Jüdisches Leben in Deutschland - Annedore Lebers Beitrag zur Erinnerung

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Jüdisches Leben in Deutschland - Annedore Lebers Beitrag zur Erinnerung
Jüdisches Leben in Deutschland
Annedore Lebers Beitrag zur Erinnerung
Das aktuelle Jubiläumsjahr
„Jüdisches Leben in Deutsch-
land“ erinnert 2021 an 1 700
Jahre jüdische Geschichte in
Deutschland. Ein Edikt des
römischen Kaisers Konstantin
von 321, in dem die Kölner Ge-
meinde erwähnt wird, gilt als
ältester Beleg jüdischen Lebens
in Europa nördlich der Alpen.
Aus diesem Anlass stellt der
Arbeitskreis Lern- und Gedenk-
ort Annedore und Julius Leber
das Buch „Doch das Zeugnis
lebt fort. Der jüdische Beitrag zu
unserem Leben“ von 1965 vor.
In ihrer Publikation ging es
Annedore Leber zwanzig Jahre         Heinz Galinski, Vorsitzender der Jüdi-
                                     schen Gemeinde zu Berlin, vor dem
nach dem Holocaust um die An-        Haus in der Fasanenstraße, 1967
erkennung und Würdigung des          Foto: Bundesarchiv
prägenden Beitrags von jüdi-   Auschwitzprozess, der von
schen Deutschen zu Staat, Wirt-1963 bis 1965 dauerte, vorberei-
schaft, Gesellschaft und Kultur.
                               tet. Er fand großen Nachhall und
Von den früher rund 160 000    war der erste Schritt zur öffent-
Mitgliedern der Jüdischen      lichen Auseinandersetzung mit
Gemeinde Berlin lebten nach    der Vernichtung der europäi-
dem Zweiten Weltkrieg nur noch schen Juden.
8 000. 1959 wurde das Jüdische Annedore Leber würdigte mit
Gemeindehaus am Standort der ihrem Buch 1965 die vielfältigen
zerstörten Synagoge in der Fa- Beiträge jüdischen Lebens über
sanenstraße eingeweiht. Es war die Jahrhunderte. Sie tat dies
der erste Bau eines Gemeinde-  lange bevor es in Deutschland
hauses nach dem Holocaust in   Jüdische Museen und Gedenk-
Deutschland.                   orte gab, die uns heute in viel-
Trotz vieler Widerstände wur-        fältiger Weise erinnern und
de zur gleichen Zeit der erste       mahnen.
Jüdisches Leben in Deutschland - Annedore Lebers Beitrag zur Erinnerung
Die Verlegerin Annedore Leber
1904 – 1968
Annedore Rosenthal, 1904 in         Zeitschrift herauszugeben.
Berlin geboren, zieht mit ihrer     In den 1950er Jahren widmet
Familie 1918 nach Lübeck. 1922      sie ihn in einen Buchverlag um.
beginnt sie ein Jurastudium,        Seinen Sitz richtet sie in der
das sie jedoch abbricht, um den     Torgauer Straße in der Kohlen-
Beruf der Schneiderin zu erler-     handlung ihres Mannes ein,
nen. Sie heiratet 1927 Julius       die sie wiederaufbaut und bis zu
Leber, den SPD-Reichstags-          ihrem Tod betreibt.
abgeordneten aus Lübeck, und     Annedore Leber will mit ihren
tritt zu diesem Zeitpunkt auch inBüchern zu einer „demokra-
seine Partei ein. Zusammen ha-   tischen Bewusstseinsbildung“
ben sie zwei Kinder.             beitragen und erinnert in ihren
Nach der Verhaftung ihres        Publikationen an den gesell-
Mannes 1933 ernährt Annedore schaftlich noch nicht anerkann-
Leber die Familie und zieht 1935 ten Widerstand während des Na-
nach Berlin um. Dort kämpft sie tionalsozialismus. „Das Gewis-
mehrere Jahre um seine Frei-     sen steht auf“ und „Das Gewis-
heit. Nach der Entlassung Julius sen entscheidet“ sind ihre er-
Lebers aus dem Konzentrations- folgreichsten Bücher.
lager 1937 unterstützt sie mit
ihm zusammen den Widerstand.
