KARLA GROSCH - EINE SPURENSUCHE - Zenodo
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KARLA GROSCH – EINE SPURENSUCHE Seraina Graf SUMMarY The scientific investigation of Karla Grosch's transcribed in the course of in-depth re- life and work is highly relevant both in the search. The exchanges of letters between context of Bauhaus and Klee research and Karla Grosch and Max Werner Lenz as well with regard to an early 20th century cultural as Lily and Felix Klee were particularly infor- historiography. However, the current state of mative and allowed a focus to be placed on research on Grosch's person is not satisfac- interpersonal relations. This is the first time tory and has to be examined critically due to that a comprehensive picture of the young a lack of proximity to the sources. The results dancer, gymnastics teacher and »adopted presented in this article are largely based on daughter« of Lily and Paul Klee is conveyed, the evaluation of unpublished archive and es- which ultimately fits seamlessly into her tate materials, which were identified and highly regarded environment. D ie wissenschaftliche Untersuchung »BAUHAUSKÖPFE« von Karla Groschs Leben und Wir- 2019 jährt sich die Gründung des Bauhauses ken ist sowohl im Kontext der Bau- in Weimar zum hundertsten Mal.1 Die Hoch- haus- und Klee-Forschung als auch in Hin- schule für Gestaltung, die 1925 nach Dessau blick auf eine Kulturgeschichtsschreibung übersiedelte und 1933 in Berlin aufgrund des frühen 20. Jahrhunderts höchst rele- des von den Nationalsozialisten ausgeübten vant. Der bisherige Forschungsstand zu Drucks schliessen musste, wird bis heute Groschs Person ist allerdings nicht zufrie- international als Kulminationspunkt avant- denstellend und muss aufgrund fehlender gardistischer Ideen rezipiert. Die visionären Quellennähe kritisch hinterfragt werden. Die Köpfe, die hinter der Institution standen, wa- in diesem Beitrag präsentierten Ergebnisse ren zahlreich und in ihrer Vielfalt einmalig. basieren grösstenteils auf der Auswertung So prägten nicht nur die namhaften Direk- von unveröffentlichten Archivmaterialien toren, Meister und Lehrenden die Schule, und Nachlassbeständen, die im Zuge ver- sondern es waren vor allem auch die über tiefter Recherchen identifiziert und transkri- 1250 Studierenden aus aller Welt, welche biert werden konnten. Die Briefwechsel zwi- die kreative Schaffensatmosphäre nachhal- schen Karla Grosch und Max Werner Lenz tig mitformten. All diese individuellen Bio- sowie Lily und Felix Klee waren dabei be- grafien sind am Ende untrennbar mit dem sonders aufschlussreich und ermöglichten Bauhaus verbunden und in der Forschung eine auf die zwischenmenschlichen Bezie- deshalb von grösster Relevanz. hungen ausgerichtete Schwerpunktsetzung. Obwohl die wissenschaftliche Aufarbei- So wird erstmals ein umfassendes Bild der tung des Phänomens »Bauhaus« und der jungen Tänzerin, Gymnastiklehrerin und darin involvierten Persönlichkeiten weit fort- »Adoptivtochter« von Lily und Paul Klee ver- geschritten und in vielen Belangen vorbild- mittelt, das sich letzten Endes nahtlos in ihr lich ist, wurden einige Leistungen und künst- viel beachtetes Umfeld einfügt. lerische Positionen bisher noch nicht ihrer ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 5 / SPRING 2018 GRAF / KARLA GROSCH 17
Originalität entsprechend gewürdigt. In die- Klees engster Jugendfreundin und Geliebten sen Bereich fällt die junge Tänzerin Karla zur in alle familiären Angelegenheiten mit- Grosch (1904–1933), die von 1928 bis 1932 einbezogenen Haustochter und schliesslich am Bauhaus Dessau als Sportlehrerin zum geschätzten Familienmitglied.4 Ihre Le- wirkte. Sie war damit eine der wenigen weib- bensgeschichte war damit nicht nur im all- lichen Lehrkräfte und galt darüber hinaus gemeinen Sinne Teil des kulturhistorischen bereits zu Lebzeiten als Inbegriff der mo- Prozesses der Moderne, sondern ganz kon- dernen, unabhängigen Frau mit frechem kret auch mit einem der bedeutendsten »Bubikopf« und athletisch-androgynem Kör- Künstler des 20. Jahrhunderts verknüpft. per (aBB. 1). Die Klee-Forschung ist indes bereits so weit fortgeschritten, dass sich eine Fokus- Abb. 1 Karla Grosch, Sportschule verschiebung von der Person des Künstlers S. Deutsch, Berlin, 1928, Fotograf: selbst auf sein nächstes Umfeld abzeichnet. unbekannt, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Familie Klee Dazu gehört insbesondere die Erforschung © Zentrum Paul Klee, Bern, von dessen Ehefrau Lily Klee, auch unter Bildarchiv besonderer Berücksichtigung ihrer Rolle als moderne Künstlergattin, Fotografin und Nachlassverwalterin. Dieses Forschungs- vorhaben wurde kürzlich am Kunsthistori- schen Institut der Universität Zürich in Ko- operation mit der Familie Klee und der Klee-Nachlassverwaltung in Hinterkappelen sowie dem Zentrum Paul Klee und der Nachlassverwaltung der Familie Klee in An- griff genommen.5 In diesem Zusammenhang erschliesst sich die Relevanz der im vorliegenden Bei- trag behandelten Thematik: Karla Grosch gehörte zu Lily Klees wichtigsten Bezugs- personen und war ihr bei der Bewältigung der alltäglichen Herausforderungen eine un- In Quellen und in der Forschungsliteratur verzichtbare Hilfe. Sie verbrachte bei meist wurde Grosch bisher – falls überhaupt – je- krankheitsbedingter, längerer Abwesenheit doch meistens in einem anderen Zusam- von Lily Klee ausserdem viele Stunden mit menhang erwähnt. So schrieb der Kunst- Paul Klee und machte letzterem, als sie ih- historiker Ludwig Grote in Erinnerung an ren Kater Bimbo schliesslich definitiv in sei- den Künstler Paul Klee: »In das ›Haus Klee‹ ner Obhut beliess, wohl eines der grössten gehörte damals noch Karla Grosch – eine Geschenke überhaupt (aBB. 2). kraftvolle, federnde Persönlichkeit von blon- Die Beziehung Karla Groschs zur Familie 2 der Frische, die Gymnastikunterricht gab.« Klee genauer zu analysieren, zählt folglich Und Lily Klee erklärte in ihren Lebenserin- zu den erklärten Zielen der nachfolgenden nerungen: »Die Hauptfreundin von Felix war Untersuchungen. Bezüglich der anfangs er- Karla Grosch aus Weimar. Ein entzückendes wähnten Erforschung der »Bauhausköpfe« Mädchen, welche[s] ich tief in mein Herz ge- gilt es ferner auch, ihre Rolle als Lehrkraft schlossen u. sehr geliebt habe. Sie sollte am Standort Dessau sowie ihr tänzerisches später noch eine grosse Rolle in unserem Engagement an der von Oskar Schlemmer Leben spielen […].«3 geleiteten Bauhausbühne zu betrachten. Karla Grosch war aus dem Alltag der Fa- Unter Einbezug von grösstenteils uner- milie Klee nicht wegzudenken. Über die schlossenen Primärquellen wird somit erst- Jahre hinweg entwickelte sie sich von Felix mals ein möglichst umfassendes Bild von ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 5 / SPRING 2018 GRAF / KARLA GROSCH 18
