Wettbewerb vs. Tierschutz - Verhindern die EU-Binnenmarktregeln höhere Tierschutzstandards? von Jasmin Zöllmer - kritischer-agrarbericht.de
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Der kritische Agrarbericht 2021 Wettbewerb vs. Tierschutz Verhindern die EU-Binnenmarktregeln höhere Tierschutzstandards? von Jasmin Zöllmer Der Tierschutz in Deutschland gewinnt zunehmend an gesellschaftlicher Relevanz. In Umfragen sprechen sich große Mehrheiten dafür aus, insbesondere Tiere in der Landwirtschaft besser zu schützen und Missstände zu beseitigen. Gleichzeitig lassen maßgebliche Verbesserungen seitens der Politik auf sich warten. Die Lücke zwischen den gesellschaftlichen Anforderungen an die landwirt- schaftliche Tierhaltung und den Antworten der Politik wird immer größer. Die Gründe hierfür sind zwar vielfältig, jedoch sticht der fortwährende Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit und Kosten- statt Qualitätsführerschaft hervor: Eines der am häufigsten vorgebrachten Argumente gegen die Anhe- bung von nationalen Tierschutzstandards ist das Risiko eines Wettbewerbsverlusts der deutschen Erzeugung tierischer Produkte und einer daraus resultierenden Abwanderung der Produktion ins Ausland. Insbesondere innerhalb der EU spielt dieses Argument eine tragende Rolle und blockiert oder verschiebt möglicherweise die Anhebung längst überfälliger nationaler Tierschutzstandards. Der folgende Beitrag beschreibt dieses Problem, erklärt die Hauptursachen und skizziert Lösungs- ansätze. Eigentlich war das Ende der betäubungslosen Ferkel- der Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit im- kastration beschlossene Sache. Der Bundestag hatte mer wieder gegen höhere Tierschutzstandards aus- bereits Ende 2012 entschieden, dass ab dem 1. Januar gespielt werden. Das Staatsziel Tierschutz wird dabei 2019 die 20 Millionen deutschen Ferkel pro Jahr nur untergeordnet. Das »Totschlagargument« drohender noch unter Betäubung kastriert werden dürften. Kurz »Billigimporte« und Abwanderung von Arbeitsplät- vor dem Auslaufen der Frist kam es jedoch anders: zen wird nicht nur in Tierschutzfragen genutzt, auch Nach massiven Protesten der Ferkelerzeuger, Mäster bei Umwelt- und Sozialstandards ist es ein gängiges und Schlachtunternehmen wurde die Frist trotz der Mittel, um beispielsweise Kohlekraftwerke doch noch langen Vorlaufzeit noch einmal um zwei Jahre verlän- nicht stillzulegen oder den Mindestlohn nicht weiter gert. Und dass, obwohl das Schmerzempfinden junger zu erhöhen. Ferkel mittlerweile unbestritten ist und genügend Al- ternativen zur betäubungslosen Kastration zur Ver- Gesellschaftliche Anforderungen – fügung stehen. Wie konnte sich die Agrarlobby also fehlende Antworten der Politik durchsetzen? Als wichtigster Grund für die Verlängerung wur- Für die Menschen in Deutschland und in weiten Teilen de der drohende Wettbewerbsnachteil gegenüber der EU gewinnt das Wohlergehen von landwirtschaft- anderen EU-Mitgliedstaaten genannt.1 Denn wenn lich gehaltenen Tieren zunehmend an Relevanz: Laut Deutschland einseitig die betäubungslose Kastration einer EU-weiten Befragung wünschen sich 82 Prozent verböte, würden die deutschen Mäster einfach ver- der Europäer einen besseren Schutz von Tieren in der mehrt die günstigeren Ferkel aus Dänemark importie- Landwirtschaft.2 ren, bei denen noch ohne Betäubung kastriert werden Diese Forderungen nach einem höheren Tier- darf. Damit wäre dem Tierschutz auch nicht geholfen, schutzniveau werden jedoch durch die jeweiligen so die Begründung. gesetzlichen Vorschriften nur sehr begrenzt berück- Die Fristverlängerung der betäubungslosen Ferkel- sichtigt. Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik kastration ist nur exemplarisch dafür, wie Argumente (WBA) des Bundeslandwirtschaftsministeriums hat 264
