Kap. 1. Ausverkauf der gesetzlichen Krankenkassen - das Märchen von der Gesundheitsreform - Die Seitennummerierung ist identisch mit jener in der ...

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Kap. 1. Ausverkauf der gesetzlichen Krankenkassen
- das Märchen von der Gesundheitsreform

Die Seitennummerierung ist identisch mit jener in der Buchveröffentlichung
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1. Ausverkauf der gesetzlichen Krankenkassen -das
   Märchen von der Gesundheitsreform

Seit Mitte der 70er Jahre wird die Reform des Gesundheitssystems1
in periodischer Regelmäßigkeit diskutiert. Von Krisen und Kosten-
explosion, vom Mißbrauch durch Patienten und Institutionen ist
ebenso die Rede wie von gewinnorientierten Ärzten und Zuliefer-
industrien. In dieser Debatte haben sich Schlagworte, Einzelfälle
und Stereotypen verselbständigt und den Status vermeintlich sach-
licher Argumente erhalten. Es ist kein Zufall, daß der entspre-
chende empirische Nachweis häufig ausbleibt. Nicht selten straft er
nämlich die Krisenrhetoriker Lügen oder deckt Probleme auf, die
politisch nicht opportun sind. Die Vertreter der »Kostendämpfung«
z. B. hören den Hinweis nicht gerne, daß die finanziellen Schwierig-
keiten der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) nicht auf
steigende Ausgaben, sondern auf zurückbleibende Einnahmen zu-
rückzuführen sind. Da ist es einfacher, die Schuld bei den Betroffe-
nen zu suchen und vom Mißbrauch der Kassenleistungen durch die
Patienten zu sprechen oder gar existentielle Ängste zu schüren, in-
dem soziale Absicherung und die Gefährdung des Standortes
Deutschland in einen unmittelbaren Zusammenhang gestellt wer-
den. So ist ein Dickicht von Halbwahrheiten und Märchen entstan-
den, das die Grundlage der aktuellen Gesundheitspolitik bildet und
das dieser Band entflechten möchte.

l Mit »Gesundheitssystem« ist im folgenden im engeren Sinne das medizinische Ver-
sorgungssystem gemeint. Das sind die Einrichtungen der ambulanten und stationären
medizinischen und pflegerischen Versorgung (Arztpraxen, Krankenhäuser, Rehabili-
tationskliniken), deren Zulieferer (Arznei-, Heil- und Hilfsmittel, medizinische Ge-
räte usw.) und die Finanzierungsinstitutionen wie die gesetzlichen Kranken-, Ren-
ten-, Unfall- und Pflegeversicherung sowie die privaten Krankenversicherungen.
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10     Ausverkauf der gesetzlichen Kassen

   Der Horizont der Gesundheitspolitik ist in mehrfacher Hinsicht
verengt: Gesundheitspolitik orientiert sich primär weder an relevan-
ten Krankheiten und Krankheitsbedingungen in der Bevölkerung
noch an den gesundheitsförderlichen und präventiven Möglichkei-
ten, sondern fast ausschließlich an der medizinischen Versorgung
und den von dieser erreichbaren Gesundheitsproblemen. Gesund-
heitspolitik ist auf das »Kostenproblem« der medizinischen Versor-
gung fixiert, während zentrale Fragen ihrer Wirksamkeit und Ange-
messenheit, ihrer sozialen Verteilung, der Humanität zwar zuweilen
in Reden angesprochen werden, aber kaum Gegenstand politischen
Bemühens sind. Das »Kostenproblem« selbst wird zusätzlich ver-
engt:
- Erstens interessieren nicht die immateriellen Kosten, die von
   Kranken und ihren Angehörigen in Form von Schmerzen, Äng
   sten, Unsicherheit, häuslichem Betreuungsaufwand usw. aufge
   bracht werden, sondern lediglich monetäre Kosten. Die Folge ist,
   daß die Einrichtungen der medizinischen Versorgung die be
   triebswirtschaftlich sichtbaren und spürbaren monetären Kosten
   zu Lasten dieser öffentlich unsichtbaren (und damit auch nicht in
   teressanten) Kosten senken.
- Zweitens wird nur derjenige Teil der monetären Kosten zum Ge
   genstand der Kostendämpfungspolitik, der in Form von Aus
   gaben der GKV anfällt und sich steigernd auf den Beitragssatz
   auswirkt. Das ist daran ersichtlich, daß seit dem ersten »Kosten-
   dämpfungsgesetz« 1977 die Erhöhungen der Selbstbeteiligung
   oder Leistungsausgrenzungen als »Kostendämpfung« bezeichnet
   werden. Dabei werden die Kosten nur verlagert von der Solidar-
   gemeinschaft der Versicherten auf diejenigen, die die Leistungen
   in Anspruch nehmen, also auf die Patienten.
In den letzten Jahren ist der Horizont noch weiter verengt worden.
Inzwischen geht es nur noch um den Teil des Beitrages, der (formal
- es gibt ja Möglichkeiten der Überwälzung) die Arbeitgeber bela
stet. Mit dem Schlagwort der »Standortsicherung« wird die Furcht
erzeugt, auch nur die geringste Erhöhung des Arbeitgeberbeitrages
müsse sich negativ auf die in Deutschland erzielbaren Kapitalrendi
ten und somit auf die Beschäftigung auswirken.
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                                        Solidaritätsprinzip in Gefahr   11

