Jugendgewalt als neuer Lifestyle? - Beobachtungen aus dem Kanton Zürich

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Kanton Zürich
                                                                                      Oberjugendanwaltschaft

«Jugendgewalt als neuer Lifestyle? – Beobachtungen aus dem Kanton Zürich»

Vortrag im Rahmen der SVJ-Tagung «Corona und Caroni» vom 24. September 2021,
Dr. phil. Sarah Reimann

Die Frage, ob es sich bei der Jugendgewalt um einen neuen Lifestyle handelt, lässt
sich rein empirisch nicht beantworten. Um sich der Frage anzunähern, möchte ich an-
hand von Beobachtungen aus dem Kanton Zürich nicht nur aufzeigen, wer die Be-
schuldigten sind, sondern vielmehr auch inwiefern sich die Jugendgewalt in den letzten
Jahren verändert hat. Zuerst werden ich versuchen, anhand eines deutschen Rapvi-
deos aufzeigen, was dort für ein Lifestyle propagiert wird und weshalb dieser durchaus
auch für gewisse Jugendliche attraktiv sein mag. Zwar beziehe ich mich auf den deut-
schen Rap, aber auch in der französischen Rap-Szene lassen sich ähnliche Beobach-
tungen machen.

Deutscher Rap – Exkurs
Zur Illustrierung eignet sich der Clip «Warum» des deutschen Rappers Gzuz, einem
Mitglied von 187 Strassenbande. Der Clip verzeichnete der nach Veröffentlichung in-
nert 24 Stunden 2,5 Millionen Views auf youtube. 1 Wer im Akronym Gzuz nun eine
Referenz auf eine monotheistische Religion vermutet, wird leider enttäuscht. Gzuz
steht für Ghetto-Zeug unzensiert. Der Rapper ist selbst mehrmalig vorbestraft – u.a.
wegen Körperverletzung, Verstosses gegen das Waffengesetz – und der Richter in
seinem letzten Prozess geriet mit dem Zitat in die Schlagzeilen «Wer, wenn nicht Sie,
gehört in den Knast?». 2
In dem Clip zum Song «warum» wird ein Lifestyle zelebriert, der sich durch halbnackte
Frauen, Geld, Waffen, Kriminalität – in Form von einer Verhaftung –, getunten Autos,
Alkoholkonsum, Marihuana und Substanzmittelmissbrauch – gezeigt wird der Konsum
von Codein – kennzeichnet. Wie dieser Lifestyle zelebriert wird, lässt sich auch anhand
des Songtexts veranschaulichen. Gzuz rappt davon, dass er vor kurzem noch im Ge-

1
  Spiegel vom 12.05.2018: Die Amerikaner fragen sich: «Gzuz, warum bist du nur so?», online unter: Gzuz – Warum:
Das neue Video des Strassenbande-Gangsters verwirrt die USA - DER SPIEGEL; der Clip lässt sich abrufen unter:
GZUZ "Warum" (WSHH Exclusive - Official Music Video) - YouTube
2
  FAZ vom 29.09.2020: "Wer, wenn nicht Sie, gehört in den Knast?", online unter: Richter über Gzuz: „Wer, wenn nicht
Sie, gehört in den Knast?“ (faz.net)
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fängnis war; nun ein Album später ist er bereits im Besitz eines Mercedes. Der Text
glorifiziert den Konsum von Marihuana, von Wodka, er rappt vom Hängen mit Kollegen,
die «nicht lang fackeln», sondern gleich zustechen. Und auf die Frage weshalb, ant-
wortet er abgelöscht, «warum hältst du nicht einfach die Fresse».