Tierschutz und Tierhaltung bereits 2015 die Diskrepanz zwischen der herkömm- Freier Warenverkehr – lichen Praxis im Umgang mit Tieren und den gesell- auf Kosten des Tierschutzes schaftlichen Anforderungen an die landwirtschaft- liche Tierhaltung aufgezeigt.3 Diese Lücke zwischen Der europäische Binnenmarkt gewährleistet den freien dem Anspruch an die Tierhaltung und der Realität in Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräften der Praxis müsste politisch geschlossen werden, was und Kapital zwischen seinen Mitgliedstaaten – eine jedoch meist gar nicht oder nur sehr zögerlich pas- starke marktliberale Regel, die in dieser Ausprägung siert. Obwohl der Tierschutz seit 2002 als Staatsziel im einzigartig ist. Im Gegensatz zum Freihandel (der Ab- Grundgesetz verankert ist und damit Verfassungsrang schaffung von Zöllen und anderen Handelshemmnis- genießt, sind seither keine maßgeblichen ordnungs- sen) ist der freie Warenverkehr sehr viel weitreichen- rechtlichen Verbesserungen für die Tiere in Deutsch- der: Er stellt für alle Wirtschaftsakteure ein Recht auf land erfolgt. Marktzugang zu anderen nationalen Märkten der EU Woran liegt das? – Die Gründe sind vielfältig und dar. Damit werden alle Möglichkeiten der EU-Mit- liegen beispielsweise in politischen Entscheidungspro- gliedstaaten für Handelsbeschränkungen jeglicher Art zessen auf nationaler Ebene, der Stärke von Lobby außer Kraft gesetzt.6 Dieser freie Warenverkehr inner- organisationen oder an den an der Macht befindenden halb der EU wird wiederum durch ein starkes Prinzip Parteien.4 Ein weiterer nicht zu unterschätzender Fak- der Marktintegration gewährleistet, welches für die tor wurde eingangs am Beispiel der betäubungslosen Beseitigung jeglicher regulatorischen Hindernisse Ferkelkastration erklärt: Abwanderungsrisiken, die sorgt: das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. insbesondere in einem tief integrierten Markt wie der Die gegenseitige Anerkennung sieht vor, dass jedes EU vorherrschen können, werden als dominierendes in einem EU-Mitgliedstaat rechtmäßig hergestell- Argument gegen die Erhöhung von nationalen Tier- te Produkt auch in jedem anderen EU-Mitgliedstaat schutzstandards eingesetzt – mit Erfolg! akzeptiert werden muss. Das importierende Land ist Die Logik ist simpel: Kosten, die durch höhere dazu verpflichtet, die Standards des »Heimat«- oder Tierschutzanforderungen entstehen (und weder Exportlandes zu akzeptieren. Einzelne Mitgliedstaa- durch Subventionen kompensiert noch durch be- ten der EU dürfen anderen EU-Mitgliedstaaten keine stimmte Preisprämien für gekennzeichnete Produk- Einfuhrbeschränkungen auferlegen. Während es den te gedeckt werden), setzen einheimische Produzen- Regierungen in vielen Fällen weiterhin gestattet ist, ten gegenüber importierten Produkten aus anderen auf nationaler Ebene höhere Standards umzusetzen, Mitgliedstaaten einem Wettbewerbsnachteil aus. gelten diese Vorschriften eben nur für inländische Infolgedessen können nationale Standards durch Hersteller, nicht aber für die Produzenten anderer importierte Produkte untergraben werden, die auf EU-Mitgliedstaaten. Was importiert und im Inland niedrigem Tierschutzniveau – und dadurch zu ge- verkauft wird, kann nicht mehr national geregelt