Nach der erneuten Verhaftung
Julius Lebers am 5.7.1944 und
dem Attentat vom 20. Juli wird
sie von August bis September
1944 in Sippenhaft genommen.
Am 5.1.1945 wird Julius Leber
in Plötzensee ermordet.
Kurz nach Kriegsende beginnt
Annedore Leber ihre politische      Annedore Leber, 1960
Karriere und wird in die erste      Foto: Julius und Annedore Leber Archiv

Stadtverordnetenversammlung         In den 1960er Jahren trägt der
Berlins gewählt. Außerdem wird      Verlag ihren Namen und veröf-
sie Verlegerin und Mitherausge-     fentlicht politische Biografien,
berin der Berliner Tageszeitung     Kinder- und Jugendbücher, Be-
„Telegraf“. Sie gründet 1947        rufsbildungs-Informationen so-
den Mosaik-Verlag, um eine          wie pädagogische Literatur.
Jüdisches Leben in Deutschland - Annedore Lebers Beitrag zur Erinnerung
Doch das Zeugnis lebt fort
Der jüdische Beitrag zu unserem Leben
„Dieses Buch entstand in dem       Deutscher und das jüdische
Gedanken, dass Wahrheit und        Leben in Deutschland oft ver-
Gerechtigkeit von uns fordern,     gessen. Die historischen Bei-
den jüdischen Anteil an unse-      träge der gesellschaftlich dis-
rem Leben in Erinnerung zu         kriminierten Minderheit jüdi-
rufen und bewusst zu machen,       scher Bürger in vielen Lebens-
welche Werte dadurch unserem       bereichen sollen nun endlich
Volk, unserer Nation zuteil wur-   wieder wahrgenommen, aner-
den.“ (Annedore Leber)             kannt und gewürdigt werden.
                                   Annedore Leber gelingt es, für
                                   dieses Werk engagierte und
                                   namhafte Autorinnen und Auto-
                                   ren zu gewinnen. In ihren histo-
                                   rischen, aber auch essayisti-
                                   schen Darstellungen führen sie
                                   in die Themen im Sinne eines
                                   Überblicks ein. Den Hauptteil
                                   des Buches bilden ihre Einzel-
                                   darstellungen nach ausgewähl-
                                   ten sozialen, wissenschaftli-
                                   chen und kulturellen Bereichen,
                                   die sich auf das 19. und frühe
                                   20. Jahrhundert konzentrieren.
                                Franz Böhm, Wirtschaftsordina-
                                rius und wie Annedore Leber
                                engagiert in der Gesellschaft für
                                christlich-jüdische Zusammen-
1965 gibt Annedore Leber in     arbeit, setzt sich zu Anfang mit
ihrem Verlag wieder eine große  den humanitären Aspekten von
Publikation heraus. Sie fordert Antisemitismus und Verfolgung
damit einen anderen Blickwinkel auseinander.
in der öffentlichen Diskussion  Annedore Leber selbst gibt
und stellt sich mit ihren Auto- einen einleitenden Abriss der
rinnen und Autoren den Heraus- jüdischen Emanzipation und
forderungen der Zeit.           des langen Wegs zur formellen
Zwanzig Jahre nach Kriegsende      Gleichberechtigung der Juden
waren die Leistungen jüdischer     bis zum frühen 19. Jahrhundert.
Jüdisches Leben in Deutschland - Annedore Lebers Beitrag zur Erinnerung
Walter Bußmann, Professor am
Friedrich-Meinecke-Institut der
FU Berlin, fordert im Schluss-
wort den notwendigen gesell-
schaftlichen Diskurs vor dem
Hintergrund des schweren his-
torischen Erbes ein.
„In der Katastrophe von 1945
zerbrach die deutsche Einheit
im Sinne einer gewachsenen
Erfahrungsgemeinschaft, der
Umfang der Zerstörung wird
erst dann ganz verständlich,
wenn man den jüdischen Anteil
an dieser Erfahrungsgemein-
schaft voll würdigt und richtig
erkennt.“ (Walter Bußmann)
Die jüngste Vergangenheit wird     Die zeitgenössische Rezeption
kurz thematisiert, ist aber kein   bewertet das Buch als Fort-
Schwerpunkt des Bandes. Mit        schritt für die wichtige und
Wolfgang Scheffler hat Anne-       gebotene neue öffentliche Aus-
dore Leber für den Beitrag „Zum    einandersetzung: Seit einem
Schicksal der deutschen Juden      1934 erschienenen Buch von
1933-1945“ den damals aner-        Siegmund Kaznelson, „Die
kannten Forscher zu diesem         Juden im deutschen Kulturbe-
Thema gewonnen.                    reich“ (1934 verboten, Neuauf-
                                   lage 1959), habe es keine ver-
Die Journalistin Hilde Walter
                                   gleichbare Publikation gegeben.
