Wettbewerb vs. Tierschutz - Verhindern die EU-Binnenmarktregeln höhere Tierschutzstandards? von Jasmin Zöllmer - kritischer-agrarbericht.de

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Der kritische Agrarbericht 2021

Wettbewerb vs. Tierschutz
Verhindern die EU-Binnenmarktregeln höhere Tierschutzstandards?

von Jasmin Zöllmer

                       Der Tierschutz in Deutschland gewinnt zunehmend an gesellschaftlicher Relevanz. In Umfragen
                       sprechen sich große Mehrheiten dafür aus, insbesondere Tiere in der Landwirtschaft besser zu
                       schützen und Missstände zu beseitigen. Gleichzeitig lassen maßgebliche Verbesserungen seitens der
                       Politik auf sich warten. Die Lücke zwischen den gesellschaftlichen Anforderungen an die landwirt-
                       schaftliche Tierhaltung und den Antworten der Politik wird immer größer. Die Gründe hierfür sind
                       zwar vielfältig, jedoch sticht der fortwährende Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit und Kosten- statt
                       Qualitätsführerschaft hervor: Eines der am häufigsten vorgebrachten Argumente gegen die Anhe-
                       bung von nationalen Tierschutzstandards ist das Risiko eines Wettbewerbsverlusts der deutschen
                       Erzeugung tierischer Produkte und einer daraus resultierenden Abwanderung der Produktion ins
                       Ausland. Insbesondere innerhalb der EU spielt dieses Argument eine tragende Rolle und blockiert
                       oder verschiebt möglicherweise die Anhebung längst überfälliger nationaler Tierschutzstandards.
                       Der folgende Beitrag beschreibt dieses Problem, erklärt die Hauptursachen und skizziert Lösungs-
                       ansätze.

Eigentlich war das Ende der betäubungslosen Ferkel-            der Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit im-
kastration beschlossene Sache. Der Bundestag hatte             mer wieder gegen höhere Tierschutzstandards aus-
bereits Ende 2012 entschieden, dass ab dem 1. Januar           gespielt werden. Das Staatsziel Tierschutz wird dabei
2019 die 20 Millionen deutschen Ferkel pro Jahr nur            untergeordnet. Das »Totschlagargument« drohender
noch unter Betäubung kastriert werden dürften. Kurz            »Billigimporte« und Abwanderung von Arbeitsplät-
vor dem Auslaufen der Frist kam es jedoch anders:              zen wird nicht nur in Tierschutzfragen genutzt, auch
Nach massiven Protesten der Ferkelerzeuger, Mäster             bei Umwelt- und Sozialstandards ist es ein gängiges
und Schlachtunternehmen wurde die Frist trotz der              Mittel, um beispielsweise Kohlekraftwerke doch noch
langen Vorlaufzeit noch einmal um zwei Jahre verlän-           nicht stillzulegen oder den Mindestlohn nicht weiter
gert. Und dass, obwohl das Schmerzempfinden junger             zu erhöhen.
Ferkel mittlerweile unbestritten ist und genügend Al-
ternativen zur betäubungslosen Kastration zur Ver-             Gesellschaftliche Anforderungen –
fügung stehen. Wie konnte sich die Agrarlobby also             fehlende Antworten der Politik
durchsetzen?
   Als wichtigster Grund für die Verlängerung wur-             Für die Menschen in Deutschland und in weiten Teilen
de der drohende Wettbewerbsnachteil gegenüber                  der EU gewinnt das Wohlergehen von landwirtschaft-
anderen EU-Mitgliedstaaten genannt.1 Denn wenn                 lich gehaltenen Tieren zunehmend an Relevanz: Laut
Deutschland einseitig die betäubungslose Kastration            einer EU-weiten Befragung wünschen sich 82 Prozent
verböte, würden die deutschen Mäster einfach ver-              der Europäer einen besseren Schutz von Tieren in der
mehrt die günstigeren Ferkel aus Dänemark importie-            Landwirtschaft.2
ren, bei denen noch ohne Betäubung kastriert werden               Diese Forderungen nach einem höheren Tier-
darf. Damit wäre dem Tierschutz auch nicht geholfen,           schutzniveau werden jedoch durch die jeweiligen
so die Begründung.                                             gesetzlichen Vorschriften nur sehr begrenzt berück-
   Die Fristverlängerung der betäubungslosen Ferkel-           sichtigt. Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik
kastration ist nur exemplarisch dafür, wie Argumente           (WBA) des Bundeslandwirtschaftsministeriums hat