Warum ist das nun für uns relevant? Weil hier ein Lifestyle gezeigt wird, der für viele –
insbesondere männliche – Jugendliche aus prekären Verhältnissen erstrebenswert
sein kann. Rapper wie Gzuz, Capital Bra, Farid Bang oder Haftbefehl bieten eine idea-
le Identifikationsfläche. Sie haben oft einen Migrationshintergrund – Gzuz übrigens
nicht – und haben aufgrund ihrer Herkunft selbst Diskriminierung erlebt. Die bekanntes-
ten Gangsta-Rapper stammen meist aus zerrütteten Familien, weisen teilweise Hei-
merfahrung auf, wurden kriminell und sind dementsprechend vorbestraft. Die Songtex-
te zeigen oft antisemitische, homophobe und misogyne Tendenzen. Sie handeln von
Drogendeals, aber eben auch von Durchsetzungsfähigkeit und schnellem Reichtum.
Die Botschaft: Trotz widrigen Umständen haben sie es geschafft, sie machen mit ihrer
Musik Millionen, der Reichtum wird dementsprechend zur Schau gestellt. 3
Zwar ist in der Forschung umstritten, inwieweit Rapper einen direkten Einfluss auf Ju-
gendliche haben. Ihre Musik kann aber gerade bei Jüngeren Eindruck hinterlassen –
auch weil sie die Texte verstehen. So konnte eine 2021 veröffentlichte Studie der Uni-
versität Bielefeld erstmals empirisch nachweisen, dass ein Zusammenhang zwischen
dem Konsum von Gangsta-Rap und antisemitischen sowie frauenfeindlichen und
chauvinistischen – nicht aber rassistischen – Einstellungen besteht. 4

Jugendgewalt – Entwicklung und Risikofaktoren
Seit 2016 steigt im Kanton Zürich die Zahl der wegen eines Gewaltdelikts 5 verzeigten
Jugendlichen, wobei der Anstieg anfänglich moderat ausfiel. 2019 registrierten wir eine
markante Zunahme von knapp 36 Prozent – was gleichbedeutend mit einem Plus von

3
  Vgl. u.a. Seeliger, Martin (2021): Soziologie des Gangstarap. Popkultur als Ausdruck sozialer Konflikte, Mannheim;
Wolbring, Fabian (2015): Die Poetik des deutschsprachigen Rap, Göttingen; Wolbring, Fabian (2018): Zum Verhältnis
von Gangsta-Rap und Kriminalität. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte, S.
34-39; NZZaS vom 11.07.2021: Böse Buben: Warum bei sexualisierter Gewalt im deutschen Rap weggehört wird, S.
51f.
4
  Grimm, Marc et al. (2021): Die Suszeptibilität von Jugendlichen für Antisemitismus im Gangsta-Rap und Möglichkeiten
der Prävention, Bielefeld, online unter: Antisemitismus im Gangsta Rap - Universität Bielefeld (uni-bielefeld.de)
5
 Zur Definition von Gewaltstraftaten vgl. Bundesamt für Statistik BFS: Gewaltstraftaten - Definition, online unter:
https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kriminalitaet-strafrecht/polizei/gewalt.html
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225 beschuldigten Personen ist. Im Coronajahr 2020 stabilisierten sich die Fallzahlen
auf hohem Niveau, die Gewaltdelikte nahmen um 6,7 Prozent oder 57 Personen zu.
Stand Juni 2021 sieht es so aus, als ob sich diese Entwicklung fortsetzen würden.
Der Anstieg im Jahr 2017 von knapp 13 Prozent bewegte uns auf der Oberjugendan-
waltschaft des Kantons Zürich dazu, sämtliche Gewaltstraftaten, die von im Kanton
Zürich wohnhaften Jugendlichen begangen wurden, systematisch einer Analyse zu
unterziehen. Die daraus resultierenden Erkenntnisse bilden die Grundlage des heuti-
gen Referats.

Beschäftigen wir uns mit dem Thema Jugendgewalt, ist es immer auch hilfreich, sich
die Risikofaktoren für gewalttätiges und dissoziales Verhalten noch einmal vor Augen
zu führen. Dazu gehören neben biologischen Risikofaktoren wie der genetischen Dis-
position oder dem Geschlecht auch psychologische Risikofaktoren, wie beispielsweise
Persönlichkeitsstörungen, Aggressivität, ein geringer IQ, eine beschränkte Empathie-
fähigkeit usw. Es gibt aber auch soziale Risikofaktoren, wozu die Familie, geringe sozi-
oökonomische Ressourcen, zerrüttete Familienverhältnisse, der Einfluss der Peers, die
Schule, der Beruf gehören, wobei hier insbesondere Schulabsentismus und Schulver-
sagen, aber auch mangelnde Perspektiven zu nennen sind. Und zuletzt spielen immer
auch situale Risikofaktoren eine Rolle wie beispielsweise Provokationen oder eben
auch die Verfügbarkeit von Waffen. 6

