InforMationen zu Bertolt BrecHt - DREIGROSCHENHEFT
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Dreigroschenheft Informationen zu Bertolt Brecht 27. Jahrgang Heft 4/2020 Neues zu Brechts früher Freundin Maria Rosa Amann: Englisches Institut, Katholischer Gesellenverein Valentin Schettler über den Film „Parasite“ Jan Knopf über Baden-Baden 1929 (Teil 2)
BR E CHT Das gesamte Programm jetzt unter www.buchhandlung-am-obstmarkt.de Brechtshop in der KIGG Obstmarkt 11 86152 Augsburg Telefon 0821-518804 Fax 0821-39136 post@buchhandlung-am-obstmarkt.de www.buchhandlung-am-obstmarkt.de
Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 an Rosa 1916. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Impressum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Rosa als realer Bezug in Texten Brechts . . . . 25 Der Präses Ignaz Steinhart – ein Anstoß Theater für Brechts Satire auf den Katholischen Gesellenverein (Kolping). . . . . . . . . . . . 26 Bertolt Brecht-Inszenierungen in der Spielzeit 2020/21. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Michael Friedrichs Zusammenstellung: Franziska vom Heede, Suhrkamp Verlag Brecht und Musik „In Baden-Baden war es sehr beschissen.“ . . 28 Der Augsburger Jan Knopf Karl Amann und Familie. . . . . . . . . . . . . 4 Michael Friedrichs Film Rosa Amanns Schule: Das Englische Institut Der Regen fließt nicht nach aufwärts . . . . . 42 und seine Oberin Gertraud Neher Über Brechts Rückkehr ins zeitgenössische Kino im (1847–1921) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Film Parasite von Bong Joon-Ho M. Clementine Nagel CJ Valentin Nikolaus Schettler Mitschülerinnen von Rosa Amann im Englischen Institut . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Nachruf M. Clementine Nagel CJ Eric Bentley gestorben. . . . . . . . . . . . . . 45 Rosa erzählt, Gesprächspartner dokumentieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Rezensionen Auffällige Leerstellen Neuerscheinungen. . . . . . . . . . . . . . . . 54 Wie ein „Rosa Maria A.“ gewidmetes eigenhändiges Gedicht Brechts aus London Lyrik zurück nach Augsburg kam . . . . . . . . . . . 20 Helmut Gier „Schwarze Schande“ 1920: Eine rassistische Kampagne, ihr Abbild in der Augsburger Rosa schreibt Eugen. . . . . . . . . . . . . . . 22 Presse und Brechts Wahrnehmung. . . . . . . 46 Brecht schreibt über Rosa . . . . . . . . . . . . 23 Michael Friedrichs Brechts kaum verschlüsselte Botschaft Dreigroschenheft 4/2020
Editorial Impressum Maria Rosa Eigen, geb. Amann, wurde Dreigroschenheft erst spät von der Brechtforschung aufge- Informationen zu Bertolt Brecht spürt, und in der meistverbreiteten Ver- Gegründet 1994 öffentlichung (Frisch/Obermeier, „Brecht Herausgeber 1994-2009: Kurt Idrizovic in Augsburg“, Berlin: Aufbau 1975, viele www.dreigroschenheft.de weitere Auflagen) wurde ihr Nachname konsequent falsch geschrieben: mit nur Erscheint vierteljährlich zu Quartalsbeginn Einzelpreis: 7,50 € einem „n“. Sie wurde ein bisschen promi- Jahresabonnement: 30,- € nent, war aber wohl öffentlichkeitsscheuer als die fast gleichaltrige Paula („Bi“) Gross, Anschrift: geb. Banholzer, die Mutter von Brechts er- Wißner-Verlag GmbH & Co. KG stem Sohn. – Der aktuelle Schulwettbewerb Im Tal 12, 86179 Augsburg Telefon: 0821-25989-0 des Brechtkreises hat die Freundschaft zwi- www.wissner.com schenRosa und Brecht zum Thema. Die redaktion@dreigroschenheft.de Preisverleihung findet beim kommenden vertrieb@dreigroschenheft.de Brechtfestival statt. Und auf Anregung eines Lehrers hat der Brechtkreis zur Unterfütte- Bankverbindung: Wißner-Verlag GmbH & Co. KG Stadtsparkasse Augsburg rung dieses Wettbewerbs ROSA eine klei- Swift-Code: AUGSDE77 ne Sonderausstellung für das Augsburger IBAN: DE15 7205 0000 0000 0282 41 Brechthaus zusammengestellt. In Augsbur- ger Archiven fanden sich zahlreiche neue Redaktionsleitung: Michael Friedrichs (mf) Informationen. Und da das Interesse daran Wissenschaftlicher Beirat: Dirk Heißerer, Tom Kuhn, sicher über Augsburg hinausgeht, haben Joachim Lucchesi, Werner Wüthrich wir die Beziehung zwischen Rosa Amann und Brecht zum Schwerpunktthema dieses Autorinnen und Autoren in dieser Ausgabe: Michael Heftes gemacht. Friedrichs, Helmut Gier, M. Clementine Nagel CJ, Jan Knopf, Valentin Nikolaus Schettler, Franziska vom Heede Außerdem: Jan Knopf bringt Teil 2 seiner Titelbild: Der Augsburger Brechtkreis erinnerte mit einer vertieften Baden-Baden-Recherchen; Va- Rosenaktion Anfang Juni auf dem Augsburger Westfriedhof lentin Schettler analysiert Brecht-Einflüsse an Maria Rosa Amann (Foto: mf) in dem südkoreanischen Film Parasite; ein Beitrag nähert sich dem Thema Brecht und Druck: WirmachenDruck GmbH, Backnang Rassismus. – Die Rubrik „Neues in der Bi- ISSN: 0949-8028 bliothek des Bertolt-Brecht-Archivs“ haben wir auf Heft 2/2021 verschoben, denn es ist in den letzten Monaten nicht viel Neues er- Gefördert durch die schienen. Stadt Augsburg Lesen Sie wohl! ¶ Gefördert durch den Bert Brecht Kreis Michael Friedrichs Augsburg e.V. Dreigroschenheft 4/2020
Brecht-Inszenierungen in der Spielzeit 2020/21 Theater Zusammenstellung: Franziska vom Heede, Suhrkamp Verlag Nur Inland, mit Premierendatum, soweit vorhanden (Stand: 27.8.2020) V/WA =Verlängerung bzw. Wiederaufnahme aus vorherigen Spielzeiten Nicht bei Suhrkamp: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (Universal Edition), Happy End (Felix Bloch Erben), Sieben Todsünden (Schott Music), Der Jasager (Universal Edition). Coronabedingt gibt es diesmal keine Angaben zum Ausland. Vor einem Jahr wurden über 60 deutschsprachige Brecht-Inszenierungen angekündigt, diesmal 28, davon 10 Wiederaufnahmen. Die Dreigroschenoper bleibt eine sichere Bank.