Jüdisches Leben in Deutschland - Annedore Lebers Beitrag zur Erinnerung
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Jüdisches Leben in Deutschland Annedore Lebers Beitrag zur Erinnerung Das aktuelle Jubiläumsjahr „Jüdisches Leben in Deutsch- land“ erinnert 2021 an 1 700 Jahre jüdische Geschichte in Deutschland. Ein Edikt des römischen Kaisers Konstantin von 321, in dem die Kölner Ge- meinde erwähnt wird, gilt als ältester Beleg jüdischen Lebens in Europa nördlich der Alpen. Aus diesem Anlass stellt der Arbeitskreis Lern- und Gedenk- ort Annedore und Julius Leber das Buch „Doch das Zeugnis lebt fort. Der jüdische Beitrag zu unserem Leben“ von 1965 vor. In ihrer Publikation ging es Annedore Leber zwanzig Jahre Heinz Galinski, Vorsitzender der Jüdi- schen Gemeinde zu Berlin, vor dem nach dem Holocaust um die An- Haus in der Fasanenstraße, 1967 erkennung und Würdigung des Foto: Bundesarchiv prägenden Beitrags von jüdi- Auschwitzprozess, der von schen Deutschen zu Staat, Wirt-1963 bis 1965 dauerte, vorberei- schaft, Gesellschaft und Kultur. tet. Er fand großen Nachhall und Von den früher rund 160 000 war der erste Schritt zur öffent- Mitgliedern der Jüdischen lichen Auseinandersetzung mit Gemeinde Berlin lebten nach der Vernichtung der europäi- dem Zweiten Weltkrieg nur noch schen Juden. 8 000. 1959 wurde das Jüdische Annedore Leber würdigte mit Gemeindehaus am Standort der ihrem Buch 1965 die vielfältigen zerstörten Synagoge in der Fa- Beiträge jüdischen Lebens über sanenstraße eingeweiht. Es war die Jahrhunderte. Sie tat dies der erste Bau eines Gemeinde- lange bevor es in Deutschland hauses nach dem Holocaust in Jüdische Museen und Gedenk- Deutschland. orte gab, die uns heute in viel- Trotz vieler Widerstände wur- fältiger Weise erinnern und de zur gleichen Zeit der erste mahnen.
Die Verlegerin Annedore Leber 1904 – 1968 Annedore Rosenthal, 1904 in Zeitschrift herauszugeben. Berlin geboren, zieht mit ihrer In den 1950er Jahren widmet Familie 1918 nach Lübeck. 1922 sie ihn in einen Buchverlag um. beginnt sie ein Jurastudium, Seinen Sitz richtet sie in der das sie jedoch abbricht, um den Torgauer Straße in der Kohlen- Beruf der Schneiderin zu erler- handlung ihres Mannes ein, nen. Sie heiratet 1927 Julius die sie wiederaufbaut und bis zu Leber, den SPD-Reichstags- ihrem Tod betreibt. abgeordneten aus Lübeck, und Annedore Leber will mit ihren tritt zu diesem Zeitpunkt auch inBüchern zu einer „demokra- seine Partei ein. Zusammen ha- tischen Bewusstseinsbildung“ ben sie zwei Kinder. beitragen und erinnert in ihren Nach der Verhaftung ihres Publikationen an den gesell- Mannes 1933 ernährt Annedore schaftlich noch nicht anerkann- Leber die Familie und zieht 1935 ten Widerstand während des Na- nach Berlin um. Dort kämpft sie tionalsozialismus. „Das Gewis- mehrere Jahre um seine Frei- sen steht auf“ und „Das Gewis- heit. Nach der Entlassung Julius sen entscheidet“ sind ihre er- Lebers aus dem Konzentrations- folgreichsten Bücher. lager 1937 unterstützt sie mit ihm zusammen den Widerstand. Nach der erneuten Verhaftung Julius Lebers am 5.7.1944 und dem Attentat vom 20. Juli wird sie von August bis September 1944 in Sippenhaft genommen. Am 5.1.1945 wird Julius Leber in Plötzensee ermordet. Kurz nach Kriegsende beginnt Annedore Leber ihre politische Annedore Leber, 1960 Karriere und wird in die erste Foto: Julius und Annedore Leber Archiv Stadtverordnetenversammlung In den 1960er Jahren trägt der Berlins gewählt. Außerdem wird Verlag ihren Namen und veröf- sie Verlegerin und Mitherausge- fentlicht politische Biografien, berin der Berliner Tageszeitung Kinder- und Jugendbücher, Be- „Telegraf“. Sie gründet 1947 rufsbildungs-Informationen so- den Mosaik-Verlag, um eine wie pädagogische Literatur.