Die Jugendlichen hinter den Gewaltdelikten
Wenn wir vom durchschnittlichen jugendlichen Gewaltstraftäter im Kanton Zürich spre-
chen, dann sehen wir, dass sich in den letzten vier Jahren wenig verändert hat. Er ist
durchschnittlich zwischen 15,6 und 15,7 Jahre alt und primär männlich. Letztes Jahr
lag beispielsweise der Anteil an weiblichen Beschuldigten bei 8,7 Prozent. Der Anteil
an nicht vorbestraften Jugendlichen hat in den letzten vier Jahren leicht zugenommen,

6
 Vgl. hierzu u.a. Stemmler, Mark/Wallner, Susanne/Link, Eva (2018): Risikofaktoren für die Entwicklung dissozialen
Verhaltens in der Kindheit und Jugend; in: Hermann, Dieter/Pöge, Andreas (Hg.): Kriminalsoziologie. Handbuch für
Wissenschaft und Praxis, Baden-Baden, S. 247-262; Ribeaud, Denis (2915): Entwicklung von Gewalterfahrungen Ju-
gendlicher im Kanton Zürich 1999-2014, Zürich; Baier, Dirk/Rabold, Susann/Pfeiffer, Christian (2010): Peers und delin-
quentes Verhalten, in Harring, Marius/Böhm-Kaspar, Oliver/Rohlfs, Carsten/Palentien, Christian (Hg.): Freundschaften,
Cliquen und Jugendkulturen. Peers als Bildungs- und Sozialisationsinstanzen, Wiesbaden, S. 309-337; Alsaker,
Françoise D./Bütikofer, Andrea (2005): Geschlechtsunterschiede im Auftreten von psychischen und Verhaltensstörun-
gen im Jugendalter, in: Kindheit und Entwicklung, S. 169-180.
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2020 lag er bei knapp 60 Prozent. Gut die Hälfte der Beschuldigten geht zur Schule
und funktioniert im Alltag einigermassen.

Obwohl der durchschnittliche jugendliche Gewaltstraftäter sich auf den ersten Blick
kaum verändert zu haben scheint, könenn einige Auffälligkeiten herausgearbeitet wer-
den. Ein Risikofaktor für delinquentes Verhalten ist insbesondere die fehlende Per-
spektive. Schweizweit lässt sich seit 2016 einen Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit
beobachten. 7 Trotz dieser erfreulichen Entwicklung steigt die Jugendgewalt im Kanton
Zürich an.
Wenn wir die Tagesstruktur der wegen eines Gewaltdelikts beschuldigten Jugendlichen
in den letzten zwei Jahren anschauen, fällt auf, dass die Mehrheit der Beschuldigten
zum Tatzeitpunkt eine Tagesstruktur aufwies. Über die Hälfte besuchte zum Tatzeit-
punkt eine reguläre Schule oder ein 10. Schuljahr. 2019 befand sich jeder Vierte in
einer Lehre, 2020 gut jeder Fünfte. Die Mehrzahl der Beschuldigten scheint im Alltag
somit zu funktionieren – und hat durchaus auch etwas zu verlieren.
Zugleich fällt auf, dass die Zahl der Jugendlichen ohne Tagesstruktur zugenommen
hat. 2019 verfügte jeder zehnte Beschuldigte über keine Tagesstruktur, 2020 war es
bereits jeder siebte, der zum Tatzeitpunkt keiner Beschäftigung nachging und herum-
hängte.

Viele beschuldigte Jugendliche sind nachweislich belastet. Bei den wegen eines Ge-
waltdelikts beschuldigten Jugendlichen waren 2019 und 2020 knapp die Hälfte den
Zivilbehörden bekannt. 19 Prozent, respektive 22 Prozent im vergangenen Jahr wiesen
eine Beistandschaft auf; bei den wegen eines Gewaltdelikts verzeigten Mädchen lag
der Anteil an Beistandschaften gar bei 40 Prozent. Bei den anderen Beschuldigten, die
den Zivilbehörden bekannt waren, lagen beispielsweise Gefährdungsmeldungen vor
oder es wurde ein Coaching oder eine freiwillige Beratung installiert. Damit liegt der
Prozentsatz an verbeiständen Minderjährigen markant über dem kantonalen Durch-
schnitt, welcher bei den Minderjährigen bei 2,8 Prozent liegt. 8
Die Jugendlichen leben teilweise unter erschwerten sozioökonomischen Verhältnissen,