Abb. 2 Grosch und zeichnete anhand der histori- Karla Grosch mit Katze Bimbo I, Dessau, 1932/33, Fotograf: schen Dokumente ein lebendiges Bild der unbekannt, Zentrum Paul Klee, ehemaligen Bewohner der Familienvilla an Bern, Schenkung Familie Klee der Steubenstrasse 35.7 Da es sich bei We- © Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv bers Buchreihe jedoch nicht um ein wissen- schaftliches Format handelt, fehlen in ihrem Beitrag jegliche Quellenangaben, was die Verifizierung des Geschriebenen nahezu ver- unmöglicht. Die fehlende Nähe zu den Ori- ginaldokumenten und das Abschreiben von ungeprüften Informationen sind im aktuel- len Forschungsstand zu Karla Grosch ein allgemeines Problem, das sich auch im erst kürzlich publizierten, bisher ausführlichsten Aufsatz zur Tänzerin widerspiegelt: Die Ku- ratorin Inga Kleinknecht widmete Grosch im Rahmen der Ausstellung Bauhaus-Beziehun- gen Oberösterreich, die vom 18. Mai bis am 27. August 2017 in der Landesgalerie Linz gezeigt wurde, einen eigenen Beitrag im Karla Groschs Leben und Wirken vermittelt. dazu erschienenen Katalog.8 Die Vorgehensweise kann dabei mit einer Groschs Verbindungen mit Oberösterreich Spurensuche verglichen werden, deren ver- waren biografischer Natur: Am Bauhaus folgte Fährten sich allmählich zu einem – Dessau lernte sie 1931 den aus Vöcklabruck wenn auch nicht lückenlosen – Ganzen zu- stammenden Architekturstudenten Franz sammenfügen. Aichinger kennen, mit dem sie sich später verlobte und im April 1933 nach Palästina FORSCHUNGSSTAND auswanderte (aBB. 3). Aus Briefen ist bekannt, Falls Karla Grosch in der reichen For- dass Grosch selbst in Vöcklabruck war und schungsliteratur zum Bauhaus, Paul Klee Aichingers Familie kennengelernt hatte.9 oder ihrer Lehrerin Gret Palucca überhaupt Gelebt oder gearbeitet hat sie in Oberöster- erwähnt wird, beschränken sich die Beiträge reich jedoch nie, weshalb die Untersuchung in den meisten Fällen auf Namenserwäh- Abb. 3 Franz Aichinger und Karla Grosch, nungen oder die Benennung ihrer wichtigs- Stresemannallee 6–7, Dessau, ten biografischen Eckpunkte. Insbesondere zwischen 6. und 19.4.1933 (wie Abb. 16. u. 19), Fotograf: Paul Klee erstaunt es, dass sie auch unter dem Ge- [?], Zentrum Paul Klee, Bern, sichtspunkt der in der Bauhaus-Forschung Schenkung Familie Klee © Zentrum Paul Klee, Bern, seit Jahren anhaltenden Genderpolitikfrage Bildarchiv keinen Eingang in diesbezüglich wegwei- sende Arbeiten gefunden hat.6 Die folgenden Beiträge haben indes massgeblich zum ge- genwärtigen Wissensstand beigetragen und sollen deshalb kurz kommentiert werden: Um die Jahrtausendwende herum setzte sich die Lokaljournalistin Christiane Weber als Erste genauer mit der Person von Karla Grosch sowie deren Schwester Paula aus- einander. Für ihr mehrteiliges Buchprojekt Villen in Weimar erhielt sie damals Zugang zum Nachlass des Ehepaars Aichinger- ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 5 / SPRING 2018 GRAF / KARLA GROSCH 19
ihrer Person in der Linzer Ausstellung nur Einblick in die subjektive Gefühlswelt der in begrenztem Masse gerechtfertigt scheint. beschriebenen Personen.16 Zu Franz Aichinger hingegen, der in der the- Groschs enge Verbundenheit mit der Fa- matisierten Region aufgewachsen und spä- milie Klee wurde hingegen bereits 1959 in ter wieder dorthin zurückgekehrt war, hätten den von Ludwig Grote herausgegebenen Er- – auch in Verbindung mit Grosch – durchaus innerungen an Paul Klee sowie in Felix Klees vertiefte Nachforschungen angestellt wer- im darauffolgenden Jahr erschienenen Pu- den können: Neben seinem Weg ans Bau- blikation Paul Klee. Leben und Werk in Doku- haus und der dort genossenen Ausbildung menten betont.17 70 Jahre nach dem für die wären auch seine bisher weitgehend unbe- Familie Klee besonders einschneidenden kannten Fotografien auf ihren künstleri- Jahr 1933 veröffentlichten Stefan Frey und schen Wert hin zu befragen gewesen.10 Andreas Hüneke ferner eine detaillierte Mit den Schwerpunkten der tänzerischen Chronologie der Geschehnisse ebendieses Ausbildung bei Gret Palucca in Dresden und Zeitraumes.18 Darin finden sich Hinweise der Mitwirkung an der Bauhausbühne stellt auf den zeitlichen Ablauf von Karla Groschs Kleinknecht Grosch als denjenigen Idealty- und Franz Aichingers Emigration nach Pa- pus des »Bauhausmädels« vor, als den die lästina, von der auch Lily und Paul Klee be- Tänzerin bereits 1930 von der Zeitschrift Die troffen waren. Der Eintrag zum 8. und 9. Mai Woche porträtiert worden war.11 Dass Klein- enthält zudem erstmals detaillierte Infor- knecht es versäumt, den von ihr titelgebend mationen zu Groschs Ableben sowie Lily verwendeten Zeitschriftenbeitrag korrekt zu Klees emotionalen Reaktionen darauf.19 datieren – der Beitrag erschien nicht am 4. April, sondern bereits am 4. Januar –,12 WEIMAR UND DRESDEN: FAMILIE, KIND- zeugt stellvertretend vom allgemein unkri- HEIT UND AUSBILDUNG (1904–1928) tischen Umgang mit den wenigen, meist feh- lerbehafteten Beiträgen zu Groschs Per- FAMILIÄRES UMFELD20 13 son. Dies führt schliesslich zu einer Das aufwendige Mausoleum der Familie Zementierung des nicht zufriedenstellenden Grosch befindet sich auf dem Historischen Forschungsstandes. Friedhof in Weimar in unmittelbarer Nähe Die falsche Datierung des erwähnten Zeit- der Fürstengruft, in der Goethe und Schiller schriftenartikels wurde wahrscheinlich vom begraben liegen, sowie der russisch-ortho- 2016 in Zusammenhang mit dem Projekt doxen Grabkapelle der Grossfürstin und »100 jahre bauhaus« ins Netz gestellten Text Grossherzogin Maria Pawlowna Romanowa zu Grosch übernommen.14 Neben einem (aBB 4). kurzen Abriss ihres Lebens finden sich dort auch einige wenige Hinweise zu weiterfüh- Abb. 4 Grabstätte Grosch, Historischer render Literatur und Archivbeständen. Ob- Friedhof Weimar, 2012, Fotografin: wohl ausdrücklich auf wichtige Briefe im Sigrun Därr © Därr Landschaftsarchitekten Stadtarchiv Zürich verwiesen wird, bleibt ein (Halle/S.) / Stadt Weimar in diesem Zusammenhang signifikanter Auf- satz unerwähnt: Die Archivarin Halina Pichit hat sich in ihrem Beitrag zum Zweijahres- bericht des Stadtarchivs Zürich der Jahre 2009–2010 intensiv mit der Person von Max Werner Lenz, der eine Zeit lang mit Grosch liiert war, auseinandergesetzt.15 Pichit the- Ihr Vater Rudolf Grosch (* 8.3.1837 in Wei- matisiert anhand der Korrespondenz zwi- mar; † 8.1.1911 in Gries) hatte die in neogo- schen Grosch und Lenz insbesondere deren tischem Stil aus Carrara-Marmor gefertigte Liebesbeziehung sowie das Verhältnis zur Grabstätte bei Giacomo Monti aus Mailand Familie Klee. Auf diese Weise gibt sie einen in Auftrag gegeben.21 In welchem Jahr Monti ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 5 / SPRING 2018 GRAF / KARLA GROSCH 20