wer- ringeren Kosten – hergestellt wurden. Dies wieder- den. Am Beispiel der betäubungslosen Ferkelkastra- um kann die Umsetzung der betreffenden höheren tion bedeutet dies: Deutschland kann zwar national Standards verzögern oder sogar verhindern: Auf- verbieten, Ferkel nicht mehr ohne Betäubung zu kas- grund der Befürchtungen, einige Teile der inländi- trieren, jedoch nicht verlangen, dass auch importierte schen Produktion durch Importe aus Ländern mit Ferkel nicht mehr ohne Betäubung kastriert wurden. weniger strengen Rechtsvorschriften zu ersetzen, Infolgedessen werden die Argumente für höhere werden die Standards gar nicht erst angehoben oder nationale (Tierschutz-)Standards geschwächt: Es ist deren Implementierung wird solange wie möglich schwieriger, höhere Standards für einheimische Her- hinausgezögert. steller durchzusetzen, wenn die Verbraucherinnen Tatsächlich ist das Argument des Risikos einer und Verbraucher weiterhin importierte Produkte Abwanderung bzw. der Produktionsverlagerung ins kaufen können, die zu niedrigeren Standards herge- Ausland nicht immer haltlos. So sank zum Beispiel in stellt wurden. Dieses Problem wird durch Intranspa- Schweden der Selbstversorgungsgrad mit Schweine- renz noch verstärkt. Wer beim Einkauf nicht einmal fleisch seit dem EU-Beitritt stark.5 Schweden hat viel sehen kann, zu welchen Bedingungen die Tiere gehal- strengere Tierschutzauflagen als die meisten anderen ten wurden, wird wahrscheinlich zu dem günstigeren EU-Mitgliedsländer und importiert seit seinem EU- Produkt greifen (in diesem Fall dem importierten). Beitritt insbesondere Schweinefleisch aus Deutsch- Dies kann maßgeblich dazu beitragen, dass Tier- land und Dänemark. Dass Länder wie Schweden ihre schutzstandards gar nicht oder nur sehr zögerlich Landwirte nicht vor billigeren, weil zu schlechteren angehoben werden und infolgedessen zu einem sub- Bedingungen produzierten Importen aus den EU- optimalen Standardniveau führen, wenn diese schwa- Nachbarländern schützen können, liegt maßgeblich chen nationalen Gesetze nicht durch stärkere zentrale an den Binnenmarktregeln der EU. EU-Regelungen kompensiert werden.7 Ein solcher 265
Der kritische Agrarbericht 2021 Ausgleich auf EU-Ebene ist jedoch noch schwerer Produktion, sondern auch für die Importe aus den an- durchzusetzen: Hier müssen im Rat der EU länder- deren Bundesstaaten gelten sollten. Aber auch in Kali- übergreifende Mehrheiten für zentrale höhere Tier- fornien ging es weiter. Im November 2018 verabschie- schutzstandards gefunden werden. Da die Interessen dete der Bundesstaat das mit knapper Zwei-Drittel- und gesellschaftlichen Anforderungen an Tierschutz Mehrheit gewonnene Wahlreferendum »Proposition innerhalb der EU-Mitgliedsländer äußerst unter- 12«. In dem Vorschlag wurden neue Mindestanforde- schiedlich ausfallen, ist ein hoher EU-weiter Tier- rungen an die Haltung von Legehennen, Zuchtsauen schutzstandard nur sehr schwer zu erreichen. und Mastkälber gestellt. Bereits seit 2020 gelten höhe- re Platzvorgaben für Legehennen und Mastkälber, ab Es geht auch anders: 2022 müssen Hühner käfigfrei gehalten werden und Kaliforniens Wettbewerb nach oben auch für Zuchtsauen gelten erstmalig Mindestplatz- bestimmungen. Unternehmen in Kalifornien dürfen In den letzten Jahrzehnten gab Kalifornien in vielen demnach weder Eier noch Schweine- oder Kalbfleisch Fällen den führenden Ton beim Umwelt- und Klima- verkaufen, das von Tieren stammt, die nicht auf die schutz an und gilt in diesem Politikfeld mittlerweile erforderliche Weise