KARLA GROSCH - EINE SPURENSUCHE - Zenodo

Die Seite wird erstellt Thomas Block
 
WEITER LESEN
KARLA GROSCH - EINE SPURENSUCHE - Zenodo
KARLA GROSCH – EINE SPURENSUCHE
                                                                                                         Seraina Graf

                           SUMMarY

                         The scientific investigation of Karla Grosch's    transcribed in the course of in-depth re-
                         life and work is highly relevant both in the      search. The exchanges of letters between
                         context of Bauhaus and Klee research and          Karla Grosch and Max Werner Lenz as well
                         with regard to an early 20th century cultural     as Lily and Felix Klee were particularly infor-
                         historiography. However, the current state of     mative and allowed a focus to be placed on
                         research on Grosch's person is not satisfac-      interpersonal relations. This is the first time
                         tory and has to be examined critically due to     that a comprehensive picture of the young
                         a lack of proximity to the sources. The results   dancer, gymnastics teacher and »adopted
                         presented in this article are largely based on    daughter« of Lily and Paul Klee is conveyed,
                         the evaluation of unpublished archive and es-     which ultimately fits seamlessly into her
                         tate materials, which were identified and         highly regarded environment.

                         D
                                   ie wissenschaftliche Untersuchung       »BAUHAUSKÖPFE«
                                   von Karla Groschs Leben und Wir-        2019 jährt sich die Gründung des Bauhauses
                                   ken ist sowohl im Kontext der Bau-      in Weimar zum hundertsten Mal.1 Die Hoch-
                         haus- und Klee-Forschung als auch in Hin-         schule für Gestaltung, die 1925 nach Dessau
                         blick auf eine Kulturgeschichtsschreibung         übersiedelte und 1933 in Berlin aufgrund
                         des frühen 20. Jahrhunderts höchst rele-          des von den Nationalsozialisten ausgeübten
                         vant. Der bisherige Forschungsstand zu            Drucks schliessen musste, wird bis heute
                         Groschs Person ist allerdings nicht zufrie-       international als Kulminationspunkt avant-
                         denstellend und muss aufgrund fehlender           gardistischer Ideen rezipiert. Die visionären
                         Quellennähe kritisch hinterfragt werden. Die      Köpfe, die hinter der Institution standen, wa-
                         in diesem Beitrag präsentierten Ergebnisse        ren zahlreich und in ihrer Vielfalt einmalig.
                         basieren grösstenteils auf der Auswertung         So prägten nicht nur die namhaften Direk-
                         von unveröffentlichten Archivmaterialien          toren, Meister und Lehrenden die Schule,
                         und Nachlassbeständen, die im Zuge ver-           sondern es waren vor allem auch die über
                         tiefter Recherchen identifiziert und transkri-    1250 Studierenden aus aller Welt, welche
                         biert werden konnten. Die Briefwechsel zwi-       die kreative Schaffensatmosphäre nachhal-
                         schen Karla Grosch und Max Werner Lenz            tig mitformten. All diese individuellen Bio-
                         sowie Lily und Felix Klee waren dabei be-         grafien sind am Ende untrennbar mit dem
                         sonders aufschlussreich und ermöglichten          Bauhaus verbunden und in der Forschung
                         eine auf die zwischenmenschlichen Bezie-          deshalb von grösster Relevanz.
                         hungen ausgerichtete Schwerpunktsetzung.               Obwohl die wissenschaftliche Aufarbei-
                         So wird erstmals ein umfassendes Bild der         tung des Phänomens »Bauhaus« und der
                         jungen Tänzerin, Gymnastiklehrerin und            darin involvierten Persönlichkeiten weit fort-
                         »Adoptivtochter« von Lily und Paul Klee ver-      geschritten und in vielen Belangen vorbild-
                         mittelt, das sich letzten Endes nahtlos in ihr    lich ist, wurden einige Leistungen und künst-
                         viel beachtetes Umfeld einfügt.                   lerische Positionen bisher noch nicht ihrer

ZWITSCHER-MASCHINE.ORG   NO. 5 / SPRING 2018              GRAF / KARLA GROSCH                                       17
KARLA GROSCH - EINE SPURENSUCHE - Zenodo
Originalität entsprechend gewürdigt. In die-    Klees engster Jugendfreundin und Geliebten
                                      sen Bereich fällt die junge Tänzerin Karla      zur in alle familiären Angelegenheiten mit-
                                      Grosch (1904–1933), die von 1928 bis 1932       einbezogenen Haustochter und schliesslich
                                      am Bauhaus Dessau als Sportlehrerin             zum geschätzten Familienmitglied.4 Ihre Le-
                                      wirkte. Sie war damit eine der wenigen weib-    bensgeschichte war damit nicht nur im all-
                                      lichen Lehrkräfte und galt darüber hinaus       gemeinen Sinne Teil des kulturhistorischen
                                      bereits zu Lebzeiten als Inbegriff der mo-      Prozesses der Moderne, sondern ganz kon-
                                      dernen, unabhängigen Frau mit frechem           kret auch mit einem der bedeutendsten
                                      »Bubikopf« und athletisch-androgynem Kör-       Künstler des 20. Jahrhunderts verknüpft.
                                      per (aBB. 1).                                        Die Klee-Forschung ist indes bereits so
                                                                                      weit fortgeschritten, dass sich eine Fokus-
Abb. 1
Karla Grosch, Sportschule                                                             verschiebung von der Person des Künstlers
S. Deutsch, Berlin, 1928, Fotograf:                                                   selbst auf sein nächstes Umfeld abzeichnet.
unbekannt, Zentrum Paul Klee,
Bern, Schenkung Familie Klee                                                          Dazu gehört insbesondere die Erforschung
© Zentrum Paul Klee, Bern,                                                            von dessen Ehefrau Lily Klee, auch unter
Bildarchiv
                                                                                      besonderer Berücksichtigung ihrer Rolle als
                                                                                      moderne Künstlergattin, Fotografin und
                                                                                      Nachlassverwalterin. Dieses Forschungs-
                                                                                      vorhaben wurde kürzlich am Kunsthistori-
                                                                                      schen Institut der Universität Zürich in Ko-
                                                                                      operation mit der Familie Klee und der
                                                                                      Klee-Nachlassverwaltung in Hinterkappelen
                                                                                      sowie dem Zentrum Paul Klee und der
                                                                                      Nachlassverwaltung der Familie Klee in An-
                                                                                      griff genommen.5
                                                                                        In diesem Zusammenhang erschliesst
                                                                                      sich die Relevanz der im vorliegenden Bei-
                                                                                      trag behandelten Thematik: Karla Grosch
                                                                                      gehörte zu Lily Klees wichtigsten Bezugs-
                                                                                      personen und war ihr bei der Bewältigung
                                                                                      der alltäglichen Herausforderungen eine un-
                                      In Quellen und in der Forschungsliteratur       verzichtbare Hilfe. Sie verbrachte bei meist
                                      wurde Grosch bisher – falls überhaupt – je-     krankheitsbedingter, längerer Abwesenheit
                                      doch meistens in einem anderen Zusam-           von Lily Klee ausserdem viele Stunden mit
                                      menhang erwähnt. So schrieb der Kunst-          Paul Klee und machte letzterem, als sie ih-
                                      historiker Ludwig Grote in Erinnerung an        ren Kater Bimbo schliesslich definitiv in sei-
                                      den Künstler Paul Klee: »In das ›Haus Klee‹     ner Obhut beliess, wohl eines der grössten
                                      gehörte damals noch Karla Grosch – eine         Geschenke überhaupt (aBB. 2).
                                      kraftvolle, federnde Persönlichkeit von blon-        Die Beziehung Karla Groschs zur Familie
                                                                                  2
                                      der Frische, die Gymnastikunterricht gab.«      Klee genauer zu analysieren, zählt folglich
                                      Und Lily Klee erklärte in ihren Lebenserin-     zu den erklärten Zielen der nachfolgenden
                                      nerungen: »Die Hauptfreundin von Felix war      Untersuchungen. Bezüglich der anfangs er-
                                      Karla Grosch aus Weimar. Ein entzückendes       wähnten Erforschung der »Bauhausköpfe«
                                      Mädchen, welche[s] ich tief in mein Herz ge-    gilt es ferner auch, ihre Rolle als Lehrkraft
                                      schlossen u. sehr geliebt habe. Sie sollte      am Standort Dessau sowie ihr tänzerisches
                                      später noch eine grosse Rolle in unserem        Engagement an der von Oskar Schlemmer
                                      Leben spielen […].«3                            geleiteten Bauhausbühne zu betrachten.
                                        Karla Grosch war aus dem Alltag der Fa-       Unter Einbezug von grösstenteils uner-
                                      milie Klee nicht wegzudenken. Über die          schlossenen Primärquellen wird somit erst-
                                      Jahre hinweg entwickelte sie sich von Felix     mals ein möglichst umfassendes Bild von