¶ Titel Ort Theater Premiere MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER Düsseldorf Düsseldorfer Schauspielhaus 08.10.2020 MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER Hof Theater Hof 10.10.2020 MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER Mainz Staatstheater Mainz GmbH 26.02.2021 MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER Dresden Staatsschauspiel Dresden V/WA LEBEN DES GALILEI Achern Theater Achern / Gastspiel der Brechtfestival-Prod. 2015 12.11.2020 LEBEN DES GALILEI Düsseldorf Neue Schauspiel GmbH/Düsseldorfer Schauspielhaus V/WA IM DICKICHT DER STÄDTE München Münchner Kammerspiele V/WA HERR PUNTILA UND SEIN KNECHT MATTI Rostock Volkstheater Rostock 17.10.2020 DIE RUNDKÖPFE UND DIE SPITZKÖPFE Frankfurt Städtische Bühnen Frankfurt /Junges Schauspiel Frankfurt 30.10.2020 DIE DREIGROSCHENOPER Bamberg Theater im Gärtnerviertel 25.02.2021 DIE DREIGROSCHENOPER Berlin Berliner Ensemble 29.01.2021 DIE DREIGROSCHENOPER Dresden Staatsoperette Dresden V/WA DIE DREIGROSCHENOPER (konzertante Aufführung) Düsseldorf Düsseldorfer Schauspielhaus 19.09.2020 DIE DREIGROSCHENOPER Hamburg St. Pauli Theater 01.01.2021 DIE DREIGROSCHENOPER Hamburg Thalia Theater V/WA DIE DREIGROSCHENOPER Heidelberg Theater und Orchester Heidelberg V/WA DIE DREIGROSCHENOPER Meiningen Meininger Staatstheater 28.05.2021 DIE DREIGROSCHENOPER München Bayerische Theaterakademie August Everding 11.11.2020 DIE DREIGROSCHENOPER (konzertante Aufführung) Münster Theater Münster 08.11.2020 DIE DREIGROSCHENOPER Winterthur Theater Kanton Zürich 21.01.2021 DIE DREIGROSCHENOPER München Münchner Volkstheater V/WA DER KAUKASISCHE KREIDEKREIS Wilhelmshaven Landesbühne Niedersachsen Nord 23.01.2021 DER GUTE MENSCH VON SEZUAN Bonn Theater Bonn 28.05.2021 DER GUTE MENSCH VON SEZUAN Darmstadt Staatstheater Darmstadt 29.01.2021 DER GUTE MENSCH VON SEZUAN Leipzig Schauspiel Leipzig V/WA DER GUTE MENSCH VON SEZUAN Magdeburg Theater Magdeburg V/WA DER GUTE MENSCH VON SEZUAN Tübingen Landestheater Württemberg-Hohenzollern 26.09.2020 BAAL Wien Kulturzentrum Kabelwerk / WERK X Theater am Petersplatz V/WA Dreigroschenheft 4/2020
Karl Amann und Familie Der Augsburger Michael Friedrichs Karl Amann (*1867) heiratete 1895 in Dres- den (Emma Maria und Johanna), die dritte den Emma Naack (*1874). Das Ehepaar be- bereits in Augsburg, wohin die Familie 1899 kam drei Töchter: die ersten beiden in Dres- gezogen war. Am 15. September 1901 wur- Ein Blick auf die Straße Im Thäle, vom Hafnerberg aus fotografiert – Familie Amann wohnte im Haus links, nach damaliger Adressierung D 152/I (Foto: Archiv Schreyer). Unten ein Bild vom Kesselmarkt um 1900, wo Karl Amann sein Friseurgeschäft unterhielt, eine gute Adresse. (Foto: Stadtlexikon Augsburg, Wißner- Verlag). Der Kesselmarkt liegt gleich um die Ecke von Im Thäle. Dreigroschenheft 4/2020
Der Augsburger Links: Geburtsurkunde von Maria Rosa Amann; oben: Meldekarte der Familie Amann (beides aus dem Stadtarchiv Augsburg); unten: Karl Amann, „Damen-Friseur u. Perückenmacher“, im Einwohnerbuch Augsburg 1916 Das Englische Institut beschrieb das Pro- fil seiner „Mädchen-Mittelschule (8.–10. Schuljahr)“ in einem Prospekt von ca. 1915 folgendermaßen: „Der Besuch der Mittelschule empfiehlt sich de hier Maria Rosa geboren. Als Rufname namentlich für solche Mädchen, die sich ist „Rosa“ auf der Meldekarte unterstrichen, dem Handelsfach widmen wollen oder deren nicht aber in der Geburtsurkunde. Wirksamkeit voraussichtlich auf den häus- lichen Kreis beschränkt bleibt. Der Lehrplan In welche Volksschule Rosa ging, ist nicht ist so eingerichtet, daß der Unterricht ein ge- bekannt; nach heutiger Sprengeleinteilung diegenes allgemeines Wissen vermittelt. wäre es die St. Anna-Schule gegenüber der Lehrgegenstände. Staats- und Stadtbibliothek. Zehnjährig a) Pflichtfächer: Religionslehre, Deutsche wechselte sie zunächst 1911 auf die Ma- Sprache, Rechnen mit Buchführung, Erdkun- ria-Theresia-Schule (damals „Städtische de, Geschichte mit Bürgerkunde, Naturkunde, Höhere Mädchenschule“); auch ihre älte- Haushaltungskunde und Gesundheitslehre, ste Schwester ging dorthin. 1914 wechselte Handarbeit. Rosa für weitere drei Jahre auf das Englische b) Wahlfächer: Französisch, Zeichnen, Musik, Institut (heute Maria-Ward-Realschule) Turnen, Stenographie.“ (Quelle: Archiv des und schloss mit der Mittleren Reife ab. Instituts) ¶ Dreigroschenheft 4/2020
Rosa Amanns Schule: Das Englische Institut Der Augsburger und seine Oberin Gertraud Neher (1847–1921) M. Clementine Nagel CJ Die Bewahrung und Ausbreitung des Ka- Konkursprüfung als Schul-Expektantin ab tholischen Glaubens war erstes Ziel Mary und fand bei den „Englischen Fräulein“ als Wards und ihrer Gefährtinnen, die 1609 Kandidatin Aufnahme. 1866 wurde sie ein- wegen der schweren Katholikenverfolgung gekleidet und erhielt den Namen Gertraud. unter Königin Elisabeth I. aus England flo- Am 7.2.1871 bestand sie die Prüfung als hen und auf dem Festland als Gemeinschaft Deutschlehrerin mit Note „sehr gut“. der „Englischen Fräulein“ sich vor allem der Mädchenbildung annahmen. In der Ihr Ordensleben war geprägt von beispiel- Treue zu dieser Sendung entwickelte sich hafter Regeltreue, starkem Glaubensgeist das „Englische Institut“ (heute Congregatio und natürlicher Frömmigkeit. So nimmt Jesu) zu einer weltweiten Ordensgemein- es nicht Wunder, dass ihr 1892–1895 die schaft. All überall, wo sich ihre Mitglieder geistliche Formung der jungen Schwestern niederließen, gründeten sie Elementar- und als Novizenmeisterin anvertraut wurde, Höhere Schulen. In Augsburg begann die- dass sie 1895 die Berufung zur Oberin von sen Dienst 1662 Mary Poyntz mit weiteren Augsburg und seiner Filiale erhielt und ab fünf Gefährtinnen aus England. Hunderte 1911 als Generalassistentin die Leitung des von Schwestern gelobten seitdem, „für die gesamten Bayerischen Institutes mitverant- Jugend besondere Sorge zu tragen“. wortete. Kunstvoll gestaltete Glückwunsch- plakate zu ihren Jubiläen und ausführliche Stellvertretend für die vielen scheint es wohl Nekrologe rühmen dankbar die Verdienste angebracht, ein kurzes Lebensbild von Obe- dieser menschlich und geistlich tief veran- rin Gertraud Neher zu zeichnen. Sie war eine kerten Ordensfrau. herausragende Persönlichkeit und Leiterin verschiedenster Schulgattungen zur Zeit, da Darin und wohl auch in ihrem tempera- die von Bert Brecht verehrte Schülerin Rosa mentvollen Charakter und der konsequen- Amann 1914–1917 am Englischen Institut ten Hartnäckigkeit der Rieserin gründete die Mädchen-Mittelschule besuchte. das große Engagement um die Erziehung und Bildung der Jugend. Schwester Ger- Gertraud Neher war am 11. November traud wirkte von 1873 bis 1895 als Volks- 1847 geboren in Munzingen, einem Dorf schullehrerin in Augsburg und Schroben- inmitten des fruchtbaren Ries-Kessels hausen, gründete 1902 eine Höhere Töch- nahe des mittelalterlichen Kreis-Städtchens terschule in Krumbach und sandte 1911 Nördlingen. Sie wurde am Geburtstag im Erzieherinnen in das neuerbaute Städtische katholischen Ritus auf den Namen ihrer Waisenhaus in Weilheim. 1898 entstand Mutter Franziska getauft. Ihr Vater Michael durch ihre Initiative das große Schulhaus bewirtschaftete eine Ökonomie. Ihm wurde an der Windgasse, der heutigen Frauentor- noch eine zweite Tochter geboren. Die be- straße 26. gabte Franziska kam sechsjährig als externe Schülerin in die Volksschule der „Engli- Mit Scharfsinn und Weitblick leitete Frau schen Fräulein“ nach Augsburg, wo sie bei Oberin Gertraud 26 Jahre sämtliche Bil- einer Verwandten wohnte. 1865 legte sie dungseinrichtungen des Institutes in Augs- Dreigroschenheft 4/2020