steht ihr bei Konzeption und
Recherche für das Buch zur         Mit seiner überblicksartigen
Seite. Für die mühevolle Re-       Darstellung vieler Bereiche,
cherche der „biographischen        wenn auch „nur“ mit ausge-
Skizzen“ im umfangreichen An-      wählten Beispielen, ist die letzte
hang gewinnt sie junge Autorin-    große Veröffentlichung des Ver-
nen und Autoren, u. a. Katharina   lags Annedore Leber ein Grund-
Heinemann (geb. Leber), Hans       lagenwerk zur damaligen Zeit.
Bohrmann, Ingeborg Schütze         Die Herausgeberin tritt damit
und Friedrich Rau.                 bewusst Vorurteilen entgegen.
Jüdisches Leben in Deutschland - Annedore Lebers Beitrag zur Erinnerung
Staat, Recht und Politik
Buchbeitrag von Walter Bußmann (1914 – 1993)
Der Inhaber eines der renom-       der 1863 mit dem Allgemeinen
miertesten Lehrstühle für neu-     Deutschen Arbeiterverein einen
ere Geschichte in Deutschland,     Vorläufer der SPD gründet.
der Historiker Walter Bußmann,
übernimmt das Kapitel zu
„Staat, Recht und Politik“.
In seinem Beitrag zu Annedore
Lebers Buch beschreibt er den
Prozess der jüdischen Eman-
zipation und partiellen Assimi-
lation in Deutschland anhand
mehrerer konkreter Beispiele.
Er beginnt mit der Revolution
von 1848, als die Nationalver-
sammlung Eduard von Simson
zu ihrem Präsidenten wählt.
Unter seinem Vorsitz entsteht
die erste Reichsverfassung.
Beteiligt an der Gründung          Karl Marx, 1861
der bismarcktreuen National-       Foto: Karl-Marx-Haus, Trier

liberalen Partei, wird er 1879     In dieser Tradition setzt sich
Präsident des Reichsgerichts.      Eduard Bernstein nach 1918
Die wichtige Rolle von Juden in    für eine Wiedervereinigung
der Arbeiterbewegung erklärt       von SPD und USPD ein.
Bußmann damit, dass „eine          Bußmann erinnert auch an den
jahrhundertelang rechtlose Mi-     Staatsrechtler und Politiker
norität besonderes Interesse an    Hugo Preuß, einen Mitbegrün-
der politischen Befreiung der      der der Deutschen Demokra-
Arbeiterklasse haben musste“.      tischen Partei (DDP). Er arbeitet
Dabei denkt er natürlich an Karl   im Auftrag von Friedrich Ebert
Marx, den Begründer des wis-       einen Entwurf für die Weimarer
senschaftlichen Sozialismus,       Verfassung aus.
der aus seinem Londoner Exil       Dass Preuß Jude ist, nehmen
Einfluss auf die sozialistische    die Nationalsozialisten zum An-
Bewegung zu nehmen sucht.          lass, die Weimarer Republik als
Oder an Ferdinand Lassalle,        „undeutsch“ zu diskreditieren.
Jüdisches Leben in Deutschland - Annedore Lebers Beitrag zur Erinnerung
Gesellschaft und Wirtschaft
Buchbeitrag von Margarete von Eynern
Margarete von Eynern stellt mit      antisemitische Rechtsradikale
großer Sachkenntnis die Vielfalt     ermorden.
an unterschiedlichsten Unter-        Jüdische Unternehmer um
nehmern, Handwerkern und             1900 sind für den wirtschaftli-
Kaufleuten jüdischen Glaubens        chen Erfolg Deutschlands und
in der deutschen Wirtschaft dar.     die Modernisierung in allen
Jüdische Bürger dürfen seit          Lebensbereichen entscheidend
dem Mittelalter in Europa und        mitverantwortlich.