   Die Reformbemühungen verschiedener Bundesregierungen ha-
ben sich, unter dem Vorwand, die Beiträge stabil halten zu wol-
len, auf die schwächsten Glieder des Systems konzentriert: die
pflichtversicherten Patienten. Ihre Ansprüche auf Leistungen wer-
den immer weiter gekürzt, während Kranke gleichzeitig immer
höhere Zuzahlungen leisten müssen. Obgleich die finanzielle Lage
des Gesundheitssystems in den schwärzesten Farben gemalt wird,
bleiben zahlungskräftige Interessengruppen wie die pharmazeuti-
sche Industrie, die Zahnärzte und die ärztlichen Standesorganisa-
tionen von den »Reformen« weitestgehend unberührt. Auch viele
Besserverdienende sind am Solidaritätsausgleich der GKV nicht
oder nicht ausreichend beteiligt.
   Die Zukunft gehört in den Augen vieler Interessenvertreter und
auch Politiker einer marktwirtschaftlich organisierten Gesundheits-
versorgung nach dem Vorbild der privaten Krankenversicherungen
(PKV). Die »Stärkung der Eigen Verantwortung« wird als einer
ihrer großen Vorteile gesehen.
   Verantwortung setzt jedoch sowohl Fähigkeiten als auch Mög-
lichkeiten voraus, autonom zu handeln. Wer an der Gestaltung sei-
ner Arbeits- und Lebensumwelt teilhaben kann und wer dazu die
bildungsmäßigen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Fähigkei-
ten besitzt, kann verantwortlich sein. Sowohl die objektiven als
auch persönlichen Voraussetzungen sind sozial ungleich verteilt.
»Stärkung der Eigenverantwortung« als Legitimationsformel beim
Abbau des Sozialstaats verstärkt diese Chancenungleicheit, die
Schwachen werden weiter geschwächt. Das Solidaritätsprinzip wird
suspendiert.

Solidaritätsprinzip in Gefahr

Das Solidaritätsprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung wird
zu Recht als eine zivilisatorische und sozialintegrative Leistung ge-
rühmt. Sein gesundheitspolitischer Wert geht noch darüber hinaus.
Es ist die sozialpolitische Antwort auf die Tatsache, das gerade bei
Menschen mit hohem Krankheits- bzw. Sterberisiko die Fähigkeit
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12     Ausverkauf der gesetzlichen Kassen