Doch das Zeugnis lebt fort Der jüdische Beitrag zu unserem Leben „Dieses Buch entstand in dem Deutscher und das jüdische Gedanken, dass Wahrheit und Leben in Deutschland oft ver- Gerechtigkeit von uns fordern, gessen. Die historischen Bei- den jüdischen Anteil an unse- träge der gesellschaftlich dis- rem Leben in Erinnerung zu kriminierten Minderheit jüdi- rufen und bewusst zu machen, scher Bürger in vielen Lebens- welche Werte dadurch unserem bereichen sollen nun endlich Volk, unserer Nation zuteil wur- wieder wahrgenommen, aner- den.“ (Annedore Leber) kannt und gewürdigt werden. Annedore Leber gelingt es, für dieses Werk engagierte und namhafte Autorinnen und Auto- ren zu gewinnen. In ihren histo- rischen, aber auch essayisti- schen Darstellungen führen sie in die Themen im Sinne eines Überblicks ein. Den Hauptteil des Buches bilden ihre Einzel- darstellungen nach ausgewähl- ten sozialen, wissenschaftli- chen und kulturellen Bereichen, die sich auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert konzentrieren. Franz Böhm, Wirtschaftsordina- rius und wie Annedore Leber engagiert in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammen- 1965 gibt Annedore Leber in arbeit, setzt sich zu Anfang mit ihrem Verlag wieder eine große den humanitären Aspekten von Publikation heraus. Sie fordert Antisemitismus und Verfolgung damit einen anderen Blickwinkel auseinander. in der öffentlichen Diskussion Annedore Leber selbst gibt und stellt sich mit ihren Auto- einen einleitenden Abriss der rinnen und Autoren den Heraus- jüdischen Emanzipation und forderungen der Zeit. des langen Wegs zur formellen Zwanzig Jahre nach Kriegsende Gleichberechtigung der Juden waren die Leistungen jüdischer bis zum frühen 19. Jahrhundert.
Walter Bußmann, Professor am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin, fordert im Schluss- wort den notwendigen gesell- schaftlichen Diskurs vor dem Hintergrund des schweren his- torischen Erbes ein. „In der Katastrophe von 1945 zerbrach die deutsche Einheit im Sinne einer gewachsenen Erfahrungsgemeinschaft, der Umfang der Zerstörung wird erst dann ganz verständlich, wenn man den jüdischen Anteil an dieser Erfahrungsgemein- schaft voll würdigt und richtig erkennt.“ (Walter Bußmann) Die jüngste Vergangenheit wird Die zeitgenössische Rezeption kurz thematisiert, ist aber kein bewertet das Buch als Fort- Schwerpunkt des Bandes. Mit schritt für die wichtige und Wolfgang Scheffler hat Anne- gebotene neue öffentliche Aus- dore Leber für den Beitrag „Zum einandersetzung: Seit einem Schicksal der deutschen Juden 1934 erschienenen Buch von 1933-1945“ den damals aner- Siegmund Kaznelson, „Die kannten Forscher zu diesem Juden im deutschen Kulturbe- Thema gewonnen. reich“ (1934 verboten, Neuauf- lage 1959), habe es keine ver- Die Journalistin Hilde Walter gleichbare Publikation gegeben. steht ihr bei Konzeption und Recherche für das Buch zur Mit seiner überblicksartigen Seite. Für die mühevolle Re- Darstellung vieler Bereiche, cherche der „biographischen wenn auch „nur“ mit ausge- Skizzen“ im umfangreichen An- wählten Beispielen, ist die letzte hang gewinnt sie junge Autorin- große Veröffentlichung des Ver- nen und Autoren, u. a. Katharina lags Annedore Leber ein Grund- Heinemann (geb. Leber), Hans lagenwerk zur damaligen Zeit. Bohrmann, Ingeborg Schütze Die Herausgeberin tritt damit und Friedrich Rau. bewusst Vorurteilen entgegen.
