- Punkt die alten Tafeln um. Ist nicht, fragt Zara- nem Buch Warum Auschwitz? nicht weniger als Weiterführend: Daniel Krochmalnik: »Triskai- thustra, das Begehren Ausdruck des Lebens und 42 Theorien zur Erklärung des Holocaust durch dekalog«, in: A. Bertino, E. Poljakova, A. Rupschus, der Ehebruch die natürliche Folge schlechter und stellt fest, dass die Juden vor allem als Ver- B. Alberts (Hg.): »Zur Philosophie der Orientierung Ehen (III, 16)? Sind nicht die Gebote »Du sollst körperung des Tötungsverbotes verfolgt wurden: (Festschrift zum 70. Geburtstag v. Werner Stegmai- nicht rauben!«, »Du sollst nicht totschlagen!« »Hitler«, so Heinsohn, »hat versucht, mit der ge- er)«. Berlin/Boston 2016, S. 293–309
8| Jüdische Illustrierte Geschichte und Geschichten ARCHÄOLOGIE Über einige antike Schriftfunde der letzten Jahre in Israel v o n Vi k t o r G o l i n e t s Dazu kommt, dass die beiden Namen nicht nur raelischen Forschern als Argument im Streit um hebräisch sein, sondern auch einer anderen ka- die Schriftlichkeit im Alten Israel verwendet. Da- D as Land Israel ist reich an historischen naanäischen Sprache angehören können. Der Na- bei geht es auch um die Frage, ob es das davidi- Orten und archäologischen Stätten. Je- me Beda (geschrieben mit Ain am Ende) ist bis sche Reich gab, wie der Tanach es beschreibt, oder des Jahr werden archäologische Ausgra- jetzt in keiner weiteren Sprache belegt. Der Name ob Jerusalem im 10. Jahrhundert eine unbedeuten- bungen an mehreren Orten durchge- Ischbaal kommt dagegen in der Bibel vor, wurde de Kleinstadt war. Im zweiten Fall dürften die bib- führt, und dabei werden viele Funde gemacht, die aber bis jetzt außerbiblisch nicht belegt. Der Na- lischen Geschichten von David und seinem Reich für die Geschichte des Landes in allen Perioden me bedeutet »Mann (der Gottheit) Baal«, und in erst um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahr- seiner Besiedlung von Bedeutung sind. der Bibel ist es der Name eines des Söhne Sauls, tausends erstanden sein und keinen Kern an his- Besonders interessant sind Schriftfunde, da sie der der zweite König von Israel war (1 Chronik torischen Begebenheiten enthalten. Diese Position im Gegensatz zu »stummen« Artefakten viel leich- 8,34; 9,39). Im Text des Buches Samuel wurde der wird vor allem von Israel Finkelstein vertreten, ter ausgewertet und viel genauer im historischen Name Ischbaal zu Ischboschet, »Mann der Schan- dem Archäologen und Historiker an der Universi- Kontext platziert werden können. Historiker und de«, verändert, um die Erwähnung der heidni- tät Tel Aviv. Yosef Garfinkel, Archäologe an der Sprachforscher können dadurch neues Material schen Gottheit aus dem Text zu entfernen (2 Sa- Hebräischen Universität und der Ausgräber von erhalten. Dabei ist es von großer Bedeutung, wenn muel 2,8ff.). Khirbet Qeiyafa, hält dagegen, dass die Schriftfun- ein Fund nicht aus dem Antiquitätenhandel, son- Diese Inschrift von Khirbet Qeiyafa dokumen- de von Qeiyafa die Benutzung der Schrift am Ran- dern aus professionell geführten Ausgrabungen tiert die Benutzung von zwei Namen am Ende des de von Juda schon im 11. oder 10. Jahrhundert do- stammt. Denn im letzteren Fall kann man der 11. Jahrhunderts v.d.Z. im judäischen Einzugsge- kumentieren. Garfinkel und andere Forscher pos- Echtheit des Artefakts sicher sein. Zudem erlaubt biet. Die beiden Inschriften von Qeiyafa belegen tulieren, dass die Sprache der Inschriften Hebrä- seine Lage im Ausgrabungskontext eine einiger- auch den Gebrauch der Schrift am Ende jenes isch ist und die Texte