7
  Staatssekretariat für Wirtschaft SECO: Bericht. Arbeitslosigkeit 15- bis 24-Jährige, 28.10.2020, online unter: Jugend-
arbeitslosigkeit (admin.ch)
8
  Kesb Kindes – und Erwachsenenschutzbehörden im Kanton Zürich. KESB-Kennzahlen im Kanton Zürich. Bericht
2020. Verabschiedet am 25. Mai 2021, online unter: https://kesb-zh.ch/medienmitteilung-zu-den-kesb-kennzahlen-2020/
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stammen aus bildungsfernen Familien, in denen die finanziellen Ressourcen gering
sind. Teilweise stammen sie auch aus sehr belasteten Familien, die geprägt sind durch
Krankheit, Sucht, Integrationsproblematiken, geringe Erziehungskompetenzen und
teilweise auch durch ein kriminelles Milieu. Die Eltern – und insbesondere die Mütter –
sind oft vergleichsweise jung, viele Mütter arbeiten zudem nicht oder sind im Billiglohn-
sektor tätig. Traumata wie Gewalterfahrung oder Flucht sind ein weiterer Risikofaktor.

Die genannten Problematiken tauchen insbesondere bei Jugendlichen auf, die mehre-
rer Gewaltdelikte bezichtigt werden. So hat die Gruppe der Jugendlichen, die beschul-
digt wurden, mehrere Gewaltdelikte begangen zu haben, 2020 markant zugenommen.
Im vergangenen Jahr wurde 72 Prozent der Beschuldigten ein Gewaltdelikt vorgewor-
fen, ein Jahr zuvor lag ihr Anteil noch bei 79 Prozent. Zugleich verdoppelte sich die
Zahl der Beschuldigten, die wegen vier oder mehr Gewaltdelikten verzeigt wurden.
Auffällig ist, dass ein relativ kleiner Anteil von 7 Prozent für einen Viertel aller Lebens-
sachverhalte verantwortlich ist. Während bei den Ausprägungen der ihnen vorgeworfe-
nen Gewaltdelikte wenig Auffälligkeiten zu beobachten sind, heben sie sich in Bezug
auf ihre Biografie ab. Bei den Beschuldigten, denen vier und mehr Gewaltdelikte vor-
geworfen werden, sind den Zivilbehörden sieben von zehn bekannt, zwei von fünf sind
verbeiständet. Jeder Dritte verfügt über eine professionelle Tagesstruktur, jeder Vierte
hängt herum und hat keine Tagesstruktur zum Zeitpunkt des Delikts. Jeder Dritte lebt
zudem in einer Institution. Diese Jugendlichen werden überdurchschnittlich oft auch als
Geschädigte in einem Strafverfahren aufgeführt, jeder vierte ist bereits wegen eines
Gewaltdelikts vorbestraft. Zudem könnte mangelnde Integration und damit verbunden
geringere sprachliche Kompetenz und Identitätsfragen eine Rolle spielen, da der Aus-
länderanteil überdurchschnittlich hoch ist.