mit dem Bau betraut wurde und wie lange bruch. Wie er in einem Schreiben an den er für dessen Fertigstellung benötigte, ist Oberbürgermeister der Stadt Weimar be- nicht bekannt. Es erscheint jedoch wahr- richtete, wurde er deshalb von seinem Arzt scheinlich, dass Rudolf Grosch das Monu- ermuntert, so schnell wie möglich wieder ment unter dem Eindruck des Todes seiner zu heiraten, damit er von einer Frau gepflegt ersten Frau, Emilie Karoline Grosch, ge- und umsorgt würde.25 Ein Jahr später ehe- nannt Lina (*12.12.1843 in Weimar; lichte er die wesentlich jüngere Dora Her- †29.1.1900 ebenda), errichten liess. So mine Schmidt (*30.11.1869 in Weimar; wurde letztere auch als Erste in goldenen †21.9.1931 ebenda), welche ihm bereits im Lettern auf der schwarzen Marmortafel im Dezember desselben Jahres eine Tochter Innern des Grabmals verewigt (aBB. 5). gebar. Die nach seiner ersten Frau benannte Lina verstarb jedoch bereits im Alter von Abb. 5 Grabstätte Grosch, Historischer sieben Monaten. Ihr Name wird auf der Ge- Friedhof Weimar, 2012, Fotografin: denktafel des Mausoleums an zweiter Stelle Sigrun Därr © Därr Landschaftsarchitekten aufgeführt. (Halle/S.) / Stadt Weimar Unmittelbar danach wurde Dora Grosch erneut schwanger und brachte am 24. April 1903 ein weiteres Mädchen zur Welt. Knapp zwei Monate später wurde im Geburtsregis- ter der Name Dora Anna Rosa Lina Paula nachgetragen.26 Die ältere Schwester von Karla Grosch, die in ihrem Umfeld unter dem Spitznamen »Ju« bekannt war,27 ist die ein- zige, welche in der Familiengrabstätte un- erwähnt bleibt. Sie verstarb am 4. November 1993 in hohem Alter in Vöcklabruck, wo sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Franz Ai- chinger (* 4.4.1909 in Vöcklabruck; † 5.7.1983 ebenda) seit über fünfzig Jahren gelebt hat. Für ihre Schwester hingegen hat Aus dem Totenschein von Lina Grosch geht Paula Grosch in den 1930er-Jahren eine zu- hervor, dass die Eheschliessung der beiden sätzliche Inschrift unterhalb des dunklen am 26. März 1863 in der St.-Annen-Kirche Marmorsteins anbringen lassen: »CARLA in St. Petersburg stattgefunden hatte.22 Ru- GROSCH / * 1. 6. 1904 IN WEIMAR / † 8. 5. dolf Grosch war gelernter Mechaniker und 1933 IN TEL AVIV.« besass in besagter Stadt eine Lampenfabrik. Die zweite Tochter des Ehepaars Grosch Von 1889 bis 1905 war er zudem als Weima- wurde Maria Augusta Ilse Eva Karla ge- rer Gemeinderatsmitglied und Stadtrat tätig, nannt.28 Obwohl beide Schwestern das Licht wobei ihm von 1897 bis 1901 die Gas- und der Welt in Weimar erblickten, verlebten sie Wasserwerke unterstanden.23 Groschs Vater ihre ersten Jahre in Gries bei Bozen im Süd- leitete diese Anstalten vorbildlich und tirol.29 Ihr Vater hielt sich gesundheitshalber brachte sie auf den neuesten Stand der bereits seit 1901 im besagten italienischen Technik, was sich positiv auf die Stadtfinan- Kurort auf.30 Da jedoch nach wie vor fami- zen auswirkte. Ferner versuchte er, mit dem liäre Bande bestanden, brachen die Brücken Bau von Arbeiterhäusern der damals miss- zu Weimar nicht ab: Sowohl Dora Groschs lichen Wohnungssituation der Arbeiter ent- Eltern Bruno und Anna Rosa Schmidt, als gegenzuwirken.24 auch Rudolf Groschs Bruder Wilhelm lebten Als seine Ehefrau im Jahre 1900 nach fast weiterhin in der damaligen sächsischen vierzig Jahren kinderloser Ehe verstarb, er- Hauptstadt.31 Spätestens um 1909 müsste litt Rudolf Grosch einen Nervenzusammen- das Zentrum des familiären Lebens definitiv ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 5 / SPRING 2018 GRAF / KARLA GROSCH 21
wieder Weimar gewesen sein, da Paula gegründet und erlangte im Verlauf des Jahr- Grosch in einem von ihr verfassten Lebens- hunderts, mitunter aufgrund ihres liberalen lauf schilderte, ab dem sechsten Lebensjahr Programms, ein beachtliches Renommee.38 ebenda zuerst eine Grundschule und danach Ferner richtete der belgische Architekt bis zum Alter von 14 Jahren eine Frauen- Henry van de Velde 1908 mit seiner Gross- 32 schule besucht zu haben. herzoglich Sächsischen Kunstgewerbe- Am 8. Januar 1911, als die beiden Mäd- schule in Weimar die »erste Zitadelle der chen gerade einmal sechs und sieben Jahre Moderne« ein.39 Letztere ging 1915 jedoch alt waren, verstarb Rudolf Grosch schliess- erzwungenermassen und ohne spürbare lich nach längerer Krankheit im Südtirol. In Nachwirkungen unter, während das 1919 der Todesanzeige in der Weimarischen Lan- mithilfe der vorhandenen Strukturen ins Le- deszeitung schrieb seine junge Witwe: »Ges- ben gerufene, zu Beginn von Walter Gropius tern nacht [sic] 3 Uhr verschied nach schwe- geleitete Bauhaus als Idee und Mythos bis rem Leiden mein lieber Mann, unser heute weltweit anerkannt und rezipiert herzensguter Vater, Bruder, Schwiegersohn wird.40 und Schwager, der Stadtrat a. D. Rudolph Karla und Paula Grosch waren vierzehn Grosch.«33 Auch die Gemeindebehörden und sechzehn Jahre alt, als das Staatliche würdigten dessen gemeinnütziges Wirken Bauhaus Weimar seine Türen öffnete. Die äl- und liessen eine Anzeige sowie einen Nach- tere der beiden Schwestern erinnerte sich 34 ruf abdrucken. Nach seiner geliebten Frau fast vierzig Jahre später folgendermassen an Lina und dem allzu früh verstorbenen Kind die damalige Zeit und ihren späteren Freund, wurde er als Dritter dem Familiengrab bei- den Künstler und Bauhaus-Meister Paul gesetzt. Klee: »Paul Klee! Diesen Namen hörte ich zum KULTURELLES UMFELD erstenmal [sic], als ich mit anderem jungen Während der 1910er- und der ersten Hälfte Gemüse zusammen in Weimar um das Bau- der 1920er-Jahre lebten Mutter und Töchter haus herum aufwuchs. Das Bauhaus, diese gemeinsam in der Familienvilla an der Kai- große internationale Kunstschule, strömte serin Augustastrasse 35. Der vermögende den faszinierenden Duft aus, der uns Jungen Rudolf Grosch hatte das im Jahre 1875 er- erzählte von Freiheit, neuen geistigen Wegen, baute Wohnhaus bereits 1888 von der Ma- Schönheit, Frohsinn, Arbeit und Werten, die lerin und Schriftstellerin Rosa Petzel (1831– wir über alle Alltagsdinge hinweg für das 35 1912) erworben. Der Hausherr nahm im ganze Leben behalten und schätzen soll- Anschluss bauliche Veränderungen an den ten.«41 (aBB. 6) Fassaden vor und liess sich ein für die da- maligen Verhältnisse luxuriöses »Wasser- Abb. 6 Paul Klee in seinem Atelier, Bauhaus Weimar, 1924, Fotograf: closetsystem« einrichten.36 Während die Fa- Felix Klee [?], Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Familie Klee milie Grosch das Erdgeschoss bewohnte, © Klee-Nachlassverwaltung, wurden das erste und zweite Obergeschoss Hinterkappelen sowie das gesamte Hinterhaus jeweils ver- mietet. Die Vorbesitzerin hatte im zweiten Stockwerk ausserdem ein Atelier eingerich- tet, das spätestens ab 1910 wiederum lang- jährig von einer Malerin bewohnt wurde.37 So kamen die beiden Mädchen vermutlich schon früh mit der bildenden Kunst in Kon- takt. Mit zwanzig Jahren wollte Paula Grosch In der Goethe- und Schiller-Stadt Weimar schliesslich selbst Bauhäuslerin werden und erstaunt dies ohnehin kaum: Die Grossher- obwohl das Semester bereits am 22. Oktober zogliche Kunstschule wurde bereits 1860 begonnen hatte, reichte sie zusammen mit ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 5 / SPRING 2018 GRAF / KARLA GROSCH 22