ZWITSCHER-MASCHINE.ORG                NO. 5 / SPRING 2018            GRAF / KARLA GROSCH                                      18
KARLA GROSCH - EINE SPURENSUCHE - Zenodo
Abb. 2                                                                                Grosch und zeichnete anhand der histori-
Karla Grosch mit Katze Bimbo I,
Dessau, 1932/33, Fotograf:
                                                                                      schen Dokumente ein lebendiges Bild der
unbekannt, Zentrum Paul Klee,                                                         ehemaligen Bewohner der Familienvilla an
Bern, Schenkung Familie Klee
                                                                                      der Steubenstrasse 35.7 Da es sich bei We-
© Zentrum Paul Klee, Bern,
Bildarchiv                                                                            bers Buchreihe jedoch nicht um ein wissen-
                                                                                      schaftliches Format handelt, fehlen in ihrem
                                                                                      Beitrag jegliche Quellenangaben, was die
                                                                                      Verifizierung des Geschriebenen nahezu ver-
                                                                                      unmöglicht. Die fehlende Nähe zu den Ori-
                                                                                      ginaldokumenten und das Abschreiben von
                                                                                      ungeprüften Informationen sind im aktuel-
                                                                                      len Forschungsstand zu Karla Grosch ein
                                                                                      allgemeines Problem, das sich auch im erst
                                                                                      kürzlich publizierten, bisher ausführlichsten
                                                                                      Aufsatz zur Tänzerin widerspiegelt: Die Ku-
                                                                                      ratorin Inga Kleinknecht widmete Grosch im
                                                                                      Rahmen der Ausstellung Bauhaus-Beziehun-
                                                                                      gen Oberösterreich, die vom 18. Mai bis am
                                                                                      27. August 2017 in der Landesgalerie Linz
                                                                                      gezeigt wurde, einen eigenen Beitrag im
                                       Karla Groschs Leben und Wirken vermittelt.     dazu erschienenen Katalog.8
                                       Die Vorgehensweise kann dabei mit einer          Groschs Verbindungen mit Oberösterreich
                                       Spurensuche verglichen werden, deren ver-      waren biografischer Natur: Am Bauhaus
                                       folgte Fährten sich allmählich zu einem –      Dessau lernte sie 1931 den aus Vöcklabruck
                                       wenn auch nicht lückenlosen – Ganzen zu-       stammenden Architekturstudenten Franz
                                       sammenfügen.                                   Aichinger kennen, mit dem sie sich später
                                                                                      verlobte und im April 1933 nach Palästina
                                       FORSCHUNGSSTAND                                auswanderte (aBB. 3). Aus Briefen ist bekannt,
                                       Falls Karla Grosch in der reichen For-         dass Grosch selbst in Vöcklabruck war und
                                       schungsliteratur zum Bauhaus, Paul Klee        Aichingers Familie kennengelernt hatte.9
                                       oder ihrer Lehrerin Gret Palucca überhaupt     Gelebt oder gearbeitet hat sie in Oberöster-
                                       erwähnt wird, beschränken sich die Beiträge    reich jedoch nie, weshalb die Untersuchung
                                       in den meisten Fällen auf Namenserwäh-
Abb. 3
Franz Aichinger und Karla Grosch,      nungen oder die Benennung ihrer wichtigs-
Stresemannallee 6–7, Dessau,           ten biografischen Eckpunkte. Insbesondere
zwischen 6. und 19.4.1933 (wie
Abb. 16. u. 19), Fotograf: Paul Klee   erstaunt es, dass sie auch unter dem Ge-
[?], Zentrum Paul Klee, Bern,          sichtspunkt der in der Bauhaus-Forschung
Schenkung Familie Klee
© Zentrum Paul Klee, Bern,             seit Jahren anhaltenden Genderpolitikfrage
Bildarchiv                             keinen Eingang in diesbezüglich wegwei-
                                       sende Arbeiten gefunden hat.6 Die folgenden
                                       Beiträge haben indes massgeblich zum ge-
                                       genwärtigen Wissensstand beigetragen und
                                       sollen deshalb kurz kommentiert werden:
                                         Um die Jahrtausendwende herum setzte
                                       sich die Lokaljournalistin Christiane Weber
                                       als Erste genauer mit der Person von Karla
                                       Grosch sowie deren Schwester Paula aus-
                                       einander. Für ihr mehrteiliges Buchprojekt
                                       Villen in Weimar erhielt sie damals Zugang
                                       zum Nachlass des Ehepaars Aichinger-

ZWITSCHER-MASCHINE.ORG                 NO. 5 / SPRING 2018           GRAF / KARLA GROSCH                                      19
KARLA GROSCH - EINE SPURENSUCHE - Zenodo
ihrer Person in der Linzer Ausstellung nur      Einblick in die subjektive Gefühlswelt der
                                     in begrenztem Masse gerechtfertigt scheint.     beschriebenen Personen.16
                                     Zu Franz Aichinger hingegen, der in der the-      Groschs enge Verbundenheit mit der Fa-
                                     matisierten Region aufgewachsen und spä-        milie Klee wurde hingegen bereits 1959 in
                                     ter wieder dorthin zurückgekehrt war, hätten    den von Ludwig Grote herausgegebenen Er-
                                     – auch in Verbindung mit Grosch – durchaus      innerungen an Paul Klee sowie in Felix Klees
                                     vertiefte Nachforschungen angestellt wer-       im darauffolgenden Jahr erschienenen Pu-
                                     den können: Neben seinem Weg ans Bau-           blikation Paul Klee. Leben und Werk in Doku-
                                     haus und der dort genossenen Ausbildung         menten betont.17 70 Jahre nach dem für die
                                     wären auch seine bisher weitgehend unbe-        Familie Klee besonders einschneidenden
                                     kannten Fotografien auf ihren künstleri-        Jahr 1933 veröffentlichten Stefan Frey und
                                     schen Wert hin zu befragen gewesen.10           Andreas Hüneke ferner eine detaillierte
                                       Mit den Schwerpunkten der tänzerischen        Chronologie der Geschehnisse ebendieses
                                     Ausbildung bei Gret Palucca in Dresden und      Zeitraumes.18 Darin finden sich Hinweise
                                     der Mitwirkung an der Bauhausbühne stellt       auf den zeitlichen Ablauf von Karla Groschs
                                     Kleinknecht Grosch als denjenigen Idealty-      und Franz Aichingers Emigration nach Pa-
                                     pus des »Bauhausmädels« vor, als den die        lästina, von der auch Lily und Paul Klee be-
                                     Tänzerin bereits 1930 von der Zeitschrift Die   troffen waren. Der Eintrag zum 8. und 9. Mai
                                     Woche porträtiert worden war.11 Dass Klein-     enthält zudem erstmals detaillierte Infor-
                                     knecht es versäumt, den von ihr titelgebend     mationen zu Groschs Ableben sowie Lily
                                     verwendeten Zeitschriftenbeitrag korrekt zu     Klees emotionalen Reaktionen darauf.19
                                     datieren – der Beitrag erschien nicht am
                                     4. April, sondern bereits am 4. Januar –,12     WEIMAR UND DRESDEN: FAMILIE, KIND-
                                     zeugt stellvertretend vom allgemein unkri-      HEIT UND AUSBILDUNG (1904–1928)
                                     tischen Umgang mit den wenigen, meist feh-
                                     lerbehafteten Beiträgen zu Groschs Per-         FAMILIÄRES UMFELD20
                                          13
                                     son. Dies führt schliesslich zu einer           Das aufwendige Mausoleum der Familie
                                     Zementierung des nicht zufriedenstellenden      Grosch befindet sich auf dem Historischen
                                     Forschungsstandes.                              Friedhof in Weimar in unmittelbarer Nähe
                                       Die falsche Datierung des erwähnten Zeit-     der Fürstengruft, in der Goethe und Schiller
                                     schriftenartikels wurde wahrscheinlich vom      begraben liegen, sowie der russisch-ortho-
                                     2016 in Zusammenhang mit dem Projekt            doxen Grabkapelle der Grossfürstin und
                                     »100 jahre bauhaus« ins Netz gestellten Text    Grossherzogin Maria Pawlowna Romanowa
                                     zu Grosch übernommen.14 Neben einem             (aBB 4).

