Cannabis: Potential und Risiken - Sächsische Landesärztekammer

 
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Cannabis: Potential und Risiken - Sächsische Landesärztekammer
themenheft

Cannabis: Potential und Risiken
Ärzte zwischen Skylla und Charybdis

Am 18. Juli 2018 fand in der Sächsi-       Indikationsstellung und bei fehlenden
schen Landesärztekammer eine Veran-        Therapiealternativen ermöglicht wer-
staltung zur Verordnung von Canna-         den, diese Arzneimittel zu therapeuti-
bispräparaten statt. Fast 120 Ärzte,       schen Zwecken in standardisierter
aber auch Apotheker, Polizisten, Juris-    Qualität durch Abgabe in Apotheken zu
ten und weitere mit der Problematik        erhalten. Für eine ausreichende quali-
befasste Teilnehmer wurden nicht nur       tätsgesicherte Versorgung mit Canna-
hervorragend informiert, sondern es        bisarzneimitteln soll der Anbau von
wurde auch sehr kontrovers, dank der       Cannabis ausschließlich zu medizini-
ausgewogenen Moderation des Präsi-         schen Zwecken in Deutschland ermög-
denten der Sächsischen Landesärzte-        licht werden, entsprechende Aufgaben
kammer, Erik Bodendieck, und immer         dem Bundesinstitut für Arzneimittel
wertschätzend diskutiert. Gerade diese     und Medizinprodukte (BfArM) übertra-
Diskussionen sind wichtig und die          gen werden.
Basis jeder Meinungsbildung. Informa-      Das ist die eine Seite der Medaille,

                                                                                                                             © SLÄK
tion und Emotion fanden in dieser Ver-     sozusagen Skylla. Aber der Präsident
anstaltung ein zielführendes Gleichge-     machte keinen Hehl daraus, wie
                                                                                     Erik Bodendieck, Präsident, eröffnete
wicht, auch wenn die Vorschläge für        schwierig er dieses Gesetz in der         die Veranstaltung
eine Problemlösung teilweise sehr weit     Umsetzung für ihn als Arzt empfindet,
auseinander liegen.                        da seiner Meinung nach die Evidenz für    Abhängigkeiten durch Prävention und
                                           die Verordnung bei den unterschied-       Suchthilfe finanziell abgefedert werden
„Hanf ist eine hochwachsende, krautige     lichsten Indikationen sehr dürftig ist.   könnten, hält der Präsident für politi-
 Pflanze, deren Stängel Fasern enthal-     Wie konnte es also zu einem solchen       schen Zynismus.
 ten, aus denen Seile und anderes her-     Eingriff des Gesetzgebers in die sonst    Zur Klärung der Frage nach der Evidenz
 gestellt werden, deren Samen ölhaltig     üblichen sehr strengen Zulassungsre-      (also den Chancen), aber auch zur Klä-
 sind und aus deren Blättern, Blüten,      gelungen im GKV-Bereich kommen?           rung der Evidenz zu den Risiken des
 Blütenständen Haschisch und Marihu-       Und wie können die ärztlichen Kollegen    Konsums hat das Bundesministerium
 ana gewonnen werden. Hanf zählt zu        bei der konkreten Verordnung unter-       für Gesundheit 2015 ein Gutachten bei
 den ältesten Nutz- und Zierpflanzen       stützt werden?                            der Klinik für Psychiatrie und Psycho-
 der Erde.“ Mit diesem Zitat aus dem                                                 therapie in München unter Ägide von
 Duden begann der Präsident die Ein-       Zur Problematik, die sich aus der neuen   Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Eva Hoch in Auf-
 führung in das sensible Thema. Unter      Verordnungsfähigkeit ergeben, kommt       trag gegeben. Dr. Hoch ist Leiterin der
 Verweis auf das im März 2017 verab-       die zunehmende gesellschaftliche Dis-     Forschungsgruppe Cannabinoide an der
 schiedete Gesetz zur Änderung betäu-      kussion hinzu, den Cannabiskonsum         Klinik für Psychiatrie und Psychothera-
 bungsmittelrechtlicher und anderer        generell zu legalisieren. Auch hierzu     pie der Ludwig-Maximilians-Universität
 Vorschriften ging er zunächst auf das     muss sich die Ärzteschaft positionie-     München.
Ziel des Gesetzgebers ein, die Verkehrs-   ren. Nach Meinung des Kammerpräsi-        Unerklärlicher Weise erfolgte die Ver-
 und Verschreibungsfähigkeit von diver-    denten ist insbesondere die fatale Wir-   abschiedung des Gesetzes VOR Ab­­
 sen Cannabisarzneimitteln herzustel-      kung des Konsums auf die Entwicklung      schluss dieses Gutachtens, dessen
 len, wie zum Beispiel von getrockneten    des juvenilen Gehirns ein gewichtiges     Vorbericht seit September 2017 vorliegt
 Cannabisblüten und Cannabisextrak-        Argument gegen eine Legalisierung.        und den Dr. Hoch im weiteren Veran-
 ten in standardisierter Qualität. Damit   Berechnungen, dass über die geschätz-     staltungsverlauf vorstellte. Den Kurz-
 soll Patienten mit schwerwiegenden        ten Steuereinnahmen von zwei Milliar-     bericht finden Sie unter
 Erkrankungen nach entsprechender          den Euro Auswirkungen auf mögliche        www.bundesgesundheitsministerium.de.