Staat, Recht und Politik Buchbeitrag von Walter Bußmann (1914 – 1993) Der Inhaber eines der renom- der 1863 mit dem Allgemeinen miertesten Lehrstühle für neu- Deutschen Arbeiterverein einen ere Geschichte in Deutschland, Vorläufer der SPD gründet. der Historiker Walter Bußmann, übernimmt das Kapitel zu „Staat, Recht und Politik“. In seinem Beitrag zu Annedore Lebers Buch beschreibt er den Prozess der jüdischen Eman- zipation und partiellen Assimi- lation in Deutschland anhand mehrerer konkreter Beispiele. Er beginnt mit der Revolution von 1848, als die Nationalver- sammlung Eduard von Simson zu ihrem Präsidenten wählt. Unter seinem Vorsitz entsteht die erste Reichsverfassung. Beteiligt an der Gründung Karl Marx, 1861 der bismarcktreuen National- Foto: Karl-Marx-Haus, Trier liberalen Partei, wird er 1879 In dieser Tradition setzt sich Präsident des Reichsgerichts. Eduard Bernstein nach 1918 Die wichtige Rolle von Juden in für eine Wiedervereinigung der Arbeiterbewegung erklärt von SPD und USPD ein. Bußmann damit, dass „eine Bußmann erinnert auch an den jahrhundertelang rechtlose Mi- Staatsrechtler und Politiker norität besonderes Interesse an Hugo Preuß, einen Mitbegrün- der politischen Befreiung der der der Deutschen Demokra- Arbeiterklasse haben musste“. tischen Partei (DDP). Er arbeitet Dabei denkt er natürlich an Karl im Auftrag von Friedrich Ebert Marx, den Begründer des wis- einen Entwurf für die Weimarer senschaftlichen Sozialismus, Verfassung aus. der aus seinem Londoner Exil Dass Preuß Jude ist, nehmen Einfluss auf die sozialistische die Nationalsozialisten zum An- Bewegung zu nehmen sucht. lass, die Weimarer Republik als Oder an Ferdinand Lassalle, „undeutsch“ zu diskreditieren.
Gesellschaft und Wirtschaft Buchbeitrag von Margarete von Eynern Margarete von Eynern stellt mit antisemitische Rechtsradikale großer Sachkenntnis die Vielfalt ermorden. an unterschiedlichsten Unter- Jüdische Unternehmer um nehmern, Handwerkern und 1900 sind für den wirtschaftli- Kaufleuten jüdischen Glaubens chen Erfolg Deutschlands und in der deutschen Wirtschaft dar. die Modernisierung in allen Jüdische Bürger dürfen seit Lebensbereichen entscheidend dem Mittelalter in Europa und mitverantwortlich. Deutschland viele Berufe nicht ausüben. Sie leben daher von Handwerk und Handel, oft am Rande der Gesellschaft. Von Zünften und Gilden aus- geschlossen, können sie erst unter den Bedingungen einer liberaleren Wirtschaft und der Gewerbefreiheit aktiv werden. Antisemitische Vorurteile blei- Kaufhaus Wertheim am Leipziger Platz ben trotzdem nicht nur erhalten, in Berlin, um 1900 Foto: Wikimedia Commons sondern werden in der Gesell- schaft weiter verstärkt. Sie rich- Wertheim, Kempinski oder Ro- ten sich u. a. gegen wohlhaben- senthal sind deshalb bis heute de und erfolgreiche jüdische bekannte Namen. Bürger. Der Einbruch der Wirtschaft Aber unabhängige wirtschaft- durch den Ersten Weltkrieg trifft liche Erfahrungen und Kennt- auch viele jüdische Firmen. nisse waren in der aufstreben- Das antisemitische Bild des al- den bürgerlichen Gesellschaft les beherrschenden jüdischen nach der französischen Revolu- Unternehmertums aber bleibt tion gefragt. Emil Rathenau, erhalten und wird in der Weima- Gründer der AEG, spezialisiert rer Republik weiter verbreitet. sich auf elektrische Haushalts- Nach 1933 werden jüdische geräte. Sein Sohn Walther Bürger dann nicht nur systema- Rathenau engagiert sich neben tisch entrechtet, sondern auch der Firma politisch und wird zwangsweise enteignet. Viele Außenminister, bis ihn 1922 Deutsche profitieren davon.
