Justin Time. Das Portal - Peter Schwindt Leseprobe aus

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Leseprobe aus:

           Peter Schwindt

Justin Time. Das Portal

  Copyright © 2007 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
1.

Justin musste für einen kurzen Moment die Augen
schließen, so hell war das plötzliche Tageslicht. Ein
leichtes Gefühl der Übelkeit war der einzige Hin-
weis darauf, dass er innerhalb von einer Sekunde
viele Jahre in die Vergangenheit und etliche tau-
send Meilen gen Osten gereist war. Der würzige
Geruch von Lärchen, Kiefern und Tannen ließ ihn
tief durchatmen. Nach der stickigen Luft tief im
Inneren der geheimen Militärbasis von Montauk
war die leichte Brise, die ihn hier umwehte, eine
befreiende Labsal. Schließlich öffnete er die Augen
und überprüfte, ob seine Ausrüstung komplett war.
Justin nickte zufrieden: Transponder, Neutralisa-
tor, Emitter, Portable und Übersetzer befanden sich
noch immer in einer kleinen Tasche, die ihm wie
ein Kängurubeutel vor dem Bauch baumelte.
  Justin schaute sich um. Er hatte sich Sibirien et-
was anders vorgestellt – karg wie eine fast baum-
lose Steppe – und vor allem kalt. Hier hingegen
mochten gut und gerne frühlingshafte 20 Grad

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herrschen. Aber Justin wollte sich nicht beklagen.
Er trug noch immer die Sporthose und das Fuß-
balltrikot, die ihm Herbert Hanfstäckl kurz vor der
Abreise nach Montauk, an die Ostküste der USA,
verpasst hatte. Und die wären für einen Abstecher
in eisigere Gefilde denkbar ungeeignet gewesen.
  Viel wusste Justin nicht über Russlands wilden
Osten. Zu seiner Zeit – also im 24. Jahrhundert –
war das nördliche Asien zu einer ökologischen
Sonderzone erklärt worden. Einige der Ureinwoh-
ner lebten noch immer wie ihre Vorfahren von der
Jagd und der Rentierzucht, doch die meisten hat-
ten es vorgezogen, in Irkutsk oder Ulan-Bator das
bequeme Leben eines sesshaften Bürgers des Asia-
tischen Staatenbundes zu führen.
  Justin sah nach links und rechts. Er hatte das Ge-
fühl, als stünde er an einer Haltestelle für Über-
landbusse, nur dass es hier keinerlei Verkehr gab.
Die Straße, die sich zu beiden Seiten im Wald ver-
lor, war sogar breit genug für ein Hovercar. Doch
die Fahrbahndecke war nicht asphaltiert, sondern
bestand aus verdichtetem Kies. Sie mochte zwei,
drei Jahre halten, dann würde die Natur wieder ihr
Recht einfordern. Viele der Spuren, die sich in die
Straße gegraben hatten, nahmen genau an der
Stelle ihren Anfang, wo Justin stand. Es sah aus,
als wären sie geradewegs aus dem Nichts aufge-
taucht, was ja auch irgendwie stimmte, wenn man
mittels eines Zeitsprungs plötzlich an einem Ort

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materialisierte. Einige bogen nach links ab, aber
die meisten der Fahrzeuge hatten den Weg in die
entgegengesetzte Richtung eingeschlagen.
  Justin betrachtete das Schild, unter dem er stand.
Der Hinweis war zweisprachig! BaHaBapa – Vana-
vara 15 Meilen. Jetzt war klar, wohin die meisten
der Spuren führten. Jedenfalls schien er am richti-
gen Ort zu sein; dass die Zeit stimmte, konnte er
nur hoffen. Justin untersuchte die Spuren genauer.
Die meisten waren älter und kaum noch zu identi-
fizieren. Einige wenige waren jedoch frisch und
hatten sich tief in den Kies gegraben.
  Natürlich, dachte Justin. Portitia Abbadon, der er
in diesen entlegenen Winkel der Welt gefolgt war,
war nicht alleine hier. Wenn die Zeitagentin tat-
sächlich 1983 eine hohe Beamtin im amerikani-
schen Verteidigungsministerium war, dann hatten
sie auf ihrer Zeitreise hierher etliche Soldaten und
Wissenschaftler begleitet. Alle wahrscheinlich in
der tiefen Überzeugung, dass sie für ihr Land an
einer der aufregendsten Geheimoperationen aller
Zeiten teilnahmen. Justin musste wieder daran
denken, was er in Montauk über den Kalten Krieg
zwischen den USA und der Sowjetunion gelernt
hatte. Für die Strategen der amerikanischen Re-
gierung musste ein Traum in Erfüllung gegangen
sein. Ohne das Wissen des Feindes konnte man tief
in sein Land eindringen. Und nicht nur das! Man
konnte sich auch noch die Zeit aussuchen. Ja, Por-