zur Selbsthilfe gering ist, also auf das sogenannte soziale Dilemma.
Jede Art von Gesundheitspolitik stellt sich zu diesem Dilemma in
Beziehung, auch wenn sie davon nichts weiß. Maßnahmen der indi-
viduellen Bezahlung bzw. »Zuzahlung« von Gesundheitsleistungen
tragen zu dessen Vergrößerung bei. Davon abgesehen, daß die In-
anspruchnahme des überwiegenden Teils der Leistungen nicht vom
Patienten, sondern von Ärzten entschieden wird, entfalten Zuzah-
lungen in spürbarer Höhe die angestrebte »Steuerungswirkung«
(Senkung der Inanspruchnahme) nur bei Patienten aus unteren
Einkommensschichten. Aber gerade deren Krankheitsrisiko ist
überdurchschnittlich hoch, während die individuellen Möglichkei-
ten, auf dieses einzuwirken, in dieser Personengruppe besonders
niedrig sind. Dieser Zusammenhang wird in den strukturellen Prin-
zipien der Sozialversicherung berücksichtigt und zwar durch
- den einkommensabhängigen Beitragssatz der GKV im Unter
   schied zur risikobezogenen Prämie der Privatversicherung und
- den sozialversicherungsrechtlichen Anspruch auf »ausrei
   chende«, »bedarfsgerechte«, dem »allgemeinen Stand der medi
   zinischen Erkenntnisse entsprechende« sowie »wirksame« und
   »humane« Leistungen, die das »Notwendige« nicht überschrei
   ten, ohne Rücksicht auf Einkommen und Status (Sozialgesetz
   buch V und XI).
- 88,5 % der deutschen Bevölkerung sind in der GKV versichert; in
   den neuen Bundesländern sind es fast 97 %. (Dabei sind 40,7 %
   Pflichtmitglieder, 20,0 % Rentner, 8,5 % freiwillige Mitglieder
   und 30,8 % mitversicherte Familienangehörige.) 9,1 % der Bevöl
   kerung sind privatversichert. Der Schutz der GKV umfaßt den
   Teil-Ersatz für krankheitsbedingten Lohnausfall (nach Beendi
   gung der Lohnfortzahlung durch die Arbeitgeber) und Behand
   lungsaufwand bei Krankheit. Hinzu kommen Leistungen zur
   Früherkennung und medizinischen Prävention, Mutterschafts
   hilfe bei Schwangerschaft und Entbindung, zur ambulanten
   Pflege und Rehabilitation.
Die Gesamtzahl der Krankenkassen geht laufend zurück und be-
trug 1995 noch 875 (1970:1815; Daten des Gesundheitswesens 1995).
Seit den 70er Jahren verlieren die einzelnen Kassen Autonomie an
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                                       Solidaritätsprinzip in Gefahr   13

die Verbände der einzelnen Kassenarten, unter denen die größte
die Allgemeinen Ortskrankenkassen (39,6 % der Mitglieder) sind,
gefolgt von den Ersatzkassen (30,0 %), den Betriebskrankenkassen
(10,3 %), der Bundesknappschaft (2,1 %) und den Landwirtschaft-
lichen Krankenkassen (1,6%). Hinzu kommen die privaten Kran-
kenversicherungen (9,1 %) sowie besondere Sicherungsformen der
Polizei und der Bundeswehr (2,3 %). Die gesetzlichen Krankenkas-
sen sind weder staatliche noch private Institutionen, sondern sie
sind »Körperschaften des öffentlichen Rechts« mit einer staatlich
beaufsichtigten Selbstverwaltung. Die Beiträge werden - formal be-
trachtet - zu je 50% von den Mitgliedern und den Arbeitgebern
aufgebracht.
   In der Solidargemeinschaft der Versicherten gibt es folgende ge-
wollte Umverteilungsprozesse:
- von gesunden zu kranken Versicherten,
- von alleinstehenden Versicherten zu Familien,
- von jungen zu alten Versicherten und
- von Beziehern höherer zu Beziehern geringerer Einkommen.
Das Solidaritätsprinzip funktioniert nur solange, wie der Versicher
tengemeinschaft tatsächlich ausreichend viele junge, gut verdie
nende, gesunde Mitglieder angehören, um die Versorgung von
kranken und älteren Mitgliedern mit geringerem Einkommen zu
einem erträglichen Beitragssatz zu gewährleisten. Wie die interna
tionale Erfahrung lehrt, finden sich in Grundsicherungsmodellen,
wie sie für diejenigen gelten sollen, die nicht Mitglieder der nach
privatem Vorbild organisierten Kassen sind, tatsächlich nur noch
die »Bedürftigen« mit niedrigen Einkommen und/oder nicht mehr
versicherbarem Krankheitsrisiko. Ein Solidaritätsausgleich kann
hier nicht mehr stattfinden.
   In der Praxis ist das Solidaritätsprinzip bereits heute in mehr-
facher Weise eingeschränkt: Personen mit hohen, über der Versi-
cherungspflichtgrenze liegenden Einkommen sind vom Solidaraus-
gleich ausgenommen, und die Einkommen freiwillig Versicherter
werden nur bis zu einer Beitragsbemessungsgrenze mit dem Bei-
tragssatz belastet. Beispielsweise bezahlt der Versicherte mit einem
Einkommen von 10000 DM bei einem Beitragssatz von 11 % und
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14    Ausverkauf der gesetzlichen Kassen