                                     kurzen Abriss ihres Lebens finden sich dort
                                     auch einige wenige Hinweise zu weiterfüh-
Abb. 4
Grabstätte Grosch, Historischer      render Literatur und Archivbeständen. Ob-
Friedhof Weimar, 2012, Fotografin:   wohl ausdrücklich auf wichtige Briefe im
Sigrun Därr
© Därr Landschaftsarchitekten
                                     Stadtarchiv Zürich verwiesen wird, bleibt ein
(Halle/S.) / Stadt Weimar            in diesem Zusammenhang signifikanter Auf-
                                     satz unerwähnt: Die Archivarin Halina Pichit
                                     hat sich in ihrem Beitrag zum Zweijahres-
                                     bericht des Stadtarchivs Zürich der Jahre
                                     2009–2010 intensiv mit der Person von Max
                                     Werner Lenz, der eine Zeit lang mit Grosch
                                     liiert war, auseinandergesetzt.15 Pichit the-   Ihr Vater Rudolf Grosch (* 8.3.1837 in Wei-
                                     matisiert anhand der Korrespondenz zwi-         mar; † 8.1.1911 in Gries) hatte die in neogo-
                                     schen Grosch und Lenz insbesondere deren        tischem Stil aus Carrara-Marmor gefertigte
                                     Liebesbeziehung sowie das Verhältnis zur        Grabstätte bei Giacomo Monti aus Mailand
                                     Familie Klee. Auf diese Weise gibt sie einen    in Auftrag gegeben.21 In welchem Jahr Monti

ZWITSCHER-MASCHINE.ORG               NO. 5 / SPRING 2018            GRAF / KARLA GROSCH                                     20
KARLA GROSCH - EINE SPURENSUCHE - Zenodo
mit dem Bau betraut wurde und wie lange               bruch. Wie er in einem Schreiben an den
                                     er für dessen Fertigstellung benötigte, ist           Oberbürgermeister der Stadt Weimar be-
                                     nicht bekannt. Es erscheint jedoch wahr-              richtete, wurde er deshalb von seinem Arzt
                                     scheinlich, dass Rudolf Grosch das Monu-              ermuntert, so schnell wie möglich wieder
                                     ment unter dem Eindruck des Todes seiner              zu heiraten, damit er von einer Frau gepflegt
                                     ersten Frau, Emilie Karoline Grosch, ge-              und umsorgt würde.25 Ein Jahr später ehe-
                                     nannt     Lina        (*12.12.1843   in   Weimar;     lichte er die wesentlich jüngere Dora Her-
                                     †29.1.1900 ebenda), errichten liess. So               mine Schmidt (*30.11.1869 in Weimar;
                                     wurde letztere auch als Erste in goldenen             †21.9.1931 ebenda), welche ihm bereits im
                                     Lettern auf der schwarzen Marmortafel im              Dezember desselben Jahres eine Tochter
                                     Innern des Grabmals verewigt         (aBB. 5).        gebar. Die nach seiner ersten Frau benannte
                                                                                           Lina verstarb jedoch bereits im Alter von
Abb. 5
Grabstätte Grosch, Historischer                                                            sieben Monaten. Ihr Name wird auf der Ge-
Friedhof Weimar, 2012, Fotografin:                                                         denktafel des Mausoleums an zweiter Stelle
Sigrun Därr
© Därr Landschaftsarchitekten
                                                                                           aufgeführt.
(Halle/S.) / Stadt Weimar                                                                       Unmittelbar danach wurde Dora Grosch
                                                                                           erneut schwanger und brachte am 24. April
                                                                                           1903 ein weiteres Mädchen zur Welt. Knapp
                                                                                           zwei Monate später wurde im Geburtsregis-
                                                                                           ter der Name Dora Anna Rosa Lina Paula
                                                                                           nachgetragen.26 Die ältere Schwester von
                                                                                           Karla Grosch, die in ihrem Umfeld unter dem
                                                                                           Spitznamen »Ju« bekannt war,27 ist die ein-
                                                                                           zige, welche in der Familiengrabstätte un-
                                                                                           erwähnt bleibt. Sie verstarb am 4. November
                                                                                           1993 in hohem Alter in Vöcklabruck, wo sie
                                                                                           gemeinsam mit ihrem Ehemann Franz Ai-
                                                                                           chinger     (*   4.4.1909   in   Vöcklabruck;
                                                                                           † 5.7.1983 ebenda) seit über fünfzig Jahren
                                                                                           gelebt hat. Für ihre Schwester hingegen hat
                                     Aus dem Totenschein von Lina Grosch geht              Paula Grosch in den 1930er-Jahren eine zu-
                                     hervor, dass die Eheschliessung der beiden            sätzliche Inschrift unterhalb des dunklen
                                     am 26. März 1863 in der St.-Annen-Kirche              Marmorsteins anbringen lassen: »CARLA
                                     in St. Petersburg stattgefunden hatte.22 Ru-          GROSCH / * 1. 6. 1904 IN WEIMAR / † 8. 5.
                                     dolf Grosch war gelernter Mechaniker und              1933 IN TEL AVIV.«
                                     besass in besagter Stadt eine Lampenfabrik.                Die zweite Tochter des Ehepaars Grosch
                                     Von 1889 bis 1905 war er zudem als Weima-             wurde Maria Augusta Ilse Eva Karla ge-
                                     rer Gemeinderatsmitglied und Stadtrat tätig,          nannt.28 Obwohl beide Schwestern das Licht
                                     wobei ihm von 1897 bis 1901 die Gas- und              der Welt in Weimar erblickten, verlebten sie
                                     Wasserwerke unterstanden.23 Groschs Vater             ihre ersten Jahre in Gries bei Bozen im Süd-
                                     leitete diese Anstalten vorbildlich und               tirol.29 Ihr Vater hielt sich gesundheitshalber
                                     brachte sie auf den neuesten Stand der                bereits seit 1901 im besagten italienischen
                                     Technik, was sich positiv auf die Stadtfinan-         Kurort auf.30 Da jedoch nach wie vor fami-
                                     zen auswirkte. Ferner versuchte er, mit dem           liäre Bande bestanden, brachen die Brücken
                                     Bau von Arbeiterhäusern der damals miss-              zu Weimar nicht ab: Sowohl Dora Groschs
                                     lichen Wohnungssituation der Arbeiter ent-            Eltern Bruno und Anna Rosa Schmidt, als
                                     gegenzuwirken.24                                      auch Rudolf Groschs Bruder Wilhelm lebten
                                       Als seine Ehefrau im Jahre 1900 nach fast           weiterhin in der damaligen sächsischen
                                     vierzig Jahren kinderloser Ehe verstarb, er-          Hauptstadt.31 Spätestens um 1909 müsste
                                     litt Rudolf Grosch einen Nervenzusammen-              das Zentrum des familiären Lebens definitiv