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titia Abbadon hatte hier mit Sicherheit eine große
Gefolgschaft. Doch sie hatte noch jemand anderen
dabei. Jemanden, der nicht freiwillig mitgekom-
men war. Jemanden, der auch gar keinen freien
Willen mehr hatte. Justins Magen krampfte sich
zusammen, als er an seine Freundin Fanny dachte
und daran, wie Portitia Abbadon sie in Montauk
mit sich durch das große Zeitportal gezogen hatte
und sie hierher ins Jahr 1908 entführt hatte. Oh ja,
er würde alles daransetzen, Fanny so schnell wie
möglich zu befreien.
  Dumm war nur, dass Justin hier alleine mitten im
Wald stand. Eigentlich sollte er hier direkt nach
dem Zeitsprung seinen Kontaktmann Bogomil Za-
kuski treffen. Die Frage war nur, wo. Hier am
Übergangspunkt? Oder doch in Vanavara? Justin
schaute die Straße hinauf und hinab, aber sie ließ
sich nur in die Richtung relativ weit einsehen, die
von Vanavara wegführte.
  Da stand er nun tatsächlich wie an einer Bushal-
testelle und wusste nicht, was er tun sollte. Er
konnte warten – aber wie lange? Dem Stand der
Sonne nach zu urteilen, musste es um die Mittags-
zeit sein. Wenn er stramm marschierte, konnte er
die 15 Meilen nach Vanavara bis zum Anbruch der
Dunkelheit ohne weiteres schaffen. Er konnte aber
auch hier bleiben und Wurzeln schlagen. Egal, wie
er sich entschied: Die Gefahr, dass er seinen Kon-
taktmann verpasste, war sehr groß. Max Briggman

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hätte auch ein wenig genauer sein können, dachte
Justin ärgerlich. Aber auf der anderen Seite war es
Justin gewesen, der den Zeitagenten zur Eile ge-
drängt hatte. Nun war er sich nicht mehr so sicher,
ob sein überstürzter Aufbruch sinnvoll war. Nun,
wenn alle Stricke rissen, würde er den Transpon-
der benutzen, um ins 24. Jahrhundert zurückzu-
springen. Doch das wollte er auf keinen Fall ohne
seine Freundin tun.
  Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen,
aber es half nichts. Wenn er noch so viel wie mög-
lich vom Tageslicht haben wollte, musste er los.
Unnötigerweise schaute er von links nach rechts,
als ob er bei dichtem Berufsverkehr eine Straße in
London überqueren wollte. Dann schlug er mit ei-
nem mulmigen Gefühl im Bauch den Weg nach Va-
navara ein.
  War der Zeitsprung nach Montauk schon wag-
halsig gewesen, so ging Justin mit seiner Reise
nach Sibirien eigentlich ein unverantwortliches
Risiko ein, das er unter normalen Umständen ge-
scheut hätte. Doch Fanny war dieser verrückten
Portitia Abbadon in die Hände gefallen, und er
fühlte sich daran nicht ganz schuldlos. Immer wie-
der hatte Fanny ihn vor der Gefahr gewarnt, mit
der die Suche nach seinen in der Zeit verscholle-
nen Eltern verbunden war, aber er hatte natürlich
nicht auf sie gehört. So endete ihr Abenteuer in
Montauk mit einer Katastrophe. Fanny wurde ein