einer Beitragsbemessungsgrenze von 6500 DM nicht 1100 DM, son-
dern mit nur 715 DM lediglich 7,15 % statt 11 % seines Einkom-
mens. Die nachteiligen Folgen für die Risikogemeinschaft sind noch
höher, da die ausgegrenzten Bezieher hoher Einkommen ein unter-
durchschnittliches Krankheitsrisiko haben.
   Eine Gefährdung des Solidaritätsprinzips liegt auch in der Erwei-
terung des wirtschaftlichen Wettbewerbs nach dem »Gesundheits-
struktur-Gesetz« 1993. Mit der Möglichkeit der Pflichtmitglieder,
die Kasse selbst zu wählen, stehen die Kassenverbände in Konkur-
renz um Mitglieder. Entscheidender Wettbewerbsparameter ist die
Höhe des Beitragssatzes. Die Kassen sollen damit zu einer aggressi-
veren Vertragspolitik mit den Leistungsanbietern gebracht werden,
um deren Preise zu dämpfen.
   Die Krankenkassen werden durch den Wettbewerb zu konkurrie-
renden Unternehmen. Es besteht die Gefahr, daß sie sich durch Dis-
kriminierung besonders »unrentabler« Mitglieder Vorteile zu ver-
schaffen suchen. Darum wurde ein »Risikostrukturausgleich
(RSA)« eingeführt. Durch den RSA sollen finanziell alle Kassen so
gestellt werden, als hätten sie
- die gleichen Altersstrukturen,
- den gleichen Anteil von mitversicherten Familienangehörigen,
- die gleichen Grundlohnstrukturen,
- die gleiche Anzahl der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrentner
   (deren Bedarf weit über dem Durchschnitt liegt),
- und die gleiche Zusammensetzung der Geschlechter.
Durch die Einführung dieses Ausgleichs wurde zunächst das So-
lidaritätsprinzip gestärkt. Die Beitragsdifferenzen zwischen den
Kassenarten haben sich nach der Einführung des RSA deutlich
verringert. Wieso aber gibt es immer noch deutliche Beitragssatz-
unterschiede? Es stellt sich heraus, daß nur ein Teil der Mehr-
ausgaben aufgrund des höheren sozialen Krankheitsrisikos aus-
geglichen wird. Ein 50jähriger Bauarbeiter kann nicht mit einem
50jährigen Bankangestellten gleichgesetzt werden, er hat ein deut-
lich höheres Krankheitsrisiko. Hinzu kommt, daß die Härtefallrege-
lungen, die Einkommensschwache (1997 im Westen: 1708 DM
brutto, im Osten: 1456 DM brutto) und chronisch Kranke von
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                                              Solidaritatsprinzip in Gefahr   15