264
Tierschutz und Tierhaltung

bereits 2015 die Diskrepanz zwischen der herkömm-          Freier Warenverkehr –
lichen Praxis im Umgang mit Tieren und den gesell-         auf Kosten des Tierschutzes
schaftlichen Anforderungen an die landwirtschaft-
liche Tierhaltung aufgezeigt.3 Diese Lücke zwischen        Der europäische Binnenmarkt gewährleistet den freien
dem Anspruch an die Tierhaltung und der Realität in        Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräften
der Praxis müsste politisch geschlossen werden, was        und Kapital zwischen seinen Mitgliedstaaten – eine
jedoch meist gar nicht oder nur sehr zögerlich pas-        starke marktliberale Regel, die in dieser Ausprägung
siert. Obwohl der Tierschutz seit 2002 als Staatsziel im   einzigartig ist. Im Gegensatz zum Freihandel (der Ab-
Grundgesetz verankert ist und damit Verfassungsrang        schaffung von Zöllen und anderen Handelshemmnis-
genießt, sind seither keine maßgeblichen ordnungs-         sen) ist der freie Warenverkehr sehr viel weitreichen-
rechtlichen Verbesserungen für die Tiere in Deutsch-       der: Er stellt für alle Wirtschaftsakteure ein Recht auf
land erfolgt.                                              Marktzugang zu anderen nationalen Märkten der EU
   Woran liegt das? – Die Gründe sind vielfältig und       dar. Damit werden alle Möglichkeiten der EU-Mit-
liegen beispielsweise in politischen Entscheidungspro-     gliedstaaten für Handelsbeschränkungen jeglicher Art
zessen auf nationaler Ebene, der Stärke von Lobby­         außer Kraft gesetzt.6 Dieser freie Warenverkehr inner-
organisationen oder an den an der Macht befindenden        halb der EU wird wiederum durch ein starkes Prinzip
Parteien.4 Ein weiterer nicht zu unterschätzender Fak-     der Marktintegration gewährleistet, welches für die
tor wurde eingangs am Beispiel der betäubungslosen         Beseitigung jeglicher regulatorischen Hindernisse
Ferkelkastration erklärt: Abwanderungsrisiken, die         sorgt: das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung.
insbesondere in einem tief integrierten Markt wie der         Die gegenseitige Anerkennung sieht vor, dass jedes
EU vorherrschen können, werden als dominierendes           in einem EU-Mitgliedstaat rechtmäßig hergestell-
Argument gegen die Erhöhung von nationalen Tier-           te Produkt auch in jedem anderen EU-Mitgliedstaat
schutzstandards eingesetzt – mit Erfolg!                   akzeptiert werden muss. Das importierende Land ist
   Die Logik ist simpel: Kosten, die durch höhere          dazu verpflichtet, die Standards des »Heimat«- oder
Tierschutzanforderungen entstehen (und weder               Exportlandes zu akzeptieren. Einzelne Mitgliedstaa-
durch Subventionen kompensiert noch durch be-              ten der EU dürfen anderen EU-Mitgliedstaaten keine
stimmte Preisprämien für gekennzeichnete Produk-           Einfuhrbeschränkungen auferlegen. Während es den
te gedeckt werden), setzen einheimische Produzen-          Regierungen in vielen Fällen weiterhin gestattet ist,
ten gegenüber importierten Produkten aus anderen           auf nationaler Ebene höhere Standards umzusetzen,
Mitgliedstaaten einem Wettbewerbsnachteil aus.             gelten diese Vorschriften eben nur für inländische
Infolgedessen können nationale Standards durch             Hersteller, nicht aber für die Produzenten anderer
importierte Produkte untergraben werden, die auf           EU-Mitgliedstaaten. Was importiert und im Inland
niedrigem Tierschutzniveau – und dadurch zu ge-            verkauft wird, kann nicht mehr national geregelt wer-
ringeren Kosten – hergestellt wurden. Dies wieder-         den. Am Beispiel der betäubungslosen Ferkelkastra-
um kann die Umsetzung der betreffenden höheren             tion bedeutet dies: Deutschland kann zwar national
Standards verzögern oder sogar verhindern: Auf-            verbieten, Ferkel nicht mehr ohne Betäubung zu kas-
grund der Befürchtungen, einige Teile der inländi-         trieren, jedoch nicht verlangen, dass auch importierte
schen Produktion durch Importe aus Ländern mit             Ferkel nicht mehr ohne Betäubung kastriert wurden.
weniger strengen Rechtsvorschriften zu ersetzen,              Infolgedessen werden die Argumente für höhere
werden die Standards gar nicht erst angehoben oder         nationale (Tierschutz-)Standards geschwächt: Es ist
deren Implementierung wird solange wie möglich             schwieriger, höhere Standards für einheimische Her-
hinausgezögert.                                            steller durchzusetzen, wenn die Verbraucherinnen
   Tatsächlich ist das Argument des Risikos einer          und Verbraucher weiterhin importierte Produkte
Abwanderung bzw. der Produktionsverlagerung ins            kaufen können, die zu niedrigeren Standards herge-
Ausland nicht immer haltlos. So sank zum Beispiel in       stellt wurden. Dieses Problem wird durch Intranspa-
Schweden der Selbstversorgungsgrad mit Schweine-           renz noch verstärkt. Wer beim Einkauf nicht einmal
fleisch seit dem EU-Beitritt stark.5 Schweden hat viel     sehen kann, zu welchen Bedingungen die Tiere gehal-
strengere Tierschutzauflagen als die meisten anderen       ten wurden, wird wahrscheinlich zu dem günstigeren
EU-Mitgliedsländer und importiert seit seinem EU-          Produkt greifen (in diesem Fall dem importierten).
Beitritt insbesondere Schweinefleisch aus Deutsch-            Dies kann maßgeblich dazu beitragen, dass Tier-
land und Dänemark. Dass Länder wie Schweden ihre           schutzstandards gar nicht oder nur sehr zögerlich
Landwirte nicht vor billigeren, weil zu schlechteren       angehoben werden und infolgedessen zu einem sub-
Bedingungen produzierten Importen aus den EU-              optimalen Standardniveau führen, wenn diese schwa-
Nachbarländern schützen können, liegt maßgeblich           chen nationalen Gesetze nicht durch stärkere zentrale
an den Binnenmarktregeln der EU.                           EU-Regelungen kompensiert werden.7 Ein solcher