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Gerät in den Kopf gepflanzt, das sie zu einer will-
fährigen Marionette der Doppelagentin machte.
Und ihn hätte beinahe dasselbe Schicksal ereilt.
Das Ungeheuerlichste aber hatte Max Briggman
ihm bestätigt: Seine Eltern lebten. Sie waren nicht
beim ersten bemannten Zeitsprung der Geschichte
ums Leben gekommen und ruhten nun auf dem
Grunde eines Vulkans im Präkambrium. Vielmehr
hatten sie im Jahr 1977 einen Zwischenstopp in
Montauk eingelegt, um ihre Spuren zu verwischen
und unterzutauchen, damit sie tun konnten, was
immer sie geplant hatten. Seitdem fragte er sich
immer, wer die Guten und wer die Bösen in diesem
Spiel um die Macht über die Zeit waren.
  Bei Portitia Abbadon war klar, auf welcher Seite
sie stand. Größenwahn und Machthunger hatten
sie zu einer höchst gefährlichen Frau gemacht.
  Cassandra Janus? Sie trieb ein undurchschauba-
res Spiel. Justin hatte bei der Leiterin des Amtes
für Zeitkontrolle immer das Gefühl, dass sie mehr
wusste, als sie zugab. Sie war diejenige, die Justins
Meinung nach vom Verschwinden seiner Eltern am
meisten profitierte.
  Justin seufzte laut und fragte sich, was ihn in Va-
navara erwarten mochte. Nach allem, was er wuss-
te, war der Ort nicht größer als ein bescheidenes
Dorf. Mit einem Pferdegespann würde man ver-
mutlich Wochen benötigen, um die nächste größere
Stadt zu erreichen; mit einem Hovercar oder einem

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anderen motorbetriebenen Fahrzeug war das
natürlich etwas anderes. Gab es im Jahr 1908 über-
haupt schon Autos? Justin versuchte, sein ver-
schüttetes Wissen über das beginnende 20. Jahr-
hundert freizulegen. Wenn, dann hatten sie einen
primitiven Verbrennungsmotor und würden auffal-
len wie ein Elefant im Kühlschrank des Kapitäns.
Zumindest hier, wo man weit und breit nicht tan-
ken konnte.
  Etwas biss ihm ins Genick. Justin schlug zu und
betrachtete angewidert die zerquetschten Reste
einer großen Mücke. Schon seit einiger Zeit war
ihm das allgegenwärtige hohe Sirren aufgefallen.
Im wetterkontrollierten Brighton, wo Justin auf
dem Internat war, gab es solche Plagegeister
kaum, schon gar nicht in dieser Größe. Vielleicht
wurde im Sommer mal die eine oder andere Mü-
cke nachts vom Licht der Straßenlaternen ange-
lockt. Hier jedoch warteten sie nicht darauf, dass
es dunkel wurde. Sie mussten ziemlich ausgehun-
gert sein.
  Justin versuchte nutzloserweise, einen weiteren
dieser Blutsauger mit der Hand zu vertreiben, als
er etwas hörte. Er blieb stehen und lauschte. Zwei
Männer schienen einen heftigen Streit in einer
Sprache zu haben, die Justin nicht verstand. Konn-
te das Bogomil Zakuski sein? Nachdenklich er-
schlug Justin eine Mücke, die sich auf seinem Arm
niedergelassen hatte. Nein, so unprofessionell wäre