gehalten wurden. als Vorreiter. Aber auch in punkto Tierschutz hat Durch die Regulierung der Importe aus den ande- Kalifornien einige neue Gesetze eingeführt. So wurde ren Staaten schafft Kalifornien erneut ein wirksames im Jahre 2008 ein Gesetzesvorschlag per Referendum Handelshemmnis innerhalb der USA. Und auch in verabschiedet, in dem höhere Tierschutzanforderun- einigen anderen Bundesstaaten gibt es mittlerweile gen an die Haltung von landwirtschaftlich genutzten Tierschutzregelungen, die nicht nur für die einhei- Tieren gestellt wurden. Die »Proposition 2« befass- mische Produktion, sondern auch für Importe gelten. te sich mit der Käfighaltung und forderte, dass sich Eine positive Auswirkung auf die Entwicklung von Mastkälber, Legehennen und trächtige Sauen jederzeit Tierschutzstandards zeichnet sich ab. hinlegen, umdrehen und ihre Gliedmaßen vollständig Das Beispiel USA zeigt, dass ein Handelshemmnis ausstrecken können müssen. innerhalb eines wirtschaftlich integrierten Binnen- Das neue Gesetz galt zwar erst einmal nur für die in markts kein Ding der Unmöglichkeit sein muss. Die Kalifornien ansässigen Betriebe. Doch dann folgte ein Binnenmarktregeln der EU zu ändern, ist dennoch ein überraschender Schritt: Ein neuer Gesetzesentwurf schwieriges und langwieriges Unterfangen. Eine Brü- erweiterte die Anforderungen auf alle in Kalifornien ckenlösung stellt die Kompensation der Mehrkosten verkauften Eier (also auch für die Importe), um faire für höhere Tierschutzstandards dar: Wenn der Um- Wettbewerbsbedingungen zwischen den einheimi- bau der Tierhaltung konsequent ordnungsrechtlich schen und den ausländischen Produzenten zu schaf- eingefordert und Landwirte gleichzeitig für die Mehr- fen. Im Jahre 2010 wurde dieses Gesetz verabschiedet kosten kompensiert würden, entstünde auch kein und es trat 2015 in Kraft. Kalifornien schuf also eine Wettbewerbsnachteil. Allerdings ist der Umbau der Handelsbarriere innerhalb der USA. Ein undenkbarer Tierhaltung nicht gerade günstig: Laut Wissenschaft- Schritt in der EU, wo die gegenseitige Anerkennung lichem Beirat des Bundeslandwirtschaftsministeriums und die Warenverkehrsfreiheit als oberstes Gebot gel- kostet die Umstellung auf eine gesellschaftlich akzep- ten. Dabei bilden die USA eigentlich einen noch stär- tierte landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland ker integrierten Wirtschaftsraum als die EU. drei bis fünf Milliarden Euro pro Jahr.9 Wie zu erwarten, folgte eine Klagewelle: Mehrere Diese Mehrkosten können nicht allein über den Bundesstaaten wehrten sich gegen die neuen Anfor- Markt finanziert werden. Langfristige Finanzierungs- derungen. Sie beschuldigten Kalifornien, Handels- und Planungssicherheit muss gegeben sein. Es gibt je- hemmnisse für Eier und andere Agrarprodukte auf- doch diverse Möglichkeiten, eine Tierhaltung der Zu- zubauen. Der ehemalige Staatsanwalt von Oklahoma, kunft zu finanzieren, die im Folgenden skizziert werden. Scott Pruitt, beschwerte sich: »Alle Eier, die wir jetzt in Kalifornien verkaufen, müssen aus klimatisierten Mögliche Finanzierungsquellen Käfigen kommen, in denen die Hühner Yoga machen können, denn Kalifornien will uns vorschreiben, wie Umschichtung der Gelder der Gemeinsamen wir unsere Landwirtschaft betreiben sollen. Wenn Agrarpolitik (GAP) das so weitergeht, regelt Kalifornien demnächst auch Fast 40 Prozent ihres gesamten Haushalts gibt die EU noch unsere Milchproduktion und Viehzucht – das jährlich für Agrarsubventionen aus. Der Löwenanteil geht doch nicht.«8 (75 Prozent) fließt dabei in Form von Direktzahlun- Die Richter wiesen die Klage jedoch ab. Gleichzeitig gen in die Erste Säule. Diese werden pro Hektar aus- entschieden sich weitere Bundesstaaten für schärfere geschüttet – vor allem auf die Größe, nicht auf die Art Tierschutzgesetze, die nicht nur für die inländische der Bewirtschaftung oder der Tierhaltung kommt es 266