Ärzteblatt Sachsen 08|2018                                                                                                        363
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berufspolitik
         themenheft

 Dr. Hoch führte nun zunächst kurz in       schaftlichen Evidenz orientierte Be­­       Abstinenz von Cannabis vorliegen
  die aktuelle Cannabinoidforschung ein,    wertung der in den letzten zehn Jahren      (> ein Monat) finden sich nur in
  die eine erhebliche Dynamik durch         publizierten Daten zu erstellen. Im Mit-    Einzelstudien (zum Beispiel bei
  die Entdeckung des Endocannabinoid-­      telpunkt der Analyse sollten folgende       Probanden mit frühem Konsum­
 Systems als Teil des Nervensystems         drei Bereiche stehen:                       beginn in der Adoleszenz).
  und seiner vielfältigen Funktionswei-     A.	 Untersuchungen zu psychischen,        • Bezüglich des Hodenkrebsrisikos
 sen erfuhr. Es handelt sich dabei um           organischen und sozialen Folgen         zeigt sich ein signifikanter Zusammen-
  ein komplexes Signalübertragungssys-          des Konsums von pflanzlichen und        hang mit Cannabis, insbesondere für
  tem mit Interaktionen zwischen zahl-          synthetischen Cannabisprodukten         Nicht-Seminome (Mischtumore).
  reichen Neurotransmittern. Das Zu­­           zum Freizeitgebrauch,                 • Für andere Krebserkrankungen
 sammenspiel der verschiedenen Trans-       B.	 Untersuchungen zur Wirksamkeit,         können anhand der aktuellen Daten-
  mitter ist dabei noch nicht endgültig         Verträglichkeit und Sicherheit von         lage keine Schlussfolgerungen
  geklärt. Es bedarf weiterer Grundla-          Cannabisarzneimitteln bei organi-          getroffen werden.
  genforschung in den nächsten Jahren.          schen und psychischen Erkran­         • Chronischer Cannabiskonsum steht
 Aber schon jetzt gilt es als erwiesen,         kungen sowie                               im Zusammenhang mit strukturellen
  dass die Adoleszens in diesem komple-     C.	 Untersuchungen zu den Motiven           Veränderungen in Gehirnregionen,
 xen System eine ausgesprochen sen-             und Erwartungen eines nicht-ärzt-       welche eine hohe Dichte an CB1
  sible beziehungsweise vulnerable              lich verordneten Gebrauchs von          Rezeptoren aufweisen (insbeson-
 Phase ist, darüber hinaus gibt es              Cannabis (das heißt im Sinne einer         dere Amygdala und Hippocampus.
 ­Hinweise auf ge­­schlechtsspezifische         Selbstmedikation).                      Diese Strukturen sind verantwort-
  Unterschiede, die auf die Funktion von                                                   lich für die Gedächtnisbildung).
  Hormonen bei der Interaktion der Neu-     Methodisch wurden nach den gültigen • Es gibt Hinweise für Entwicklungs-
  rotransmitter zu­­rückgeführt wird.       internationalen Standards (vor allem        störungen des Fötus bei Cannabis-
  Interessant war ein kurzer Exkurs über    dem „Cochrane Handbook of Systema-          konsum der Mutter (verringertes
  die Geschichte von Hanf in der thera-     tic Reviews“ [Higgins & Green, 2013]           Geburtsgewicht und erhöhte Not-
  peutischen Anwendung. Erste Berichte      und dem „Regelwerk der Arbeitsge-           ­­­wendigkeit für intensivmedizinische
  gibt es aus dem dritten Jahrtausend v.    meinschaft wissenschaftlicher Medizi-       Behandlung).
  Chr. in China. Der Exkurs endete mit      nischer Fachgesellschaften“ [AWMF, • Ob Cannabiskonsum einen Einfluss
  den Auswirkungen der neuen Gesetz-        2012]) systematische Literaturrecher-       auf die Gesamtmortalität hat, wird
  gebung aus 2017: Von März 2017 bis        chen durchgeführt und ein umfassen-            in den Studien nicht einheitlich
  März 2018 wurden 46.000 Rezepte ver-      des Review erstellt. Details können im      beantwortet und eine direkte
  ordnet mit zunehmender Tendenz.           Kurzbericht nachgelesen werden.             Schlussfolgerung ist nicht möglich.
  Im Gesetz wurde ausdrücklich darauf                                                 • Bezüglich erhöhter Suizidalität
 verzichtet, einzelne Indikationen aufzu-   Hier exemplarisch einige Zitate, die für    zeigte sich in drei von vier Studien
  führen. Cannabisblüten und -extrakte      die tägliche ärztliche Praxis interessant      ein leichter Zusammenhang mit
  können daher für jede Indikation ver-     sind:                                          Cannabiskonsum.
  ordnet werden, wenn „eine allgemein                                                 • Durch akuten Cannabiskonsum
 anerkannte, dem medizinischen Stan-        Bei der Untersuchung der psychischen,          erhöht sich das Verkehrsunfallrisiko
  dard entsprechende Leistung im Ein-       organischen und sozialen Folgen des            (Faktor 1,25 bis 2,66). Gleichzeitiger
 zelfall nicht zur Verfügung steht“ oder    Freizeitgebrauches gab es teilweise         Konsum von Cannabis mit Alkohol
  wenn diese Leistung „im Einzelfall nach   eine recht gute Datenlage:                  scheint die Verkehrssicherheit
  der begründeten Einschätzung des          • Eindeutige Einschränkungen finden         stärker zu beeinträchtigen als reiner
  behandelnden Vertragsarztes unter            sich in der Gedächtnisleistung, der         Cannabiskonsum.
 Abwägung der zu erwartenden Neben-            Aufmerksamkeit und der Psycho-         • Früher Beginn (< 15. Lebensjahr) und
  wirkungen und unter Berücksichtigung         motorik nach akutem Konsum.              häufiger Cannabiskonsum in der
  des Krankheitszustandes der oder des      • Kognitive Funktionsdefizite durch            frühen Adoleszenz sind mit geringe-
 Versicherten nicht zur Anwendung              chronischen Cannabiskonsum               rem Bildungserfolg assoziiert.
  kommen kann“.                                scheinen vorübergehend zu sein.        • Inkonsistente und zu wenige
 Ziel des Gutachtens wares, eine objek-     • Hinweise auf kognitive Einschrän-            empirische Daten liegen bezüglich
  tive, valide und an der besten wissen-       kungen, die auch noch nach längerer         Cannabis-assoziierter Auffälligkeiten