somit die ältesten archäolo- maßen genaue zeitliche Datierung. Und am meis- Jahrhunderts. Diese Tatsache wird von einigen is- gischen Belege dieser Sprache sind. ten freuen sich sowohl Spezialisten als auch inter- Allerdings – wie oben schon erwähnt – kann essierte Laien, wenn Schriftfunde Informationen die Frage nach der Sprache nicht so schnell beant- zu aus anderen Quellen Bekanntem enthalten. Ei- wortet werden, auch wenn die Annahme, dass die nige epigrafische Funde aus den Ausgrabungen Sprache Hebräisch ist, viel Plausibilität hat. Auf der letzten Jahre sollen hier vorgestellt werden. jeden Fall wird die fünfzeilige, nicht komplett ver- standene Inschrift von Khirbet Qeiyafa im Ab- ISCHBAAL 2012 wurden bei Ausgrabungen in flugbereich des Ben-Gurion-Flughafens in der Khirbet Qeiyafa (30 Kilometer südwestlich von Ausstellung der technischen und kulturellen Er- Jerusalem) Reste eines Kruges ausgegraben, der folge des modernen Israel als das älteste hebräi- folgende eingeritzte Besitzer- oder Adressatenauf- sche Schriftzeugnis vorgestellt. schrift enthält: »Ischbaal, der Sohn von Beda«. Diese Inschrift ist aus drei Gründen interessant. DEUTUNGSHOHEIT Ausgrabungen in Jerusalem Erstens kann der Krug aufgrund des archäologi- erwecken naturgemäß besonderes Interesse bei schen Kontextes in die Zeit von 1020–980 v.d.Z. Spezialisten und Laien und schaffen es sehr datiert werden. Somit können auch die Buchsta- schnell in die Nachrichten. Zum einen sind sie für benformen der Inschrift auf der Zeitlinie der Touristen viel leichter wahrzunehmen und zu be- Entwicklung der semitischen Konsonantenschrift sichtigen als Ausgrabungen an vielen weiteren platziert werden. Zweitens ist es schon der zweite Orten im Lande. Zum anderen werden ihre Er- Schriftfund von Khirbet Qeiyafa: 2008 wurde dort gebnisse oder auch schon allein das Planen und eine fünfzeilige, mit Tinte geschriebene Inschrift Ausgraben schnell mit historischer Deutungsho- ausgegraben, deren Lesung und Deutung immer heit und mit politischen Ansprüchen in Verbin- noch ungenau ist. Der neue Fund kann helfen, die dung gebracht. Obwohl bis jetzt keine amtliche erste Inschrift zu verstehen. Drittens liefern die Gründungsurkunde von Jerusalem ausgegraben Namen der Inschrift neues sprachliches Material. wurde, feierte die Stadt im Jahre 1996 offiziell Die Forscher, die die Inschrift in einer Publikation 3000 Jahre ihres Bestehens. Während einige ara- vorgestellt haben, gehen davon aus, dass die Spra- bisch-palästinensische Kreise zum Beispiel die che der Inschrift Althebräisch ist. Dies ist möglich, Viktor Golinets ist Tatsache bestreiten, dass es auf dem Tempelberg allerdings kann die sprachliche Zugehörigkeit je einen jüdischen Tempel gab, betrachten man- nicht aus dem Text erschlossen werden. Der Juniorprofessor am che jüdische und christliche Kreise die Ausgra- Grund dafür liegt in der Tatsache, dass die Schrift keine Merkmale enthält, die sie als hebräische Lehrstuhl für Hebräische bungen als Mittel, jüdische Ansprüche auf die Stadt und den Berg beweisen zu können. Auf charakterisieren ließen. Sprachwissenschaft. jeden Fall fördern Ausgrabungen in Jerusalem
Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg |9 Foto: Tal Rogovski jedes Jahr zwar zu erwartendes, aber in den Ein- enthalten. Der eine ist vom Siegel eines »Gedaliah, schichte, die auf dem Boden Israels ablief, also für zelheiten doch eindrucksvolles Material zutage. Sohn von Pashur« und der andere vom Siegel die vorchristliche Zeit. Da für die Erschließung Wenn man an die Schriftfunde denkt, so kann eines »Jehukal, Sohn von Schelamjahu, Sohn von der ältesten Schichten alles oberhalb von ihnen nur Material erwartet werden, das die zerstöreri- Schawi«. Beide Bullen sind deshalb bemerkens- Liegende entfernt werden muss, wird die Erfor- schen Lagerungsbedingungen im feuchten Boden wert, weil ein »Gedaliah, Sohn von Pashur« und schung der jüngeren Perioden etwas vernachläs- über Jahrtausende überstehen konnte, wohin es ein »Jehukal, Sohn von Schelamjahu« im Buch des sigt. Zwar ist man sehr begierig, auf so viel Fläche meistens nach einem Brand gelang. Somit können Propheten Jeremia 38,1 als Beamte des Königs wie möglich zu graben, um ein so weit wie mög- keine organischen Schriftträger wie Papyrus, Per- Zedekia erwähnt werden. Ob die Siegelabdrücke lich vollständiges Bild der antiken Bebauung, Le- gament oder Holz erwartet werden. Was dem in der Tat von den Personen stammen, die im bensweise und Geschichte zu haben, aber manch- Zahn der Zeit trotzen kann, sind Inschriften auf Buch Jeremia vorkommen, kann nicht nachgewie- mal gibt es Interessenkonflikte zwischen Stein, Tonscherben oder Metall. Eine prominent sen werden. Jedoch sprechen ihr Fundort in der Archäologen mit den hinter ihnen stehenden vertretene Textgattung sind Siegel, die man auf Nähe des königlichen Palastes sowie die Zugehö- Organisationen und den Menschen, die auf einem Steinen eingravierte, sowie Tonabdrücke dieser rigkeit der Abdrücke auf der einen Seite und der geschichtsträchtigen Boden wohnen. Bei Ausgra- Siegel, die sogenannten Bullen. Namen in der Bibel auf der anderen Seite dersel- bungen im Dorf Silwan (hebräisch: Schiloach) in ben zeitlichen Schicht dafür, dass es sich nicht um Jerusalem wurden aus einigen Häusern palästi- FRAGMENTE Im Mai 2012 fand man bei den Aus- die zufällige Namensgleichheit verschiedener Per- nensische Bewohner umgesiedelt, um in der Ge- grabungen in der Davidstadt einen Teil einer Bul- sonen handelt. gend auszugraben und sie in einen archäologi- le. Das Stück, das 1,5 Zentimeter misst, enthält schen Park zu verwandeln. Reste einer dreizeiligen Inschrift. In der mittleren SCHICHTEN Fälle wie dieser machen deutlich, Wie schon oben erwähnt, ist auch das Interes- Zeile ist »Bethlehem« zu lesen, womit offensicht- dass archäologische Funde, so spannend sie auch se mancher christlicher Kreise an Ausgrabungen lich die judäische Stadt gemeint ist. Der Abdruck sind, sich nicht ohne Weiteres mit biblischen Ge- in Israel groß. Hier freut man sich über jeden wird auf das Ende des 8. bzw. den Anfang des 7. schichten verbinden lassen. Die Frage, ob und wie Fund, der die biblischen Berichte zu stützen Jahrhunderts v.d.Z. datiert und stellt die älteste man die inschriftlich belegten Namen mit den scheint. Dabei können die Funde sehr großzügig außerbiblische Erwähnung der Stadt dar. Da der aus der Bibel bekannten Personen in Verbindung ausgelegt und die historischen Zusammenhänge Text nur fragmentarisch erhalten ist, wissen wir bringen kann, wurde von Lawrence Mykytiuk in nicht sehr eng gesehen werden. Als etwa im Jahr nicht, wem das Siegel gehörte und in welchem dem Buch Identifying Biblical Persons in North- 2005 bei Ausgrabungen der Philisterstadt Gath Kontext die Stadt Beth-lehem genannt wurde. west Semitic Inscriptions of 1200–539 B.C.E. (heute Tel es-Safi) ein Ostrakon mit den Namen Wahrscheinlich handelt es sich dabei um den (2004) diskutiert. Awlt und Wlt gefunden wurde, wollte man diese Abdruck eines administrativen Siegels, das den Viele Historiker und Archäologen interessieren nichtsemitischen Namen mit dem