ZWITSCHER-MASCHINE.ORG               NO. 5 / SPRING 2018                  GRAF / KARLA GROSCH                                        21
KARLA GROSCH - EINE SPURENSUCHE - Zenodo
wieder Weimar gewesen sein, da Paula              gegründet und erlangte im Verlauf des Jahr-
                                     Grosch in einem von ihr verfassten Lebens-        hunderts, mitunter aufgrund ihres liberalen
                                     lauf schilderte, ab dem sechsten Lebensjahr       Programms, ein beachtliches Renommee.38
                                     ebenda zuerst eine Grundschule und danach         Ferner richtete der belgische Architekt
                                     bis zum Alter von 14 Jahren eine Frauen-          Henry van de Velde 1908 mit seiner Gross-
                                                                 32
                                     schule besucht zu haben.                          herzoglich Sächsischen Kunstgewerbe-
                                       Am 8. Januar 1911, als die beiden Mäd-          schule in Weimar die »erste Zitadelle der
                                     chen gerade einmal sechs und sieben Jahre         Moderne« ein.39 Letztere ging 1915 jedoch
                                     alt waren, verstarb Rudolf Grosch schliess-       erzwungenermassen und ohne spürbare
                                     lich nach längerer Krankheit im Südtirol. In      Nachwirkungen unter, während das 1919
                                     der Todesanzeige in der Weimarischen Lan-         mithilfe der vorhandenen Strukturen ins Le-
                                     deszeitung schrieb seine junge Witwe: »Ges-       ben gerufene, zu Beginn von Walter Gropius
                                     tern nacht [sic] 3 Uhr verschied nach schwe-      geleitete Bauhaus als Idee und Mythos bis
                                     rem Leiden mein lieber Mann, unser                heute weltweit anerkannt und rezipiert
                                     herzensguter Vater, Bruder, Schwiegersohn         wird.40
                                     und Schwager, der Stadtrat a. D. Rudolph            Karla und Paula Grosch waren vierzehn
                                     Grosch.«33 Auch die Gemeindebehörden              und sechzehn Jahre alt, als das Staatliche
                                     würdigten dessen gemeinnütziges Wirken            Bauhaus Weimar seine Türen öffnete. Die äl-
                                     und liessen eine Anzeige sowie einen Nach-        tere der beiden Schwestern erinnerte sich
                                                       34
                                     ruf abdrucken. Nach seiner geliebten Frau         fast vierzig Jahre später folgendermassen an
                                     Lina und dem allzu früh verstorbenen Kind         die damalige Zeit und ihren späteren Freund,
                                     wurde er als Dritter dem Familiengrab bei-        den Künstler und Bauhaus-Meister Paul
                                     gesetzt.                                          Klee:
                                                                                            »Paul Klee! Diesen Namen hörte ich zum
                                     KULTURELLES UMFELD                                erstenmal [sic], als ich mit anderem jungen
                                     Während der 1910er- und der ersten Hälfte         Gemüse zusammen in Weimar um das Bau-
                                     der 1920er-Jahre lebten Mutter und Töchter        haus herum aufwuchs. Das Bauhaus, diese
                                     gemeinsam in der Familienvilla an der Kai-        große internationale Kunstschule, strömte
                                     serin Augustastrasse 35. Der vermögende           den faszinierenden Duft aus, der uns Jungen
                                     Rudolf Grosch hatte das im Jahre 1875 er-         erzählte von Freiheit, neuen geistigen Wegen,
                                     baute Wohnhaus bereits 1888 von der Ma-           Schönheit, Frohsinn, Arbeit und Werten, die
                                     lerin und Schriftstellerin Rosa Petzel (1831–     wir über alle Alltagsdinge hinweg für das
                                                            35
                                     1912) erworben. Der Hausherr nahm im              ganze Leben behalten und schätzen soll-
                                     Anschluss bauliche Veränderungen an den           ten.«41 (aBB. 6)
                                     Fassaden vor und liess sich ein für die da-
                                     maligen Verhältnisse luxuriöses »Wasser-
Abb. 6
Paul Klee in seinem Atelier,
Bauhaus Weimar, 1924, Fotograf:      closetsystem« einrichten.36 Während die Fa-
Felix Klee [?], Zentrum Paul Klee,
Bern, Schenkung Familie Klee         milie Grosch das Erdgeschoss bewohnte,
© Klee-Nachlassverwaltung,           wurden das erste und zweite Obergeschoss
Hinterkappelen
                                     sowie das gesamte Hinterhaus jeweils ver-
                                     mietet. Die Vorbesitzerin hatte im zweiten
                                     Stockwerk ausserdem ein Atelier eingerich-
                                     tet, das spätestens ab 1910 wiederum lang-
                                     jährig von einer Malerin bewohnt wurde.37
                                     So kamen die beiden Mädchen vermutlich
                                     schon früh mit der bildenden Kunst in Kon-
                                     takt.                                             Mit zwanzig Jahren wollte Paula Grosch
                                       In der Goethe- und Schiller-Stadt Weimar        schliesslich selbst Bauhäuslerin werden und
                                     erstaunt dies ohnehin kaum: Die Grossher-         obwohl das Semester bereits am 22. Oktober
                                     zogliche Kunstschule wurde bereits 1860           begonnen hatte, reichte sie zusammen mit

ZWITSCHER-MASCHINE.ORG               NO. 5 / SPRING 2018              GRAF / KARLA GROSCH                                     22
KARLA GROSCH - EINE SPURENSUCHE - Zenodo
dem folgenden verspäteten Gesuch vom             gründete Tanzschule der fast ebenso jungen
                         17. November 1923 ihre Bewerbungsunter-          Gret Palucca (1902–1993) in Dresden ein.
                         lagen nach: »Ich wollte anfragen, ob ich wohl    Während Paluccas Person und ihre tänzeri-
                         noch in den jetzigen Vorkursus aufgenom-         schen Leistungen bereits weitgehend er-
                         men werden könnte, da ich beabsichtige, die      forscht sind,48 wurde das pädagogische Ele-
                         Weberei zu erlernen.«42 Im beigelegten Le-       ment bisher vernachlässigt. Deshalb können
                         benslauf schilderte sie, dass sie sich in den    an dieser Stelle keine detaillierten Aussagen
                         letzten Jahren bereits intensiv mit dem          über die von Grosch genossene Ausbildung,
                         Kunsthandwerk und seinen Arbeitstechni-          sondern lediglich über die von ihrer Lehrerin
                         ken auseinandergesetzt habe, um sich auf         vermittelten Ideen gemacht werden.49
                         die Kunstgewerbeschule vorzubereiten.              Palucca war damals der neu aufgehende
                         Mutter und Vormund seien mit ihren künst-        Stern am Tanzhimmel der 1920er-Jahre und
                         lerischen Ambitionen jedoch nicht einver-        sollte sich noch während des gesamten
                         standen gewesen, weshalb sie im Frühjahr         20. Jahrhunderts gegenüber den in vier po-
                         1923 nach zwei Jahren in der Landwirtschaft      litischen Systemen vorherrschenden ästhe-
                         eine Lehre beim Goldschmiedemeister              tischen Normen behaupten.50 Als Meister-
                                                                     43
                         Georg Gossmann in Jena begonnen habe.            schülerin von Mary Wigman, welche dem
                         Bereits zwei Tage später erhielt Paula           expressionistischen Ausdruckstanz zum
                         Grosch vom Verwaltungssekretär den posi-         Durchbruch verholfen hatte, startete sie
                         tiven Bescheid: »Auf Beschluß der am Bau-        1924 solide in ihre Solokarriere und konkur-
                         hause für die Aufnahme zuständigen Meister       renzierte im Jahr darauf bereits die 1920
                         wurden Sie auf Grund der von Ihnen einge-        gegründete und sich ebenfalls in Dresden
                         reichten Arbeiten probeweise für das Win-        befindliche Tanzschule ihrer Lehrerin. Die
                         ter-Semester 1923/1924 aufgenommen.«44           Tanzhistorikerin Katja Erdmann-Rajski kom-
                         Unterzeichnet wurde ihr Gesuch von Meister       mentiert den Umstand, dass die 23-jährige
                         Gropius, Meister Hartwig und – Meister Klee.     Tänzerin bereits ihre eigene Institution lei-
                           Die Freude, die unermesslich gross ge-         tete, in ihrer Dissertation folgendermassen:
                         wesen sein muss, war jedoch nur von kurzer
                         Dauer: Bereits am 30. November meldete           »Palucca ist wie zum Tanz auch zum Unter-
                         sie sich schriftlich wieder ab und teilte mit,   richten geboren. Beides braucht sie zum
                         dass es ihr »durch häusliche Umstände (Er-       Leben wie ›täglich Brot‹ und das eine be-
                         krankung und deshalb notwendiges Verrei-         dingt das andere. So wie sie die von ihr auf
                         sen [ihrer] Mutter) unmöglich gemacht wor-       der Bühne gezeigten Tänze in Unterrichts-
                         den [sei], den jetzigen Kursus noch zu           themen verwandelt, so erhält sie aus der
                         besuchen«.45 Paula Groschs Traum war so-         Arbeit mit ihren Schülern Anregungen für
                         mit geplatzt. Sie wurde später stattdessen       ihre Tänze. Nicht zuletzt steigert die Schule
                         Schauspielerin.46 Karla Grosch hingegen          natürlich auch ihren Bekanntheitsgrad und
                         sollte ihren Weg ans Bauhaus über einen          etabliert ihre Richtung.«51
                         Umweg nach Dresden noch finden.
                                                                          Neben dem ihr hier attestierten angebore-
                         PALUCCA-SCHULE IN DRESDEN                        nen Talent und der überspitzten Darstellung
                         Zu demjenigen Zeitpunkt, als sich ihre           von Tanz und Unterricht als Lebensessenzen
                         Schwester als Bauhaus-Schülerin bewarb,          spricht Erdmann-Rajski zuletzt die Schule
                         absolvierte Karla Grosch eine Lehre als          als Erfolgsinstrument an. Diese wurde je-
                         Holzbildhauerin.47 Über ihre schulische Vor-     doch erst durch Paluccas Ehemann Fritz
                         bildung sind keine weiteren Informationen        Bienert ermöglicht: Der Sohn der vermö-
                         vorhanden; vermutlich hatte sie davor wie        genden Kunstsammlerin Ida Bienert unter-
                         Paula Grosch Grund- und Frauenschule be-         stützte seine Frau nicht nur in finanzieller
                         sucht. Im Alter von 21 Jahren trat sie           Hinsicht, sondern auch in Management und
                         schliesslich in die im selben Jahr neu ge-       Marketing und vermittelte ihr nicht zuletzt