Deutschland viele Berufe nicht
ausüben. Sie leben daher von
Handwerk und Handel, oft am
Rande der Gesellschaft.
Von Zünften und Gilden aus-
geschlossen, können sie erst
unter den Bedingungen einer
liberaleren Wirtschaft und der
Gewerbefreiheit aktiv werden.
Antisemitische Vorurteile blei-      Kaufhaus Wertheim am Leipziger Platz
ben trotzdem nicht nur erhalten,     in Berlin, um 1900
                                     Foto: Wikimedia Commons
sondern werden in der Gesell-
schaft weiter verstärkt. Sie rich-   Wertheim, Kempinski oder Ro-
ten sich u. a. gegen wohlhaben-      senthal sind deshalb bis heute
de und erfolgreiche jüdische         bekannte Namen.
Bürger.                              Der Einbruch der Wirtschaft
Aber unabhängige wirtschaft-         durch den Ersten Weltkrieg trifft
liche Erfahrungen und Kennt-         auch viele jüdische Firmen.
nisse waren in der aufstreben-       Das antisemitische Bild des al-
den bürgerlichen Gesellschaft        les beherrschenden jüdischen
nach der französischen Revolu-       Unternehmertums aber bleibt
tion gefragt. Emil Rathenau,         erhalten und wird in der Weima-
Gründer der AEG, spezialisiert       rer Republik weiter verbreitet.
sich auf elektrische Haushalts-      Nach 1933 werden jüdische
geräte. Sein Sohn Walther            Bürger dann nicht nur systema-
Rathenau engagiert sich neben        tisch entrechtet, sondern auch
der Firma politisch und wird         zwangsweise enteignet. Viele
Außenminister, bis ihn 1922          Deutsche profitieren davon.
Denker, Forscher, Erfinder
Buchbeitrag von Hans Joachim Störig (1915 – 2012)
Mit Hans Joachim Störig gewinnt      Moses Mendelsohn und Martin
Annedore Leber einen lexikogra-      Buber maßgeblich beteiligt.
phischen Fachmann für Wissen-        Für die moderne Psychologie
schaft und Technik. In seinem        bedeutsam sind Sigmund Freud
Artikel konstatiert er, dass der     und Alfred Adler. Einen Beitrag
jüdische Beitrag in den Natur-       zur Physik leisten u. a. Heinrich
und Geisteswissenschaften nach       Hertz, Albert Einstein, James
1848 gemessen an der Bevölke-        Franck, Wolfgang Pauli, Max
rung überproportional hoch war.      Born und Lise Meitner.
Eine einfache Erklärung für diese
besondere Entwicklung gibt er
nicht. Denn trotz formaler Gleich-
berechtigung in Deutschland ist
der wissenschaftliche Betrieb
an den Hochschulen ab dem
19. Jahrhundert durch einen
„schleichenden Antisemitismus“
geprägt.
Bis zur Aufklärung war die jüdi-
sche Bevölkerung gezwungen,
in Gettos zu leben. Die gesell-
schaftliche Liberalisierung im
19. Jahrhundert und der Fort-
schritt in den Wissenschaften
bietet ihr neue Bildungschancen.
Der Aufstieg der Großstädte wie      Albert Einstein, 1921
                                     Foto: Wikimedia Commons
Berlin ermöglicht ebenso größe-
re gesellschaftliche Teilhabe.       In der Chemie sind Victor Meyer
                                     und Fritz Haber tätig. Viele erhal-
An Philosophie und Musik oder        ten den Nobelpreis. An bahnbre-
an der Dichtung der Klassik und      chenden technischen Erfindun-
Romantik in Deutschland haben        gen – Auto, Flugzeug, Telefon
jüdische Bürger regen Anteil.        und Funkwesen – sind jüdische
Am philosophischen Leben in          Konstrukteure maßgeblich betei-
Deutschland – von der Aufklä-        ligt. Jüdische Akademiker arbei-
rung bis zur Weimarer Republik       ten außerdem als Ärzte, Anwälte
– sind jüdische Denker wie           oder Apotheker.