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Cannabis: Potential und Risiken - Sächsische Landesärztekammer
berufspolitik
                                                                                                       themenheft

      im Sozialverhalten, der Straffälligkeit   • Etwa 26,3 Prozent der Bürger der       wurde häufig untersucht. Die Therapie
      sowie der familiären, beruflichen           Europäischen Union (15 bis 64 Jahre    war meistens von kurzer Dauer < = 12
      und wirtschaftlichen Entwicklung vor.       alt) haben in ihrem Leben Erfahrung    Wochen, teilweise nur einige Tage).
•     Cannabiskonsum und Cannabisab-              mit Cannabis gemacht.                  Cannabisarzneimittel wurden gemein-
      hängigkeit erhöhen das Risiko für         • Cannabiskonsum kann zu einem           sam mit etablierten, zugelassenen
      Angststörungen leicht (Faktor 1,3           Abhängigkeitssyndrom führen, das       Schmerzmitteln (Analgetika) verab-
      beziehungsweise 1,7). Nicht alle Ein-       unter anderem auch Toleranzent-        reicht. Sie wurden in der Regel gegen-
­­	   zelstudien belegen diesen Befund.           wicklung und Entzugssymptome           über Placebo getestet und selten
•     Früher Konsumbeginn (< 16 Jahre),           einschließt.                           gegenüber etablierten Analgetika:
      langjähriger, wöchentlicher Canna-        • In Deutschland geht man davon aus,
      bisgebrauch und aktuelle Cannabi-           dass bei einem Prozent der 18- bis    • Cannabisarzneimittel bei chroni-
      sabhängigkeit erhöhen das Risiko            64-jährigen Bevölkerung eine            schen Schmerzen waren Placebo
      für Angststörungen (Faktor 3,2)             cannabisbezogene Störung                teilweise in der Schmerzreduktion
      (Ergebnisse einer Längsschnittstudie).      (Cannabismissbrauch: 0,5 Prozent        (um mindestens 30 Prozent) überle-
•     Das Risiko für Depressivität erhöht         und Cannabisabhängigkeit:               gen. Für eine substantielle Schmerz-
      sich durch Cannabiskonsum leicht, in        0,5 Prozent) vorliegt.                  reduktion (um mindestens 50 Pro­­-
      Abhängigkeit von der Intensität des       • Cannabiskonsumenten stellen             zent) liegt derzeit keine Evidenz vor.
      Konsums (Faktor 1,3 bis 1,6).               inzwischen auch in Deutschland bei      Alle Übersichtsarbeiten finden
•     Ein Neuauftreten bipolarer (das             den erstmals wegen illegalen            weitere, sekundäre Wirksamkeits-
      heißt manisch-depressiver) Symp-            Substanzkonsums behandelten             belege zugunsten der Cannabisarz-
      tome wird durch Cannabiskonsum              Personen die größte Gruppe dar.         neimittel (zum Beispiel eine Reduk-
      um den Faktor 3 erhöht.                   • Epidemiologische Studien schätzen,      tion der durchschnittlichen Schmer-
•     Die Inzidenz von bipolaren Störun-          dass etwa neun Prozent aller            zintensität, einer größeren durch-
      gen durch Cannabiskonsum erhöht             Personen, die jemals Cannabis           schnittlichen Schmerzreduktion“