ZWITSCHER-MASCHINE.ORG   NO. 5 / SPRING 2018             GRAF / KARLA GROSCH                                      23
KARLA GROSCH - EINE SPURENSUCHE - Zenodo
wichtige Kontakte.52 Folglich positionierte      dem Mitglied der schulischen Tanzgruppe,
                                        sich Palucca aktiv und strategisch in unmit-     an deren Einstudierungen, Proben und Auf-
                                        telbarer Nähe zu den ihr persönlich bekann-      führungen sie mitwirkte (aBB. 7).57
                                        ten bildenden Künstlern und wurde deshalb,
Abb. 7
Ballettschule [Titel von Felix Klee],   wie der Kunsthistoriker und Zeitgenosse
Burgkühnauerallee 6, Dessau,            Ludwig Grote bemerkte, zu einem eigen-
1927, Fotograf: Felix Klee, v.l.n.r.:
Paul und Lily Klee, Gret Palucca,
                                        ständigen Glied der Dessauer Gemein-
Herbert Trantow, Karla Grosch,          schaft:53
Zentrum Paul Klee, Bern,
Schenkung Familie Klee
© Klee-Nachlassverwaltung,              »Zum Bauhaus gehörte auch die Palucca, die
Hinterkappelen
                                        den modernen Tanz aus seiner expressionis-
Abb. 8                                  tischen Phase in den Bereich des Geistes
Bauhausnachrichten im zweiten           und der Abstraktion führte, so daß er schw-
Heft 1928 der bauhaus. zeitschrift
für gestaltung                          erelos und immateriell wurde.«54                 Mit Groschs Einstellung als Gymnastikleh-
                                                                                         rerin am Bauhaus Dessau wurde Paluccas
                                        Grote implizierte mit dieser Aussage einer-      Zugehörigkeit zu letzterem schliesslich auch
                                        seits die Auflösung der Dichotomie zwischen      in personeller Hinsicht verwirklicht.
                                        Körper und Geist und verwies diesbezüglich
                                        gleichzeitig auf die enge Beziehung zwischen     DESSAU: BAUHAUS (1928–1932)
                                        Paluccas auf eine geometrische Körper-,
                                        Zeit- und Raumerfahrung ausgerichtetem           GROSCHS GYMNASTIKUNTERRICHT GEGEN
                                        Tanz sowie Kandinskys geistig-abstrakter         DIE »KOLLEKTIV-NEUROSEN DES
                                        Formensprache. Diese gegenseitige Inspi-         BAUHAUSES«
                                        ration manifestierte sich im von Fritz Bienert   In der zweiten im Jahre 1928 erschienenen
                                        angeregten und 1926 im Kunstblatt veröf-         Bauhaus-Zeitung wurde die neue Zusam-
                                        fentlichten Aufsatz Kandinskys mit dem Titel     mensetzung des Lehrkörpers bekannt ge-
                                        Tanzkurven: Zu den Tänzen Paluccas, für wel-     geben (aBB. 8).
                                        chen der Künstler vier tänzerische Posen
                                        Paluccas in reduzierte Liniengebilde über-
                                        setzt hatte.55
                                          Als Palucca am 18. März 1925 im Natio-
                                        naltheater in Weimar debütierte, verkehrte
                                        sie gleichermassen mit den Bauhaus-Meis-
                                        tern wie mit deren Schülern und es ist wahr-
                                        scheinlich, dass sich neben Klee, Kandinsky
                                        und Moholy-Nagy auch Karla Grosch im Pu-
                                        blikum befand. Dieser besondere Auftritt so-
                                        wie Paluccas Präsenz in populären Frauen-
                                        magazinen, welche diese als den Idealtypus
                                        der jungen modernen, emanzipierten und
                                        erfolgreichen Frau porträtierten,56 dürften
                                        die ebenfalls nach Selbstständigkeit stre-
                                        bende Grosch unter anderem dazu veran-
                                        lasst haben, am 1. Dezember 1925 Paluccas
                                        Tanzschule beizutreten. Aus der ihr in die-
                                        sem Zusammenhang ausgestellten Arbeits-
                                        bestätigung geht hervor, dass Grosch bis am
                                        1. Februar 1928 an der Schule tätig war: Die     An letzter Stelle der Aufzählung hiess es:
                                        ersten zwei Jahre wurde sie von Palucca          »frl. karla grosch von der palucca-schule in
                                        persönlich unterrichtet und 1926 war sie zu-     dresden leitet den gymnastik-unterricht für

ZWITSCHER-MASCHINE.ORG                  NO. 5 / SPRING 2018             GRAF / KARLA GROSCH                                      24
KARLA GROSCH - EINE SPURENSUCHE - Zenodo
damen«, während der Gymnastikunterricht         Übrigen auch phasentypisch und unterstrich
                                    für Herren von der Arbeiter-Turn- und Sport-    den durchlaufenen Wandel von esoterischen
                                                                           58
                                    schule in Leipzig durchgeführt wurde. Er-       Mazdaznan-Übungen in Weimar hin zum
                                    gänzt wurden die Bauhausnachrichten, die        Sport als integralem Bestandteil des Des-
                                    neben der erwähnten Auflistung der Lehr-        sauer Alltags.62
                                    kräfte auch Informationen zu Studierenden,        Architektonisch wurde das sportliche Ele-
                                    aktuellen Ausstellungen, Aufträgen, Veröf-      ment bereits 1926 im von Walter Gropius
                                    fentlichungen und Veranstaltungen beinhal-      neu entworfenen Bauhausgebäude in Des-
                                    teten, durch eine von Hugo Erfurth aufge-       sau verankert, indem er einen Gymnasti-
                                    nommene Fotografie von Gret Palucca. Die        kraum im Keller und einen Sportplatz im
                                    Abbildung verwies zunächst auf zwei auf der     Freien einplante. Das Flachdach des Hauses
                                    folgenden Seite angekündigte Ereignisse:        sah Gropius als zusätzlich nutzbare Fläche
                                    So fand am 5. Mai ein Tanzabend mit Palucca     an, die sich aufgrund ihrer stabilen Kon-
                                    statt und am darauffolgenden Tag führte die-    struktion auch für das körperliche Training
                                    selbe den Studierenden auf der Bauhaus-         eignete und rege dafür genutzt wurde.63 So
                                    bühne technische Übungen und Improvisa-         zeigt eine 1930 von Theodore Lux Feininger
                                    tionen vor.59 Andererseits betonte und          aufgenommene Fotografie die Damen-Gym-
                                    legitimierte das unmittelbar mit Groschs        nastikklasse bei Freiluftübungen auf dem
                                    Namen in Verbindung stehende Bild das neu       steinernen Boden des Daches (aBB. 9):
                                    eingegangene Arbeitsverhältnis mit der Pa-
Abb. 9
Sportunterricht am Bauhaus:         lucca-Schülerin.
Gymnastik der Frauen auf dem          Initiiert wurde dieses vom Schweizer Ar-
Dach des Bauhauses, Dessau,
1930, Fotograf: T. Lux Feininger,   chitekten Hannes Meyer, der im Jahr zuvor
Bauhaus-Archiv, Berlin              die Leitung der neu gegründeten Bauabtei-
© Nachlass T. Lux Feininger
                                    lung übernommen hatte und am 1. April
                                    1928 von Walter Gropius zum neuen Bau-
                                    haus-Direktor ernannt worden war. Im Fol-
                                    genden reformierte und restrukturierte
                                    Meyer die Lehre im Sinne einer kollektiven
                                    Gestaltung, die sich zwischen Kunst und
                                    Wissenschaft entfalten sollte. Neuen tech-      Die Schülerinnen führen jeweils zu zweit un-
                                    nischen, natur- und geisteswissenschaftli-      terschiedliche Bewegungsabläufe aus, wäh-
                                    chen Fächern stellte er zudem die körperli-     rend Grosch im Vordergrund als Rückenfigur
                                    che Betätigung gegenüber:                       präsent ist und erstere vermutlich instruiert.
                                                                                    Zwei junge Damen formen dabei mit ihren
                                    »Den sprichwörtlichen Kollektiv-Neurosen        Körpern ein spitzwinkliges Dreieck, das
                                    des Bauhauses, Furcht einer einseitig-geis-     durch dessen Wiederholung in Groschs aus-
                                    tigen Betätigung, begegnete ich durch die       fallendem Schritt und durch Feiningers Per-
                                    Einführung des Sportunterrichtes. Eine          spektivwahl zusätzlich betont wird.64
                                    Hochschule ohne Leibesübungen erschien            Der Sohn des Bauhaus-Meisters Lyonel
                                    mir ein Unding.«60                              Feininger begann 1925 als einer von weni-
                                                                                    gen, das alltägliche Leben am Bauhaus
                                    Die hier von Meyer vertretene Ansicht ent-      kreativ zu dokumentieren und experimen-
                                    sprach der damals in der Weimarer Republik      tierte dabei mit überraschenden Blickwin-
                                    vorherrschenden Lebensreform- und Kör-          keln, extremer Nahsicht und Ausschnitthaf-
                                    perkultbewegung, die den modernen Men-          tigkeit   sowie     Negativabzügen       und
                                    schen als aktives, körperbewusstes und          Fotogrammen.65 Feiningers Aufnahmen des
                                    selbstbestimmtes Glied einer ganzheitlichen     Sportunterrichts, die teilweise ikonischen
                                    Gemeinschaft beschrieb.61 Rückblickend          Charakter erlangt haben,66 sind besonders
                                    war die verstärkte Betonung des Sportes im      wichtige Zeugnisse, um den von Grosch er-