Denker, Forscher, Erfinder Buchbeitrag von Hans Joachim Störig (1915 – 2012) Mit Hans Joachim Störig gewinnt Moses Mendelsohn und Martin Annedore Leber einen lexikogra- Buber maßgeblich beteiligt. phischen Fachmann für Wissen- Für die moderne Psychologie schaft und Technik. In seinem bedeutsam sind Sigmund Freud Artikel konstatiert er, dass der und Alfred Adler. Einen Beitrag jüdische Beitrag in den Natur- zur Physik leisten u. a. Heinrich und Geisteswissenschaften nach Hertz, Albert Einstein, James 1848 gemessen an der Bevölke- Franck, Wolfgang Pauli, Max rung überproportional hoch war. Born und Lise Meitner. Eine einfache Erklärung für diese besondere Entwicklung gibt er nicht. Denn trotz formaler Gleich- berechtigung in Deutschland ist der wissenschaftliche Betrieb an den Hochschulen ab dem 19. Jahrhundert durch einen „schleichenden Antisemitismus“ geprägt. Bis zur Aufklärung war die jüdi- sche Bevölkerung gezwungen, in Gettos zu leben. Die gesell- schaftliche Liberalisierung im 19. Jahrhundert und der Fort- schritt in den Wissenschaften bietet ihr neue Bildungschancen. Der Aufstieg der Großstädte wie Albert Einstein, 1921 Foto: Wikimedia Commons Berlin ermöglicht ebenso größe- re gesellschaftliche Teilhabe. In der Chemie sind Victor Meyer und Fritz Haber tätig. Viele erhal- An Philosophie und Musik oder ten den Nobelpreis. An bahnbre- an der Dichtung der Klassik und chenden technischen Erfindun- Romantik in Deutschland haben gen – Auto, Flugzeug, Telefon jüdische Bürger regen Anteil. und Funkwesen – sind jüdische Am philosophischen Leben in Konstrukteure maßgeblich betei- Deutschland – von der Aufklä- ligt. Jüdische Akademiker arbei- rung bis zur Weimarer Republik ten außerdem als Ärzte, Anwälte – sind jüdische Denker wie oder Apotheker.
Medizin Buchbeitrag von Hans Freiherr von Kress (1902 – 1973) Der Dekan der medizinischen der Chemotherapie und erhält Fakultät und Rektor der Freien den Nobelpreis für seine immu- Universität Berlin, Hans Freiherr nologischen Forschungen. Kress von Kressenstein, wür- Als Begründer der Psycho- digt den Beitrag zahlloser Ärzte analyse ist Sigmund Freud mit mit jüdischem Hintergrund als der Untersuchung der mensch- wesentliche Grundlage für die lichen Psyche und des „Unbe- medizinische Versorgung. wussten“ der nicht unumstrit- Ihr Engagement für die ärmere tene Vordenker dieser Disziplin. Bevölkerung und die Entwick- Der Internist Siegfried J. Thann- lung der Gesundheitsfürsorge häuser forscht zu Funktionen beeindruckt ihn ebenso wie ihre des Stoffwechsels bei Krankhei- bahnbrechenden Beiträge zur ten wie Gicht und Diabetes. Er medizinischen Forschung. entwickelt dazu diagnostische Als erste Frau in Berlin erlangt Instrumente. die Tuberkuloseforscherin Lydia Albert Fraenkel baut Behand- R. Kemper, Leiterin des Bakteri- lungszentren für Tuberkulose- ologischen Instituts am Kran- kranke auf und ist Pionier der kenhaus Moabit, eine Professur. intravenösen Therapie zur Be- handlung von Herzkrankheiten. Kress betont die Bedeutung der Zusammenarbeit der Wis- senschaftler über Fachgrenzen und vor allem über nationale und religiöse Grenzen hinweg. Er spricht die andauernde Dis- kriminierung jüdischer Ärztin- nen und Ärzte an, auch schon vor der „Zeit der Scham“ von Paul Ehrlich 1933 bis 1945. Einige können Foto: Paul-Ehrlich-Institut nach der Machtübernahme der Paul Ehrlich entwickelt Grund- Nazis emigrieren. Vor allem in lagen für Diagnostik und Be- England und den USA setzen handlung mit der Anwendung sie ihre Arbeit erfolgreich fort. chemischer Reaktionen in der Andere verlieren ihr Leben Medizin. Er gilt als Begründer durch die NS-Verfolgungen.