                                                                                                                  265
Der kritische Agrarbericht 2021

Ausgleich auf EU-Ebene ist jedoch noch schwerer            Produktion, sondern auch für die Importe aus den an-
durchzusetzen: Hier müssen im Rat der EU länder-           deren Bundesstaaten gelten sollten. Aber auch in Kali-
übergreifende Mehrheiten für zentrale höhere Tier-         fornien ging es weiter. Im November 2018 verabschie-
schutzstandards gefunden werden. Da die Interessen         dete der Bundesstaat das mit knapper Zwei-Drittel-
und gesellschaftlichen Anforderungen an Tierschutz         Mehrheit gewonnene Wahlreferendum »Proposition
innerhalb der EU-Mitgliedsländer äußerst unter-            12«. In dem Vorschlag wurden neue Mindestanforde-
schiedlich ausfallen, ist ein hoher EU-weiter Tier-        rungen an die Haltung von Legehennen, Zuchtsauen
schutzstandard nur sehr schwer zu erreichen.               und Mastkälber gestellt. Bereits seit 2020 gelten höhe-
                                                           re Platzvorgaben für Legehennen und Mastkälber, ab
Es geht auch anders:                                       2022 müssen Hühner käfigfrei gehalten werden und
Kaliforniens Wettbewerb nach oben                          auch für Zuchtsauen gelten erstmalig Mindestplatz-
                                                           bestimmungen. Unternehmen in Kalifornien dürfen
In den letzten Jahrzehnten gab Kalifornien in vielen       demnach weder Eier noch Schweine- oder Kalbfleisch
Fällen den führenden Ton beim Umwelt- und Klima-           verkaufen, das von Tieren stammt, die nicht auf die
schutz an und gilt in diesem Politikfeld mittlerweile      erforderliche Weise gehalten wurden.
als Vorreiter. Aber auch in punkto Tierschutz hat             Durch die Regulierung der Importe aus den ande-
Kalifornien einige neue Gesetze eingeführt. So wurde       ren Staaten schafft Kalifornien erneut ein wirksames
im Jahre 2008 ein Gesetzesvorschlag per Referendum         Handelshemmnis innerhalb der USA. Und auch in
verabschiedet, in dem höhere Tierschutzanforderun-         einigen anderen Bundesstaaten gibt es mittlerweile
gen an die Haltung von landwirtschaftlich genutzten        Tierschutzregelungen, die nicht nur für die einhei-
Tieren gestellt wurden. Die »Proposition 2« befass-        mische Produktion, sondern auch für Importe gelten.
te sich mit der Käfighaltung und forderte, dass sich       Eine positive Auswirkung auf die Entwicklung von
Mastkälber, Legehennen und trächtige Sauen jederzeit       Tierschutzstandards zeichnet sich ab.
hinlegen, umdrehen und ihre Gliedmaßen vollständig            Das Beispiel USA zeigt, dass ein Handelshemmnis
ausstrecken können müssen.                                 innerhalb eines wirtschaftlich integrierten Binnen-
   Das neue Gesetz galt zwar erst einmal nur für die in    markts kein Ding der Unmöglichkeit sein muss. Die