Beobachtungen zur Jugendgewalt im Kanton Zürich

Die Zahl der verzeigten Jugendlichen bei Delikten wie schwere Körperverletzung,
Raufhandel und Angriff, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie
Raub nimmt im Kanton Zürich seit mehreren Jahren markant zu. Die Zahlen bestätigen
den subjektiven Eindruck, dass das Klima härter geworden ist.
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Jugendgewalt findet im Kanton Zürich primär im öffentlichen Raum – also in Parks, auf
der Strasse, am See usw. – statt. Insbesondere der Bahnhof als Tatort fällt mit 12 Pro-
zent im Jahr 2020 prominent auf. Unter Schulareal subsumieren sich die Delikte, wel-
che nach Schulschluss auf dem Schulareal geschehen; ihr Anteil lah im bergangenen
Jahr bei 7 Prozent. Die Mehrzahl der Gewaltdelikte passieren in der Freizeit und im
öffentlichen Raum – beim «Hängen», wenn es den Jugendlichen langweilig ist und es
zu Reibungen kommt. Während 2019 Jugendgewalt ein primär, aber nicht ausschliess-
lich städtisches Phänomen mit den Zentren Zürich-Stadt und Winterthur war, fand 2020
zunehmend eine «Agglomerisierung» – sowohl in Bezug auf die Täter als auch den
Tatort – statt. Dies zeigt sich auch bei der Zunahme an Delikten beim Bahnhof. So ist
der Anteil an Gewaltdelikten beim Bahnhof in den Agglomerationen und in den ländli-
chen Gemeinden höher als in den beiden grossen Städten, wo das «Hobby Bahnhof»
offenbar weniger verbreitet ist. Dies liegt insbesondere daran, dass es gerade in den
Städten auch noch andere Orte – wie Parks, Plätze usw. – gibt, wo die Jugendlichen
ihre Freizeit verbringen. Der Anteil an Delikten in der Schule nimmt hingegen seit meh-
reren Jahren ab, 2019 lag ihr Anteil bei 13 Prozent, 2020 waren es noch 9 Prozent.

In den letzten beiden Jahren haben die Gewaltdelikte zu allen Tageszeiten zugenom-
men. Nirgends fiel der Anstieg allerdings derart markant aus wie in der Nacht, der Zeit
zwischen 10 Uhr abends und 6 Uhr morgens. Hier können wir für den Zeitraum von
2018 bis 2020 faktisch eine Verdoppelung an Lebenssachverhalten beobachten. Dabei
handelt es sich vor allem um ältere Jugendliche. Bei den 15-Jährigen liegt der Anteil an
Delikten in der Nacht bei rund 30 Prozent, bei den 16-Jährigen liegt er bei 40 Prozent
und bei den 17-Jährigen steigt er auf über 50 Prozent.

Zugleich beobachten wir in den letzten zwei Jahren eine starke Zunahme an Gruppen-
delikten. So nahm der Anteil an Einzeltätern in den letzten zwei Jahren zwar ebenfalls
zu, der prozentuale Anteil an Einzeldelikten ging jedoch von knapp 50 Prozent im Jahr
2018 auf knapp 40 Prozent im Jahr 2020 zurück. Markant zu nahm der Anteil von
Gruppendelikten, wobei im letzten Jahr ein Trend hin zu zur Deliktbegehung zu zweit
zu beobachten war.
Es sind primär jüngere Täterinnen und Täter, die einzeln agieren. Ab 12 Jahren begeht
die Mehrzahl der Jugendlichen das Gewaltdelikt in Gruppen; der Anteil an Gruppende-
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likten liegt bei den 14- bis 17-Jährigen zwischen 60 und 65 Prozent. Zudem wird am
Abend zwischen 18 und 22 Uhr sowie in der Nacht zwischen 10 und 6 Uhr mehrheitlich
in Gruppen delinquiert. Diese Veränderung hinsichtlich der Tatzeit ist nicht zuletzt ein
weiterer Hinweis darauf, dass sich das Ausgehverhalten der Jugendlichen in den letz-
ten Jahren verändert hat. 9 Denn gerade in Gruppen besteht immer auch die Gefahr,
dass Jugendliche, die sich der elterlichen Kontrolle zunehmend entziehen, und die oft
keine Tagesstruktur aufweisen, sich in ihrer dissozialen, gewaltlegitimierenden Einstel-
lung noch bestärken.

Zwar hat der tägliche Alkoholkonsum in der Schweiz gemäss der neusten Gesund-
heitsbefragung aus dem Jahr 2017 abgenommen. Das Rauschtrinken bei den 15- bis
24-Jährigen nahm hingegen zu; der Anteil an Rauschtrinkern lag 2017 in dieser Al-
terskategorie bei 27 Prozent der Befragten. 10 Gemäss der Studie «Health Behaviour in
School-aged Children» auf dem Jahr 2018 gaben 11 Prozent der 15-Jährigen an, min-
destens einmal pro Woche Alkohol zu konsumieren, 27 Prozent der 15-jährigen Jun-
gen und 24 Prozent der Mädchen gaben zudem an, mindestens einmal in den letzten
30 Tagen fünf oder mehr alkoholische Getränke bei einer Gelegenheit konsumiert zu
haben. 11 Alkohol für Minderjährige ist zudem einfach erhältlich; im vergangenen Jahr
wurde bei Testkäufen in rund 30 Prozent der Fälle gesetzeswidrig Alkohol an Minder-
jährige verkauft. 12
Im Kanton Zürich fand 2020 jedes siebte Gewaltdelikt nachweislich unter Alkoholein-
fluss statt, wobei die Dunkelziffer hoch ist, da insbesondere bei Delikten, die erst zu
einem späteren Zeitpunkt aufgeklärt werden, keine Atem- und Blutprobe mehr ange-
ordnet werden kann. Ab 15 Jahren nimmt die Bedeutung des Alkohols auf das delikti-
sche Verhalten nachweislich zu, bei den 17-Jährigen spielt der Alkohol bei jedem vier-
ten Gewaltdelikt nachweislich eine Rolle. Die Zahlen aus dem Kanton Zürich zeigen