dem folgenden verspäteten Gesuch vom gründete Tanzschule der fast ebenso jungen 17. November 1923 ihre Bewerbungsunter- Gret Palucca (1902–1993) in Dresden ein. lagen nach: »Ich wollte anfragen, ob ich wohl Während Paluccas Person und ihre tänzeri- noch in den jetzigen Vorkursus aufgenom- schen Leistungen bereits weitgehend er- men werden könnte, da ich beabsichtige, die forscht sind,48 wurde das pädagogische Ele- Weberei zu erlernen.«42 Im beigelegten Le- ment bisher vernachlässigt. Deshalb können benslauf schilderte sie, dass sie sich in den an dieser Stelle keine detaillierten Aussagen letzten Jahren bereits intensiv mit dem über die von Grosch genossene Ausbildung, Kunsthandwerk und seinen Arbeitstechni- sondern lediglich über die von ihrer Lehrerin ken auseinandergesetzt habe, um sich auf vermittelten Ideen gemacht werden.49 die Kunstgewerbeschule vorzubereiten. Palucca war damals der neu aufgehende Mutter und Vormund seien mit ihren künst- Stern am Tanzhimmel der 1920er-Jahre und lerischen Ambitionen jedoch nicht einver- sollte sich noch während des gesamten standen gewesen, weshalb sie im Frühjahr 20. Jahrhunderts gegenüber den in vier po- 1923 nach zwei Jahren in der Landwirtschaft litischen Systemen vorherrschenden ästhe- eine Lehre beim Goldschmiedemeister tischen Normen behaupten.50 Als Meister- 43 Georg Gossmann in Jena begonnen habe. schülerin von Mary Wigman, welche dem Bereits zwei Tage später erhielt Paula expressionistischen Ausdruckstanz zum Grosch vom Verwaltungssekretär den posi- Durchbruch verholfen hatte, startete sie tiven Bescheid: »Auf Beschluß der am Bau- 1924 solide in ihre Solokarriere und konkur- hause für die Aufnahme zuständigen Meister renzierte im Jahr darauf bereits die 1920 wurden Sie auf Grund der von Ihnen einge- gegründete und sich ebenfalls in Dresden reichten Arbeiten probeweise für das Win- befindliche Tanzschule ihrer Lehrerin. Die ter-Semester 1923/1924 aufgenommen.«44 Tanzhistorikerin Katja Erdmann-Rajski kom- Unterzeichnet wurde ihr Gesuch von Meister mentiert den Umstand, dass die 23-jährige Gropius, Meister Hartwig und – Meister Klee. Tänzerin bereits ihre eigene Institution lei- Die Freude, die unermesslich gross ge- tete, in ihrer Dissertation folgendermassen: wesen sein muss, war jedoch nur von kurzer Dauer: Bereits am 30. November meldete »Palucca ist wie zum Tanz auch zum Unter- sie sich schriftlich wieder ab und teilte mit, richten geboren. Beides braucht sie zum dass es ihr »durch häusliche Umstände (Er- Leben wie ›täglich Brot‹ und das eine be- krankung und deshalb notwendiges Verrei- dingt das andere. So wie sie die von ihr auf sen [ihrer] Mutter) unmöglich gemacht wor- der Bühne gezeigten Tänze in Unterrichts- den [sei], den jetzigen Kursus noch zu themen verwandelt, so erhält sie aus der besuchen«.45 Paula Groschs Traum war so- Arbeit mit ihren Schülern Anregungen für mit geplatzt. Sie wurde später stattdessen ihre Tänze. Nicht zuletzt steigert die Schule Schauspielerin.46 Karla Grosch hingegen natürlich auch ihren Bekanntheitsgrad und sollte ihren Weg ans Bauhaus über einen etabliert ihre Richtung.«51 Umweg nach Dresden noch finden. Neben dem ihr hier attestierten angebore- PALUCCA-SCHULE IN DRESDEN nen Talent und der überspitzten Darstellung Zu demjenigen Zeitpunkt, als sich ihre von Tanz und Unterricht als Lebensessenzen Schwester als Bauhaus-Schülerin bewarb, spricht Erdmann-Rajski zuletzt die Schule absolvierte Karla Grosch eine Lehre als als Erfolgsinstrument an. Diese wurde je- Holzbildhauerin.47 Über ihre schulische Vor- doch erst durch Paluccas Ehemann Fritz bildung sind keine weiteren Informationen Bienert ermöglicht: Der Sohn der vermö- vorhanden; vermutlich hatte sie davor wie genden Kunstsammlerin Ida Bienert unter- Paula Grosch Grund- und Frauenschule be- stützte seine Frau nicht nur in finanzieller sucht. Im Alter von 21 Jahren trat sie Hinsicht, sondern auch in Management und schliesslich in die im selben Jahr neu ge- Marketing und vermittelte ihr nicht zuletzt ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 5 / SPRING 2018 GRAF / KARLA GROSCH 23
wichtige Kontakte.52 Folglich positionierte dem Mitglied der schulischen Tanzgruppe, sich Palucca aktiv und strategisch in unmit- an deren Einstudierungen, Proben und Auf- telbarer Nähe zu den ihr persönlich bekann- führungen sie mitwirkte (aBB. 7).57 ten bildenden Künstlern und wurde deshalb, Abb. 7 Ballettschule [Titel von Felix Klee], wie der Kunsthistoriker und Zeitgenosse Burgkühnauerallee 6, Dessau, Ludwig Grote bemerkte, zu einem eigen- 1927, Fotograf: Felix Klee, v.l.n.r.: Paul und Lily Klee, Gret Palucca, ständigen Glied der Dessauer Gemein- Herbert Trantow, Karla Grosch, schaft:53 Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Familie Klee © Klee-Nachlassverwaltung, »Zum Bauhaus gehörte auch die Palucca, die Hinterkappelen den modernen Tanz aus seiner expressionis- Abb. 8 tischen Phase in den Bereich des Geistes Bauhausnachrichten im zweiten und der Abstraktion führte, so daß er schw- Heft 1928 der bauhaus. zeitschrift für gestaltung erelos und immateriell wurde.«54 Mit Groschs Einstellung als Gymnastikleh- rerin am Bauhaus Dessau wurde Paluccas Grote implizierte mit dieser Aussage einer- Zugehörigkeit zu letzterem schliesslich auch seits die Auflösung der Dichotomie zwischen in personeller Hinsicht verwirklicht. Körper und Geist und verwies diesbezüglich gleichzeitig auf die enge Beziehung zwischen DESSAU: BAUHAUS (1928–1932) Paluccas auf eine geometrische Körper-, Zeit- und Raumerfahrung ausgerichtetem GROSCHS GYMNASTIKUNTERRICHT GEGEN Tanz sowie Kandinskys geistig-abstrakter DIE »KOLLEKTIV-NEUROSEN DES Formensprache. Diese gegenseitige Inspi- BAUHAUSES« ration manifestierte sich im von Fritz Bienert In der zweiten im Jahre 1928 erschienenen angeregten und 1926 im Kunstblatt veröf- Bauhaus-Zeitung wurde die neue Zusam- fentlichten Aufsatz Kandinskys mit dem Titel mensetzung des Lehrkörpers bekannt ge- Tanzkurven: Zu den Tänzen Paluccas, für wel- geben (aBB. 8). chen der Künstler vier tänzerische Posen Paluccas in reduzierte Liniengebilde über- setzt hatte.55 Als Palucca am 18. März 1925 im Natio- naltheater in Weimar debütierte, verkehrte sie gleichermassen mit den Bauhaus-Meis- tern wie mit deren Schülern und es ist wahr- scheinlich, dass sich neben Klee, Kandinsky und Moholy-Nagy auch Karla Grosch im Pu- blikum befand. Dieser besondere Auftritt so- wie Paluccas Präsenz in populären Frauen- magazinen, welche diese als den Idealtypus der jungen modernen, emanzipierten und erfolgreichen Frau porträtierten,56 dürften die ebenfalls nach Selbstständigkeit stre- bende Grosch unter anderem dazu veran- lasst haben, am 1. Dezember 1925 Paluccas Tanzschule beizutreten. Aus der ihr in die- sem Zusammenhang ausgestellten Arbeits- bestätigung geht hervor, dass Grosch bis am 1. Februar 1928 an der Schule tätig war: Die An letzter Stelle der Aufzählung hiess es: ersten zwei Jahre wurde sie von Palucca »frl. karla grosch von der palucca-schule in persönlich unterrichtet und 1926 war sie zu- dresden leitet den gymnastik-unterricht für ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 5 / SPRING 2018 GRAF / KARLA GROSCH 24