Namen des Warentransfer oder Steuerabgaben do- sich vor allem für die ältesten Perioden der Ge- Philisters Goliath in Verbindung bringen, der kumentierte. ebenfalls nichtsemitisch ist. Die Nachrichtena- Im Alten Israel besaß jede amtliche Person ein genturen haben den Fund durch schrille Über- Siegel – oder sogar mehrere –, mit dem man auf schriften angekündigt, die folgendermaßen iro- Papyrus oder Leder geschriebene Briefe und Do- nisch zusammengefasst werden können: »Eine kumente versiegelte. Auch Könige besaßen Siegel. Inschrift, die den Namen Goliath nicht enthält, Bei den Ausgrabungen in Ophel, dem Bereich süd- bestätigt die Richtigkeit der biblischen Berichte lich des Tempelberges, fand das Team um die is- über David.« raelische Archäologin Eilat Mazar im Jahr 2009 Die wissenschaftliche Unparteilichkeit lehrt eine Bulle mit der Aufschrift »[Gehört] Hiskia, aber, die Funde leidenschaftslos und nicht tenden- dem Sohn von Ahaz, König von Juda«. Der Name ziös zu betrachten und zu interpretieren. Dadurch des Königs Hiskia (Regierungszeit 725–698 v.d.Z.) wird man nicht nur der alten Geschichte und den war bis jetzt nur auf Bullen erwähnt, die aus dem unzähligen Generationen, die diese Geschichte Antiquitätenhandel kamen und deren Fundorte durchlebten, gerecht. Die Unparteilichkeit hilft unbekannt waren. auch zu erkennen, wie moderne Menschen sich Die Bulle kann eindeutig König Hiskia zuge- auf die Ereignisse der Vergangenheit beziehen, wiesen werden, da die Aufschrift genügend Iden- und wie Geschichte(n) heutzutage, etwa an den jü- tifikationsinformation liefert und es im Alten Ju- dischen Feiertagen, erinnert oder wie sie, auch mit da nur einen König Hiskia gab, dessen Vater Ahaz politischen Intentionen, konstruiert wird oder war. Neben diesem Abdruck fand das Team von werden. Die Schriftfunde können aufgrund ihres Eilat Mazar auch viele andere. Unter ihnen gibt es Oben: Krug von Qeiyafa jar Unten: Bulle des Charakters manchen Deutungen besser widerste- zwei weitere, die bemerkenswerte Aufschriften Siegels von »Gedaliah, Sohn von Pashur« hen als die schriftlosen Artefakte.
10 | Jüdische Illustrierte »Ijev hot er gehejßn« PHILOLOGIE In Heidelberg entsteht die Edition einer jiddischen Bibelübersetzung aus dem frühen 19. Jahrhundert von Roland Gruschka D as Übersetzen der Bibel ins Jiddische hat eine lange Geschichte, die bis in die Anfänge der aschkenasischen Kultur im Deutschland des Mittelalters zurück- reicht und auch in der Gegenwart längst nicht ab- geschlossen ist. Die jiddischen Bibelübersetzungen der älteren Zeit gingen vermutlich aus Hilfsmit- teln hervor, die Lehrer und Gelehrte für den Unter- richt der Jungen im Lesen der Hebräischen Bibel anfertigten, wie zum Beispiel Glossare oder Interli- nearübersetzungen. Zu einem großen Teil handelt es sich bei den Übersetzungen des ausgehenden Mittelalters und der Frühen Neuzeit im Grunde um Paraphrasen, in denen der jiddische Überset- zungstext entweder mit Kommentaren und Ausle- gungen vermischt oder aber mit Erzählungen aus Talmud und Midrasch ausgeschmückt wurde. War der erste Typus, verkörpert etwa durch das Sefer Ha-Maggid (Erstdruck 1623–27), vor allem für das selbstständige religiöse Lernen und als Be- gleitung für das Studium des Originals gedacht, diente der zweite Typus, dessen bedeutendster Vertreter die bekannte Zene-Rene (um 1600) ist, in jüdischen Familien als Erbauungslektüre. Bei all- dem blieben jiddische Bibelübersetzungen dem hebräischen Original stets nachgeordnet. Das Kon- zept eines jiddischen Prosa-Übersetzungstextes mit kanonischem