Tierschutz und Tierhaltung hierbei also an. Der viel geringere Anteil fließt in die konsum in Deutschland würde also schneller sinken Zweite Säule und honoriert damit zielgerichtet gesell- als bisher. Zweitens könnten die Mehreinnahmen ei- schaftliche Leistungen wie Umwelt- und Tierschutz- nen Teil des Umbaus der Tierhaltung finanzieren. Das maßnahmen. Umweltbundesamt schätzt die zusätzlichen Steuer- Für Deutschland stehen jährlich circa 6,2 Milliar- einnahmen auf mindestens 5,2 Milliarden Euro, wenn den Euro an EU-Mitteln für die Agrarförderung zur alle tierischen Lebensmittel mit dem regulären Steu- Verfügung. Davon werden immer noch knapp fünf ersatz von 19 Prozent besteuert würden.10 Dieses Geld Milliarden Euro in Form von Direktzahlungen aus- könnte direkt in den Umbau der Tierhaltung fließen. geschüttet. Mehr als genug, um den Umbau der Tier- haltung zu finanzieren, wenn man bereit wäre, diese Die Fleischabgabe Zahlungen gezielt für die Förderung von Tierschutz- Zusätzlich zur »Normalisierung« der Mehrwertsteuer maßnahmen umzulenken. für tierische Produkte könnte eine pauschale Abgabe Alle sieben Jahre wird die GAP reformiert. Derzeit von z. B. 50 Cent pro Kilogramm Fleisch eingeführt laufen die Verhandlungen für die nächste Förder werden. Bei dem derzeitigen Fleischverzehr von knapp periode. Im Juni 2018 hatte die EU-Kommission hier- 60 Kilogramm pro Kopf und Jahr in Deutschland kä- zu einen Reformvorschlag vorgelegt, der nun mit dem men immerhin um die 2,5 Milliarden Euro zusammen. Europäischen Parlament und den Landwirtschaftsmi- Eine solche Abgabe wurde auch vom Kompetenz- nistern der 27 EU-Staaten verhandelt wird. Der bis- netzwerk Nutztierhaltung (Borchert-Kommission) herige Entwurf ist jedoch ernüchternd. Der weitaus vorgeschlagen: 40 Cent pro Kilogramm Fleisch, zwei größte Teil des GAP-Haushalts soll weiter mit dem Cent pro Kilogramm Milch und Frischmilchprodukte Gießkannenprinzip nach Größe der Flächen und nicht sowie Eier und 15 Cent pro Kilogramm Käse, Butter als Honorierung für Umwelt- oder Tierschutzleistun- und Milchpulver.11 Hieraus ergäben sich Steuerein- gen ausgegeben werden. Damit wird die Chance auf nahmen von 3,6 Milliarden Euro. Diese »Sonderab- eine echte Agrarwende hin zu einer zukunftsgerichte- gabe Tierwohl« hat einige Vorteile. Erstens setzt sie ten, nachhaltigen und tierschutzgerechten Landwirt- einen positiven Anreiz für hochwertigere Produkte, schaft vertan. Und das, obwohl die künftige GAP auf denn im Gegensatz zur Anhebung der Mehrwertsteu- neun wirtschaftliche, soziale und ökologische Ziele er würde hierbei teureres Fleisch aus besserer Haltung ausgerichtet sein soll, was ihrer »Multifunktionalität« prozentual begünstigt. Darüber hinaus kann eine Ab- entspricht. Bei den neun Zielen ist der Tierschutz je- gabe einfacher für den Umbau der Tierhaltung einge- doch stark unterrepräsentiert. So schafft es der Begriff setzt werden als eine Steuer. »Tierwohl« nicht einmal als eigenständiger Punkt auf die Liste der künftigen Ziele. Hier muss dringend Kennzeichnung und höhere Verbraucherpreise nachverhandelt werden, um den Umbau der Tierhal- Die Eierkennzeichnung hat gezeigt: Bei