damen«, während der Gymnastikunterricht Übrigen auch phasentypisch und unterstrich für Herren von der Arbeiter-Turn- und Sport- den durchlaufenen Wandel von esoterischen 58 schule in Leipzig durchgeführt wurde. Er- Mazdaznan-Übungen in Weimar hin zum gänzt wurden die Bauhausnachrichten, die Sport als integralem Bestandteil des Des- neben der erwähnten Auflistung der Lehr- sauer Alltags.62 kräfte auch Informationen zu Studierenden, Architektonisch wurde das sportliche Ele- aktuellen Ausstellungen, Aufträgen, Veröf- ment bereits 1926 im von Walter Gropius fentlichungen und Veranstaltungen beinhal- neu entworfenen Bauhausgebäude in Des- teten, durch eine von Hugo Erfurth aufge- sau verankert, indem er einen Gymnasti- nommene Fotografie von Gret Palucca. Die kraum im Keller und einen Sportplatz im Abbildung verwies zunächst auf zwei auf der Freien einplante. Das Flachdach des Hauses folgenden Seite angekündigte Ereignisse: sah Gropius als zusätzlich nutzbare Fläche So fand am 5. Mai ein Tanzabend mit Palucca an, die sich aufgrund ihrer stabilen Kon- statt und am darauffolgenden Tag führte die- struktion auch für das körperliche Training selbe den Studierenden auf der Bauhaus- eignete und rege dafür genutzt wurde.63 So bühne technische Übungen und Improvisa- zeigt eine 1930 von Theodore Lux Feininger tionen vor.59 Andererseits betonte und aufgenommene Fotografie die Damen-Gym- legitimierte das unmittelbar mit Groschs nastikklasse bei Freiluftübungen auf dem Namen in Verbindung stehende Bild das neu steinernen Boden des Daches (aBB. 9): eingegangene Arbeitsverhältnis mit der Pa- Abb. 9 Sportunterricht am Bauhaus: lucca-Schülerin. Gymnastik der Frauen auf dem Initiiert wurde dieses vom Schweizer Ar- Dach des Bauhauses, Dessau, 1930, Fotograf: T. Lux Feininger, chitekten Hannes Meyer, der im Jahr zuvor Bauhaus-Archiv, Berlin die Leitung der neu gegründeten Bauabtei- © Nachlass T. Lux Feininger lung übernommen hatte und am 1. April 1928 von Walter Gropius zum neuen Bau- haus-Direktor ernannt worden war. Im Fol- genden reformierte und restrukturierte Meyer die Lehre im Sinne einer kollektiven Gestaltung, die sich zwischen Kunst und Wissenschaft entfalten sollte. Neuen tech- Die Schülerinnen führen jeweils zu zweit un- nischen, natur- und geisteswissenschaftli- terschiedliche Bewegungsabläufe aus, wäh- chen Fächern stellte er zudem die körperli- rend Grosch im Vordergrund als Rückenfigur che Betätigung gegenüber: präsent ist und erstere vermutlich instruiert. Zwei junge Damen formen dabei mit ihren »Den sprichwörtlichen Kollektiv-Neurosen Körpern ein spitzwinkliges Dreieck, das des Bauhauses, Furcht einer einseitig-geis- durch dessen Wiederholung in Groschs aus- tigen Betätigung, begegnete ich durch die fallendem Schritt und durch Feiningers Per- Einführung des Sportunterrichtes. Eine spektivwahl zusätzlich betont wird.64 Hochschule ohne Leibesübungen erschien Der Sohn des Bauhaus-Meisters Lyonel mir ein Unding.«60 Feininger begann 1925 als einer von weni- gen, das alltägliche Leben am Bauhaus Die hier von Meyer vertretene Ansicht ent- kreativ zu dokumentieren und experimen- sprach der damals in der Weimarer Republik tierte dabei mit überraschenden Blickwin- vorherrschenden Lebensreform- und Kör- keln, extremer Nahsicht und Ausschnitthaf- perkultbewegung, die den modernen Men- tigkeit sowie Negativabzügen und schen als aktives, körperbewusstes und Fotogrammen.65 Feiningers Aufnahmen des selbstbestimmtes Glied einer ganzheitlichen Sportunterrichts, die teilweise ikonischen Gemeinschaft beschrieb.61 Rückblickend Charakter erlangt haben,66 sind besonders war die verstärkte Betonung des Sportes im wichtige Zeugnisse, um den von Grosch er- ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 5 / SPRING 2018 GRAF / KARLA GROSCH 25
teilten Unterricht nachvollziehen zu kön- »TÄNZERMENSCH« AUF DER BAUHAUS- nen.67 Ebenfalls aufschlussreich ist Groschs BÜHNE Visitenkarte:68 Dienstags und freitags bot sie Aufgrund ihrer Experimentierfreudigkeit so- ausserhalb des Bauhauses jeweils von acht wie der von ihr genossenen Ausbildung an bis neun Uhr Gymnastikkurse für maximal der Palucca-Schule war Grosch dazu prä- zwölf Personen an, die im Empfangszimmer destiniert, an den bewegungstechnisch an- des Kaffees »Altes Theater« in der ersten spruchsvollen Choreografien der Bauhaus- Etage stattfanden. Die Angaben zu Zeit, Ter- bühne mitzuwirken.71 Die bereits 1921 minen und Honorar – bei zwei Wochenstun- gegründete Bühnenwerkstatt wurde bis den monatlich zwölf Reichsmark, acht im 1923 zunächst von Lothar Schreyer geleitet, Monat bei einer Wochenstunde und vier danach unterstand sie bis zu ihrer Schlies- Reichsmark pro Solostunde – wurden durch sung im Jahre 1929 Oskar Schlemmer. Als eine kurze Beschreibung ergänzt: dieser im Sommer desselben Jahres dem Ruf an die Kunstgewerbeschule Breslau »Der Unterricht soll ein Ausgleich zu der kör- folgte, wurde ihm eine gesamte Ausgabe der perlich einseitigen Berufsarbeit sein. Es wird Bauhaus-Zeitschrift gewidmet, zu der er besonderer Wert auf die gesundheitlich gym- selbst einen Aufsatz mit dem Titel Die Bühne nastische Durcharbeitung des Körpers beitrug.72 Die sich in ihrer Formatierung vom gelegt, um die Funktionen des Körpers be- restlichen Text abhebende Kernaussage lau- wußt zu machen, und durch die Befreiung tete dabei: des Körpergefühls das nötige Gleichgewicht der seelischen und körperlichen Kräfte »in alle diese gesetze unsichtbar verwoben herzustellen. Die Kurse sind nicht in An- ist der tänzermensch. er folgt sowohl dem fänger und Fortgeschrittene eingeteilt, son- gesetz des körpers als dem gesetz des dern die Arbeitsweise erstreckt sich als ele- raumes; er folgt sowohl dem gefühl seiner mentare Gymnastik über alle Teilnehmer selbst wie dem gefühl vom raum.«73 69 gleichmäßig.« Veranschaulicht wurde dieser zwischen den In ihrer Tätigkeit als Lehrerin zielte Grosch Gesetzmässigkeiten von organischem Kör- demnach vor allem auf die körperlich anre- per und abstraktem Raum stehende Tän- gende Erholung ab, die sich wiederum po- zermensch durch zwei von Robert Binne- sitiv auf den Geist auswirken sollte. Dies mann aufgenommenen Fotografien, die entsprach ganz der Vorstellung des Sport- unterrichtes, die Hannes Meyer retrospektiv Abb. 10 Metalltanz (Karla Grosch), formuliert hatte. Des Weiteren waren kör- Bauhausbühne Dessau, 1929, perliche Übungen für Grosch auch ein Mittel, Fotograf: Robert Binnemann, Bauhaus-Archiv, Berlin um mithilfe ihrer in grossen Mengen vor- handenen Energie die Leistungsfähigkeit ih- res Körpers auszutesten. So schrieb sie ih- rem Freund Max Werner Lenz: »Und die Freude am Körper ist mir durch meine Arbeit geblieben. Ich habe eine kind- liche Freude wenn ich fühle, wie ich meinen Körper in der Gewalt habe, wie ich Forde- rungen an ihn stellen kann, wie er nachgibt, funktioniert, und ich kann mich ganz in sei- nen Leistungsmöglichkeiten verlieren. Ein großer teil [sic] meines Kraftüberschusses löst sich darin aus.«70 ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 5 / SPRING 2018 GRAF / KARLA GROSCH 26