      sich um den Faktor 1,4 (bei wöchent-        konsumiert haben, eine cannabis­        oder einer „starken oder sehr
      lichem Konsum) beziehungsweise              bezogene Störung entwickeln.            starken globalen Verbesserung“).
      2,5 (bei nahezu täglichem Konsum).        • Besondere Risikofaktoren für die        Dabei werden selten große Effekte
•     Bei bereits bestehender bipolarer           Entwicklung von cannabisbezoge-         beschrieben. Nabiximols – eine als
      Störung erhöht Cannabiskonsum               nen Störungen sind: Männliches          Arzneistoff verwendete standardi-
      das Risiko für ein Wiederauftreten          Geschlecht, junges Alter bei Erst-      sierte Extraktmischung aus THC und
      von manischen Symptomen oder                konsum, Häufigkeit des Konsums,         CBD, die aus den Blättern und Blüten
      Episoden.                                   Co-Konsum mit Tabak.                    der Cannabispflanze gewonnen wird –
•     Große Meta-Analysen zeigten, dass         • Gesundheitliche Belastungen, die        ist bei chronischen Schmerzen die
      bei gelegentlichem Cannabiskonsum           mit Cannabisabhängigkeit in             am besten untersuchte Cannabis-
      die Häufigkeit des Auftretens psycho-­      Verbindung stehen, werden auf zwei      arznei. Die Evidenz für eine leichte
      tischer Störungen um das 1,4- bis           Millionen „Disability-Adjusted Life     Schmerzreduktion und Verbesse-
      2,0-fache, bei hoher Konsumintensi-         Years (DALYs)“ (das heißt Anzahl        rungen in Sekundärmaßen im
      tät um das 2,0- bis 3,4-fache erhöht        verlorener Jahre aufgrund vorzeiti-     Vergleich zum Placebo ist gut.
      ist. Der Zeitpunkt der Ersterkrankung       gen Todes oder durch Beeinträchti-    • Nebenwirkungen traten, mit Aus-
      verlagert sich gegenüber nicht-             gung des normalen, beschwerde-          nahme der Studien zu chronischen
      konsumierenden durchschnittlich             freien Lebens) beziffert und machen     Schmerzen bei Krebs, konsistent
      um 2,7 Jahre vor.                           lediglich rund 0,08 Prozent der         häufiger unter der Behandlung mit
•     Cannabisgebrauch ist mit ungünsti-          gesamten, globalen Gesundheits­         Cannabisarzneimitteln auf als unter
      gen Verläufen der psychotischen             belastung aus.                          Placebo-Gabe. Die hauptsächlich
      Störungen (Rückfallquote, Verweil-                                                  zentralnervösen Nebenwirkungen
      dauer, stärkere Ausprägung der            Die Studienlage zu Wirksamkeit, Ver-      sind zumeist leicht bis mittel.
      Positivsymptomatik) assoziiert.           träglichkeit und Sicherheit von Canna-    Schwerwiegende Nebenwirkungen
•     Cannabis ist die in den Ländern           bisarzneimitteln ist nicht ganz so gut.   sind bei Cannabisarzneimittel-Gabe
      Europas am häufigsten konsumierte         Die Wirksamkeit von Cannabisarznei-       selten und nicht häufiger als bei
      illegale Substanz.                        mitteln bei chronischen Schmerzen         Placebo-Gabe.