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kein Zeitagent. Er würde niemals solch einen Lärm
veranstalten.
  Hastig schaute sich Justin um und entdeckte
schließlich einen Strauch, der dicht genug war, um
ihn zu verbergen. Mit einem Satz sprang er von der
Straße – gerade noch rechtzeitig. Eine kleine Kut-
sche, vor die zwei Pferde gespannt waren, holperte
ihm entgegen. Dass sich die beiden Männer auf
dem Kutschbock nicht an die Gurgel gingen, war
ein Wunder.
  Justin fingerte am Verschluss der Tasche und
kramte den Universalübersetzer hervor, dessen klei-
nen Hörknopf er sich ins rechte Ohr steckte – nun
müsste er die Männer eigentlich verstehen. Ein un-
angenehmer Geruch wehte von den beiden zu ihm
herüber. Irgendetwas, das nach verfaultem Fisch
roch. Justin drehte sich beinahe der Magen um.
  „Und ich sage dir, du bist ein Trottel!“, brüllte
der Mann, der die Zügel in der Hand hielt. Es war
ein grobschlächtiger, dicker Kerl mit Vollbart, der
unter seiner Pelzmütze heftig schwitzte. „Sie hat
Dinge bei ihrem Großvater gelernt, von denen ich
nicht möchte, dass sie die an mir ausprobiert!“
  „Aber trotzdem lasse ich mich nicht von einem
14-jährigen Mädchen rumkommandieren. Wer bin
ich denn, hä?“, entgegnete der andere. Im Gegen-
satz zu seinem Kumpan war er dünn, sehnig und
leidlich glattrasiert. Das Haar hing ihm strähnig
ins Gesicht.

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„Ich kann dir sagen, was du bist,Viktor. Nämlich
eine alte Saufnase, die ständig mit ihrem Gewehr
herumfuchtelt. Ich sag dir, das geht irgendwann
nochmal ziemlich ins Auge.“
  „Ach nee: alte Saufnase“, fuhr der dünne Mann
hoch. „Was du nicht sagst. Und was ist mit dir,
Anatolij?“
  Anatolij hob selbstbewusst den Kopf. „Ich be-
nutze Alkohol nur zu rein medizinischen Zwe-
cken.“
  Viktor lachte heiser. „Natürlich. Und du reibst
dir mit dem Zeug abends lediglich die Beine ein.
Trotzdem, wenn diese Lena mir noch einmal in die
Quere kommt, lasse ich es wie einen Jagdunfall
aussehen.“
  Anatolij zügelte das Pony und stieg ab. „Wir sind
da.“ Er nahm seine Pelzmütze ab und wischte sich
mit dem Arm über die Stirn.
  Justin beobachtete die Männer fasziniert. Der
Universalübersetzer funktionierte großartig. Dann
rümpfte er die Nase. Der Gestank, den die beiden
selbst auf diese Entfernung ausdünsteten, war ge-
radezu bestialisch. Interessanterweise blieben sie
jedoch von den allgegenwärtigen Mücken ver-
schont, und Justin fragte sich, ob das etwas mitein-
ander zu tun haben konnte.
  „Ich frage mich jedes Mal, wie diese Englände-
rin hierherkommt und weshalb wir immer an der-
selben Stelle die Kutsche abliefern sollen“, sagte

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Viktor. „Wir sind mitten im Wald, hier ist nie-
mand!“
  Die Engländerin. Portitia Abbadon. Justin war
hier richtig, Max sei Dank.
  „Du kannst dich ja gerne mal hier auf die Lauer
legen und warten. Dann siehst du, was geschieht“,
schlug Anatolij vor.
  „Nur nicht“, sagte Viktor mit einem Schaudern.
„Ich bin froh, wenn ich so wenig wie möglich mit
ihr zu tun habe. Die ist mir unheimlich.“
  Anatolij kramte aus den Tiefen seines speckigen
Mantels eine Flasche hervor. Er nahm einen großen
Schluck, schüttelte sich lautstark und hielt sie sei-
nem Nebenmann hin.
  „Komm,Viktor. Trink erst mal einen.“
  Der hielt die Flasche hoch und begutachtete
misstrauisch ihren Pegel. „Ist ja fast leer!“
  Sein Kumpel grinste ihn lausbübisch an und
rülpste herzhaft. „Wir hätten noch Wasser.“
  „Gott verschon mich“, grummelte Viktor und
leerte den Rest in einem Zug. Dann warf er die Fla-
sche in den Wald.
  Die beiden gehörten wohl zu den Einheimischen,
die Portitia Abbadon rekrutiert haben musste.
Tumbe, grobe Gestalten, die keine Fragen stellten,
solange die Bezahlung stimmte. Plötzlich sirrte et-
was um Justins Nase herum und stach ihn am Auge.
  „Verdammtes Mistvieh“, zischte Justin und
schlug mit der flachen Hand zu.

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