Abb. 11 folgte am 3. März 1929 als Gastspiel auf der Glastanz (Karla Grosch), Bauhausbühne Dessau, 1929, Berliner Volksbühne.77 Im Anschluss gas- Fotograf: Robert Binnemann, tierte die Bauhausbühne mit ihrem Tanz, Bauhaus-Archiv, Berlin Pantomime und einen Sketch umfassenden Programm im Stadttheater Breslau (24. März), im Frankfurter Schauspielhaus (20. April), im Württembergischen Landes- theater Stuttgart (24. April) sowie im Basler Stadttheater (28. April).78 Grosch wirkte an allen Aufführungen in verschiedenen Pro- grammpunkten mit, so beispielsweise auch in den Reifentänzen, im Maskenchor und im Sketch »Drei gegen Eine«. Letzterer wurde bereits 1928 von der sogenannten »Jungen Gruppe« der Bauhausbühne erarbeitet, die in Abgrenzung zu den auf die Form ausge- richteten Bühnenexperimenten Schlemmers als Kollektiv politisch motivierte Stücke ent- wickelte.79 Aufgeführt wurde der Sketch ge- meinsam mit Georg Hartmann, Werner Siedhoff und Albert Mentzel; ob die vier Dar- Grosch als Tänzerin zeigen (aBB. 10, 11). Es stellenden auch die Urheber des Werkes wa- handelt sich dabei um gestellte Aufnahmen ren, geht aus der Literatur nicht hervor. des von Schlemmer inszenierten Metall- Hinsichtlich der von Inga Kleinknecht ge- und des Glastanzes, die zur Serie der soge- stellten Frage, in welchem Masse Grosch nannten Materialtänze gehörten. In diesen allgemein an inhaltlichen und konzeptuellen spielten vor allem Kostüme und Requisiten Entscheidungen der Bauhausbühne mitge- eine grosse Rolle: So blieben Groschs Be- wirkt hatte,80 ist das ihr am 5. Oktober 1932 wegungen und Aktionen im Tanz in Glas auf- von Mies van der Rohe ausgestellte Arbeits- grund ihrer zerbrechlichen Ausstattung auf zeugnis aufschlussreich: »ein mannequinhaftes ›Zeigen‹ des Kos- tüms« beschränkt, während die Choreogra- »Fräulein Grosch leistete in der unter Lei- fie des Metalltanzes die »Lichtreflexe und tung von Herrn Professor Oscar Schlemmer Spiegelungen auf metallischen Wänden als stehenden Bühnenabteilung wertvolle Mit- 74 ›mitwirkende‹ Faktoren« miteinbezog. arbeit. Sie studierte Tänze und Bewegungs- In Binnemanns Fotografie des metallischen Studien ein und konnte dank ihrer eigenen Tänzermenschen wird dies besonders deut- künstlerischen und tänzerischen Fähigkei- lich:75 Der direkte Lichteinfall und der damit ten bei verschiedenen Einzel- und Gruppen- erzeugte Schattenwurf verstärken die ein- aufführungen selbstständige Aufgaben genommene kraftvolle Positur, während die durchführen.«81 gewellten und gefalteten Bleche Bewegung und Licht verzerrt spiegeln. In Kombination Neben der ihr hier attestierten künstleri- mit den durch metallene Kugeln eingefass- schen Freiheit beschrieb Van der Rohe ten Händen, dem glänzenden Ganzkörper- Grosch als gewissenhafte, frische und na- anzug sowie der androgynen Darstellungs- türliche Persönlichkeit, die sich als ange- weise Groschs entstand eine futuristisch nehme Mitarbeiterin in Bezug auf das Bau- anmutende Komposition, die seit ihrer Ver- haus betreffende Fragen und Aufgaben aktiv öffentlichung in der Bauhaus-Zeitschrift un- einbrachte und deren systematisch gründ- zählige Male reproduziert worden ist.76 lich aufgebauter Unterricht bei den Studie- Die Uraufführung der beiden Tänze er- renden grossen Anklang fand.82 So dürfte ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 5 / SPRING 2018 GRAF / KARLA GROSCH 27
Karla Groschs Engagement am Bauhaus Weimarer Gaststätte »Im Ilmschlößchen« schliesslich in vielerlei Hinsicht eine Berei- stattfindenden Bauhaus-Tanzabenden.86 cherung gewesen sein. Vielleicht lernten die beiden Schwestern Paul Klees Sohn auch an solch einem Anlass »SEINER FREUNDIN VERSCHRIEBEN« – kennen. KARLA GROSCH UND FELIX KLEE Karla Grosch wurde – wie dessen Mutter Grosch lernte die Familie Klee wohl Ende bemerkte – über die Jahre hinweg zu Felix des Jahres 1921 oder im Verlaufe des Jahres Klees engster Freundin,87 mit der er auch 83 1922 in Weimar kennen: Nachdem Paul während ihrer Zeit in Dresden in Kontakt Klee seine Lehrtätigkeit am Bauhaus bereits stand. Eine Fotografie aus dem Jahre 1926 im Mai 1921 begonnen hatte, übersiedelten zeigt die beiden Händchen haltend als jun- im Oktober auch Ehefrau und Sohn in die ges Pärchen in Dessau (aBB. 12). traditionsreiche Kleinstadt in Thüringen. Der fast vierzehnjährige Felix Klee trat zur sel- ben Zeit als jüngster Schüler in das Bauhaus ein, wo er zunächst den Vorkurs von Johan- nes Itten besuchte und danach das Tisch- Abb. 12 Felix Klee und Karla Grosch auf lerhandwerk erlernte. dem Hausdach, Burgkühnauerallee Da die Bauhäusler in Weimar wohlbe- 7, Dessau, Herbst 1926, Fotograf: kannt waren, erscheint es plausibel, dass unbekannt, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Familie Klee Karla und Paula Grosch schon bald mit dem © Zentrum Paul Klee, Bern, etwas jüngeren Felix Klee zusammentra- Bildarchiv fen.84 Paula Grosch erinnerte sich Jahr- Nachdem sie im Sommer desselben Jahres Abb. 13 zehnte später vor allem an dessen Streiche, bereits zusammen nach Korsika gefahren Karla Grosch und Paul Klee auf der Insel Porquerolles, 1927, Fotograf: die sogar diejenigen des Schalks Till Eulen- waren,88 verbrachten sie 1927 mit Paul Klee Felix Klee, Zentrum Paul Klee, spiegel übertroffen haben sollen, sowie die gemeinsame Tage in Porquerolles, einer berühmten Kasperltheater »mit der echt Bern, Schenkung Familie Klee © Klee-Nachlassverwaltung, kleinen, französischen Mittelmeerinsel in Hinterkappelen thüringer-weimaraner Klatschweiberszene der Nähe von Toulon (aBB. 13).89 oder mit den selbstgeschnitzten unheimli- Lily Klee fuhr nicht mit, da sie zur selben chen Gespenstererscheinungen auf tief- Zeit für einen Kuraufenthalt in Oberstdorf 85 blauer Samtkulisse«. Diese kleinen, im- im Allgäu weilte. In einem Brief an seine provisierten Stücke führte Felix Klee nicht Frau bemerkte Klee, dass sich Felix »nicht nur in der Familienwohnung am Horn 35 auf, nur seinem Vater, sondern auch seiner sondern auch an den regelmässig in der Freundin verschrieben« hätte: »Er ist aber ganz Aufmerksamkeit [sic] zu mir und würde mich nie allein lassen, wenn ich es nicht wünschte. Den halben Tag sind wir mindes- tens zusammen.«90 Felix Klee beschrieb diese Zeit sehr idyllisch als von schönen Er- lebnissen erfüllt: »[…] teils wanderten wir durch Pinienwäl- der und Ginsterbüsche, beobachteten die Zikaden und Eidechsen, die wir dem Ge- räusch nach zunächst für Schlangen hiel- ten, […] und bestaunten von dem höchsten Punkt der Insel die Rundsicht auf Land und Meer, pflückten heimlich reife, von der Sonne durchwärmte Feigen und badeten sehr oft und ausgiebig.«91 (aBB. 14) ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 5 / SPRING 2018 GRAF / KARLA GROSCH 28