Der Augsburger Diese Postkarte, von einer nicht näher bekannten Josephine an ihre Schwester in Günzburg verschickt, zeigt das 1898 erbaute Schulhaus des Englischen Instituts, in das die mit Brecht befreundete Rosa Amann 1914-17 ging. burg und wusste sich den Entwicklungen (1911–1934, vormals „Königlich-Bayeri- des Schulwesens mit Großzügigkeit anzu- sche Höhere Töchterschule“ 1811–1911) passen. mit ca. 300 Schülerinnen, – eine private zweikursige Frauenschule (1911–1934, die Als Rosa Amann am 16. September 1914 in auf das Erzieherinnen-Examen vorbereite- die private dreiklassige „Mädchen-Mittel- te,) mit ca. 12 Schülerinnen, – eine private schule“ eintrat, zählte diese 63 Schülerinnen. Kinderbewahranstalt (1890–1944) mit ca. (Diese Schulgattung bestand 1900–1940: 100 drei- bis sechsjährigen Knaben und als „Institutsschule“ 1900–1907, als „Mit- Mädchen. telschule“ 1907–1913, als „Mädchenmittel- schule“ 1913–1935, als „Haustöchterschule“ Der Oberin oblag es, geeignete Lehrerin- 1935–1940). Außerdem führten die „Engli- nen für die einzelnen Klassen und Fach- schen Fräulein“ die Volksschule (1662–1810 bereiche einzusetzen und den Schulbetrieb in privater, dann bis 1994 in staatlicher Trä- den Behörden gegenüber zu vertreten. Zur gerschaft) mit damals ca. 300–320 Schüle- Zeit des Schulbesuches von Rosa Amann rinnen, – die staatliche Fortbildungs- und waren neben den üblichen allgemeinbil- Sonntagsschule mit ca. 100 Schülerinnen, denden Fächern Französisch als Pflichtfach – eine private Lehrerinnenbildungsanstalt und Stenographie als Wahlfach zu belegen. (1777–1937) mit ca. 70 Besucherinnen und Den Religionsunterricht erteilte von 1912– dazugehöriger Seminarschule mit etwa 1924 Herr Geistlicher Rat Anton Schwab 50 Schülerinnen, – eine private sechsklassige (1857–1924), der auch als Benefiziat der „Höhere Mädchenschule mit Erziehungsin- Herz-Jesu-Kirche des Englischen Institutes stitut der Englischen Fräulein in Augsburg“ für die Gottesdienste von Schwestern und Dreigroschenheft 4/2020
beschädigt, aber nicht ausgebrannt ist. Eine Der Augsburger rote Marmorplatte zeugt heute noch vom mutigen Einsatz der Oberin: „Dieses Haus wurde erbaut / in den Kriegsjahren 1914/15 / unter der Oberin Gertraud Neher / nach Plänen d. Arch. Gebr. Rank Mchn. / durch d. Augsburger Baumeistr. Th. Greiner. / Ein stark Geschlecht erblüh´ in diesem Haus / zum Preis des Herrn, / des Vaterlandes Ruhm!“ Auf wissenschaftliche Aus- und Weiterbil- dung der Mitglieder und gute Unterrichts- mittel legte Frau Oberin großes Gewicht. Die Anschaffung von Projektionsapparaten, Mikroskopen etc. waren für die damalige Zeit eine Errungenschaft. Der erste Weltkrieg war ausgebrochen. Der Schulbetrieb ging nach Kräften weiter, die Not wuchs von Tag zu Tag. Die Essensratio- nen mussten vorgegeben werden. Wieder- um erwies sich Frau Oberin Gertraud als starke, fürsorgliche und umsichtige Frau. Sie erklärte sich beim Magistrat bereit, 50 arme Kinder von 3–6 Jahren tagsüber in Aufsicht zu nehmen, ebenso 25 Frauen, die für Geld dem Roten Kreuz Näharbeiten lie- Gertraud Neher (1847–1921) war die Oberin am Augs ferten. Dazu wurde ein Schulsaal mit 8 Näh- burger Englischen Institut, auf das Rosa Amann die maschinen bereitgestellt. Die Armen an der letzten drei Schuljahre bis zur Mittleren Reife ging. Pforte blieben nie ohne Trost und Hilfe. Täglich gingen Liebespakete ins Feld, Schü- lerinnen und Schwestern hielten Strickstun- Schülerinnen zuständig war. Ebenso wirkte den, Wärmestuben wurden eingerichtet. Je- der Seelsorger mit großem Eifer als Präses der Spar-Pfennig gehörte den Soldaten. Die an den von Gertraud Neher 1897 und 1911 Mädchen brachten ihre Schmucksachen gegründeten Marianischen Congregatio- und erhielten dafür eiserne Ringlein: „Gold nen der Höheren Mädchenschule und der gab ich für Eisen“. Der Turnsaal, zwei an- Lehrerinnenbildungsanstalt. grenzende Klassen und Musikzimmer wur- den als Genesungslazarett zur Verfügung Die rastlos vorwärtsdrängende Zeit stell- gestellt. Hier leisteten auch die ausziehen- te immer größere Anforderungen an Un- den Soldaten den Fahneneid. Hier spielten terricht und Unterrichtsräume. Diesen zu sich herzzerreißende Abschiedsszenen ab. genügen entstand anstelle der früheren Mit Gewalt mussten sich Soldaten von Frau Cottaschen Druckerei der sogenannte Gar- und Kindern losreißen. In dieser seelischen tenbau mit Physik-, Chemie- und Turnsaal. Not leisteten die Schwestern nach Kräften Es ist der einzige Bau, der in der Bomben- geistlichen Beistand. Ein Beispiel sei er- nacht des zweiten Weltkrieges 1944 zwar wähnt: Major von Pracher begab sich vor Dreigroschenheft 4/2020
dem Ausmarsch zu Frau Oberin Gertraud lich wurde die Weihe des ganzen Hauses an Der Augsburger Neher und bat sie knieend um den Segen das Göttliche Herz erneuert. In der Nacht mit den Worten: „Da ich keine Mutter mehr vom 26. auf 27. Dezember 1921 erkrankte habe, bitte ich Sie, mir an ihrer Stelle den Frau Oberin Gertraud plötzlich an Lun- Segen zu geben.“ genentzündung und Herzschwäche, so dass die Oberinnen der Filialen Krumbach und Das Volksschulhaus in St. Georg wurde Weilheim sowie eine Vertretung der Gene- als Lazarett eingerichtet. Vier Klassen ka- raloberin alsbald gerufen wurden. Gertraud men in die Frauentorschule. So führten die Neher empfing die Sterbesakramente in Volksschullehrerinnen, wie schon vor 1901, voller Ergebenheit in Gottes Willen, seg- die Mädchen der Dom- und Georgsklas- nete „ihr liebes Krumbach“, wünschte der sen zusammen. Eine neue Belastung, die in Filiale Weilheim ein „Wachsen und Blühen“ größter Selbstverständlichkeit angenom- und starb im Kreise ihrer Mitschwestern am men wurde. 30.12.1921. Sie wurde bis zur Aussegnung in ihrem Arbeitszimmer „schön, großartig, Im Angesicht des Krieges und des Schul- feierlich aufgebahrt“ und am 2. Januar 1922 Neubaus erklärten sich die Schwestern im Friedhof an der Hermanstraße „unter bereit, auf jegliche Weihnachtsgabe zu ver- einem noch nie dagewesenen Unwetter“ zichten. „Aber Frau Oberin ließ es sich nicht bestattet. nehmen, an jeden Platz im Speisesaal drei Äpfel und drei Lebkuchen zu legen, sogar Der Betrachter des Fotos von Gertraud ein Christbäumchen wurde aufgestellt.