Kalifornien ansässigen Betriebe. Doch dann folgte ein      Binnenmarktregeln der EU zu ändern, ist dennoch ein
überraschender Schritt: Ein neuer Gesetzesentwurf          schwieriges und langwieriges Unterfangen. Eine Brü-
erweiterte die Anforderungen auf alle in Kalifornien       ckenlösung stellt die Kompensation der Mehrkosten
verkauften Eier (also auch für die Importe), um faire      für höhere Tierschutzstandards dar: Wenn der Um-
Wettbewerbsbedingungen zwischen den einheimi-              bau der Tierhaltung konsequent ordnungsrechtlich
schen und den ausländischen Produzenten zu schaf-          eingefordert und Landwirte gleichzeitig für die Mehr-
fen. Im Jahre 2010 wurde dieses Gesetz verabschiedet       kosten kompensiert würden, entstünde auch kein
und es trat 2015 in Kraft. Kalifornien schuf also eine     Wettbewerbsnachteil. Allerdings ist der Umbau der
Handelsbarriere innerhalb der USA. Ein undenkbarer         Tierhaltung nicht gerade günstig: Laut Wissenschaft-
Schritt in der EU, wo die gegenseitige Anerkennung         lichem Beirat des Bundeslandwirtschaftsministeriums
und die Warenverkehrsfreiheit als oberstes Gebot gel-      kostet die Umstellung auf eine gesellschaftlich akzep-
ten. Dabei bilden die USA eigentlich einen noch stär-      tierte landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland
ker integrierten Wirtschaftsraum als die EU.               drei bis fünf Milliarden Euro pro Jahr.9
   Wie zu erwarten, folgte eine Klagewelle: Mehrere           Diese Mehrkosten können nicht allein über den
Bundesstaaten wehrten sich gegen die neuen Anfor-          Markt finanziert werden. Langfristige Finanzierungs-
derungen. Sie beschuldigten Kalifornien, Handels-          und Planungssicherheit muss gegeben sein. Es gibt je-
hemmnisse für Eier und andere Agrarprodukte auf-           doch diverse Möglichkeiten, eine Tierhaltung der Zu-
zubauen. Der ehemalige Staatsanwalt von Oklahoma,          kunft zu finanzieren, die im Folgenden skizziert werden.
Scott Pruitt, beschwerte sich: »Alle Eier, die wir jetzt
in Kalifornien verkaufen, müssen aus klimatisierten        Mögliche Finanzierungsquellen
Käfigen kommen, in denen die Hühner Yoga machen
können, denn Kalifornien will uns vorschreiben, wie        Umschichtung der Gelder der Gemeinsamen
wir unsere Landwirtschaft betreiben sollen. Wenn           Agrarpolitik (GAP)
das so weitergeht, regelt Kalifornien demnächst auch       Fast 40 Prozent ihres gesamten Haushalts gibt die EU
noch unsere Milchproduktion und Viehzucht – das            jährlich für Agrarsubventionen aus. Der Löwen­anteil
geht doch nicht.«8                                         (75 Prozent) fließt dabei in Form von Direktzahlun-
   Die Richter wiesen die Klage jedoch ab. Gleichzeitig    gen in die Erste Säule. Diese werden pro Hektar aus-
entschieden sich weitere Bundesstaaten für schärfere       geschüttet – vor allem auf die Größe, nicht auf die Art
Tierschutzgesetze, die nicht nur für die inländische       der Bewirtschaftung oder der Tierhaltung kommt es