Abb. 14 Monaco. Am 17. August trat Felix Klee Felix Klee und Karla Grosch, schliesslich allein den Heimweg an: Drei Tage Porquerolles, 1927, Fotograf: Paul Klee [?], Zentrum Paul Klee, Bern, später sollte seine neue Anstellung als Re- Schenkung Familie Klee gieassistent am Landestheater Coburg be- © Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv ginnen. Grosch hingegen kehrte vor ihrer Rückreise nochmals nach Porquerolles zu- rück.94 »NICHT GERADE EIN SEHR HERZLICHES VERHÄLTNIS« Spätestens als sie im September 1928 wie- der in Dessau war, bezog Grosch ein Zimmer im Meisterhaus der Klees.95 Dort wohnte sie wohl bis zum Anfang des nächsten Jahres und mietete sich im Anschluss in der nur zehn Gehminuten entfernten Esikostrasse 16 eine Wohnung.96 Während sich ihre Be- ziehung zu Lily und Paul Klee in den nächs- ten Jahren intensivieren sollte, wurde das Verhältnis zu deren Sohn jedoch immer schwieriger und die junge Beziehung ging letztlich auseinander. Nachdem Grosch 1928 über die Festtage noch zu Felix Klee gefah- Während Grosch nach den gemeinsamen Fe- ren war97 und ihn im darauffolgenden März rienwochen zur Palucca-Schule in Dresden über den unerwarteten Typhustod seiner zurückkehrte, fuhr Felix Klee zum elterlichen Theaterkollegin Hildegard Ritzau hinwegge- Wohnsitz nach Dessau, wo er am Friedrich- tröstet hatte,98 verweigerte sie sich im Som- Theater von 1926 bis 1928 unter dem Inten- mer 1929 dessen Bitten, gemeinsam mit den danten Georg Hartmann als Regieassistent Eltern nach Südfrankreich zu fahren.99 Im tätig war. Zwischen Februar und Mai 1928 September erfolgte dann der vorläufig end- dürfte auch Grosch ihren Wohnsitz nach Des- gültige Bruch. Felix Klee informierte seine sau verlegt haben, da im Sommersemester Mutter: ihr Engagement am Bauhaus begann. Die Sommerferien dieses Jahres verbrachten die »meine beziehungen zu karla sind momen- beiden erneut gemeinsam im Süden: Am 20. tan in einem äusserst passivem stadium Juli reisten sie über Paris durch Zentralfrank- [sic], sie hat sich wirklich manche anhäng- reich bis an die französische Mittelmeerküste lichkeit verscherzt, und sie soll nun sehen hinunter, wo sie in der Nacht vom 23. auf den wie sie ohne mich ein neues leben leben 24. Juli von Marseille aus mit dem Schiff nach wird. […], ich schreibe dir das in erster linie Ajaccio gelangten. Nachdem sie auf der Insel deshalb, damit du in klarem [sic] bist, wenn Korsika verschiedene kleinere Städte besucht du nach dessau kommst, und du siehst hatten, verweilten sie ab dem 2. August meh- dass zwischen uns nicht gerade ein sehr rere Tage in der Hafenstadt L’Île-Rousse.92 herzliches verhältnis ist und das auch ver- Seinen Eltern berichtete Felix Klee: »Hier ba- stehst, denn ich will die vielen grossen und den wir von früh bis nacht und führen auch kleinen schmerzen, die ich dort erlebte, ein richtiges Faullenzerleben. Direkt vom nicht allzu oft mehr wiederholt wissen. […], Zimmer ins Meer nur 2 meter entfernt es ist nicht so leicht, nun karla so bemuttert [sic].«93 Am Ende ihrer Reise erreichten sie bei euch zu wissen, wo ich momentan gar die Côte d’Azur und besichtigten Nizza sowie keine beziehungen mehr zu ihr habe.«100 ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 5 / SPRING 2018 GRAF / KARLA GROSCH 29
Lily Klee reagierte in ihrem Antwortbrief ge- eine enge Freundschaft, wobei ihre Bezie- lassen auf die deutlichen Worte ihres Soh- hung zunächst wohl in erster Linie geschäft- nes: Diese würden sie nicht weiter erstau- lich war: Grosch wurde bei den Klees, ver- nen und sie stellten für sie auch keinen mutlich in Zusammenhang mit ihrem Einzug Anlass dar, mit Grosch zu brechen, da das ins Meisterhaus, als Haustochter angestellt. Verhältnis zu ihr ein ganz anderes sei und Die Aufgaben, die sie in dieser Position über- Paul Klee und sie immer gut mit ihr gestan- nahm, waren vielfältig und vor allem zwi- den hätten.101 Und obwohl sie zuerst be- schenmenschlicher Natur. So leistete sie tonte, dass sie sich ganz aus dieser Sache Lily oder Paul Klee zum Beispiel viele Male heraushalten würde, verteidigte sie Grosch: Gesellschaft, wenn diese eine Zeit lang vom Ehepartner getrennt waren,103 passte bei »Im Übrigen, habe ich ja selbst im vergan- gemeinsamem Verreisen der beiden auf das genen Herbst an ihr beobachtet, daß sie leerstehende Meisterhaus auf104 oder erle- sehr viel durchgemacht hat, als Deine Be- digte spezielle Besorgungen für sie.105 Aus ziehungen mit R[itzau] in Coburg anfingen den familieninternen Briefwechseln geht u. Deine Briefe an sie […] immer weniger des Weiteren hervor, dass Grosch eine wich- u. einsilbiger wurden. Das habe ich selbst tige Vermittlerposition einnahm: Da sie mit beobachtet, obwol [sic] sie nie etwas sagte. allen Familienmitgliedern gleichermassen da sie damals bei uns wohnte.«102 in Kontakt stand, wurde sie aktiv in den In- formationsfluss miteingebunden und nicht Die Wogen zwischen Karla Grosch und Felix selten wurden Nachrichten gar durch sie Klee glätteten sich zwar wieder, aber die ei- übermittelt.106 Schliesslich brachte die vor nander gegenseitig zugefügten Gefühlsver- Energie sprühende, charismatische Grosch letzungen gerieten nicht in Vergessenheit nach dem Auszug des einzigen Sohnes auch und ihr Verhältnis wurde nie mehr so ver- neuen Elan ins Hause Klee: »Daß Karla viel traut wie zuvor (aBB. 15). bei uns ist, ist auch für uns eine große Freude. Wir haben sie sehr gern. Sie ist so fr is c h u . le b e n d ig .« 1 0 7 Abb. 15 Efrossina Greschowa, Felix Klee und Karla Grosch, Besonders wertvoll dürfte Groschs Un- Stresemannallee 7, Dessau, 1930, terstützung im Jahre 1930 gewesen sein, als Lily Klee aufgrund »vollständige[r] Nerven- Fotograf: unbekannt, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Familie Klee erschöpfung« insgesamt fast sechs Monate © Zentrum Paul Klee, Bern, Bildarchiv im Sanatorium Sonnmatt bei Luzern ver- brachte.108 Grosch betreute die physisch und psychisch schwer angeschlagene Lily Klee Ende März auf ihrer Reise in die Schweiz und half ihr bei der Ankunft, sich in ihrem vorübergehenden Zuhause einzurichten und wohl zu fühlen.109 In Dessau wiederum ver- brachte sie viele Stunden mit dem nun etwas einsamen »Herrle« des Hauses: »Zu den Mahlzeiten erscheint Karla, und wir mur- meln zusammen dumme Sätze und dann auch wieder gescheitere Heiten. Je nach der Fülle des Magens.«110 (aBB. 16) ZWEI NEUE FAMILIENMITGLIEDER HAUSTOCHTER VON LILY UND PAUL KLEE Am Ende dieses Ausnahmejahres legte sich Im Gegensatz dazu entwickelte sich zwi- Grosch den schneeweissen Angorakater schen Karla Grosch und Felix Klees Eltern Bimbo zu,111 der das Herz von Lily und ins- ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 5 / SPRING 2018 GRAF / KARLA GROSCH 30