ZWITSCHER-MASCHINE.ORG              NO. 5 / SPRING 2018            GRAF / KARLA GROSCH                                      25
KARLA GROSCH - EINE SPURENSUCHE - Zenodo
teilten Unterricht nachvollziehen zu kön-         »TÄNZERMENSCH« AUF DER BAUHAUS-
                              nen.67 Ebenfalls aufschlussreich ist Groschs      BÜHNE
                              Visitenkarte:68 Dienstags und freitags bot sie    Aufgrund ihrer Experimentierfreudigkeit so-
                              ausserhalb des Bauhauses jeweils von acht         wie der von ihr genossenen Ausbildung an
                              bis neun Uhr Gymnastikkurse für maximal           der Palucca-Schule war Grosch dazu prä-
                              zwölf Personen an, die im Empfangszimmer          destiniert, an den bewegungstechnisch an-
                              des Kaffees »Altes Theater« in der ersten         spruchsvollen Choreografien der Bauhaus-
                              Etage stattfanden. Die Angaben zu Zeit, Ter-      bühne mitzuwirken.71 Die bereits 1921
                              minen und Honorar – bei zwei Wochenstun-          gegründete Bühnenwerkstatt wurde bis
                              den monatlich zwölf Reichsmark, acht im           1923 zunächst von Lothar Schreyer geleitet,
                              Monat bei einer Wochenstunde und vier             danach unterstand sie bis zu ihrer Schlies-
                              Reichsmark pro Solostunde – wurden durch          sung im Jahre 1929 Oskar Schlemmer. Als
                              eine kurze Beschreibung ergänzt:                  dieser im Sommer desselben Jahres dem
                                                                                Ruf an die Kunstgewerbeschule Breslau
                              »Der Unterricht soll ein Ausgleich zu der kör-    folgte, wurde ihm eine gesamte Ausgabe der
                              perlich einseitigen Berufsarbeit sein. Es wird    Bauhaus-Zeitschrift gewidmet, zu der er
                              besonderer Wert auf die gesundheitlich gym-       selbst einen Aufsatz mit dem Titel Die Bühne
                              nastische Durcharbeitung des Körpers              beitrug.72 Die sich in ihrer Formatierung vom
                              gelegt, um die Funktionen des Körpers be-         restlichen Text abhebende Kernaussage lau-
                              wußt zu machen, und durch die Befreiung           tete dabei:
                              des Körpergefühls das nötige Gleichgewicht
                              der seelischen und körperlichen Kräfte            »in alle diese gesetze unsichtbar verwoben
                              herzustellen. Die Kurse sind nicht in An-         ist der tänzermensch. er folgt sowohl dem
                              fänger und Fortgeschrittene eingeteilt, son-      gesetz des körpers als dem gesetz des
                              dern die Arbeitsweise erstreckt sich als ele-     raumes; er folgt sowohl dem gefühl seiner
                              mentare Gymnastik über alle Teilnehmer            selbst wie dem gefühl vom raum.«73
                                               69
                              gleichmäßig.«
                                                                                Veranschaulicht wurde dieser zwischen den
                              In ihrer Tätigkeit als Lehrerin zielte Grosch     Gesetzmässigkeiten von organischem Kör-
                              demnach vor allem auf die körperlich anre-        per und abstraktem Raum stehende Tän-
                              gende Erholung ab, die sich wiederum po-          zermensch durch zwei von Robert Binne-
                              sitiv auf den Geist auswirken sollte. Dies        mann aufgenommenen Fotografien, die
                              entsprach ganz der Vorstellung des Sport-
                              unterrichtes, die Hannes Meyer retrospektiv
Abb. 10
Metalltanz (Karla Grosch),    formuliert hatte. Des Weiteren waren kör-
Bauhausbühne Dessau, 1929,    perliche Übungen für Grosch auch ein Mittel,
Fotograf: Robert Binnemann,
Bauhaus-Archiv, Berlin
                              um mithilfe ihrer in grossen Mengen vor-
                              handenen Energie die Leistungsfähigkeit ih-
                              res Körpers auszutesten. So schrieb sie ih-
                              rem Freund Max Werner Lenz:

                              »Und die Freude am Körper ist mir durch
                              meine Arbeit geblieben. Ich habe eine kind-
                              liche Freude wenn ich fühle, wie ich meinen
                              Körper in der Gewalt habe, wie ich Forde-
                              rungen an ihn stellen kann, wie er nachgibt,
                              funktioniert, und ich kann mich ganz in sei-
                              nen Leistungsmöglichkeiten verlieren. Ein
                              großer teil [sic] meines Kraftüberschusses
                              löst sich darin aus.«70

ZWITSCHER-MASCHINE.ORG        NO. 5 / SPRING 2018              GRAF / KARLA GROSCH                                      26
Abb. 11                                                                            folgte am 3. März 1929 als Gastspiel auf der
Glastanz (Karla Grosch),
Bauhausbühne Dessau, 1929,                                                         Berliner Volksbühne.77 Im Anschluss gas-
Fotograf: Robert Binnemann,                                                        tierte die Bauhausbühne mit ihrem Tanz,
Bauhaus-Archiv, Berlin
                                                                                   Pantomime und einen Sketch umfassenden
                                                                                   Programm      im    Stadttheater     Breslau
                                                                                   (24. März), im Frankfurter Schauspielhaus
                                                                                   (20. April), im Württembergischen Landes-
                                                                                   theater Stuttgart (24. April) sowie im Basler
                                                                                   Stadttheater (28. April).78 Grosch wirkte an
                                                                                   allen Aufführungen in verschiedenen Pro-
                                                                                   grammpunkten mit, so beispielsweise auch
                                                                                   in den Reifentänzen, im Maskenchor und im
                                                                                   Sketch »Drei gegen Eine«. Letzterer wurde
                                                                                   bereits 1928 von der sogenannten »Jungen
                                                                                   Gruppe« der Bauhausbühne erarbeitet, die
                                                                                   in Abgrenzung zu den auf die Form ausge-
                                                                                   richteten Bühnenexperimenten Schlemmers
                                                                                   als Kollektiv politisch motivierte Stücke ent-
                                                                                   wickelte.79 Aufgeführt wurde der Sketch ge-
                                                                                   meinsam mit Georg Hartmann, Werner
                                                                                   Siedhoff und Albert Mentzel; ob die vier Dar-
                              Grosch als Tänzerin zeigen     (aBB. 10, 11).   Es   stellenden auch die Urheber des Werkes wa-
                              handelt sich dabei um gestellte Aufnahmen            ren, geht aus der Literatur nicht hervor.
                              des von Schlemmer inszenierten Metall-                 Hinsichtlich der von Inga Kleinknecht ge-
                              und des Glastanzes, die zur Serie der soge-          stellten Frage, in welchem Masse Grosch
                              nannten Materialtänze gehörten. In diesen            allgemein an inhaltlichen und konzeptuellen
                              spielten vor allem Kostüme und Requisiten            Entscheidungen der Bauhausbühne mitge-
                              eine grosse Rolle: So blieben Groschs Be-            wirkt hatte,80 ist das ihr am 5. Oktober 1932
                              wegungen und Aktionen im Tanz in Glas auf-           von Mies van der Rohe ausgestellte Arbeits-
                              grund ihrer zerbrechlichen Ausstattung auf           zeugnis aufschlussreich:
                              »ein mannequinhaftes ›Zeigen‹ des Kos-
                              tüms« beschränkt, während die Choreogra-             »Fräulein Grosch leistete in der unter Lei-
                              fie des Metalltanzes die »Lichtreflexe und           tung von Herrn Professor Oscar Schlemmer
                              Spiegelungen auf metallischen Wänden als             stehenden Bühnenabteilung wertvolle Mit-
                                                                        74
                              ›mitwirkende‹ Faktoren« miteinbezog.                 arbeit. Sie studierte Tänze und Bewegungs-
                              In Binnemanns Fotografie des metallischen            Studien ein und konnte dank ihrer eigenen
                              Tänzermenschen wird dies besonders deut-             künstlerischen und tänzerischen Fähigkei-
                              lich:75 Der direkte Lichteinfall und der damit       ten bei verschiedenen Einzel- und Gruppen-
                              erzeugte Schattenwurf verstärken die ein-            aufführungen selbstständige Aufgaben
                              genommene kraftvolle Positur, während die            durchführen.«81
                              gewellten und gefalteten Bleche Bewegung
                              und Licht verzerrt spiegeln. In Kombination          Neben der ihr hier attestierten künstleri-
                              mit den durch metallene Kugeln eingefass-            schen Freiheit beschrieb Van der Rohe
                              ten Händen, dem glänzenden Ganzkörper-               Grosch als gewissenhafte, frische und na-
                              anzug sowie der androgynen Darstellungs-             türliche Persönlichkeit, die sich als ange-
                              weise Groschs entstand eine futuristisch             nehme Mitarbeiterin in Bezug auf das Bau-
                              anmutende Komposition, die seit ihrer Ver-           haus betreffende Fragen und Aufgaben aktiv
                              öffentlichung in der Bauhaus-Zeitschrift un-         einbrachte und deren systematisch gründ-
                              zählige Male reproduziert worden ist.76              lich aufgebauter Unterricht bei den Studie-
                                Die Uraufführung der beiden Tänze er-              renden grossen Anklang fand.82 So dürfte