266
Tierschutz und Tierhaltung

hierbei also an. Der viel geringere Anteil fließt in die   konsum in Deutschland würde also schneller sinken
Zweite Säule und honoriert damit zielgerichtet gesell-     als bisher. Zweitens könnten die Mehreinnahmen ei-
schaftliche Leistungen wie Umwelt- und Tierschutz-         nen Teil des Umbaus der Tierhaltung finanzieren. Das
maßnahmen.                                                 Umweltbundesamt schätzt die zusätzlichen Steuer-
   Für Deutschland stehen jährlich circa 6,2 Milliar-      einnahmen auf mindestens 5,2 Milliarden Euro, wenn
den Euro an EU-Mitteln für die Agrarförderung zur          alle tierischen Lebensmittel mit dem regulären Steu-
Verfügung. Davon werden immer noch knapp fünf              ersatz von 19 Prozent besteuert würden.10 Dieses Geld
Milliarden Euro in Form von Direktzahlungen aus-           könnte direkt in den Umbau der Tierhaltung fließen.
geschüttet. Mehr als genug, um den Umbau der Tier-
haltung zu finanzieren, wenn man bereit wäre, diese        Die Fleischabgabe
Zahlungen gezielt für die Förderung von Tierschutz-        Zusätzlich zur »Normalisierung« der Mehrwertsteuer
maßnahmen umzulenken.                                      für tierische Produkte könnte eine pauschale Abgabe
   Alle sieben Jahre wird die GAP reformiert. Derzeit      von z. B. 50 Cent pro Kilogramm Fleisch eingeführt
laufen die Verhandlungen für die nächste Förder­           werden. Bei dem derzeitigen Fleischverzehr von knapp
periode. Im Juni 2018 hatte die EU-Kommission hier-        60 Kilogramm pro Kopf und Jahr in Deutschland kä-
zu einen Reformvorschlag vorgelegt, der nun mit dem        men immerhin um die 2,5 Milliarden Euro zusammen.
Europäischen Parlament und den Landwirtschaftsmi-             Eine solche Abgabe wurde auch vom Kompetenz-
nistern der 27 EU-Staaten verhandelt wird. Der bis-        netzwerk Nutztierhaltung (Borchert-Kommission)
herige Entwurf ist jedoch ernüchternd. Der weitaus         vorgeschlagen: 40 Cent pro Kilogramm Fleisch, zwei
größte Teil des GAP-Haushalts soll weiter mit dem          Cent pro Kilogramm Milch und Frischmilchprodukte
Gießkannenprinzip nach Größe der Flächen und nicht         sowie Eier und 15 Cent pro Kilogramm Käse, Butter
als Honorierung für Umwelt- oder Tierschutzleistun-        und Milchpulver.11 Hieraus ergäben sich Steuerein-
gen ausgegeben werden. Damit wird die Chance auf           nahmen von 3,6 Milliarden Euro. Diese »Sonderab-
eine echte Agrarwende hin zu einer zukunftsgerichte-       gabe Tierwohl« hat einige Vorteile. Erstens setzt sie
ten, nachhaltigen und tierschutzgerechten Landwirt-        einen positiven Anreiz für hochwertigere Produkte,
schaft vertan. Und das, obwohl die künftige GAP auf        denn im Gegensatz zur Anhebung der Mehrwertsteu-
neun wirtschaftliche, soziale und ökologische Ziele        er würde hierbei teureres Fleisch aus besserer Haltung
ausgerichtet sein soll, was ihrer »Multifunktionalität«    prozentual begünstigt. Darüber hinaus kann eine Ab-
entspricht. Bei den neun Zielen ist der Tierschutz je-     gabe einfacher für den Umbau der Tierhaltung einge-
doch stark unterrepräsentiert. So schafft es der Begriff   setzt werden als eine Steuer.
»Tierwohl« nicht einmal als eigenständiger Punkt
auf die Liste der künftigen Ziele. Hier muss dringend      Kennzeichnung und höhere Verbraucherpreise
nachverhandelt werden, um den Umbau der Tierhal-           Die Eierkennzeichnung hat gezeigt: Bei hoher Trans-
tung endlich auch über die GAP zu finanzieren.             parenz und Glaubwürdigkeit gibt es eine beachtliche
                                                           Zahlungsbereitschaft bei einem Großteil der deut-
Die Fleischsteuer                                          schen Verbraucherinnen und Verbraucher. Durch
 Ein überhöhter Fleischkonsum hat viele negative Fol-
gen für die Umwelt, die Gesundheit und natürlich für
die Tiere. Dennoch werden tierische Produkte immer            Tab. 1: Kosten und mögliche Finanzierungs-
noch mit dem begünstigten Mehrwertsteuersatz von              quellen für den Umbau der Tierhaltung
sieben Prozent besteuert. Bei gesunden Lebensmitteln
                                                                                                          Milliarden Euro
mit nur geringen externen Kosten wie Brot, Gemü-                                                              pro Jahr
se und Obst macht diese Vergünstigung auch Sinn.              Kosten laut Gutachten des Wissenschaft­
                                                                                                                3–5
Aber gibt es ein Recht auf billiges Fleisch? Unfair ist       lichen Beirats für Agrarpolitik (WBA)
zudem, dass tierfreie Ersatzprodukte wie Hafermilch           Mögliche Finanzierungsquellen
und Sojaschnitzel derzeit höher besteuert werden als          für den Umbau der Tierhaltung
Milch und Fleisch. Hierfür gilt nämlich der reguläre          GAP: Nutzung bestehender Gelder
                                                                                                                1,3
Steuersatz von 19 Prozent. Dies setzt falsche Anreize,        aus der Zweiten Säule
denn damit werden tierische Produkte vor pflanzli-            GAP: Umschichtung von 15 Prozent
                                                                                                               0,75
chen Nahrungsmitteln begünstigt.                              von Erster in Zweite Säule
   Eine Anhebung des Mehrwertsteuersatzes für Fleisch         Regelbesteuerung tierischer Produkte
                                                                                                                5,2
von sieben auf 19 Prozent hätte einige positive Wir-          (Erhöhung auf 19 Prozent)
kungen: Erstens würden Menschen insgesamt weniger             Sonderabgabe »Tierwohl«
                                                                                                                3,6
                                                              (Vorschlag Borchert-Kommission)
Fleisch konsumieren, da der relative Preis im Vergleich
zu anderen Lebensmitteln teurer würde. Der Fleisch-        Eigene Darstellung