“ Neher in der damaligen Tracht der „Engli- schen Fräulein“ ist beeindruckt vom klaren Am 25.8.1917 nahm Gertraud Neher stell- Blick der Augen, von den bescheiden inein- vertretend für alle, die mit ihr Not und ander gelegten Händen, von der aufrechten Hilfsbereitschaft teilten, „das König-Lud- Haltung ihres Körpers. Eine tief innerlich wig-Kreuz für Heimatverdienste während verankerte und gleichzeitig der Umwelt zu- der Kriegszeit in ehrender und dankbarer gewandte Persönlichkeit steht heute noch Anerkennung“ von Seiner Majestät König vor uns. Ludwig III. entgegen. Augsburg im Juli 2020 Schmerzlicher aber als die stets zunehmen- den Entbehrungen war das Ende: Zusam- menbruch und angedrohte Plünderungen. Nach Quellen aus den erhaltenen Doku- „In einer Nacht dröhnte von der Straße her menten im AIA (Archiv Institut Augsburg): ein Johlen und Schreien. Als die Menge an Chronikbücher: Augsburg, Weilheim, Krum- unserem Haus vorbeizog, hörten wir rufen: bach; Totenbücher: Institut und Marianische ‚Da hinein!‘ Eine starke Stimme komman- Congregation; Personalakte: Taufzeugnis, dierte darauf: ‚Weiter!‘ Nachträglich erfuh- Prüfungszeugnisse, Ernennung zur Oberin, ren wir, das habe ein armer Mann gerufen, Glückwunschbriefe und -plakate; Zeitungsaus- der kurz vorher an der Pforte Almosen schnitte, ein Sterbebildchen; Bauakte 1914/15; erhalten habe und zum Dank unser Haus Zensurbücher der Schulgattungen. ¶ schützen wollte.“ Wie immer nahmen die Schwestern unter ihrer vielverdienten Oberin auch in der großen Not nach dem Ende des Krieges ihre Zuflucht zum heiligsten Herzen Jesu. Feier- Dreigroschenheft 4/2020
Mitschülerinnen von Rosa Amann im Englischen Institut Der Augsburger M. Clementine Nagel CJ 1. Name: Amann Rosa 2. Geburtsort und -zeit der Schülerin: Augsburg, 15.09.1901 3. Konfession der Schülerin: Katholisch 4. Stand der Eltern: Friseur 5. Wohnort der Eltern: Im Thäle D 152 / 1 6. Zeit des Eintritts in die Volksschule: 04.09.1907 7. Zeit des Eintritts in die Mädchen-Mittelschule: 16.09.1914 Bemerkung: In der Höheren Schule, unmittelbar nach der Volksschule, begann die Klassenzählung von neuem. Familienname Vorname Kl. 1 Kl. 2 Kl.3 Wohnort d. Eltern Bemerkung 1914/15 1915/16 1916/17 Augsburg, bzw. Amann Rosa x x x Boser Emma x --- --- Geislingen Dauber Maria x x x Trat an Weih- Demmeler Franziska --- --- x Kloster Lechfeld nachten aus Eberle Anna x --- --- Ebner Siglinde x --- --- Foppen Gertrud x --- --- Pfersee Galitz Margareta x --- --- Gebler Maria x x x Gutzer Hedwig x --- --- Hirschvogl Therese x x x Huber Frieda x --- --- Hummel Alphonsa x --- --- Joas Theresa x --- --- Keck Anna x --- --- Keck Berta x x x Lindemann Josephine x x x Meitinger Rosa x x x Großaitingen Michl Anna x --- --- Mozet Maria x x x Mittelneufnach Müller Rosa x x x Rieder Theresia x x --- Untermeitingen Ritter Emilie x --- --- Rucker Hermine x --- --- Aichach † 17. März 1915 Schwarz Franziska x --- --- Augsburg 2x gleicher Schwarz Franziska x x x Zusmarshausen Name x x --- Rieder bei Markt Singer Maria Oberdorf Steigenberger Maria x x x Tonutti Mathilde --- x x Trauner Anna x --- --- Wagle Anna x x x 29 15 14 10 Dreigroschenheft 4/2020
Der Augsburger Welche Volksschule Rosa Amann besuchte, konnten wir nicht ermitteln; anschließend ging sie zunächst in den Jahren 1911–14 auf die „Städtische Höhere Mädchen- schule“, die ab 1914 „Städtische Maria Theresia-Schule“ hieß (siehe Foto rechts). Dort war sie, obgleich fast gleichalt wie Paula Banholzer, eine Klasse über ihr. Warum Rosa Amann 1914 auf das Englische Institut wechselte, ist nicht bekannt. Dort erhielt sie 1917 das obige Zeugnis. (mf) Dreigroschenheft 4/2020 11
Rosa erzählt, Gesprächspartner dokumentieren Der Augsburger Thema Frisch 1966 Högel 1968 Theater Eisdiele Im Frühsommer 1916 wurde mir in einer klei- Im Frühjahr 1915 wurde mir in einer kleinen nen Eisdiele Eugen Brecht vorgestellt. Ich war Eisdiele Bert Brecht vorgestellt. Vom ersten vom ersten Augenblick an beeindruckt von den Augenblick an war ich beeindruckt von den gu- ausgezeichneten Manieren des Gymnasiasten, ten Manieren des RA-Studenten, dessen große von seinen Kulleraugen, die heimlich nach mir Kulleraugen heimlich nach mir schielten. Ich schielten. Davon hatten jedoch die Mitschü- glaube, die mit am Tisch sitzenden Schülerinnen lerinnen, die an meinem Tisch saßen, nichts hatten nichts gemerkt. Wenig später steckte BB bemerkt. Und tatsächlich steckte er mir noch zur mir ein Brieflein zu, in welchem er mein langes gleichen Stunde einen Zettel zu, auf dem er mir schwarzes Haar bewunderte. ein Kompliment über mein langes Haar machte und mich eindringlich um ein Rendezvous bat. Abholen am Wir sahen uns hernach wie zufällig einige Male. Er bestand darauf, daß ich mich mit ihm treffe Nach den Ferien holte mich Brecht täglich vom Von da ab holte mich Bert alle Tage vom Eng- Englischen Englischen Institut ab, der höheren Mädchen- lischen Institut ab. Institut schule. Ärger deswegen Man hatte uns natürlich bemerkt, dadurch be- Am anderen Morgen machten mir dann die kam ich oft Vorhaltungen von den Schwestern. Schwestern Vorhaltungen. Man duldete einfach Sie duldeten es nicht, daß eine ihrer Schüle- nicht, daß eine Schülerin von einem jungen rinnen von einem jungen Mann so augenfällig Manne hofiert wird. Auch zu Hause gab es hofiert wurde. Auch mit meinen Eltern gab es Schwierigkeiten. Schwierigkeiten. 12 Dreigroschenheft 4/2020
Der Augsburger Breloer 1977 (Film) Grieser 1978 Tetzlaff 1978 (Film) Rosa: Er hat mich im Theater gesehen. Mein Gott, wie gleichgültig das auf Da war immer von den Studenten und einmal alles ist: ob die erste Begegnung von den Schülerinnen waren immer in der Eisdiele stattgefunden hat, auf Theaterstücke, und mir, meine Schule der Stehgalerie des Theaters oder auf war im Englischen Institut. Mir waren dem Heimweg von der Klavierstunde. unten, und er war immer oben, in der Marie A., der Metastasen ihrer Phanta- Stehgalerie. Ich glaub er hat jedes The- sie schon seit langem nicht mehr Herr aterstück besucht. Und da hat er mich werdend, bietet im Verlauf unserer dann gesehen. Da hab ich noch lange Sitzung sämtliche drei Varianten an Zöpfe getragen. Und so bin ich … bin ich – einmal die, dann wieder die. in mein Klavierstund gangen und sein Freund hat mir en Brief überreicht. Und da war dann drin, dass er mich immer beobachtet, und er will mich emal ansprechen. Ich hab kei Ahnung gehabt, wie der Student aussieht, ne. Und eines schönen Tages hat er mich empfangen auf der Straße und hat sich vorgestellt. Und dann hat er mich immer von der Schule abgeholt. Mit