Zuzahlungen teilweise oder ganz befreien, beim RSA nicht berück-
sichtigt werden. Dadurch werden insbesondere die Allgemeinen
Ortskrankenkassen finanziell belastet. Auf sie entfallen 65 % der
Härtefälle der GKV-West und 79 % der GKV-Ost (AOK-Bundes-
verband 1997), für die sie die Zuzahlungen übernehmen muß, die
sich nach dem Beitragsentlastungsgesetz von 1996 und den Kran-
kenversicherungs-Neuordnungsgesetzen von 1997 dynamisch erhö-
hen werden.
   Das verstärkt nun wieder den Anreiz der Kassen, nicht um Mit-
glieder schlechthin, sondern nur um erwünschte Mitglieder, also
»gute Risiken«, zu konkurrieren und »schlechte Risiken«, trotz Kon-
traktzwang1, durch - meist passive - Selektionsstrategien zu mei-
den. Die Kassen verlieren tendenziell den Anreiz, die für chronisch
kranke und multimorbide Menschen besonders notwendigen Lei-
stungen zu verbessern, da sie sonst Gefahr laufen, für diese Grup-
pen besonders attraktiv zu sein und damit im Wettbewerb Nachteile
zu haben.
   Eine weitere Einschränkung des Solidaritätsprinzips sind Zu-
zahlungen. Obwohl diese seit 1977 durch zahlreiche Kostendämp-
fungsgesetze für die meisten Leistungsarten eingeführt und erhöht
worden sind, werden damit keine Kosten gesenkt, sondern auf die-
jenigen Versicherten umverteilt, die Leistungen in Anspruch neh-
men. Die Lehrbücher sprechen von einem »Spareffekt« in Höhe der
Zuzahlungen und von einem »Steuerungseffekt« in Höhe der ver-
minderten Inanspruchnahme. In der Vergangenheit haben Zuzah-
lungen nicht in nennenswertem Umfang dazu geführt, daß weniger
Leistungen in Anspruch genommen wurden. Jedoch wird das für
die Zukunft als Folge der 1996/97 beschlossenen Gesetze zur Dyna-
misierung der Zuzahlungen erwartet.
   Die Bezieher geringer Einkommen sind davon in doppelter
Weise betroffen. Zum einen beanspruchen Zuzahlungen bei festen
Zuzahlungsbeträgen einen größeren Anteil ihres Einkommens als
bei Besserverdienenden und zum anderen haben sie ein höheres

l Mit Ausnahmen (Betriebskrankenkassen) ist es den Krankenversicherungen nicht
gestattet, die Aufnahme eines Versicherten abzulehnen.
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16     Ausverkauf der gesetzlichen Kassen

Krankheitsrisiko und - bei entsprechender Inanspruchnahme - so-
mit auch absolut höhere Zuzahlungen zu tragen. Durch die neuen
Regelungen wird die soziale Schere im Gesundheitswesen wieder
ein Stück weiter geöffnet.

Neuordnung mit Nebenwirkungen: die Gesetze von 1996 und 1997

Die Gesetze der Jahre 1996 und 1997 ignorieren den Wunsch der
Mehrheit der Bevökerung, das Solidaritätsprinzip beizubehalten.1
Genausowenig tragen sie dazu bei, daß die überkommenen Struk-
turen im Gesundheitswesen modernisiert werden und die Gesund-
heitspolitik sich stärker auf die Gesundheitsprobleme der Bevöl-
kerung konzentriert. Statt dessen lassen sie drei Orientierungen
erkennen:
1. Gesundheitspolitik ist weitgehend die Anwendung neo- bzw.
   wirtschaftsliberaler Wirtschafts- und Finanzkonzepte auf die ge
   setzliche Krankenversicherung.
2. Eigenheiten des Gesundheitswesens interessieren nur nach
   Maßgabe der dort bestehenden interessenpolitischen Kräftever
   hältnisse und Klientelbeziehungen. Um dieser willen nimmt man
   auch erhebliche künftige Kostensteigerungen in Kauf (z. B. Weg
   fall der »Positivliste«, Verzicht auf Budgetierung).
3. Elemente solidarischer Finanzierung sollen - unter dem Vor
   wand, sie zu erhalten - eliminiert oder geschwächt werden. Bei
   der Entsolidarisierung handelt es sich nicht um ungewollte »Ne
   benwirkungen«, sondern um ein eigenes politisches Ziel wirt
   schaftsliberaler Kräfte, die sich in Laufe des Reformprozesses
   durchgesetzt haben. Da viele dieser Maßnahmen (wie die Ein
   führung von Privatversicherungselementen) nachweisbar die
   Kosten erhöhen (wenn z. B, junge gesunde Versicherte Beitrags
   rückerstattungen erhalten, muß der Beitragssatz für kranke äl-