9
  Zum Ausgehverhalten früher vgl. u.a. Ribeaud, Denis (2015): Entwicklung von Gewalterfahrungen Jugendlicher im
Kanton Zürich 1999-2014, Zürich.
10
   Bundesamt für Statistik BFS (2017): Alkoholkonsum 2017, Neuchâtel.
11
   Sucht Schweiz (2021): Schweizer Suchtpanorama 2020, Lausanne; Sucht Schweiz (2019): Eine explorative Untersu-
chung des Zusammenhangs zwischen dem Konsum psychoaktiver Substanzen und Merkmalen 11- bis 15-jähriger
Jugendlicher in der Schweiz. Ergebnisse der Studie "Health Behaviour in School-aged Childern" (HBSC) 2018),
Lausanne; Sucht Schweiz (2019): Konsum psychoaktiver Substanzen bei 11- bis 15-jährigen Schülerinnen und Schü-
lern in der Schweiz: Situation 2018 und Entwicklung seit 2002, Lausanne.
12
   Sucht Schweiz (2021): Alkoholtestkäufe 2020. Nationaler Bericht über den Verkauf von Alkohol an Minderjährige,
Lausanne.
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zudem, dass sowohl 2019 als auch 2020 die Beschuldigten bei jedem zweiten nächtli-
chen Gewaltdelikt alkoholisiert waren. Dabei handelt es sich insbesondere um Delikte
wie Angriff und Raufhandel sowie schwere Körperverletzung.

In den letzten zwei Jahren hat zudem die Bedeutung von gefährlichen Gegenständen
bei Gewaltdelikten zugenommen – sei es als Teil der Drohgebärde oder weil sie einge-
setzt werden. Zugleich verzeichnete der Kanton Zürich 2019 bei den Verstössen gegen
das Waffengesetz eine deutliche Zunahme, was ebenfalls ein Hinweis auf die wach-
sende Popularität von Waffen sein mag. 2019 spielte in 16 Prozent der Gewaltdelikte
ein gefährlicher Gegenstand eine Rolle, 2020 stieg ihr Anteil auf 25 Prozent. Dabei
erfreut sich insbesondere das Messer zunehmender Beliebtheit. Bei jedem siebten
Gewaltdelikt spielte es eine Rolle. Nicht immer kommt der gefährliche Gegenstand zum
Einsatz; oft bildet er auch Teil der Drohkulisse. So war 2020 bei jeder fünften Nötigung
und jeder vierten Drohung ein gefährlicher Gegenstand präsent. Eine bereits etwas
ältere Erhebung von uns, welche die Verstösse gegen das Waffengesetz im Jahr 2018
analysierte, fragte auch nach dem Motiv der Jugendlichen. Jeder siebte gab damals in
der Einvernahme zu Protokoll, er hätte gegen das Waffengesetz verstossen, weil er
cool sein wollte, jeder zehnte gab als Grund die eigene Verteidigung an, weitere 9 Pro-
zent wollten die Waffe auch benutzen, gemäss Eigenaussage zum Beispiel um mit
dem Butterflymesser ein Brot zu bestreichen. Weitere 7 Prozent nannten als Motivation
Spass.