Ärzteblatt Sachsen 08|2018                                                                                                    365
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 • Für Cannabisarzneimittel (Nabixi-                                                                 mit psychischen Störungen getrof-
   mols, Dronabinol, Medizinalhanf,                                                                  fen werden.
   orales und oromukosales THC und
   THC/CBD) konnte die Wirksamkeit                                                                 Dr. Hoch fasste ihre Ergebnisse ganz
   bei Multipler Sklerose- und Paraple-                                                            pragmatisch zusammen: Die Cannabi-
   gie-assoziierter Spastizität mit                                                                noidforschung sollte dringend verbes-
   objektivierbaren Prüfkriterien nicht                                                            sert werden. Große Studien mit guter
   belegt werden.                                                                                  Studienqualität und ausreichender Stu-
 • Zur antiemetischen Wirkung von                                                                  diendauer fehlen weitestgehend wie
   Cannabisarznei bei chemotherapeu-                                                               auch der Vergleich zur Standardtherapie.
   tisch-induzierter Übelkeit und
   Erbrechen liegen viele alte Studien                                                             Im Anschluss an den Vortrag von Dr.
   mit schlechter oder unklarer metho-                                                             Hoch führte Dr. med. Frank Härtel,
   discher Qualität vor und keine (mit                                                             Suchtbeauftragter und Vorsitzender
   Ausnahme einer RCT) mit Antieme-                                                                der Kommission Sucht und Drogen
   tika (das heißt Medikamente, die                                                                der Sächsischen Landesärztekammer,