Medizin
Buchbeitrag von Hans Freiherr von Kress (1902 – 1973)
Der Dekan der medizinischen         der Chemotherapie und erhält
Fakultät und Rektor der Freien      den Nobelpreis für seine immu-
Universität Berlin, Hans Freiherr   nologischen Forschungen.
Kress von Kressenstein, wür-        Als Begründer der Psycho-
digt den Beitrag zahlloser Ärzte    analyse ist Sigmund Freud mit
mit jüdischem Hintergrund als       der Untersuchung der mensch-
wesentliche Grundlage für die       lichen Psyche und des „Unbe-
medizinische Versorgung.            wussten“ der nicht unumstrit-
Ihr Engagement für die ärmere       tene Vordenker dieser Disziplin.
Bevölkerung und die Entwick-        Der Internist Siegfried J. Thann-
lung der Gesundheitsfürsorge        häuser forscht zu Funktionen
beeindruckt ihn ebenso wie ihre     des Stoffwechsels bei Krankhei-
bahnbrechenden Beiträge zur         ten wie Gicht und Diabetes. Er
medizinischen Forschung.            entwickelt dazu diagnostische
Als erste Frau in Berlin erlangt    Instrumente.
die Tuberkuloseforscherin Lydia     Albert Fraenkel baut Behand-
R. Kemper, Leiterin des Bakteri-    lungszentren für Tuberkulose-
ologischen Instituts am Kran-       kranke auf und ist Pionier der
kenhaus Moabit, eine Professur.     intravenösen Therapie zur Be-
                                    handlung von Herzkrankheiten.
                                    Kress betont die Bedeutung
                                    der Zusammenarbeit der Wis-
                                    senschaftler über Fachgrenzen
                                    und vor allem über nationale
                                    und religiöse Grenzen hinweg.
                                    Er spricht die andauernde Dis-
                                    kriminierung jüdischer Ärztin-
                                    nen und Ärzte an, auch schon
                                    vor der „Zeit der Scham“ von
Paul Ehrlich                        1933 bis 1945. Einige können
Foto: Paul-Ehrlich-Institut
                                    nach der Machtübernahme der
Paul Ehrlich entwickelt Grund-      Nazis emigrieren. Vor allem in
lagen für Diagnostik und Be-        England und den USA setzen
handlung mit der Anwendung          sie ihre Arbeit erfolgreich fort.
chemischer Reaktionen in der        Andere verlieren ihr Leben
Medizin. Er gilt als Begründer      durch die NS-Verfolgungen.
Erzieherische und soziale Bestrebungen
Buchbeitrag von Kurt Gehlhoff (1892 – 1970)
Der Beitrag befasst sich mit        In der Frauenbewegung gibt
dem großen jüdischen Einfluss       es einen hohen Anteil von
auf das Bildungs- und Sozial-       Jüdinnen, die sich in der Sozial-
wesen in Deutschland.               arbeit für Frauen engagieren.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts      Ihr Einsatz gilt der Wohlfahrt,
wird in jüdischen Familien gro-     dem Schutz und der Erziehung
ßer Wert auf eine umfassende        von Kindern, insbesondere
Bildung gelegt, da diese als        Mädchen, und der Beratung
Weg zur erfolgreichen Emanzi-       und Unterstützung der Mütter.
pation erachtet wird. Es kommt
deshalb zur Gründung zahlrei-
cher Schulen, die auch nicht-
jüdischen Schülern offenstehen.
1921 ist der Anteil der jüdischen
Schüler an höheren Schulen
fünfmal so hoch wie bei der
restlichen Bevölkerung. Da Ju-
den erheblichen Beschränkun-
gen beim Zugang zum Staats-
dienst unterworfen sind, wählen
viele die freien Berufe und
arbeiten z. B. als Ärzte, Rechts-   Lina Morgenstern, um 1900
anwälte oder Journalisten.          Foto: Wikimedia Commons

Gemeinnützigkeit und Wohl-          1863 gründet Lina Morgenstern
tätigkeit sind im Judentum reli-    das erste Kindergärtnerinnen-
giöse Verpflichtung. So wird        Seminar. In den von Alice Salo-
eine Vielzahl von sozialen Ein-     mon u. a. gegründeten „Mäd-
richtungen Ende des 18. und im      chen- und Frauengruppen für
19. Jahrhundert durch jüdische      soziale Hilfsarbeit“ erhalten die
Stifter gegründet, d. h. Waisen-    Teilnehmerinnen eine systema-
häuser, Hospitäler Schulen und      tische Schulung.