hoher Trans- tung endlich auch über die GAP zu finanzieren. parenz und Glaubwürdigkeit gibt es eine beachtliche Zahlungsbereitschaft bei einem Großteil der deut- Die Fleischsteuer schen Verbraucherinnen und Verbraucher. Durch Ein überhöhter Fleischkonsum hat viele negative Fol- gen für die Umwelt, die Gesundheit und natürlich für die Tiere. Dennoch werden tierische Produkte immer Tab. 1: Kosten und mögliche Finanzierungs- noch mit dem begünstigten Mehrwertsteuersatz von quellen für den Umbau der Tierhaltung sieben Prozent besteuert. Bei gesunden Lebensmitteln Milliarden Euro mit nur geringen externen Kosten wie Brot, Gemü- pro Jahr se und Obst macht diese Vergünstigung auch Sinn. Kosten laut Gutachten des Wissenschaft 3–5 Aber gibt es ein Recht auf billiges Fleisch? Unfair ist lichen Beirats für Agrarpolitik (WBA) zudem, dass tierfreie Ersatzprodukte wie Hafermilch Mögliche Finanzierungsquellen und Sojaschnitzel derzeit höher besteuert werden als für den Umbau der Tierhaltung Milch und Fleisch. Hierfür gilt nämlich der reguläre GAP: Nutzung bestehender Gelder 1,3 Steuersatz von 19 Prozent. Dies setzt falsche Anreize, aus der Zweiten Säule denn damit werden tierische Produkte vor pflanzli- GAP: Umschichtung von 15 Prozent 0,75 chen Nahrungsmitteln begünstigt. von Erster in Zweite Säule Eine Anhebung des Mehrwertsteuersatzes für Fleisch Regelbesteuerung tierischer Produkte 5,2 von sieben auf 19 Prozent hätte einige positive Wir- (Erhöhung auf 19 Prozent) kungen: Erstens würden Menschen insgesamt weniger Sonderabgabe »Tierwohl« 3,6 (Vorschlag Borchert-Kommission) Fleisch konsumieren, da der relative Preis im Vergleich zu anderen Lebensmitteln teurer würde. Der Fleisch- Eigene Darstellung 267
Der kritische Agrarbericht 2021 eine flächendeckende gesetzliche Kennzeichnung Diese Förderung kann durch eine Neuausrichtung der der Haltungsbedingungen auf Fleisch- und Milch- Gemeinsamen Agrarpolitik, eine Erhöhung der Mehr- produkten könnte sich ein jeder beim Kauf bewusst wertsteuer für tierische Produkte auf 19 Prozent und/ für eine bestimmte Haltungsform entscheiden. Die oder einer »Tierwohlabgabe« refinanziert werden. Kennzeichnung von 0 bis 3 ist bereits beim Ei sehr er- Wenn gleichzeitig die EU-Binnenmarktregeln da- folgreich: Immer mehr Menschen greifen zu Bio- und hingehend geändert würden, dass wissenschaftlich Freilandeiern. Käfigeier wurden durch die sinkende begründete Tierschutzstandards nicht nur für die Nachfrage bereits seit 2010 vom Handel ausgelistet. einheimische Landwirtschaft, sondern auch für die Zumindest ein Teil der Kosten für Tierschutz- Importe aus anderen EU-Mitgliedsländern gälten, maßnahmen könnte so über den Markt wieder abge- stünde einem zeitnahem Umbau der Tierhaltung in deckt werden. Voraussetzung hierfür ist eine ehrliche Deutschland nichts mehr im Wege. Kennzeichnung. Das 2019 eingeführte Kennzeich- nungssystem des Lebensmitteleinzelhandels mit dem Logo »Haltungsform« bietet im Gegensatz dazu keine Das Thema im Kritischen Agrarbericht wirkliche Orientierung, denn z. B. die Bezeichnungen X Ulrich Jasper: Der Umbau der Tierhaltung braucht Geld. Über die Notwendigkeit, neue Finanzierungsinstrumente zu ent »Stallhaltung plus« und »Außenklima« spiegeln nicht wickeln – als Teil einer umfassenden Nutztierstrategie. In: die wahren Haltungsbedingungen der Tiere wider und Der kritische Agrarbericht 2020, S. 65 f. wirken verbrauchertäuschend. Anmerkungen Fazit 1 Deutscher Bundestag: Experten mehrheitlich für Verlängerung betäubungsloser Ferkelkastration. Expertenanhörung