ihrem Prachtexemplar von Zopf kann es keine ihres Jahrgangs aufneh- men – ihm gilt, als Eugen der Fünf- zehnjährigen in der Eisdiele ein erstes Brieflein zusteckt, seine ganze Bewun- derung. Ihr wunderschönes langes schwarzes Haar – in Versform natürlich. Autor: Wie war das denn damals, wenn Der gewünschte Kontakt kommt zustan- Ich wäre von der Schule sozusagen ein junges Mädchen immer von der de: Eugen „geht“ mit der Marie Rose, nausg’schmissen worden, weil er mich Schule abgeholt wurde? (Einblendung: bald holt er sie Tag für Tag von der immer abg’holt hat. Von der Schule. Foto von Maria-Theresia-Gymnasium) Schule ab. Rosa: Es war peinlich. Und dann hat’s geheißen: Wenn man Doch die Sache fällt auf, es folgen Und dann hat man mich mal kommen mich noch einmal mit ihm sieht, werd Zurechtweisungen, Ermahnungen. lassen: Und wenn man mich noch ich geschmissen. Und ich geh raus aus einmal mit ihm sieht, dann werd ich der Schul und er steht wieder da und nausg’worfen. Ja ich war im Englischen dann hab ich’s ihm g‘sagt, und dann hat Institut. Und die Kloschterfrauen haben er mich noch auf der Straß g‘streichelt das nicht geduldet. Und dann bin ich und hat gesagt: Geh schön heim, das raus, und da steht er wieder vorm Tor. geht in Ordnung. Dann hab ich ihm g’sagt, man darf mich nicht mehr sehn mit ihm, und dann hat er mich noch g’streichelt und hat g’sagt, geh nur ruhig heim, es wird alles in Ord- nung gebracht. Und dann ist er – i hab dann nimmer umg’schaut, bin schnell heim. Hab Angscht g’habt (lacht).. Dreigroschenheft 4/2020 13
Der Augsburger Thema Frisch 1966 Högel 1968 Präses / Oberin, Schließlich wurde ich wegen meines Verehrers Wegen meines Verehrers wurde ich eines Tages zum Präses Steinhardt ins Gesellenhaus in der zum Präses ins Gesellenhaus bestellt. Daraufhin Heiratsabsicht Frauentorstraße bestellt. Am darauffolgenden suchte Brecht den Geistlichen auf, um ihm zu Tag sprach Brecht bei dem Geistlichen vor. erklären, daß er Heiratsabsichten habe. Die Köchin wollte Brecht anmelden. Aber das war nicht nötig. Brecht betrat direkt hinter der Köchin das Zimmer des Präses. Eugen erklärte, daß es ihm Ernst sei mit mir, er wolle mich heiraten. Worauf der Präses erklärte, wenn sich das so verhalte, dann habe er persönlich nichts dagegen. Ihre Eltern Das einzige bekannte Foto der jugend- lichen Rosa Amann Ständchen 14 Dreigroschenheft 4/2020
Der Augsburger Breloer 1977 (Film) Grieser 1978 Tetzlaff 1978 (Film) Und dann am nächsten Tag hat man Brecht stellt sich dem Präses und er- Und dann ist er aber in d’Schul und mich wieder holen lassen, zur Oberin, wirkt Gnade, indem er ernste Absichten hat mit der Oberin gesprochen. Und und dann hat’s … hab i mir gedacht, äußert. hat g’sagt, dass er mich grad getroffen jetzt hat man mich wieder gesehen, hat und ich hab ihm das gesagt, und jetzt werd ich geschmissen, ne. Und voll er möcht bitten, keinen Hemmschuh Angst bin ich dann hin (lacht) … dann zwischen uns zu werfen, er will mich hat … der Herr Präses war dabei, dann später heiraten hat er gesagt, „Du bisch e ganz dummes Mädel. Warum hast du nicht gesagt, dass ihr mal später heiraten wollt. Das ist was ganz anderes, hat er gesagt. Aber sag, er soll dich am Eck abholen, und nicht immer vor der Schule. Wenn man’s dir erlaubt, muss man’s andern auch erlauben.“ Autor: Wie kam der denn dazu, zu sagen, dass der Brecht Sie heiraten wollte? Rosa: Das hat er auch zu mir immer gesagt. Autor: Woher wusste der Präses das? Was war passiert? Rosa: Ja, von der Oberin, ne. Autor: War der Brecht hingegangen und hat das geregelt? Rosa: Ja. Mich hat er dann heimge- schickt und er ist zur Oberin und hat das g‘sagt. Man darf keinen Hemm- schuh zwischen uns beide legen, er will mich später heiraten. Autor: Waren Ihre Eltern damit einver- standen? Rosa: Oh nein. Ich hab manche Ohrfeige kriegt (lacht). Autor: Wegen Brecht? Rosa: Ja. Rosa Amann, verh. Eigen, im Film von Autor: Was hat er denn dazu gesagt? Heinrich Breloer 1977 Rosa: Ja – nix. Es ist ihm peinlich, hat er immer gesagt. Also wir haben gewohnt Im Thäle, und Autor: Was spielt es für mich ein Rolle, oben ist der Hafnerberg, und da sind sie ob er ihr vorm Elternhaus im Tälche immer an der Mauer gestanden, gell, seine Ständchen dargebracht hat oder und haben mir immer e Ständle gespie- vorm Institut der Englischen Fräulein, … lt. Und wenn die angefangen ham, ist mein Vater aufgestanden und hat mir eine Ohrfeige geben. Das kann ich nie vergessen (lacht herzlich). Autor: Für das Ständchen? Rosa: Ja. Autor: Und hat der Brecht dazu ge- sungen? Rosa: Nein, der hat Gitarr gespielt. Mm. Es war e ganz nette Clique, die Freunde. Dreigroschenheft 4/2020 15
Der Augsburger Thema Frisch 1966 Högel 1968 Erster Kuss In der Nähe der Kahnfahrt, am Stadtgraben, In der Nähe der Kahnfahrt gab mir Brecht erhielt ich damals von Eugen ganz plötzlich plötzlich einen Kuß. Ich stieß ihn erschrocken meinen ersten Kuß. Ich war darüber derart zurück, denn ich hatte entsetzliche Angst, daß erschrocken und verstört, daß ich Brecht zu- ein Kuß Folgen haben könnte. So dumm waren rückstieß. Entschuldigend sagte ich dann, es sei wir Mädel damals. Da sagte der vier Jahre ältere Angst gewesen, weil ich nicht genau wüßte, ob Brecht: ‚Mein Kind, du mußt zu deiner Mutter ein Kuß Folgen haben würde. Da sagte Brecht: gehen und dich aufklären lassen. Mir kommt ,Mein liebes Kind, du mußt zu deiner Mutter dies nicht zu.‘ gehen und dich aufklären lassen. Mir kommt das nicht zu.‘ Gerüchte über In Schülerkreisen wurden damals über Brecht unmögliche Dinge verbreitet. So sollte er die Brecht Bibel und den Katechismus verbrannt haben. Ich habe darüber mit ihm nicht gesprochen. Brechts Später besuchte ich Brecht einige Male in seiner Einige Male besuchte ich ihn in seiner Mansar- Mansarde, die mir wegen ihres Boheme-Charak- de, die einen bohèmen Eindruck machte. Mansarde ters noch in Erinnerung ist. 1 Hut, 7 Kinder Einmal sagte mir Brecht, er werde mir später Nach Brechts Vorstellungen sollte ich jedes Jahr nur noch einen Hut jährlich genehmigen, mich nur einen Hut bekommen, aber im Laufe der dafür aber im Laufe der Zeit mit sieben Kindern Zeit sieben Kinder. überraschen. Brechts Mutter Eugens Mutter mochte ich sehr, sie schenkte mir Berts Mutter mochte mich sehr, sie schenkte sofort ihr Vertrauen. Manchmal las ich ihr aus mir sogleich ihr Vertrauen. Während die Frau in einem Buch vor. einem Rollstuhl im Garten saß, las ich ihr öfters aus einem Buch vor. Poesiealbum Marie Rose hatte ein Album, in das Brecht einige Mit Stolz kommt Frau N. auf ihr Poesiealbum Verse schrieb. zu sprechen, in das BB einige seiner herbsüßen Verse schrieb. Brechts Briefe Das Album und einige Briefe an sie sind während Zur damaligen Zeit hatte er in die schöne Augs- der Luftangriffe auf Augsburg im zweiten Welt- burgerin mehrere Briefe gerichtet, die während krieg verbrannt. des Krieges verbrannten. 16 Dreigroschenheft 4/2020