ZWITSCHER-MASCHINE.ORG        NO. 5 / SPRING 2018             GRAF / KARLA GROSCH                                         27
Karla Groschs Engagement am Bauhaus               Weimarer Gaststätte »Im Ilmschlößchen«
                                      schliesslich in vielerlei Hinsicht eine Berei-    stattfindenden Bauhaus-Tanzabenden.86
                                      cherung gewesen sein.                             Vielleicht lernten die beiden Schwestern
                                                                                        Paul Klees Sohn auch an solch einem Anlass
                                      »SEINER FREUNDIN VERSCHRIEBEN« –                  kennen.
                                      KARLA GROSCH UND FELIX KLEE                            Karla Grosch wurde – wie dessen Mutter
                                      Grosch lernte die Familie Klee wohl Ende          bemerkte – über die Jahre hinweg zu Felix
                                      des Jahres 1921 oder im Verlaufe des Jahres       Klees engster Freundin,87 mit der er auch
                                                                  83
                                      1922 in Weimar kennen: Nachdem Paul               während ihrer Zeit in Dresden in Kontakt
                                      Klee seine Lehrtätigkeit am Bauhaus bereits       stand. Eine Fotografie aus dem Jahre 1926
                                      im Mai 1921 begonnen hatte, übersiedelten         zeigt die beiden Händchen haltend als jun-
                                      im Oktober auch Ehefrau und Sohn in die           ges Pärchen in Dessau (aBB. 12).
                                      traditionsreiche Kleinstadt in Thüringen. Der
                                      fast vierzehnjährige Felix Klee trat zur sel-
                                      ben Zeit als jüngster Schüler in das Bauhaus
                                      ein, wo er zunächst den Vorkurs von Johan-
                                      nes Itten besuchte und danach das Tisch-
Abb. 12
Felix Klee und Karla Grosch auf       lerhandwerk erlernte.
dem Hausdach, Burgkühnauerallee         Da die Bauhäusler in Weimar wohlbe-
7, Dessau, Herbst 1926, Fotograf:
                                      kannt waren, erscheint es plausibel, dass
unbekannt, Zentrum Paul Klee,
Bern, Schenkung Familie Klee          Karla und Paula Grosch schon bald mit dem
© Zentrum Paul Klee, Bern,
                                      etwas jüngeren Felix Klee zusammentra-
Bildarchiv
                                      fen.84 Paula Grosch erinnerte sich Jahr-          Nachdem sie im Sommer desselben Jahres
Abb. 13                               zehnte später vor allem an dessen Streiche,       bereits zusammen nach Korsika gefahren
Karla Grosch und Paul Klee auf der
Insel Porquerolles, 1927, Fotograf:   die sogar diejenigen des Schalks Till Eulen-      waren,88 verbrachten sie 1927 mit Paul Klee
Felix Klee, Zentrum Paul Klee,        spiegel übertroffen haben sollen, sowie die       gemeinsame Tage in Porquerolles, einer
                                      berühmten Kasperltheater »mit der echt
Bern, Schenkung Familie Klee
© Klee-Nachlassverwaltung,
                                                                                        kleinen, französischen Mittelmeerinsel in
Hinterkappelen                        thüringer-weimaraner Klatschweiberszene           der Nähe von Toulon (aBB. 13).89
                                      oder mit den selbstgeschnitzten unheimli-           Lily Klee fuhr nicht mit, da sie zur selben
                                      chen Gespenstererscheinungen auf tief-            Zeit für einen Kuraufenthalt in Oberstdorf
                                                             85
                                      blauer Samtkulisse«. Diese kleinen, im-           im Allgäu weilte. In einem Brief an seine
                                      provisierten Stücke führte Felix Klee nicht       Frau bemerkte Klee, dass sich Felix »nicht
                                      nur in der Familienwohnung am Horn 35 auf,        nur seinem Vater, sondern auch seiner
                                      sondern auch an den regelmässig in der            Freundin verschrieben« hätte: »Er ist aber
                                                                                        ganz Aufmerksamkeit [sic] zu mir und würde
                                                                                        mich nie allein lassen, wenn ich es nicht
                                                                                        wünschte. Den halben Tag sind wir mindes-
                                                                                        tens zusammen.«90 Felix Klee beschrieb
                                                                                        diese Zeit sehr idyllisch als von schönen Er-
                                                                                        lebnissen erfüllt:

                                                                                        »[…] teils wanderten wir durch Pinienwäl-
                                                                                        der und Ginsterbüsche, beobachteten die
                                                                                        Zikaden und Eidechsen, die wir dem Ge-
                                                                                        räusch nach zunächst für Schlangen hiel-
                                                                                        ten, […] und bestaunten von dem höchsten
                                                                                        Punkt der Insel die Rundsicht auf Land und
                                                                                        Meer, pflückten heimlich reife, von der
                                                                                        Sonne durchwärmte Feigen und badeten
                                                                                        sehr oft und ausgiebig.«91 (aBB. 14)

ZWITSCHER-MASCHINE.ORG                NO. 5 / SPRING 2018              GRAF / KARLA GROSCH                                     28
Abb. 14                                                                                Monaco. Am 17. August trat Felix Klee
Felix Klee und Karla Grosch,                                                           schliesslich allein den Heimweg an: Drei Tage
Porquerolles, 1927, Fotograf: Paul
Klee [?], Zentrum Paul Klee, Bern,                                                     später sollte seine neue Anstellung als Re-
Schenkung Familie Klee                                                                 gieassistent am Landestheater Coburg be-
© Zentrum Paul Klee, Bern,
Bildarchiv                                                                             ginnen. Grosch hingegen kehrte vor ihrer
                                                                                       Rückreise nochmals nach Porquerolles zu-
                                                                                       rück.94