vom Auch durch eine transparente Kennzeichnung wird 26. November 2018 (www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/ 2018/kw48-pa-landwirtschaft-ferkelkastration-578578). der Markt allein das Problem nicht lösen. Ein Poli- 2 European Commission: Special Eurobarometer 442. Report: tikmix aus einer flächendeckenden gesetzlichen Hal- A ttitudes of europeans towards animal welfare. Brussels 2015. tungskennzeichnung und gezielter staatlicher För- 3 Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik (WBA) beim Bundes- derung ist nötig, auch um den Landwirtinnen und ministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Wege zu einer Landwirten Planungssicherheit zu gewährleisten. gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung. B erlin 2015. 4 C. S. Vogeler: Why do farm animal welfare regulations vary b etween EU member states? A comparative analysis of societal and party political determinants in France, Germany, Italy, Folgerungen & Forderungen Spain and the UK. In: Journal of Common Market Studies 75/2 (2018), pp. 317-335. 5 Swedish Board of Agriculture: Number of livestock 1980-2019 ■ Der Tierschutz gewinnt zunehmend an gesellschaft- (www.scb.se/en/finding-statistics/statistics-by-subject-area/ licher Relevanz, gleichzeitig wird die Lücke zwischen agriculture-forestry-and-fishery/general-statistics/general- den Anforderungen an die landwirtschaftliche Tier- agricultural-statistics/pong/tables-and-graphs/number-of- haltung und der Realität immer größer. livestock/). 6 J. Pelkmans: Mutual Recognition: economic and regulatory logic ■ Die Politik reagiert viel zu zögerlich – einer der in goods and services. Bruges European Economic Research Gründe hierfür ist der drohende Wettbewerbsverlust Papers 24/2012. College of Europe. gegenüber anderen EU-Mitgliedsländern bei einer 7 F. W. Scharpf: The asymmetry of european integration, or why Anhebung nationaler Tierschutzstandards. the EU cannot be a »social market economy«. In: Socio-Econo- mic Review 8/2 (2010), pp. 211-250. ■ Die EU-Binnenmarktregeln erlauben es den einzel- 8 H. Wipperfürth: Tierwohl in den USA steckt in den Kinder nen Mitgliedsländern nicht, anderen EU-Staaten die schuhen. Deutschlandfunk vom 29. Dezember 2016. eigenen Tierschutzbestimmungen aufzuerlegen – 9 WBA (siehe Anm. 3), S. 6. folglich haben diese Regeln eine potenziell blockie- 10 Umweltbundesamt: Umweltschädliche Subventionen in rende Wirkung auf nationale Tierschutzstandards. Deutschland. Aktualisierte Ausgabe. Dessau-Roßlau 2016, S. 67. 11 Empfehlungen des Kompetenznetzwerks Nutztierhaltung ■ Solange die Binnenmarktregeln der EU nicht ent- (11. Februar 2020) (www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/ sprechend geändert werden, ist ein Politikmix aus DE/_Tiere/Nutztiere/200211-empfehlung-kompetenznetzwerk- einer gesetzlichen Haltungskennzeichnung und nutztierhaltung.pdf?__blob=publicationFile&v=1). gezielter staatlicher Förderung nötig, um die Mehr- kosten besserer Haltungsbedingungen landwirt- Jasmin Zöllmer schaftlich genutzter Tiere zu kompensieren. Leitung Politik und Hauptstadtreferat ■ Diese Förderung kann durch eine Umschichtung der bei P ROVIEH e.V. sowie Doktorandin im GAP-Gelder sowie durch eine Erhöhung der Mehr- F achbereich Agrarhandel und Entwicklung der Humboldt-Universität zu Berlin. wertsteuer für tierische Produkte auf 19 Prozent und/ oder einer »Tierwohlabgabe« refinanziert werden. zoellmer@provieh.de www.provieh.de 268
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