Erzieherische und soziale Bestrebungen Buchbeitrag von Kurt Gehlhoff (1892 – 1970) Der Beitrag befasst sich mit In der Frauenbewegung gibt dem großen jüdischen Einfluss es einen hohen Anteil von auf das Bildungs- und Sozial- Jüdinnen, die sich in der Sozial- wesen in Deutschland. arbeit für Frauen engagieren. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts Ihr Einsatz gilt der Wohlfahrt, wird in jüdischen Familien gro- dem Schutz und der Erziehung ßer Wert auf eine umfassende von Kindern, insbesondere Bildung gelegt, da diese als Mädchen, und der Beratung Weg zur erfolgreichen Emanzi- und Unterstützung der Mütter. pation erachtet wird. Es kommt deshalb zur Gründung zahlrei- cher Schulen, die auch nicht- jüdischen Schülern offenstehen. 1921 ist der Anteil der jüdischen Schüler an höheren Schulen fünfmal so hoch wie bei der restlichen Bevölkerung. Da Ju- den erheblichen Beschränkun- gen beim Zugang zum Staats- dienst unterworfen sind, wählen viele die freien Berufe und arbeiten z. B. als Ärzte, Rechts- Lina Morgenstern, um 1900 anwälte oder Journalisten. Foto: Wikimedia Commons Gemeinnützigkeit und Wohl- 1863 gründet Lina Morgenstern tätigkeit sind im Judentum reli- das erste Kindergärtnerinnen- giöse Verpflichtung. So wird Seminar. In den von Alice Salo- eine Vielzahl von sozialen Ein- mon u. a. gegründeten „Mäd- richtungen Ende des 18. und im chen- und Frauengruppen für 19. Jahrhundert durch jüdische soziale Hilfsarbeit“ erhalten die Stifter gegründet, d. h. Waisen- Teilnehmerinnen eine systema- häuser, Hospitäler Schulen und tische Schulung. Ausbildungseinrichtungen. Sie bieten die Grundlage für Die Industrialisierung und die berufliche Tätigkeiten in der öf- damit auch steigende Zahl der fentlichen Armenpflege, als Für- Arbeiterinnen schaffen in der sorgerin oder Vormund. Damit zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- ist der Grundstein für die mo- derts neue soziale Probleme. derne Sozialarbeit gelegt.
Bildende Kunst Buchbeitrag von Will Grohmann (1887 – 1968) Der Kunstkritiker Will Grohmann der Künstlervereinigung Ber- würdigt in seinem Kapitel nicht liner Secession. Es folgt eine nur jüdische Künstler, sondern der erfolgreichsten Künstler- auch Kunsthistoriker, Galeristen karrieren ihrer Zeit. und Architekten. Als Ehrenpräsident der Aka- Als Wegbegleiter der Kunst in demie in Berlin tritt Liebermann Deutschland im 20. Jahrhundert 1933 zurück und kommt damit liefert er einen Überblick, der der nationalsozialistischen an Aktualität kaum eingebüßt Gleichschaltung und Entlas- hat. Vor allem nach 1945 prägte sung zuvor. Die letzten Lebens- Grohmann die Kunstkritik. jahre verbringt er zurückgezo- In den 1950er Jahren erreicht gen in Berlin. Der Maler der er durch den legendären „Bil- Großstadt, Lesser Ury, findet derstreit“ mit Karl Hofer als Ver- ebenso Erwähnung, außerdem fechter der abstrakten Kunst z. B. Emil Orlik, Charlotte Beh- große Bekanntheit. rend oder Ludwig Meidner. Viele Protagonisten der deut- schen Kunstwissenschaften, die jüdischer Herkunft sind, werden 1933 in die Emigration gezwungen. Wie in vielen Wis- senschaften reißt dieser Exo- dus große Lücken. Der Kunst- historiker und Publizist Carl Einstein begeht im Exil Selbst- mord. Er ist der Verfasser des einflussreichen Bandes „Kunst des 20. Jahrhunderts“. Grohmann würdigt die Rolle jüdischer Kunsthändler und Max Liebermann, 1904 ihr Eintreten für die Moderne Foto: Wikimedia Commons in der Kunst nach 1900. Paul Der Name Max Liebermann fällt Cassirer, Herwarth Walden in seiner Darstellung zuerst. und Alfred Flechtheim sind als Als Vorreiter des Impressio- wichtige Vertreter einer neuen nismus in Preußen ist er 1898 Generation von Galeristen in Mitbegründer und Präsident die Geschichte eingegangen.