Der Augsburger Breloer 1977 (Film) Grieser 1978 Tetzlaff 1978 (Film) Rosa: Beim ersten Kuss bin ich aufn Autor: Mir kann es gleich sein, ob die Und beim erschten Kuss, bin ich nunter Boden. Und dann ist er mir nach und Marie beim ersten Kuß ihren Eugen nur bis zum Boden, und er mir nach. Und hat mir den Kuss gegeben. Und dann verstört von sich stieß oder aber wahr- dann hat er mir dann den erschten Kuss hab ich geweint. Und dann hat er haftig zu Boden ging, ob eine Ohnmacht geben. Und dann hab ich geweint. Und gesagt: Warum weinscht du jetzt? Dann daran Schuld war oder die dumpfe dann hat er mich g’streichelt und hat hab i gesagt: So, jetzt krieg i a Kind. So Angst, ein Kind zu kriegen; gesagt, warum weinscht du jetzt. Dann blöd war ich damals (lacht). Und dann hab i g’sagt, so, jetzt krieg i a Kind. So hat er gesagt: Von einem Kuss kriegscht bleed war i damals (lacht und blickt du kein Kind. Aber von was du ein Kind nach rechts zu einer Person, die nicht kriegst, steht mir nicht zu dir zu erklä- im Bild ist). Und dann hat er g’sagt: Von ren, da frägst du deine Mutter. Das hat einem Kuss kriegscht du kein Kind. Aber er gesagt. von was du ein Kind kriegscht, steht mir nicht zu, dir zu erklären, da frägscht du deine Mutter. „Eines sag ich dir gleich - von mir kriegst Und dann hat er g’sagt, wenn wir ver- du nur einen Hut, doch dafür sieben heiratet sind, kriegscht du im Jahr nur Kinder!“ einen Hut, aber sieben Kinder. Autor: … die Vorleserei bei der kranken Brecht-Mutter, … Beim Heimweg zur Schule (Einblendung Autor: … ob die Brecht-Verse in ihrem eines Brecht-Fotos) ham mir uns getrof- Poesiealbum der Zensur der Schul- fen und dann gab er mir mein Poesie- schwestern zum Opfer gefallen sind Album zurück. Und wo ich dann in der oder den Bombenangriffen des Zweiten Pause oder nach der Pause reinschauen Weltkriegs? … Die Heimlichtuerei im wollte – hat man mir’s rausgerissen, strengen Elternhaus, die Taschengeld- das Blatt. So streng war man in der bettelei beim Dienstmädchen, die Kahn- Schul. Das hat jemand gesehen, und partien und die Schiffschaukelnachmit- während der Pause – und weiß net, tage und schließlich das abrupte Ende: wer’s gemacht hat. Ich weiß heut noch weil.er ihr auf einmal so „unheimlich nicht, was er neigeschrieben hat, ne. Ja wurde“, weil er auf einmal „etwas (nickt), so streng war es damals. wollte, was ich ihm nicht geben konnte“ – ist es wirklich so wichtig, zu wissen, wo die „nackten Fakten“ aufhören und wo die Legende beginnt? Und emal hab ich zu ihm g’sagt: Schreib mir doch mal an gscheiten Brief, net alles so in Gedichtform. Amol an gscheiten Brief (lacht herzlich). Dreigroschenheft 4/2020 17
Der Augsburger Thema Frisch 1966 Högel 1968 Paula Banholzer Osterunruhen Wir waren noch immer freundschaftlich verbun- den, er war mir jederzeit behilflich. So war er 1919 mir gefällig, als ich anläßlich der Aprilunruhen 1919 in Augsburg zu meinen Verwandten au- ßerhalb der Stadt reisen wollte. Für Eisenbahn- fahrten war damals eine besondere Erlaubnis erforderlich. Bert konnte mir diesen Erlaubnis- schein binnen wenigen Stunden beschaffen, was sonst kaum möglich war. Auffällige Leerstellen Auffällig ist auch, dass das Thema Pau- Eine Durchsicht der fünf bekannten in- la Banholzer erst spät in ihrer Erzählung terviewartigen Texte über Rosa Amann auftaucht, aufgebracht nicht durch die In- ergibt den erstaunlichen Befund, dass völ- terviewer, sondern von Rosa selbst. Paula lig unklar bleibt (weil unerfragt), wann sie Banholzer war inzwischen zu einer gewis- das Gedicht „Erinnerung an die Marie A.“ sen Berühmheit geworden. Rosas Situati- erstmals zu Gesicht bekommen hat und wie on unterschied sich insofern, als ihr Mann ihre Reaktion war. Die Chronisten, als sie noch lebte – Paula Banholzer, verheiratete sie endlich aufgespürt haben, erwecken den Groß, war schon 1958 Witwe geworden. Im Eindruck, dass der Bezug zwischen Rosa Beisein des Gatten nach einer Liebesbezie- und dem Gedicht von jeher klar gewesen hung, die fünfzig Jahre zurückliegt, befragt sei. Sie fragen die mehr als Sechzigjährige zu werden, zwingt zur Diplomatie – so ist auch nicht, wie sie das Gedicht damals oder vielleicht die auffällige Diskrepanz zwi- später verstanden hat, sondern nach ihrer schen Rosas Erzählung und Brechts zeitge- Erinnerung an den „ersten Kuss“. nössischen Notizen zu erklären. Wir haben die Textpassagen zu den ange- Die Befragungen sind nicht unabhängig von sprochenen Themen zusammengestellt, einander entstanden. Werner Frisch dürf- damit nachverfolgt werden kann, wie die te sein Material vor der Veröffentlichung Erzählung der Zeitzeugin in eigener Sache Max Högel zur Verfügung gestellt haben sich über gut zehn Jahre entwickelt. – die beiden Texte ähneln sich auffallend. 18 Dreigroschenheft 4/2020
Der Augsburger Breloer 1977 (Film) Grieser 1978 Tetzlaff 1978 (Film) Rosa: Und dann simmer zweieinhalb Schon die Banholzer – auch sie lebt Und dann, mei Freundin war die Paula Jahr … war mer befreundet, gell, und in Augsburg. Wie anders ist da alles! Banholzer, die Bi. Die war mei Freundin. nach zweieinhalb Jahr isch mir’s halt Marie A. hatte sie einst zur Freundin Und die hat g’sagt, du bist so wegwer- e bissle unheimlich worden. Wenn er – dann, als Brecht von dieser zu jener fend mit ihm, du verscherzsch dir dein mich in den Arm genommen hat, und wechselte, war es damit aus. Sie redet ganzes Glück. Und dann hab ich gesagt, dann war er halt so komisch und da nicht gern von der Rivalin – und wenn, ja Paula, willsch ihn net du? (lacht) Ich hab i Angst kriegt (lacht herzlich). Und dann nicht ohne Strenge. hab Angst vor ihm. Dann hat sie gesagt, dann hat mei Freundin gesagt, du bisch wenn er mich megen tät, sofort. Und komisch zum Brecht. Du verschertsch ich hab Schluss g’macht und sie hat halt dir dein ganzes Glück. Und dann hab ich keine Angscht vor ihm g’habt, gell, und zu ihr gesagt: Ja Paula, möchtsch‘n net hat dann einen Sohn bekommen. Und du? Das ist die Bi. des wär mir passiert. Sprecher: Die kannte er ja auch schon damals. Rosa: Ja das war ja mei Freundin. Und dann … hab ich Schluss gemacht, und die haben sich dann angefreundet. Und dann hat sie halt e Kind