                                                                                          © SLÄK
   Übelkeit und Brechreiz unterdrücken                                                             pointiert zum „Cannabisverbreitungs-
   sollen) der neuen Generation           Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Eva Hoch, München,              gesetz“, wie er es nennt, aus. Er begann
                                          Co-Autorin der CaPRis-Studie
   (5-HT3- oder NK1-Antagonisten)                                                                  mit der Darstellung der Deliktentwick-
   oder Neuroleptika als Vergleichs­        stellen. Bei höherer Dosierung von                     lung aus der Polizeilichen Kriminalsta-
   medikation.                              CBD zeigte sich ein Anstieg des                        tistik des LKA Sachsen (siehe Abb. 1) für
 • Bei HIV/AIDS-Erkrankungen können         Augeninnendrucks. Es liegen keine                      illegale Drogen und insbesondere Can-
   vier von fünf Studien eine leicht        Daten zu längerer Therapiedauer                        nabis sowie den Behandlungszahlen
   gewichtsstimulierende Wirkung von        (> 1 Woche) vor.                                       ambulanter und stationärer Fälle (siehe
   Cannabisarzneimitteln (Dronabinol,     • Aufgrund der begrenzten Datenlage                      Abb. 2).
   Cannabiszigaretten) feststellen.         können noch keine Aussagen zur                         In beiden Sektoren sind seit Jahren ste-
   In einer der Studien zeigt sich eine     Wirksamkeit von Cannabisarznei-                        tige Zuwächse belegt. Trotzdem erfolge
   signifikante Überlegenheit gegen-        mitteln (Dronabinol, Nabiximols,                       eine viel zu positive Bewertung von
   über Placebo.                            Nabilon, THC) und Cannabinoid-                         Cannabis im überwiegenden Teil der
 • Bei Morbus Crohn und Reizdarm-           Modulatoren auf die psychopatholo-                     öffentlichen Medien und der Politik mit
   syndrom konnte keine Verbesserung        gische Symptomatik bei Menschen                        Anpreisung als Arzneimittel. Das sei
   der primären Beschwerden durch
   Cannabisarzneimittel (Cannabis­
   zigaretten, Dronabinol) gezeigt
   werden (2 RCTs).
 • In drei vorliegenden Studien bei
   Chorea Huntington war keine
   signifikante Wirksamkeit von
   Cannabisarzneimitteln (Nabilon,
   Nabiximols) nachweisbar.
 • Drei von vier Studien finden keine
   Verbesserung der Parkinson-Symp-
   tomatik oder der Levo-Dopa-indu-
   zierten Bewegungsstörungen/
   Dyskinesien bei begleitender
   Therapie mit Cannabisarzneimitteln.
 • Eine RCT kann bei sechs Patienten
   mit erhöhtem Augendruck akut nach
   THC-Gabe eine signifikante Reduk-      Abb. 1: Rauschgiftdelikte/Delikte mittels Cannabis 2013 bis 2017
   tion des Augeninnendruckes fest-       Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik Jahresüberblick 2017

366                                                                                                                    Ärzteblatt Sachsen 08|2018
themenheft

                                                                                                         nicht nur von Behandlungserfolgen,
                                                                                                         sondern auch von Therapieversagern
                                                                                                         berichten. Es war eine Freude, dieser
                                                                                                         hochkompetenten und dabei empathi-
                                                                                                         schen und warmherzigen Wissen-
                                                                                                         schaftlerin durch den Abend zu folgen.