Zum Schluss möchte ich noch auf den Raub eingehen. Der Raub ist insofern ein
Schlüsseldelikt, als dass er eine gewisse Einstellung, ein Lifestyle wiederspiegelt, der
für die Gesellschaft belastend ist. Denn beim Raub geht es nicht nur um die persönli-
che Bereicherung – wie beispielsweise beim Diebstahl – vielmehr ist man bereit, hierfür
auch Gewalt anzuwenden. Man holt sich also mit Gewalt, was einem scheinbar zu-
steht.
Seit 2015 steigt die Anzahl an verzeigten Jugendlichen wegen Raubes. Aktuell zeigt
sich, dass bei jedem dritten Raubüberfall ein gefährlicher Gegenstand involviert war,
wobei es sich meist um ein Messer handelt. Schaut man sich die Raubdelikte einzeln
an, zeigt sich, dass auch der Raub von 5 Rappen längst nicht immer als Bagatelldelikt
bezeichnet werden kann. Die geringe Beute liegt weniger an der mangelnden Drohku-
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lisse und dem Gewalteinsatz, als daran, dass es beim oft sehr jungen Opfer einfach
nicht mehr zu holen gibt. Die Deliktsumme belief sich zwischen 5 Rappen bis weit über
1'000 Franken. Deliktgüter waren neben Bargeld und Smartphones insbesondere auch
Airpods, die sich grosser Beliebtheit erfreuen. Erbeutet wurden aber auch Schuhe,
Alkohol oder Marihuana. Meist finden massive Gewalteinwirkungen statt: Drohungen
mit Messer, Softairguns, Faustschläge ins Gesicht, Kicke in den Bauch, Würgen usw.
Erstaunlich sind die Motive, das gezielte und planmässige Ausnehmen in Gruppen ist
längst nicht mehr die Ausnahme. Raubüberfälle können aber auch das Ergebnis spon-
taner Entscheidungen sein. Oft wird als Grund auch angegeben, man hätte Geld für
Zigis und Essen gebraucht, zudem kommt es auch vor, dass die Beschuldigten den
Vorfall mit Langeweile, Gruppendruck sowie dem Einfluss von Alkohol zu erklären ver-
suchen.

Jugendgewalt als neuer Lifestyle? – Fazit

Zwei Vorwegnahmen: Jugendgewalt verläuft in der Regel wellenförmig, es handelt sich
beim Anstieg der letzten Jahre somit nicht um eine neuartige Entwicklung. Über 99
Prozent der Jugendlichen im Kanton Zürich fallen zudem nicht durch Gewaltdelikte auf.
Von    einem    generellen    Lifestyle   zu   sprechen,   wäre    somit    vermessen.
Was wir aber sehen, ist, dass die Beschuldigten oftmals überdurchschnittlich belastet
sind. Jugendliche Gewaltstraftäter fallen nicht von Himmel, ihre Auffälligkeiten sind
vielmehr oft das Ergebnis einer länger anhaltenden negativen Entwicklung. Insbeson-
dere eine fehlende Tagesstruktur muss hier als zusätzlicher Risikofaktor erwähnt wer-
den.

Wir beobachten im Kanton Zürich in den letzten 2,5 Jahren ein verändertes Ausgeh-
verhalten. Gewaltstraftaten am Abend und in der Nacht sind nicht nur häufiger, sie fal-
len auch gravierender aus. Eng damit verbunden ist die Zunahme an Gruppendelikten.
Insbesondere, wenn Jugendliche bis spät in die Nacht zusammen draussen im öffentli-
chen Raum herumhängen und Alkohol in geraumer Menge konsumiert wird, steigt das
Risiko, dass es zu gewalttätigen Vorfällen kommt. Zugleich beobachten wir einen
Trend hin zum Messer. Ist das Messer in Griffnähe und kommt es zu Auseinanderset-
zungen, dann steigt auch das Risiko, dass es eingesetzt wird und dass die Verletzun-
gen gravierender ausfallen.
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Zusammengefasst kann also gesagt werden, dass die Jugendgewalt, wie wir sie zur-
zeit beobachten, kaum als Teil eines allgemeinen Lifestyles bezeichnet werden kann.
Real ist hingegen die Gefahr, dass gewisse – meist schwächere und mehrfach belaste-
te – Jugendliche abgehängt werden, sich entziehen und sich mit Gewalt holen, was
ihnen scheinbar zusteht. Bei solchen Jugendlichen besteht das Risiko, dass Gewalt
Teil ihres Lifestyles wird oder bereits ist.
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