kriegt, und das wär mir passiert, ne (lacht). Und da hab i halt Angst gehabt. Die Publikation des Standardwerks von Högel 1968: Max Högel, „Augsburg und Bert Frisch/Obermeier 1975 und die gründliche Brecht: Geschichte einer Heimkehr“, Augs- Zeitzeugen-Doikumentation durch Breloer burger Allgemeine, 10. Februar 1968, S. VIII. 1977 haben dann Grieser und Tetzlaff zu ei- genen Arbeiten veranlasst, mit denen sie das Breloer 1977: Heinrich Breloer (Regie), Film veröffentlichte Bild von Rosa Amann wohl „Bi und Bidi in Augsburg“ (Ausschnitt), als in ihrem Sinne zurechtrücken wollten. DVD neu herausgebracht zusammen mit seinem Film Brecht (Special Edition) 2019. Die Filme enthalten Schnittstellen, die ge- druckten Texte sind redigiert. Es mag ei- Grieser 1978: Dietmar Grieser, „Erinnerung niges unter den Tisch gefallen sein. Aber an den Eugen B.: Die Muse von Augsburg“, ohne diese Interviews wäre fast nichts von in: Piroschka, Sorbas & Co: Schicksale der Rosa Amann erhalten geblieben. (mf) Weltliteratur, München-Wien: Langen-Mül- ler, 1978, S. 225-233. Quellen: Kurt Tetzlaff (Regie), Film „Die Pflaumen- Frisch 1966: Werner Frisch/K.W. Obermeier, bäume sind wohl abgehauen“, DEFA-Studio „Marie A.“, in: Brecht in Augsburg: Erinne- für Dokumentarfilme, 1978 (von der DEFA- rungen, Dokumente, Fotos. Berlin: Aufbau, Stiftung freundlicherweise als digitalisierte 1975. Benutzte Auflage: 1997, S. 114-117. Kopie zur Verfügung gestellt). ¶ Dreigroschenheft 4/2020 19
Wie ein „Rosa Maria A.“ gewidmetes eigenhändiges Gedicht Der Augsburger Brechts aus London zurück nach Augsburg kam Helmut Gier Die spektakulärste Auktion, an der ich in meiner gesam ten Amtszeit als Direktor der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg teilgenommen habe, fand am 18. November 1988 bei Sotheby‘s in London statt. Zahlreiche aufgereihte Fern- sehkameras signalisierten dabei das riesige mediale Interesse, als das Manuskript von Kafkas „Der Prozess“ zum Rekordpreis von 3,5 Millionen Mark für das Deutsche Literaturarchiv in Marbach ersteigert wurde. Bei dieser Auktion gelangte auch, wie schon auf dem Titel- blatt des Katalogs angepriesen wurde, „an important series of early poems by Bertolt Brecht“ unter den Hammer. Dabei handelte es sich um sechzehn Nummern mit poetischen Tex- ten von der Hand des jungen Brecht aus den Jahren 1916 bis 1920, was in der Tat herausra- gende Bedeutung besaß. Denn Briefe Brechts tauchen immer wieder einmal auf, Gedicht- manuskripte, noch dazu zum Teil unbekannte, sind hinge- gen von größter Seltenheit. Ich reiste also selbst nach London in der Hoffnung, auf den Auk- tionsverlauf reagieren und bei begrenzten finanziellen Mitteln einige der Autographen erwer- ben zu können. Da durch das sensationelle Angebot des Kaf- 20 Dreigroschenheft 4/2020
Der Augsburger Katalogabbildung: Aus dem Bestand der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg ka-Manuskripts aber ein Großteil der inter- tig als Widmungsempfängerin eines poe nationalen Händlerelite im Saal anwesend tischen Texts von ihm fassbar, während war und diese dann doch das eine oder an- diese Beziehung in dem berühmten Lie- dere Stück ersteigern wollte, wurden so gut besgedicht „Erinnerung an die Marie A.“ wie alle ausgerufenen Brecht-Autographen so deutlich nicht zum Ausdruck gebracht weit über dem Schätzpreis zugeschlagen, so wird. dass sich diese Hoffnung nicht erfüllte. Bleibt am Ende die Frage, aus welchem Be- Nach Rücksprache mit Brecht-Kennern sitz diese Handschrift wie auch die anderen und den Herausgebern der damals im Ent- stammen, denn es deutet alles darauf hin, stehen begriffenen großen kommentierten dass sie aus derselben Quelle kommen. Ausgabe und auch aus einem besonderen Auktionshäuser schweigen sich ja über Augsburger Interesse heraus stand an er- Vorbesitzer und Einlieferer aus. Der Zeit- ster Stelle der Wunschliste der zu erwer- raum 1916 bis 1920 und die an zwei Stel- benden Stücke das Gedicht „Bonnie Mac len genannten Freunde Brechts, die Brü- Sorel freite“, dessen Ankauf mir dann auch der Ludwig und Rudolf Prestel, lassen die wenigstens gelang. Denn dieses Gedicht Vermutung zu, dass die Manuskripte einst war einerseits völlig unbekannt und an- in ihrem Besitz waren. Ludwig Prestel, ein dererseits mit der handschriftlichen Wid- Klassenkamerad von Brechts Bruder Wal- mung „Meiner kleinen Rosa Maria A.“ ter, vertonte bekanntlich Gedichte und unmittelbar mit der Augsburger Jugend- Balladen des jungen Augsburger Dichters. zeit des großen Dichters verwoben. Mit Brecht könnte ihm die fast alle sangbaren diesem wahrscheinlich 1916 entstandenen poetischen Texte von seiner Hand einst eigenhändigen Gedicht wird Brechts frühe zum Komponieren gegeben haben. Aber Jugendliebe Maria Rosa Amann eindeu- das muss Spekulation bleiben. ¶ Dreigroschenheft 4/2020 21
Rosa schreibt Eugen Der Augsburger In einer Zeit, wo Jugendliche einer strengen elterlichen und schulischen Aufsicht unterworfen waren, war es nicht einfach, sich mit dem anderen Geschlecht zu verabreden. Ein er- probtes Mittel der Heimlichkeit waren zugesteckte Briefe, von denen offenbar Brecht und Rosa Amann häufiger Ge- brauch machten. So hat sich immerhin dieses eine Dokument aus der Hand von Rosa Amann erhalten, ein Brief an „Eugen“ mit liebevoll-schwungvoll ge- staltetem „E“ vom 30. Januar 1917, mit Einladung zum Rodeln in Stadtbergen („Straßenbahn nach Pfersee“), natür- lich gemeinsam mit ihren Freundinnen Berta und Anna. Der Brief wirkt fröhlich und selbstbe- wusst. So fragt sie ihn, warum er sich nicht mehr beim Eislaufen sehen lässt und warum er ihre Frage aus dem letz- ten Brief nicht beantwortet hat, wo sie ihm doch seine Frage auf der dritten Seite „in der Zifferschrift“ beantwortet habe. Ein Geheimcode war also auch in Gebrauch, man weiß ja nie. Und es wirkt, als könnte in dieser Phase ihrer Freundschaft ihr Interesse an ihm grö- ßer gewesen sein als umgekehrt. Sie unterzeichnet mit „Rosmarie“, Brecht verwendet diese Form ihres Namens mehrfach in seinen Briefen an Cas von Ende 1917. (mf) Quelle: Staats- und Stadtbibliothek Augs burg, BSX2 Amann. Stammt aus dem Nachlass von Walter Brecht. Vgl. Hilles heim/Parker, „Vier (fast) unbekannte Frauenbriefe an Bertolt Brecht“, German Life and Letters 4/2011. Deren Lesart „Berta und Anna Beck“ ist wohl irrig; das Klassenverzeichnis des Englischen Instituts listet die Schwestern Berta und Anna Keck. ¶ 22 Dreigroschenheft 4/2020