Ausbildungseinrichtungen.           Sie bieten die Grundlage für
Die Industrialisierung und die      berufliche Tätigkeiten in der öf-
damit auch steigende Zahl der       fentlichen Armenpflege, als Für-
Arbeiterinnen schaffen in der       sorgerin oder Vormund. Damit
zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-     ist der Grundstein für die mo-
derts neue soziale Probleme.        derne Sozialarbeit gelegt.
Bildende Kunst
Buchbeitrag von Will Grohmann (1887 – 1968)
Der Kunstkritiker Will Grohmann      der Künstlervereinigung Ber-
würdigt in seinem Kapitel nicht      liner Secession. Es folgt eine
nur jüdische Künstler, sondern       der erfolgreichsten Künstler-
auch Kunsthistoriker, Galeristen     karrieren ihrer Zeit.
und Architekten.                     Als Ehrenpräsident der Aka-
Als Wegbegleiter der Kunst in        demie in Berlin tritt Liebermann
Deutschland im 20. Jahrhundert       1933 zurück und kommt damit
liefert er einen Überblick, der      der nationalsozialistischen
an Aktualität kaum eingebüßt         Gleichschaltung und Entlas-
hat. Vor allem nach 1945 prägte      sung zuvor. Die letzten Lebens-
Grohmann die Kunstkritik.            jahre verbringt er zurückgezo-
In den 1950er Jahren erreicht        gen in Berlin. Der Maler der
er durch den legendären „Bil-        Großstadt, Lesser Ury, findet
derstreit“ mit Karl Hofer als Ver-   ebenso Erwähnung, außerdem
fechter der abstrakten Kunst         z. B. Emil Orlik, Charlotte Beh-
große Bekanntheit.                   rend oder Ludwig Meidner.
                                     Viele Protagonisten der deut-
                                     schen Kunstwissenschaften,
                                     die jüdischer Herkunft sind,
                                     werden 1933 in die Emigration
                                     gezwungen. Wie in vielen Wis-
                                     senschaften reißt dieser Exo-
                                     dus große Lücken. Der Kunst-
                                     historiker und Publizist Carl
                                     Einstein begeht im Exil Selbst-
                                     mord. Er ist der Verfasser des
                                     einflussreichen Bandes „Kunst
                                     des 20. Jahrhunderts“.
                                     Grohmann würdigt die Rolle
                                     jüdischer Kunsthändler und
Max Liebermann, 1904                 ihr Eintreten für die Moderne
Foto: Wikimedia Commons
                                     in der Kunst nach 1900. Paul
Der Name Max Liebermann fällt        Cassirer, Herwarth Walden
in seiner Darstellung zuerst.        und Alfred Flechtheim sind als
Als Vorreiter des Impressio-         wichtige Vertreter einer neuen
nismus in Preußen ist er 1898        Generation von Galeristen in
Mitbegründer und Präsident           die Geschichte eingegangen.
Musik
Buchbeitrag von H. H. Stuckenschmidt (1901 – 1988)
Annedore Leber kann mit Hans
Heinz Stuckenschmidt einen
versierten Kenner avantgardis-
tischer Musik und Förderer
jüdischer Musiker gewinnen.
Er stammt aus einer musikali-
schen Familie, ist Mitarbeiter
der Prager Zeitschrift „Bohe-
mia“ und Kritiker der „B. Z. am
Mittag“ in Berlin. Er kennt zahl-
reiche Komponisten, Interpreten
und Künstler persönlich, ver-
fasst diverse Monographien
über Musiker und erhält vielfäl-
tige Auszeichnungen.