Musik Buchbeitrag von H. H. Stuckenschmidt (1901 – 1988) Annedore Leber kann mit Hans Heinz Stuckenschmidt einen versierten Kenner avantgardis- tischer Musik und Förderer jüdischer Musiker gewinnen. Er stammt aus einer musikali- schen Familie, ist Mitarbeiter der Prager Zeitschrift „Bohe- mia“ und Kritiker der „B. Z. am Mittag“ in Berlin. Er kennt zahl- reiche Komponisten, Interpreten und Künstler persönlich, ver- fasst diverse Monographien über Musiker und erhält vielfäl- tige Auszeichnungen. Stuckenschmidt beschreibt, Felix Mendelssohn Bartholdy nach wie sich seit dem Beginn des Carl Jäger, um 1870 Foto: Archiv Mendelssohn-Haus 19. Jahrhunderts das deutsche sowie europäische Musikleben Mendelssohn Bartholdy, Kom- verändert und das sich emanzi- ponist, Pianist und Organist, pierende Judentum als bestim- gilt als einer der bedeutendsten mendes und formendes Element Musiker der Romantik. hinzutritt. Die Anzahl deutscher und öster- Dabei hebt er zwei aus dem reichischer Musiker, Komponis- reichen Bürgertum stammende ten und Dirigenten mit jüdi- Begabungen hohen Ranges schen Wurzeln ist im 19. und hervor, die die Musikkultur in 20. Jahrhundert groß. Sie setzen Berlin prägen: Giacomo Meyer- in vielen Bereichen Maßstäbe. beer und Felix Mendelssohn Unter den Gesangsinterpreten Bartholdy. ist der Anteil jüdischer Künstler Meyerbeer ist Pianist, Kompo- auf deutschen Opernbühnen nist und Dirigent. Seinen Ruhm ebenfalls bedeutsam. Führende als Opernkomponist begründet jüdische Musikwissenschaftler, er im Paris des frühen 19. Jahr- Konzertdirektionen und Verlage hunderts. Seine Ästhetik be- haben großen Anteil daran, dass einflusst die Oper seiner Zeit Deutschland ein internationales nachhaltig. Zentrum der Musik ist.
Theater, Film, Kabarett Buchbeitrag von Friedrich Luft (1911 – 1990) Einer der bekanntesten Thea- Herkunft. Die Mitgliederzahl terkritiker und Chronisten des wächst rasch auf 1 000 an, Berliner Kulturlebens der Nach- und die „Goldene Epoche“ des kriegszeit ist Friedrich Luft. deutschen Theaters beginnt. Otto Brahm prägt mit seiner Methode der Natürlichkeit einen neuen Stil. Sein Schüler Max Reinhardt gilt als der „Große Magier“ der Bühne und entwi- ckelt das Regietheater weiter. Als Direktor und Regisseur ent- deckt er viele große Talente. Jüdische Schauspieler erobern auch als Darsteller das Theater. Friedrich Luft, 1980er Jahre Leopold Jessner setzt als erster Foto: Werner Bethsold / Wikimedia Commons das Stilmittel der konzentrierten Er wird nach dem Krieg als Lichtregie ein. Seine Neuerun- „Stimme der Kritik“, beim Sen- gen wirken bis heute in der der RIAS Berlin berühmt. Ein Theaterwelt nach. Das Berliner Millionenpublikum hört ihm 45 Kabarett wird ebenso durch Jahre lang zu, wenn er sonntags jüdischen Künstler mitgeprägt. über die Theaterproduktionen Die deutsche Kritik als eigen- der letzten Woche spricht. ständige literarische Kunstform In seinem Beitrag beschreibt er hat dem Theater nach 1890 zu den Einfluss jüdischer Kultur- besonderer Geltung verholfen. schaffender auf Theater und Der Film ist in den Jahren von Film in Deutschland. 1910 bis 1933 ohne den Namen Anfang des 19. Jahrhunderts Erich Pommer nicht denkbar. ist die Bedeutung von jüdischen Er ist Mittler zwischen Kunst Bürgern für das Theaterleben und Kommerz und zeitweise ei- noch gering. Das ändert sich ner der mächtigsten Filmprodu- mit der Entstehung des Vereins zenten in Deutschland. „Freie Bühne“ 1889. Die Grün- Viele begabte Filmschaffende dungsmitglieder sind überwie- jüdischer Herkunft sind wie er gend Dramaturgen, Schriftstel- für den frühen Erfolg des deut- ler und Theaterkritiker jüdischer schen Films verantwortlich.