Status war dem aschkenasischen Judentum fremd. SÄKULAR Nicht allein traditionelle jüdische Ge- lehrte und Lehrer betätigten sich als Übersetzer der Bibel ins Jiddische. Auch säkulare Intellektuel- le und Schriftsteller wie Scholem-Jankew Abramo- witsch, bekannt als Mendele Mojcher-Sforim (1835–1917), oder Jitzchok Lejbusch Peretz (1852– 1915) haben ausgewählte Bibeltexte übersetzt, zum Teil auch in Versen. Im Vordergrund solcher Unternehmungen standen nicht etwa theologi- sche oder im engeren Sinne religiöse Bestrebun- gen, sondern künstlerische Zielsetzungen und ein sozialreformerisches, später auch kultur- und sprachpolitisches Engagement. Pragmatische Ziele verfolgte in den ersten Jahr- zehnten des 19. Jahrhunderts ein prominenter Ver- treter der Haskala, Menachem Mendel Lefin (1749–1826), der im Grenzland zwischen dem da- mals österreichischen Galizien und dem damals russischen Podolien lebte – einem Gebiet in der heutigen Westukraine. Lefin, der nach seinem po- dolischen Geburtsort Satanow (heute Sataniw) auch Satanower genannt wurde, gehörte zu jener Generation jüdischer Aufklärer in Osteuropa, die ihre Ideen noch in unmittelbarem Austausch mit dem Kreise Moses Mendelssohns und seiner Schü- ler entwickelten. Während eines Aufenthaltes in Berlin in den 1780er-Jahren konnte sich Lefin auch Ausschnitt aus Lefins Ausgabe des Buches Mischle von 1814. Links das hebräische Original ...
Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg | 11 mit dem Mendelssohn’schen Projekt einer hebrä- Anders als bei den traditionellen älteren jiddi- Lefin wählte dagegen bewusst den jiddischen isch kommentierten Ausgabe der Tora mit hoch- schen Bibelparaphrasen waren bei Lefin (wie zu- Dialekt seiner podolischen Heimat als Überset- deutscher Übersetzung näher bekannt machen. vor schon bei Mendelssohn) Übersetzungsteil zungssprache. In seinen Augen besaß das Jiddi- Dieses Projekt gab ihm den Anstoß zu seinen eige- und Kommentar klar voneinander getrennt. Der sche das Potenzial, sich zu einem Medium für an- nen – nicht deutschen, sondern jiddischen – Bibel- jiddische Prosa-Übersetzungstext sollte nach Le- spruchsvolle aufgeklärte »Übersetzungen und übersetzungen. fins Vorstellungen aus sich selbst heraus ver- Volksschriften« (wozu er natürlich auch seine Bi- ständlich sein. Auch in sprachlicher Hinsicht belübersetzungen zählte) zu entwickeln. Dies trug DIALEKT Lefin übersetzte die Bücher Mischle, Ko- strebte Lefin eine Modernisierung an. Zu Lefins ihm Jahrzehnte später die Anerkennung der Jiddi- helet, Ijov, Echa und Tehillim und verfasste dazu Zeit waren die traditionellen jiddischen Bibelpa- schisten, der Aktivisten der jiddischen Sprachbe- hebräische Kommentare. Als jüdischer Aufklärer raphrasen noch in Varietäten einer altertümli- wegung, ein. Auch seine Übersetzungen lobten sie war Lefin ein vehementer Gegner des Chassidis- chen überregionalen Buchsprache verfasst, die ohne Einschränkung als gelungen, wenn nicht mus. Daher versuchte er, den Bibeltext in einer sich bereits deutlich von dem zu Beginn des 19. sprachlich und stilistisch sogar zukunftsweisend. Weise zu übersetzen, die den bei den Chassidim Jahrhunderts in Osteuropa gesprochenen Jid- Um einen kleinen Eindruck von der Übersetzung beliebten, zum Teil von der Kabbala geprägten disch unterschied und daher zunehmend weniger zu geben: In der Aussprache des modernen Stan- Auslegungen keine Anknüpfungspunkte bot. verstanden wurde. dardjiddisch, der jiddischen Literatursprache der Gegenwart, würde etwa der erste Vers von Lefins Übersetzung des Buches Ijov lauten: »A man is ge- wesn in land Uz, Ijev hot er gehejßn.