                                                                                                                            267
Der kritische Agrarbericht 2021

eine flächendeckende gesetzliche Kennzeichnung                 Diese Förderung kann durch eine Neuausrichtung der
der Haltungsbedingungen auf Fleisch- und Milch-                Gemeinsamen Agrarpolitik, eine Erhöhung der Mehr-
produkten könnte sich ein jeder beim Kauf bewusst              wertsteuer für tierische Produkte auf 19 Prozent und/
für eine bestimmte Haltungsform entscheiden. Die               oder einer »Tierwohlabgabe« refinanziert werden.
Kennzeichnung von 0 bis 3 ist bereits beim Ei sehr er-            Wenn gleichzeitig die EU-Binnenmarktregeln da-
folgreich: Immer mehr Menschen greifen zu Bio- und             hingehend geändert würden, dass wissenschaftlich
Freilandeiern. Käfigeier wurden durch die sinkende             begründete Tierschutzstandards nicht nur für die
Nachfrage bereits seit 2010 vom Handel ausgelistet.            einheimische Landwirtschaft, sondern auch für die
   Zumindest ein Teil der Kosten für Tierschutz-               Importe aus anderen EU-Mitgliedsländern gälten,
maßnahmen könnte so über den Markt wieder abge-                stünde einem zeitnahem Umbau der Tierhaltung in
deckt werden. Voraussetzung hierfür ist eine ehrliche          Deutschland nichts mehr im Wege.
Kennzeichnung. Das 2019 eingeführte Kennzeich-
nungssystem des Lebensmitteleinzelhandels mit dem
Logo »Haltungsform« bietet im Gegensatz dazu keine             Das Thema im Kritischen Agrarbericht
wirkliche Orientierung, denn z. B. die Bezeichnungen           X Ulrich Jasper: Der Umbau der Tierhaltung braucht Geld. Über
                                                                 die Notwendigkeit, neue Finanzierungsinstrumente zu ent­
»Stallhaltung plus« und »Außenklima« spiegeln nicht
                                                                 wickeln – als Teil einer umfassenden Nutztierstrategie. In:
die wahren Haltungsbedingungen der Tiere wider und               Der kritische Agrarbericht 2020, S. 65 f.
wirken verbrauchertäuschend.
                                                               Anmerkungen
Fazit                                                           1 Deutscher Bundestag: Experten mehrheitlich für Verlängerung
                                                                    betäubungsloser Ferkelkastration. Expertenanhörung vom
Auch durch eine transparente Kennzeichnung wird                     26. November 2018 (www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/
                                                                    2018/kw48-pa-landwirtschaft-ferkelkastration-578578).
der Markt allein das Problem nicht lösen. Ein Poli-             2 European Commission: Special Eurobarometer 442. Report:
tikmix aus einer flächendeckenden gesetzlichen Hal-                ­A ttitudes of europeans towards animal welfare. Brussels 2015.
tungskennzeichnung und gezielter staatlicher För-               3 Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik (WBA) beim Bundes-
derung ist nötig, auch um den Landwirtinnen und                    ministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Wege zu einer
Landwirten Planungssicherheit zu gewährleisten.                    gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung. B
                                                                                                                  ­ erlin 2015.
                                                                4 C. S. Vogeler: Why do farm animal welfare regulations vary
                                                                  ­b etween EU member states? A comparative analysis of societal