Literatur, Presse und Verlagswesen Buchbeitrag von Hellmut Jaesrich Hellmut Jaesrich – Verleger, Publizist und Übersetzer – be- legt den großen Anteil jüdischer Autorinnen und Autoren an der deutschsprachigen Literatur. Die deutsche Sprache ist auch durch das Jiddische eng mit dem europäischen Judentum verbunden, unterstreicht er. Die Liste der Schriftsteller mit jüdischen Wurzeln, die bis heute prägend sind, ist lang. Sie reicht von Heinrich Heine über Ludwig Börne bis hin zu Alfred Döblin und Else Lasker- Schüler oder Georg Hermann Rudolf Mosse, 1900 und Vicky Baum. Der deutsche Foto: Wikimedia Commons Sprachraum erstreckte sich Die Firma Ullstein beginnt als nicht nur bis Wien, sondern Papierlieferant für Zeitungen auch bis Prag, der Stadt Franz und entwickelt sich zu einem Kafkas. großen Verlagsimperium, zu Vom Ende des 19. Jahrhunderts dem die „Berliner Zeitung“, bis in die Weimarer Republik die „Berliner Morgenpost“, die arbeiten in den führenden Zei- „Berliner Illustrierte“, die „B. Z. tungsredaktionen jüdische am Mittag“ und ab 1913 die Journalisten und Kritiker. „Vossische Zeitung“ gehören. Auch die großen Verlagshäuser Im herausragenden Buchverlag Berlins werden von jüdischen von Samuel Fischer erscheinen Eigentümern aufgebaut. Rudolf viele bekannte Schriftsteller des Mosse gründet 1867 in Berlin frühen 20. Jahrhunderts und die Anzeigenagentur „Annon- Übersetzungen europäischer cen-Expedition“ und später die Literatur. 1901 verlegt Fischer Zeitung „Berliner Tageblatt“. den Gesellschaftsroman „Bud- Zum Verlag gehört auch die denbrooks“ des noch unbe- „Berliner Volkszeitung“. kannten Thomas Mann.
Die Journalistin Hilde Walter 1895 – 1976 Die jüdische Journalistin und noch als Journalistin arbeiten Publizistin Hilde Walter unter- kann, flieht Hilde Walter im No- stützte Annedore Leber bei meh- vember 1933 nach Paris. Dort ini- reren Buchprojekten. tiiert sie nach der Verhaftung von Sie wird 1895 in Berlin geboren, Ossietzky in Berlin eine interna- arbeitet als Sozialarbeiterin und tionale Kampagne, um ihn für studiert Literatur und Kunstge- den Friedensnobelpreis zu nomi- schichte. Nach dem Ersten Welt- nieren und damit zu schützen. krieg ist sie als Journalistin tätig. In engem Kontakt mit Willy Ab 1927 arbeitet sie für die „Welt- Brandt, der die Aktion in Norwe- bühne“ von Carl von Ossietzky, gen organisiert, gelingt es ihr, engagiert von Kurt Tucholsky. mit wenigen Mitstreitern, einen Mit bekannten Autoren wie Lion breiten Kreis von Prominenten zu Feuchtwanger oder Ernst Toller gewinnen. Ossietzky wird unter gilt die Wochenzeitschrift als Fo- dem Eindruck der Kampagne ent- rum der radikaldemokratischen lassen und in ein Krankenhaus bürgerlichen Linken. Sie wird im verlegt. 1936 erhält er den Frie- März 1933 von den Nationalsozia- densnobelpreis rückwirkend für listen verboten. das Jahr 1935: eine beachtliche Niederlage für das NS-Regime. Ossietzky stirbt 1938 an den Fol- gen der KZ-Haft. Nach der Besetzung Frankreichs durch die Wehrmacht wird Hilde Walter 1940 interniert. Ihr gelingt die Flucht und die Einreise in die USA mit einem Notvisum. 1952 kehrt sie nach Deutschland zurück und ist als Korresponden- tin für den „American Council of Germany“ tätig. Für die Londo- ner „Wiener Library“ verfasst sie 1959 einen Zeitzeugenbericht Hilde Walter über die frühe NS-Zeit und ihre Foto: P. Walter Jacob Archiv, Hamburg Emigration in Paris. An ihrem Weil sie wegen ihrer jüdischen 70. Geburtstag 1965 erhält sie Herkunft bedroht ist und kaum das Bundesverdienstkreuz.
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