« EDITION Von Lefins jiddischen Bibelübersetzun- gen wurde zu seinen Lebzeiten nur die Ausgabe des Buches Mischle gedruckt, die 1814 in kleiner Auflage in Tarnopol erschien. Seine jiddische Übersetzung des Buches Ijov hat sich hingegen nur in einer einzigen Handschrift erhalten, die heute in der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem aufbewahrt wird. An der Hochschule für Jüdische Studien Heidel- berg wird von 2016 bis 2019 im Rahmen eines von der DFG geförderten Forschungsprojekts unter der Leitung von Juniorprofessor Roland Gruschka eine kritische Edition der Ijov-Übersetzung Lefins er- stellt, die den Text im jiddischen Original (in hebrä- ischer Schrift) durch einen wissenschaftlichen Ap- parat und eine Einleitung erschließen wird. Be- teiligt sind auch Kooperationspartner an den Uni- versitäten Düsseldorf, Trier, Syracuse und an der Rutgers University in New Jersey. Die Edition wird der Forschung ein bedeutendes Zeugnis der Ge- schichte jüdischen Bibelübersetzens, der jiddischen Sprachgeschichte und der osteuropäischen Haskala in umfassender Weise zugänglich machen. Der Autor ist Jiddist und lehrt Jüdische Literaturen an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg. ... rechts die jiddische Übersetzung. Im Fußteil steht ein hebräischer Kommentar.
12 | Jüdische Illustrierte Zeitloser Bestseller TANACH Die Hebräische Bibel ist auch ein Stück (Welt-)Literatur von Hanna Liss nehmen, um den biblischen Text als sinnvoll, staben mit ihrer Interpretation begonnen: Der rational nachvollziehbar und damit als »wahr« zu erste Buchstabe ist bekanntermaßen ein Bet, also D ass die Bibel als Weltliteratur gilt, er- beweisen. Eine solche »Wahrheit« eines Textes ein Buchstabe, der nur nach einer Seite hin offen füllt uns Juden und Jüdinnen immer benutzt die Bibel dann gerne als eine Art »Stein- ist. Auf diese Weise soll angedeutet werden, dass wieder mit Stolz. Trotzdem übersehen bruch« und sucht dort nach Argumentationshil- man ebenso wenig danach fragen sollte, was oben wir manchmal, dass alle Diskussionen fen. Aber der eigentliche Text gerät dabei ein we- und unten ist, wie nach dem, was vorher war. über sie eher die Erklärung der Welt zum Thema nig aus dem Blickfeld und damit auch ein Stück Allein das, was nach der Schöpfung in der Welt haben. Dabei zeigen uns schon die jüdischen Aus- Verständnis von der darin enthaltenen »Wahr- passiert, soll im Blick behalten werden. legungstraditionen, dass sowohl die Rabbinen als heit« als literarischer »Wahrheit«. auch die mittelalterlichen Schriftgelehrten die Bi- RASCHI Bei so viel buchstäblicher Spitzfindigkeit bel vor allem auch als ein literarisches Werk rezi- AUSLEGUNGSSACHE Die jüdischen Schriftge- wundert man sich nicht, dass bereits sehr früh er- pierten. Geradezu exemplarisch lässt sich dies an lehrten wussten sich hier stets durch Auslegung kannt wurde, dass der erste Satz des ersten Berich- einigen Texten belegen, die sich eingehend mit zu helfen. Eine »wortwörtliche« Lesart ist für sie tes zur Schöpfung aus genau sieben Wörtern be- der Schöpfungsgeschichte beschäftigen. Sie füh- nämlich gar keine Auslegung. Schließlich ver- steht. Diese verweisen geradezu programmatisch ren uns eindrucksvoll vor Augen, wie die Bibel als sucht sie gar nicht erst, den biblischen Text als sol- auf das insgesamt sechstägige Schöpfungswerk Literatur verstanden wurde und welche Bedeu- chen zu erklären, sondern »friert« ihren Inhalt und den daran sich anschließenden Ruhetag. Im tung sie als solche auch für heutige Leser haben ein. Deshalb gehen wichtige Fragen wie »Was be- Mittelalter lasen Juden den Schöpfungsbericht kann. deutet das?