Abb. 16 Klee ist unerschöpflich im Ausdenken Karla Grosch und Paul Klee, neuer Spiele und Scherze, und Bimbos In- telligenz wächst in’s Unheimliche.«114 Stresemannallee, Dessau, zwischen 6. und 19.4.1933, Fotograf: Franz (Boby) Aichinger, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Familie Klee Lily und Paul Klee hatten aber nicht nur © Zentrum Paul Klee, Bern, Bimbo, sondern auch Karla Grosch als Bildarchiv neues Familienmitglied ins Herz geschlos- Abb. 17 sen und nach dem Tod von deren Mutter im Katze Bimbo auf der Terrasse von Klees Meisterhaus, Dessau, 1931, September 1931 erwog Lily Klee sogar, die Fotografin: Lily Klee, Zentrum Paul damals 27-Jährige zu adoptieren.115 Da Grosch ihrer »Mami Klee«, wie sie diese Klee, Bern, Schenkung Familie Klee © Zentrum Paul Klee, Bern, nannte,116 bei der Bewältigung des Alltags Bildarchiv helfend zur Seite stand, war sie ohnehin in viele familiäre Angelegenheiten involviert und entwickelte sich zu einer ihrer wichtigs- ten Vertrauenspersonen. Lily Klee war sehr um Groschs Wohlergehen besorgt und mischte sich deshalb wohl, wie so manche Mutter, ungefragt in vielerlei Privatsachen ein, was der freiheitsliebenden »Adoptiv- besondere von Paul Klee im Sturm eroberte tochter« äusserst widerstrebte. Im selben und fortan im Mittelpunkt der Gespräche Brief, in dem Klees Spiele und Bimbos In- stand.112 (aBB. 17) Zu ihren sonntäglichen Be- telligenz gelobt wurden, klagte diese: suchen bei den Klees brachte sie Bimbo oft mit und wenn sie verreiste, nahm das Ehe- »Du glaubst nicht, was mir Lily mal wieder paar den liebgewonnenen Kater für einige zugesetzt hat. Nach den Weihnachtsferien Tage zu sich in Pension.113 Ihrem Freund mußte ich gleich zu ihr ziehen auf 14 Tage, Max Werner Lenz berichtete Grosch im Ja- heute kam gottlob Klee zurück, also ist sie nuar 1932, als Bimbo bereits seit einem Jahr von mir etwas abreagiert [sic]. Ich sähe bei ihr war: elend aus, war ihr ständiges Lamento, woher das wohl käme? ich müsse eher zu Bett, solle mal zum Arzt, müsse atmen ler- nen etc! letzteres zwingt sie mir nun wirk- lich auf, manchmal bin ich leise einem Wutausbruch nahe, der aber leider meist in machtloser Verzweiflung endet.«117 Grosch fühlte sich von Lily Klees Fürsorge und ihren Forderungen bisweilen eingeengt; man bemühe sich zu sehr um sie und wolle sie an sich binden, damit sie nicht plötzlich »zu Bimbo! bitte sehr, er ist noch schlank »davonschwirre«.118 Benötigte sie einmal Zeit und rank! dafür sorgt Herrle durch tempe- für sich alleine und wollte auf einer längeren ramentvolle Bewegungsspiele. Jägerspiel: Reise etwas Abstand zu allem gewinnen, so piff-paff, puff! hinter Türen und Ecken lau- musste beinahe »eine [A]rt Flucht insceniert ert man und erschreckt sich. oder Katzen- [sic] werden«, damit man sich von ihr trennen fänger. der geht im ganzen Haus Trepp auf konnte.119 Neben Groschs von Lily Klee als und ab und sucht Katzen. schließlich hat an Egoismus grenzend beschriebenem in- er Bimbo, da sagt er: jetzt hab ich den nerem Freiheitsdrang dürfte auch ihr Lie- Schönsten, jetzt brauch ich keine mehr: besleben des Öfteren Anlass zu Meinungs- ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 5 / SPRING 2018 GRAF / KARLA GROSCH 31
Abb. 18 verschiedenheiten gegeben haben.120 So cha- Portrait-Kopf Max Werner Lenz von rakterisierte diese Grosch in Analogie zu ei- Elsie Attenhofer, Ascona, 1933, Fotograf: unbekannt, Stadtarchiv ner Figur aus Kurt Weills Oper Die Bürgschaft Zürich, VII.228 / Nachlass Elsie als ein Typ Mädchen, das »von Mann zu Mann tanzt u[nd] ihre Mutter allein sterben läßt«.121 Attenhofer Die beiden Frauen hätten in ihrem Wesen wohl nicht verschiedener sein können und trotzdem – oder gerade deswegen – verband sie eine herzliche, wenn auch manchmal schwierige Beziehung, die sich von einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis zu tie- hinderte Grosch zuerst auch daran, sich auf fer Freundschaft und familiärer Verbunden- den erheblich älteren, am Friedrich-Theater heit entwickelte. Wie stark die Bande waren, Dessau als Oberspielleiter tätigen Lenz ein- wurde insbesondere deutlich, als es zur Ka- zulassen. In einem vertrauensvollen Brief tastrophe kam. gestand sie ihm: GROSCHS LIEBESBEZIEHUNGEN »Deine Liebe zieht mich zu dir – und ich weiß nicht liebe ich dich eigentlich auch, »Ich frage mich nur oft, woher kommen oder ist es, weil das Gefühl in einem ande- meine verschiedensten Verbindungen zu ren Wesen, das vom Leben schon mehr dem anderen Geschlecht – und ich glaube mitgenommen worden ist, eine so starke sie kommen aus meiner innersten Selb- Bejaung [sic] zu finden, so unendlich wohl- ständigkeit, die mich für alles offen und tuend ist. […] Du weißt ja, daß ich einen empfänglich hält und [weswegen ich] letz- Menschen liebe, den Levedag; und hat er tenendes doch alleinsein kann [sic], viel- mir auch weh getan, und versuche ich auch leicht muß. […] Lily fürchtet, daß ich kalt- damit fertig zu werden, immerwieder [sic] herzig spiele; nein, denn jedes neue Wesen muß ich mir eingestehen: ich liebe ihn ja ist für mich ernst zu nehmen, alles ist Ent- doch noch […]. wenn aber eine große Liebe wicklung, man muß sich nur selbst treu und ihr Verlorengehen über einen gekom- bleiben und aufrichtig dem anderen ge- men ist glaubt man es gibt nun nichts genüber. Einer Verantwortung bin ich mir mehr […].«124 122 stets bewußt.« In Lenz fand Grosch einen unermüdlichen Diese im Januar 1932 für ihren Freund Max Zuhörer, dem sie ihr Innerstes ohne Hem- Werner Lenz (aBB. 18) verfassten Zeilen be- mungen offenbaren konnte.125 Sie teilte mit leuchten Groschs »Tänze« mit dem anderen ihm sowohl Momente höchster Lebens- Geschlecht aus ihrer eigenen, subjektiven freude, als auch solche grösster Verzweif- Perspektive. So sah sie das Scheitern ihrer lung. Und doch standen sich die beiden letz- verschiedenen Beziehungen letztlich in sich ten Endes selber im Wege und versuchten selbst und in ihrem Bedürfnis nach selbst- einander, wie Grosch analysierte, aus lauter bestimmter Freiheit begründet. Diese Hal- Verantwortungsbewusstsein vor dem ande- tung dürfte massgeblich durch ihre vorhe- ren zu bewahren.126 Nach längerem Hin und rigen Erlebnisse beeinflusst worden sein. Her markierte Groschs Reise ins Tessin, die Nach dem Bruch mit Felix Klee verliebte sie alleine in den Osterferien 1931 unter- sich Grosch zunächst in den Bauhaus-Stu- nahm, schliesslich den Wendepunkt ihrer denten Fritz Levedag; mit ihm wünschte sie Beziehung. sich sehnlichst eine Zukunft sowie ein ge- In Morcote, einem kleinen Bergdorf un- 123 meinsames Kind. Dieser Traum verwirk- weit von Lugano, fand Grosch ihren Lebens- lichte sich jedoch nicht und der aufgrund mut wieder und feierte mit toskanischem der Trennung noch lange verspürte Schmerz Chianti ihre »Wiedergeburt zum [M]ensch- ZWITSCHER-MASCHINE.ORG NO. 5 / SPRING 2018 GRAF / KARLA GROSCH 32
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