Stuckenschmidt beschreibt,          Felix Mendelssohn Bartholdy nach
wie sich seit dem Beginn des        Carl Jäger, um 1870
                                    Foto: Archiv Mendelssohn-Haus
19. Jahrhunderts das deutsche
sowie europäische Musikleben        Mendelssohn Bartholdy, Kom-
verändert und das sich emanzi-      ponist, Pianist und Organist,
pierende Judentum als bestim-       gilt als einer der bedeutendsten
mendes und formendes Element        Musiker der Romantik.
hinzutritt.                         Die Anzahl deutscher und öster-
Dabei hebt er zwei aus dem          reichischer Musiker, Komponis-
reichen Bürgertum stammende         ten und Dirigenten mit jüdi-
Begabungen hohen Ranges             schen Wurzeln ist im 19. und
hervor, die die Musikkultur in      20. Jahrhundert groß. Sie setzen
Berlin prägen: Giacomo Meyer-       in vielen Bereichen Maßstäbe.
beer und Felix Mendelssohn          Unter den Gesangsinterpreten
Bartholdy.                          ist der Anteil jüdischer Künstler
Meyerbeer ist Pianist, Kompo-       auf deutschen Opernbühnen
nist und Dirigent. Seinen Ruhm      ebenfalls bedeutsam. Führende
als Opernkomponist begründet        jüdische Musikwissenschaftler,
er im Paris des frühen 19. Jahr-    Konzertdirektionen und Verlage
hunderts. Seine Ästhetik be-        haben großen Anteil daran, dass
einflusst die Oper seiner Zeit      Deutschland ein internationales
nachhaltig.                         Zentrum der Musik ist.
Theater, Film, Kabarett
Buchbeitrag von Friedrich Luft (1911 – 1990)
Einer der bekanntesten Thea-          Herkunft. Die Mitgliederzahl
terkritiker und Chronisten des        wächst rasch auf 1 000 an,
Berliner Kulturlebens der Nach-       und die „Goldene Epoche“ des
kriegszeit ist Friedrich Luft.        deutschen Theaters beginnt.
                                      Otto Brahm prägt mit seiner
                                      Methode der Natürlichkeit einen
                                      neuen Stil. Sein Schüler Max
                                      Reinhardt gilt als der „Große
                                      Magier“ der Bühne und entwi-
                                      ckelt das Regietheater weiter.
                                      Als Direktor und Regisseur ent-
                                      deckt er viele große Talente.
                                      Jüdische Schauspieler erobern
                                      auch als Darsteller das Theater.

Friedrich Luft, 1980er Jahre
                                          Leopold Jessner setzt als erster
Foto: Werner Bethsold / Wikimedia Commons das Stilmittel der konzentrierten
Er wird nach dem Krieg als                Lichtregie ein. Seine Neuerun-
„Stimme der Kritik“, beim Sen-            gen wirken bis heute in der
der RIAS Berlin berühmt. Ein              Theaterwelt nach. Das Berliner
Millionenpublikum hört ihm 45             Kabarett wird ebenso durch
Jahre lang zu, wenn er sonntags jüdischen Künstler mitgeprägt.
über die Theaterproduktionen              Die deutsche Kritik als eigen-
der letzten Woche spricht.                ständige literarische Kunstform
In seinem Beitrag beschreibt er hat dem Theater nach 1890 zu
den Einfluss jüdischer Kultur-            besonderer Geltung verholfen.
schaffender auf Theater und       Der Film ist in den Jahren von
Film in Deutschland.              1910 bis 1933 ohne den Namen
Anfang des 19. Jahrhunderts       Erich Pommer nicht denkbar.
ist die Bedeutung von jüdischen Er ist Mittler zwischen Kunst
Bürgern für das Theaterleben      und Kommerz und zeitweise ei-
noch gering. Das ändert sich      ner der mächtigsten Filmprodu-
mit der Entstehung des Vereins zenten in Deutschland.
„Freie Bühne“ 1889. Die Grün-     Viele begabte Filmschaffende
dungsmitglieder sind überwie-     jüdischer Herkunft sind wie er
gend Dramaturgen, Schriftstel-    für den frühen Erfolg des deut-
ler und Theaterkritiker jüdischer schen Films verantwortlich.
Literatur, Presse und Verlagswesen
Buchbeitrag von Hellmut Jaesrich
Hellmut Jaesrich – Verleger,
Publizist und Übersetzer – be-
legt den großen Anteil jüdischer
Autorinnen und Autoren an der
deutschsprachigen Literatur.
Die deutsche Sprache ist auch
durch das Jiddische eng mit
dem europäischen Judentum
verbunden, unterstreicht er.
Die Liste der Schriftsteller mit
jüdischen Wurzeln, die bis heute
prägend sind, ist lang.