1 Die hohe Akzeptanz der Solidaritätssysteme in der Bevölkerung wurde z. B. durch
eine Repräsentativbefragung in Nordrhein-Westfalen bestätigt, bei der 75 % der Be-
fragten diese befürworten (MAGS [Hg.] 1995).
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                                             Neuordnung mit Nebenwirkungen         17

    tere Versicherte steigen), ist es ganz offensichtlich, daß das Spar-
    argument lediglich vorgeschoben ist.
Was bei der dritten Stufe der Gesundheitsreform für die sozialver-
sicherten Bürger der Bundesrepublik herausgekommen ist, läßt sich
zu fünf Blöcken zusammenfassen:
Erstens wurde eine Reihe von Leistungen der Krankenversicherung
gestrichen oder gekürzt:
- der Kassenanteil für Brillenfassungen
- der Zuschuß zum Zahnersatz für alle Mitglieder, die nach 1978
   geboren wurden
- die Kürzung der Kuren von vier auf drei Wochen und die Verlän
   gerung des Wiederholungsintervalls von drei auf vier Jahre sowie
   die Anrechnung von zwei Urlaubstagen pro Kurwoche
- der Wegfall der Gesundheitsförderung als Kassenleistung
- die Kürzung des Krankengeldes nach Ablauf der Lohnfortzah
   lung auf 70 % des Brutto- bzw. maximal 90 % des Nettoentgel
   tes.
Zweitens wurden Eingriffe in die Gestaltung der Beitragssätze der
GKV vorgenommen:
   Die Beitragssätze wurden für 1996 festgeschrieben und mußten
zum 1.1.1997 um 0,4 % reduziert werden.
Drittens wurden - als spürbarstes Element des Ganzen - die Zuzah-
lungen der Versicherten zu fast allen Leistungen (Ausnahme Arzt-
besuche) z.T. drastisch erhöht:
- Bei den Medikamenten, Krankenhaus- und Kurtagen sowie
   Fahrtkosten steigt sie pro Packung bzw. Tag oder Fahrt um wei
   tere 5 DM plus l DM für jedes Zehntel Prozent Beitragserhö
   hung (z. B. steigt dann bei einer Beitragserhöhung um 0,3 % die
   Zuzahlung von 10 DM auf 13 DM pro Medikament).1

l Der Bundesgesundheitsminister hat diese Koppelung zwischen Beitragserhöhung
und Zuzahlung öffentlich als das Kernstück seiner Reform bezeichnet. Die Idee ist
die, daß bei Wahlfreiheit der Versicherten angenommen wird, Steigerungen der Zu-
zahlung würde sie veranlassen, die Kasse zu wechseln, was die Kassen wiederum nur
verhindern können, indem sie die Beitragssätze stabil halten. Mittlerweile hat man of-
fenbar die Brisanz einer solchen weiteren Steigerung der Zuzahlungen im Wahljahr
1998 erkannt und dafür gesorgt, daß. sie de facto noch hinausgezögert wird.
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18    Ausverkauf der gesetzlichen Kassen

- Die Zuzahlung bei Physiotherapie steigt von 5 % auf 15 %.
- Die bisherigen prozentualen Zuschüsse zum Zahnersatz werden
  zu Festbeträgen.
- Härtefallregelungen sollen diese Steigerungen für Bezieher ge
  ringer Einkommen abfedern, die maximale Belastung einzelner
  Versicherter soll 2 % des Einkommens pro Jahr nicht übersteigen
  (bei Chronischkranken l %).
Viertens wurden privatwirtschaftliche Elemente eingeführt wie:
- Beitragsrückzahlung bei Nichtinanspruchnahme von Leistungen
- Wahlmöglichkeit der Kostenerstattung (Versicherte bezahlen die
  private Arztrechnung und reichen sie bei ihrer Versicherung ein,
  die Differenz tragen sie selbst)
- Beitragssenkung durch höhere freiwillige Selbstbehalte
- außerordentliches Kündigungsrecht der Versicherten bei Steige
  rungen der Beitragssätze.
Fünftens richten sich einige Maßnahmen auf die Strukturen des
Versorgungssystems:
- Die Kassen dürfen zeitlich befristet Modellvorhaben für neue
  Verfahren und Organisationsformen der Leistungserstellung
  selbst regeln und finanzieren1.
- Die Arznei- und Heilmittelbudgets der Kassenärzte entfallen und
  werden durch arztgruppenspezifische Richtgrößen je Facharzt
  gruppe ersetzt.
- Kassenärzte erhalten feste Punktwerte bis zu einer Höchstgrenze
  je Fachgruppe.
- Die Pflegepersonalregelung für Krankenhäuser (zur Verbesse
  rung des Pflegepersonalbestandes) wurde ausgesetzt.
- Das Gesamtbudget für Krankenhäuser wird aufgeteilt in Fallpau
  schale, Sonderentgelte und ein »Restbudget«, das an das Wachs
  tum der beitragspflichtigen Einkommen gekoppelt ist.
- Die Großgeräteplanung entfällt.
  Hinzugefügt werden muß noch, daß - überwiegend auf Druck der
FDP und ihrer Sponsoren - im Vorfeld dieser Reformen eine Reihe