                                                                   and party political determinants in France, Germany, Italy,
   Folgerungen      & Forderungen                                  Spain and the UK. In: Journal of Common Market Studies 75/2
                                                                   (2018), pp. 317-335.
                                                                5 Swedish Board of Agriculture: Number of livestock 1980-2019
   ■   Der Tierschutz gewinnt zunehmend an gesellschaft-
                                                                  (www.scb.se/en/finding-statistics/statistics-by-subject-area/
       licher Relevanz, gleichzeitig wird die Lücke zwischen      agriculture-forestry-and-fishery/general-statistics/general-
       den Anforderungen an die landwirtschaftliche Tier-         agricultural-statistics/pong/tables-and-graphs/number-of-
       haltung und der Realität immer größer.                     livestock/).
                                                                6 J. Pelkmans: Mutual Recognition: economic and regulatory logic
   ■   Die Politik reagiert viel zu zögerlich – einer der
                                                                  in goods and services. Bruges European Economic Research
       Gründe hierfür ist der drohende Wettbewerbsverlust         Papers 24/2012. College of Europe.
       gegenüber anderen EU-Mitgliedsländern bei einer          7 F. W. Scharpf: The asymmetry of european integration, or why
       Anhebung nationaler Tierschutzstandards.                   the EU cannot be a »social market economy«. In: Socio-Econo-
                                                                  mic Review 8/2 (2010), pp. 211-250.
   ■   Die EU-Binnenmarktregeln erlauben es den einzel-
                                                                8 H. Wipperfürth: Tierwohl in den USA steckt in den Kinder­
       nen Mitgliedsländern nicht, anderen EU-Staaten die         schuhen. Deutschlandfunk vom 29. Dezember 2016.
       eigenen Tierschutzbestimmungen aufzuerlegen –            9 WBA (siehe Anm. 3), S. 6.
       folglich haben diese Regeln eine potenziell blockie-    10 Umweltbundesamt: Umweltschädliche Subventionen in
       rende Wirkung auf nationale Tierschutzstandards.           Deutschland. Aktualisierte Ausgabe. Dessau-Roßlau 2016, S. 67.
                                                               11 Empfehlungen des Kompetenznetzwerks Nutztierhaltung
   ■   Solange die Binnenmarktregeln der EU nicht ent-
                                                                  (11. Februar 2020) (www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/
       sprechend geändert werden, ist ein Politikmix aus          DE/_Tiere/Nutztiere/200211-empfehlung-kompetenznetzwerk-
       einer gesetzlichen Haltungskennzeichnung und               nutztierhaltung.pdf?__blob=publicationFile&v=1).
       gezielter staatlicher Förderung nötig, um die Mehr-
       kosten besserer Haltungsbedingungen landwirt-                               Jasmin Zöllmer
       schaftlich genutzter Tiere zu kompensieren.                                 Leitung Politik und Hauptstadtreferat
   ■   Diese Förderung kann durch eine Umschichtung der                            bei ­P ROVIEH e.V. sowie Doktorandin im
       GAP-Gelder sowie durch eine Erhöhung der Mehr-                              ­F achbereich Agrarhandel und Entwicklung
                                                                                    der Humboldt-Universität zu Berlin.
       wertsteuer für tierische Produkte auf 19 Prozent und/
       oder einer »Tierwohlabgabe« refinanziert werden.                            zoellmer@provieh.de
                                                                                   www.provieh.de

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