« oder »Was will ein Text uns lehren?« interessanterweise gar nicht als Bericht über die unter. Aber im jüdischen Denken stehen gerade Weltschöpfung an sich, sondern betrachteten ihn GELTUNGSANSPRUCH Beim Lesen biblischer diese im Mittelpunkt. Denn die Juden sind nicht allein unter dem Blickwinkel dessen, was dieser Texte in der Gegenwart werden zwei Aspekte ger- einfach nur das »Volk des Buches«, sondern in Text mit ihnen als jüdischen Lesern zu tun habe. ne vermischt: die Frage nach dem Geltungsan- erster Line auch das »Volk der (rabbinischen) Und das beginnt schon mit der Frage, wieso er spruch eines Textes und die nach seiner Bedeu- Buch- und Schriftauslegung«. überhaupt in der Bibel steht. Denn eigentlich be- tung, also nach seinen Deutungsmöglichkeiten. Mit Blick auf die Diskussionen darüber, ob Gott unsere Welt in sechs Tagen von jeweils 24 Stun- den erschaffen hat oder nicht, herrscht heute ent- weder eine supranaturalistische Meinung vor, die jedoch deutlich weniger Anhänger hat als früher. Oder aber wir erleben eine Haltung, die eine eher Hanna Liss ist Inhaberin historisierende Zugangsweise zu den Schriften des Lehrstuhls für Bibel und offenbart. Sie basiert manchmal auf der vielleicht unbewussten Annahme, dass ein Text in der ei- Jüdische Bibelauslegung. nen oder anderen Weise mit einem oder mehre- ren realen Ereignissen korrelieren muss. Die Textreihenfolge korrespondiert also mit einer Ereignisreihenfolge, und zwar deshalb, weil wir meinen, dass dieser uns heilige Text auf jeden Fall eine Wahrheit enthalten muss! Und so wird Die Möglichkeit, dass der erste biblische Schöp- trifft die Schöpfung ja nicht nur das Volk Israel, aus der Reihenfolge der biblischen Abschnitte, fungsbericht auf etwas ganz anderes hinweisen sondern alle Menschen. So lesen wir bei Raschi wie wir sie heute in der Bibel finden, eine Reihen- möchte als lediglich auf den Tatbestand der Er- im Kommentar zu Gen 1,1: »Am Anfang: R. Yiz- folge der Ereignisse. Damit aber wird die eigentli- schaffung der Welt in nur sechs Tagen, sollte also chaq sagte: (Mit ›Am Anfang schuf ...‹) hätte die che Frage nach der Bedeutung unseres Textes zu- auf jeden Fall ernst genommen werden. Und wer Tora eigentlich nicht anfangen dürfen, sondern gunsten einer anderen Problemstellung zurück- sich mit der jüdischen Auslegungsgeschichte be- mit ›Dieser Monat sei euch der Anfang (der Mo- gedrängt, nämlich: »Wie war es, wie kann es schäftigt, wird kaum überrascht sein, dass die Auf- natszählung)‹ (Ex 12,2), denn dies ist das erste denn gewesen sein?« Eine solche Fragestellung fassung, der biblische Schöpfungsbericht sei in Gebot, das Israel (als einer Kultgemeinde) gege- bringt allerdings ein irritierendes Entweder-Oder erster Linie eine literarische Schöpfung, durchaus ben wurde (...). Was (also) ist der Grund, dass (der mit sich: Entweder muss eine Aussage der Bibel schon in der Antike und im Mittelalter formuliert Text mit) ›Im Anfang …‹ eröffnet? Die Kraft sei- geglaubt werden, oder – wie es immer wieder im wurde. Denn die Rabbinen und Schriftgelehrten ner Taten hat er seinem Volk kundgetan, ihnen Zusammenhang mit dem biblischen Schöpfungs- haben gleich beim ersten Satz und hier sogar das Erbe der Nationen zu geben (Ps 111,6): Wenn bericht diskutiert wird – man muss alles unter- schon beim ersten Wort und seinem ersten Buch- nämlich die Völker der Welt zu Israel sagen soll-
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