l Das dürfte das einzige Reformelement sein, das unter dem Aspekt der Modernisie-
rung des Versorgungssystems einen Effekt haben kann.
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                                         Neuordnung mit Nebenwirkungen       19

von Gesetzen erlassen wurden, die man als »Klientelgesetze« zu-
sammenfassen kann: So wurde die seit 1993 gesetzlich vorgesehene
Liste verordnungsfähiger Arzneimittel in der Krankenversicherung
(»Positivliste«) auf Betreiben der pharmazeutischen Industrie ge-
strichen und das extra dafür eingerichtete Institut wieder aufgelöst.1
In einem zweiten Schritt wurden dann die bewährten Festbetrags-
regelungen für Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen ab-
geschafft, und es entfällt die Abgabe preisgünstiger importierter
bzw. reimportierter Arzneimittel durch Apotheken.2
   Am Beispiel der dritten Stufe der Gesundheitsreform wird deut-
lich, daß der Abbau des Solidaritätsausgleichs sich nicht einer
durchgängigen gesellschaftlichen Tendenz zur Entsolidarisierung
oder einem >Werteverfall< verdankt, sondern das Resultat gezielten
politischen Handelns ist. Von einer »Gesundheitspolitik« könnte
man sinnvollerweise erst dann sprechen, wenn politisches Handeln
die verfügbaren personellen, finanziellen und wissenschaftlichen
Mittel zur Lösung von Gesundheitsproblemen einsetzt. Die Ge-
staltung und Finanzierung des Systems der medizinischen Versor-
gung stünde hier im Zentrum. Die Bemühungen, die in den letzten
Jahren als »Gesundheitsreform« bezeichnet worden sind, haben
ihren Namen jedoch nicht verdient. Diese Reformen verfolgen im
wesentlichen eine neoliberale wirtschafts- und finanzpolitische
Strategie für die gesetzliche Krankenversicherung und berück-
sichtigen dabei besonders Klientelinteressen. Die Krankenver-
sorgung wird dadurch weder wirkungsvoller an den realen Ge-
sundheitsproblemen ausgerichtet noch wird sie humaner oder
kosteneffektiver gestaltet, und die soziale Ungleichheit bei Ge-
sundheits- und Versorgungschancen wird sich in Zukunft eher er-
höhen.
   Erklärungs- und Lösungsmuster, in denen der soziale und politi-
sche Status quo der Gesellschaft seinen konformen Ausdruck fin-
det, haben es leicht, zur herrschenden Meinung zu werden: die

1 5. SGB V-Änderungsgesetz (Das Sozialgesetzbuch V regelt die gesetzliche Kran
kenversicherung).
2 6. und 7. SGB-V-Änderungsgesetz
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20    Ausverkauf der gesetzlichen Kassen

ihnen auferlegten Beweislasten sind geringer, die mit ihnen verbun-
denen Belohnungen höher. So ist es auch in der Gesundheitspolitik.
Indem der Öffentlichkeit eine Krise suggeriert wird, scheinen sich
die entsprechenden politischen Therapien geradezu aufzudrängen.
Aus Halbwahrheiten und Stereotypen entstandene Rhetorik ver-
selbständigt sich, wird zu einem realen Phänomen, dessen Bekämp-
fung niemand mehr ernsthaft in Frage stellt. Um eine sachliche De-
batte über das Gesundheitswesen zu ermöglichen, müssen zunächst
Ursachen und Elemente dieser vermeintlichen Krisen empirisch
überprüft und bewertet werden.
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