Sie reicht von Heinrich Heine
über Ludwig Börne bis hin zu
Alfred Döblin und Else Lasker-
Schüler oder Georg Hermann         Rudolf Mosse, 1900
und Vicky Baum. Der deutsche       Foto: Wikimedia Commons
Sprachraum erstreckte sich         Die Firma Ullstein beginnt als
nicht nur bis Wien, sondern        Papierlieferant für Zeitungen
auch bis Prag, der Stadt Franz     und entwickelt sich zu einem
Kafkas.                            großen Verlagsimperium, zu
Vom Ende des 19. Jahrhunderts      dem die „Berliner Zeitung“,
bis in die Weimarer Republik       die „Berliner Morgenpost“, die
arbeiten in den führenden Zei-     „Berliner Illustrierte“, die „B. Z.
tungsredaktionen jüdische          am Mittag“ und ab 1913 die
Journalisten und Kritiker.         „Vossische Zeitung“ gehören.
Auch die großen Verlagshäuser      Im herausragenden Buchverlag
Berlins werden von jüdischen       von Samuel Fischer erscheinen
Eigentümern aufgebaut. Rudolf      viele bekannte Schriftsteller des
Mosse gründet 1867 in Berlin       frühen 20. Jahrhunderts und
die Anzeigenagentur „Annon-        Übersetzungen europäischer
cen-Expedition“ und später die     Literatur. 1901 verlegt Fischer
Zeitung „Berliner Tageblatt“.      den Gesellschaftsroman „Bud-
Zum Verlag gehört auch die         denbrooks“ des noch unbe-
„Berliner Volkszeitung“.           kannten Thomas Mann.
Die Journalistin Hilde Walter
1895 – 1976
Die jüdische Journalistin und           noch als Journalistin arbeiten
Publizistin Hilde Walter unter-         kann, flieht Hilde Walter im No-
stützte Annedore Leber bei meh-         vember 1933 nach Paris. Dort ini-
reren Buchprojekten.                    tiiert sie nach der Verhaftung von
Sie wird 1895 in Berlin geboren,        Ossietzky in Berlin eine interna-
arbeitet als Sozialarbeiterin und       tionale Kampagne, um ihn für
studiert Literatur und Kunstge-         den Friedensnobelpreis zu nomi-
schichte. Nach dem Ersten Welt-         nieren und damit zu schützen.
krieg ist sie als Journalistin tätig.
                                    In engem Kontakt mit Willy
Ab 1927 arbeitet sie für die „Welt- Brandt, der die Aktion in Norwe-
bühne“ von Carl von Ossietzky,      gen organisiert, gelingt es ihr,
engagiert von Kurt Tucholsky.       mit wenigen Mitstreitern, einen
Mit bekannten Autoren wie Lion      breiten Kreis von Prominenten zu
Feuchtwanger oder Ernst Toller      gewinnen. Ossietzky wird unter
gilt die Wochenzeitschrift als Fo- dem Eindruck der Kampagne ent-
rum der radikaldemokratischen       lassen und in ein Krankenhaus
bürgerlichen Linken. Sie wird im verlegt. 1936 erhält er den Frie-
März 1933 von den Nationalsozia- densnobelpreis rückwirkend für
listen verboten.                    das Jahr 1935: eine beachtliche
                                    Niederlage für das NS-Regime.
                                    Ossietzky stirbt 1938 an den Fol-
                                    gen der KZ-Haft.
                                        Nach der Besetzung Frankreichs
                                        durch die Wehrmacht wird Hilde
                                        Walter 1940 interniert. Ihr gelingt
                                        die Flucht und die Einreise in die
                                        USA mit einem Notvisum.
                                        1952 kehrt sie nach Deutschland
                                        zurück und ist als Korresponden-
                                        tin für den „American Council of
                                        Germany“ tätig. Für die Londo-
                                        ner „Wiener Library“ verfasst sie
                                        1959 einen Zeitzeugenbericht
Hilde Walter                            über die frühe NS-Zeit und ihre
Foto: P. Walter Jacob Archiv, Hamburg   Emigration in Paris. An ihrem
Weil sie wegen ihrer jüdischen          70. Geburtstag 1965 erhält sie
Herkunft bedroht ist und kaum           das Bundesverdienstkreuz.
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