                                                                                                  © www.gbe-bund.de
                                                                                                         Ihrer Meinung nach ist zurzeit eine
                                                                                                         Behandlungsleitlinie zum medizini-
                                                                                                         schen Gebrauch von Cannabispräpara-
                                                                                                         ten zwingend erforderlich und sollte
Abb. 2: Entwicklung Fallzahlen (stationär) mit ausgewählter Suchtproblematik (Patientenwohnort Sachsen),
2012 bis 2016                                                                                            zeitnah erstellt werden.
                                                                                                         Von einer vollständigen Freigabe riet
sachlich nicht gerechtfertigt, wie sich dagegen laut Techniker Krankenkasse auch ein Vertreter der Polizei Leipzig
gerade aus der CaPRis-Studie, vielen hinter dem Bundesdurchschnitt deut- dringend ab. Dem oft kolportierten
anderen Quellen und Erfahrungen des lich zurück.                                                         Argument der durch Betäubungsmit-
Suchtkrankenhilfesystems ergibt. Es                                                                      teldelikte, insbesondere bei Cannabis,
bestünden also Steigerung von Dro- Das Fazit von Dr. Härtel war scho- überforderten Polizei widersprach er.
genkriminalität und Behandlungszah- nungslos:                                                            Dass durch die Legalisierung von Can-
len (besonders stationär, siehe Abb. 2) • Es gibt bisher keinen Hinweis auf                              nabis auch nur minimal Probleme in
neben der öffentlichen Verharmlosung                     eine Überlegenheit mit wissen-                  diesem Bereich gelöst werden, sei nicht
von Cannabis und irrigen Heilserwar-                     schaftlicher Evidenz für Cannabis­              absehbar. Zu Kontroversen gab natür-
tungen.                                                  einsatz auch nur bei einer Indikation. lich immer wieder der Vergleich mit
                                                      • Die Redner aller Fraktionen des                  dem Suchtmittel Alkohol Anlass, eine
Das am 19. Januar 2017 beschlossene                      Deutschen Bundestages beklagten                 legale Droge, deren gesellschaftliche
Gesetz zur Änderung betäubungsmit-                       dies unisono, stimmten dann dem                 und gesundheitliche Auswirkungen
telrechtlicher und anderer Vorschriften,                 Gesetzesentwurf aber einstimmig zu. mindestens ebenso gefährlich, wenn
Dr. Härtel spricht nur vom „Cannabis- • Bei keiner Erkrankung ist Cannabis                               nicht gefährlicher als Cannabis ist.
verbreitungsgesetz“, bleibt nach seiner                  ein First- oder Secondlinepräparat,
Ansicht hinter allen nötigen Quali-                      trotz 150 Jahren Anwendung setzte               Der Präsident schloss den rundum
tätsanforderungen weit zurück. Es be­­                   es sich nicht durch.                            erfolgreichen Abend mit dem Resümee,
ruhe auch auf einem rechtlichen Sys- • Das Gesetz ist deshalb absichtlich                                dass jede Kultur ihre Droge(n) hat. Bei
tembruch. Erstmals wurden Substan-                       schwammig und stellt den Arzt vor               uns ist dies der Alkohol, in anderen
zen verordnungsfähig gemacht ohne                        eine praktisch unlösbare Aufgabe.               Ländern sind es andere Rauschmittel.
vorgeschriebenes vorheriges Zulas- • Es fehlt jede Folgenkritik.                                         Ob es sinnvoll ist, in unserer insgesamt
sungsverfahren. Zudem waren in der • Seiner Meinung nach muss das                                        sehr suchtgefährdeten Gesellschaft ein
Anhörung des zuständigen Bundes-                         Gesetz außer Kraft gesetzt werden.              weiteres Suchtmittel zu legalisieren, ist
tagsausschusses nur Befürworter                                                                          auch eine kulturelle Diskussion, der
geladen. Vertreter der Kinder- und Es folgte eine mehr als einstündige und man sich stellen muss.
Jugendpsychiatrie und ihrer Fachgre- sehr lebhafte Diskussion. Letztendlich
mien fehlten. Sämtliche Redner aller reichten die Meinungen von einer voll- So kann man vielleicht am Ende dieses
Bundestagsfraktionen beklagten die ständigen Legalisierung auch des Frei- Artikels in individueller Abänderung des
fehlende Evidenz von Cannabis im zeitkonsums bis zu einer sehr weitrei- allseits bekannten Zitates aus „Der
medizinischen Einsatz, stimmten je­­ chenden Einschränkung selbst des gute Mensch von Sezuan“ sagen:
doch alle (eigentlich wider besseren medizinischen Gebrauchs. Kollegen
Wissens) für das umstrittene Gesetz. be­                  richteten über sehr erfolgreiche „Wir stehen selbst belehrt und sehn
Bedeutsam sei, stellte Dr. Härtel expli- Behandlungen vornehmlich in der betroffen / den Vorhang zu und alle
zit heraus, dass nunmehr dasselbe gif- Schmerztherapie, aber immer im Ein- Fragen offen“. 
tige Cannabiskraut verordnungsfähig zelfall und nach Ausreizen aller etab-
ist, an dem Abhängige kranken. Die lierten Behandlungsoptionen. Dr. Hoch                                                         Dr. med. Patricia Klein
Verordnungszahlen in Sachsen bleiben konnte aus ihrer Erfahrung ebenfalls                                                  Ärztliche Geschäftsführerin

Ärzteblatt Sachsen 08|2018                                                                                                                            367
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