Brecht schreibt über Rosa Der Augsburger Von 1917 bis 1920 gibt es mehrere Erwäh- riges Gesichtchen verrate Schwindsucht. nungen der Rosa Amann in Briefen und No- Jetzt weiß ich, daß es ganz im Gegenteil tizen von Brecht (GBA Bd. 28 und 26.) eine viel gefährlichere Vermehrungssucht verbirgt. Es ist schade, daß ich so roh wer- (Brief an Cas, Anfangs September 1917, de. vom Tegernsee): Die Rosa hat mir geschrie- ben und die Marke schief draufgepappt. (Brief an Caspar Neher, Anfang April 1918): Ich tue nicht sehr viel. Entweder ist (weiterer Brief an Cas, im September 1917, Bittersüß da. Oder sie ist nicht da. Dann vom Tegernsee): Damit viele Küsse, o du warte ich auf sie. Jondelfahrt am Pfuhle mit wundervolle Rosa Maria, und Dir viele Lampions. Ob die Sache nie abflaut? Bete, Grüße, lieber Cas Par / von Deinem / lieben Kaspar Rudolf! Sonst zerfalle ich. Sieht die / Bert Brecht Rosa Maria nicht lieblich aus auf dem Foto- bildchen? Aber sie geht auf Verführung aus (Brief an Cas von München aus, 8. Nov. wie eine läufige Hündin. Sie lag einem im 1917): Jetzt aber eine Aufgabe! 1) Ich bitte Arm wie Schelatin (flüssig); sie floß in die dich um ein Kartönchen für die Rosmarie, Falten. Ex. Schade, daß ich sie nicht genom- Rosa Maria. men habe, als ich noch nicht daran dachte. Hättest Du? Auf einer Kinderbank in den (Brief an Cas von München aus, 18. De- Anlagen? „Ich liebe dich so! Rockhoch! zember 1917): Lieber Cas, […] Ich werde Bums-dich!“ Brrr! die Rosmarie nicht küssen, ein anderer küßt sie. Dieses kleine Ereignis bohrt in (Brief an Caspar Neher, 13. April 1918): mir herum, obwohl es gleichgültig ist in Übrigens habe ich Dir schon geschrieben. Anbetracht des Weltkrieges und wenn man Zweimal. Einmal mit einer Foto der kleinen das große und unerbittliche All der Erschei- Rosmarie. Hast Du das nicht gekriegt? nungen „ins Auge faßt“. [es folgen längere Ausführungen über Rosmarie] (Tagebuch 1920, Sonntag, 22. August 1920): Nachmittags ist Bi da, sie kocht Tee, den wir (Brief an Caspar Neher, Anf. Feb. 1918): im schönen Zimmer nehmen, auf der Chai- Tue doch alles, einen Urlaub herauszu- selongue, bequem vom Rauchtischchen. schinden! Jetzt bin ich immer daheim und Das ist sehr angenehm, Teetrinken ist ein mache vormittags Lieder für die Gitarre, seelenvoller Sport. Bi hat so hübsche, wei- die ich nachmittags niemand vorsingen ße Beine, die etwas Aufmerksamkeit unbe- kann. Paul Bittersüß ist freilich herrlich. dingt beanspruchen können. Sie ist gerade Das Eis geht nimmer. Jetzt muß ich wieder Hausfrau und muß ihren kleinen Bruder Eis essen anfangen. Leider hat die kleine erziehen. Wenn sie schimpft, dreht sie sich Rosmarie („Bumerang“ nenne ich sie neu- schnell um und läuft hinaus, weil sie lachen erdings) im Eisladen (ich warne dich vor muß. dem „Auf-den-Bauch-fallen“!) geäußert: Vorher bin ich mit der Rosmarie gespaziert, Im Geschlechtlichen würde sie es nicht so sie ist aufgegangen und verblüht, ich ver- genau nehmen! Es ist bitter, daß aus Kin- lasse sie ganz, Gott behüte sie! Sie ist noch dern Leute werden, aber es ist leider noch immer kindisch, infantil, lacht viel und auf bitterer, daß aus Leuten auch Kinder wer- bestürzende Art, ihr Lachen ist nicht weni- den können! Früher meinte ich, ihr fieb- ger beunruhigend als ein Blutbrechen. ¶ Dreigroschenheft 4/2020 23
Der Augsburger Brechts kaum verschlüsselte Botschaft an Rosa 1916 Das Manuskript „Bonnie Mac Sorel freite“, dann wird es zu spät sein. Das Gedicht ist wird auf 1916 datiert (GBA 13, S. 89f.; vgl. in der Form schottisch-irischer Balladen Artikel von Helmut Gier in dieser Ausga- geschrieben, aber selbst Stephen Parker hat be) und ist „Meiner kleinen Rosa Maria A.“ in seiner Brecht-Biografie kein eindeutiges gewidmet. Es könnte sich um einen Ent- Vorbild identifizieren können. wurf für das Gedicht handeln, das Brecht ihr nach ihrer Erzählung ins Poesiealbum Später schenkte Brecht mehreren Frauen schrieb (woraufhin die Seite sofort von un- eine Ausgabe von Paul Claudels „Der bekannter Hand herausgerissen wurde). Tausch“, woraus sie offenbar schließen Es könnte auch eines von den Gedichten sollten, er werde sich mit einer allein nicht sein, die er nach ihrer Aussage ihr öfter zufrieden geben. Ähnliches signalisiert er geschrieben hat; sie hätte sich stattdessen hier Rosa Amann. Jedoch ist ungewiss, ob einen „g’scheiten Brief “ gewünscht (Film sie den Text je lesen konnte, und wenn, ob Tetzlaff). sie die Botschaft verstanden hat. (mf) Das Gedicht enthält eine sehr eindeutige © Staats- und Stadtbibliothek, dokumentiert Botschaft: Eine Frau, die dem „Bonnie Mac in: Gier/Hillesheim (Hrsg.), Die Schätze der Sorel“ die kalte Schulter zeigt, wird es be- Brechtsammlung der Staats- und Stadtbiblio- reuen, wenn er eine andere heiratet, aber thek, Augsburg: Wißner, 2014. ¶ 24 Dreigroschenheft 4/2020
Der Augsburger Rosa als realer Bezug in Texten Brechts Brecht hat in literarischen Entwürfen über Möglichkeiten des Abbruchs, der da- mehrfach auf Rosa Amann angespielt. So mals unter hoher Strafe stand (§ 218 drohte notiert er 1919 im Notizbuch NB 2 ein Ge- bis zu 5 Jahre Zuchthaus an). In einer zu dicht „Die Sünder“, später, stark verändert, diesem Entwurf gehörenden Skizze mit unter dem Titel „Von den Sündern in der der Überschrift „Eier“ ordnet Brecht den Hölle“ in Bertolt Brechts Hauspostille (1927) Rollen im Stück reale Namen zu, als „Mo- aufgenommen. Das Gedicht schildert das delle“. (siehe Abb.) Auch hier konnten nicht voraussichtliche Schicksal einiger Personen alle Namen mit realen Personen verknüpft nach ihrem Ableben; nicht alle namentlich werden, aber der erste ist Paula Banholzer, Genannten sind bisher identifiziert. Auf ein weiterer Rosa Amann. Nur ein paar Seite 13v stehen neben anderen Strophen, Seiten weiter, also in zeitlicher Nähe, trägt die es auch nicht in die endgültige Fassung Brecht sein „Sentimentales Lied No. 1004“ geschafft haben, folgende Zeilen: ein, später berühmt unter dem Titel „Erin- nerung an die Marie A.“. ¶ Es kommt die schöne Rosa mit ihrem toten Kind die hatte ihre Reu ersäuft in Wasser und in Wind. Das kann als Hinweis gelten, dass Rosa Amann auch noch 1919 für Brecht eine Rolle spielte, zumindest in Gedanken. Anfang 1920 entwirft Brecht im Notiz- buch 3 ein Theaterstück mit dem Titel „Die Bälge“. Thema ist die drohende ungewollte Schwangerschaft: Junge Leute diskutieren © Bertolt-Brecht-Archiv NB 02 BBA 10438 13v 14r, vgl. Martin Kölbel/Peter Villwock (Hrsg.), Bertolt Brecht Notizbücher Bd. 1, Berlin 2012, S. 91—96 GBA 10, S. 143–149 © Bertolt-Brecht-Archiv NB 03 BBA 11087 26r Dreigroschenheft 4/2020 25
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