                                                                                       »NICHT GERADE EIN SEHR HERZLICHES
                                                                                       VERHÄLTNIS«
                                                                                       Spätestens als sie im September 1928 wie-
                                                                                       der in Dessau war, bezog Grosch ein Zimmer
                                                                                       im Meisterhaus der Klees.95 Dort wohnte sie
                                                                                       wohl bis zum Anfang des nächsten Jahres
                                                                                       und mietete sich im Anschluss in der nur
                                                                                       zehn Gehminuten entfernten Esikostrasse
                                                                                       16 eine Wohnung.96 Während sich ihre Be-
                                                                                       ziehung zu Lily und Paul Klee in den nächs-
                                                                                       ten Jahren intensivieren sollte, wurde das
                                                                                       Verhältnis zu deren Sohn jedoch immer
                                                                                       schwieriger und die junge Beziehung ging
                                                                                       letztlich auseinander. Nachdem Grosch 1928
                                                                                       über die Festtage noch zu Felix Klee gefah-
                                     Während Grosch nach den gemeinsamen Fe-           ren war97 und ihn im darauffolgenden März
                                     rienwochen zur Palucca-Schule in Dresden          über den unerwarteten Typhustod seiner
                                     zurückkehrte, fuhr Felix Klee zum elterlichen     Theaterkollegin Hildegard Ritzau hinwegge-
                                     Wohnsitz nach Dessau, wo er am Friedrich-         tröstet hatte,98 verweigerte sie sich im Som-
                                     Theater von 1926 bis 1928 unter dem Inten-        mer 1929 dessen Bitten, gemeinsam mit den
                                     danten Georg Hartmann als Regieassistent          Eltern nach Südfrankreich zu fahren.99 Im
                                     tätig war. Zwischen Februar und Mai 1928          September erfolgte dann der vorläufig end-
                                     dürfte auch Grosch ihren Wohnsitz nach Des-       gültige Bruch. Felix Klee informierte seine
                                     sau verlegt haben, da im Sommersemester           Mutter:
                                     ihr Engagement am Bauhaus begann. Die
                                     Sommerferien dieses Jahres verbrachten die        »meine beziehungen zu karla sind momen-
                                     beiden erneut gemeinsam im Süden: Am 20.          tan in einem äusserst passivem stadium
                                     Juli reisten sie über Paris durch Zentralfrank-   [sic], sie hat sich wirklich manche anhäng-
                                     reich bis an die französische Mittelmeerküste     lichkeit verscherzt, und sie soll nun sehen
                                     hinunter, wo sie in der Nacht vom 23. auf den     wie sie ohne mich ein neues leben leben
                                     24. Juli von Marseille aus mit dem Schiff nach    wird. […], ich schreibe dir das in erster linie
                                     Ajaccio gelangten. Nachdem sie auf der Insel      deshalb, damit du in klarem [sic] bist, wenn
                                     Korsika verschiedene kleinere Städte besucht      du nach dessau kommst, und du siehst
                                     hatten, verweilten sie ab dem 2. August meh-      dass zwischen uns nicht gerade ein sehr
                                     rere Tage in der Hafenstadt L’Île-Rousse.92       herzliches verhältnis ist und das auch ver-
                                     Seinen Eltern berichtete Felix Klee: »Hier ba-    stehst, denn ich will die vielen grossen und
                                     den wir von früh bis nacht und führen auch        kleinen schmerzen, die ich dort erlebte,
                                     ein richtiges Faullenzerleben. Direkt vom         nicht allzu oft mehr wiederholt wissen. […],
                                     Zimmer ins Meer nur 2 meter entfernt              es ist nicht so leicht, nun karla so bemuttert
                                     [sic].«93 Am Ende ihrer Reise erreichten sie      bei euch zu wissen, wo ich momentan gar
                                     die Côte d’Azur und besichtigten Nizza sowie      keine beziehungen mehr zu ihr habe.«100

ZWITSCHER-MASCHINE.ORG               NO. 5 / SPRING 2018              GRAF / KARLA GROSCH                                       29
Lily Klee reagierte in ihrem Antwortbrief ge-       eine enge Freundschaft, wobei ihre Bezie-
                                    lassen auf die deutlichen Worte ihres Soh-          hung zunächst wohl in erster Linie geschäft-
                                    nes: Diese würden sie nicht weiter erstau-          lich war: Grosch wurde bei den Klees, ver-
                                    nen und sie stellten für sie auch keinen            mutlich in Zusammenhang mit ihrem Einzug
                                    Anlass dar, mit Grosch zu brechen, da das           ins Meisterhaus, als Haustochter angestellt.
                                    Verhältnis zu ihr ein ganz anderes sei und          Die Aufgaben, die sie in dieser Position über-
                                    Paul Klee und sie immer gut mit ihr gestan-         nahm, waren vielfältig und vor allem zwi-
                                    den hätten.101 Und obwohl sie zuerst be-            schenmenschlicher Natur. So leistete sie
                                    tonte, dass sie sich ganz aus dieser Sache          Lily oder Paul Klee zum Beispiel viele Male
                                    heraushalten würde, verteidigte sie Grosch:         Gesellschaft, wenn diese eine Zeit lang vom
                                                                                        Ehepartner getrennt waren,103 passte bei
                                    »Im Übrigen, habe ich ja selbst im vergan-          gemeinsamem Verreisen der beiden auf das
                                    genen Herbst an ihr beobachtet, daß sie             leerstehende Meisterhaus auf104 oder erle-
                                    sehr viel durchgemacht hat, als Deine Be-           digte spezielle Besorgungen für sie.105 Aus
                                    ziehungen mit R[itzau] in Coburg anfingen           den familieninternen Briefwechseln geht
                                    u. Deine Briefe an sie […] immer weniger            des Weiteren hervor, dass Grosch eine wich-
                                    u. einsilbiger wurden. Das habe ich selbst          tige Vermittlerposition einnahm: Da sie mit
                                    beobachtet, obwol [sic] sie nie etwas sagte.        allen Familienmitgliedern gleichermassen
                                    da sie damals bei uns wohnte.«102                   in Kontakt stand, wurde sie aktiv in den In-
                                                                                        formationsfluss miteingebunden und nicht
                                    Die Wogen zwischen Karla Grosch und Felix           selten wurden Nachrichten gar durch sie
                                    Klee glätteten sich zwar wieder, aber die ei-       übermittelt.106 Schliesslich brachte die vor
                                    nander gegenseitig zugefügten Gefühlsver-           Energie sprühende, charismatische Grosch
                                    letzungen gerieten nicht in Vergessenheit           nach dem Auszug des einzigen Sohnes auch
                                    und ihr Verhältnis wurde nie mehr so ver-           neuen Elan ins Hause Klee: »Daß Karla viel
                                    traut wie zuvor       (aBB. 15).                    bei uns ist, ist auch für uns eine große
                                                                                        Freude. Wir haben sie sehr gern. Sie ist so
                                                                                        fr is c h u . le b e n d ig .« 1 0 7
Abb. 15
Efrossina Greschowa, Felix Klee
und Karla Grosch,                                                                         Besonders wertvoll dürfte Groschs Un-
Stresemannallee 7, Dessau, 1930,
                                                                                        terstützung im Jahre 1930 gewesen sein, als
                                                                                        Lily Klee aufgrund »vollständige[r] Nerven-
Fotograf: unbekannt, Zentrum Paul
Klee, Bern, Schenkung Familie
Klee
                                                                                        erschöpfung« insgesamt fast sechs Monate
© Zentrum Paul Klee, Bern,
Bildarchiv                                                                              im Sanatorium Sonnmatt bei Luzern ver-
                                                                                        brachte.108 Grosch betreute die physisch und
                                                                                        psychisch schwer angeschlagene Lily Klee
                                                                                        Ende März auf ihrer Reise in die Schweiz
                                                                                        und half ihr bei der Ankunft, sich in ihrem
                                                                                        vorübergehenden Zuhause einzurichten und
                                                                                        wohl zu fühlen.109 In Dessau wiederum ver-
                                                                                        brachte sie viele Stunden mit dem nun etwas
                                                                                        einsamen »Herrle« des Hauses: »Zu den
                                                                                        Mahlzeiten erscheint Karla, und wir mur-
                                                                                        meln zusammen dumme Sätze und dann
                                                                                        auch wieder gescheitere Heiten. Je nach der
                                                                                        Fülle des Magens.«110 (aBB. 16)

                                                                                        ZWEI NEUE FAMILIENMITGLIEDER
                                    HAUSTOCHTER VON LILY UND PAUL KLEE                  Am Ende dieses Ausnahmejahres legte sich
                                    Im Gegensatz dazu entwickelte sich zwi-             Grosch den schneeweissen Angorakater
                                    schen Karla Grosch und Felix Klees Eltern           Bimbo zu,111 der das Herz von Lily und ins-

ZWITSCHER-MASCHINE.ORG              NO. 5 / SPRING 2018                GRAF / KARLA GROSCH                                      30
Abb. 16                                                                                Klee ist unerschöpflich im Ausdenken
Karla Grosch und Paul Klee,
                                                                                       neuer Spiele und Scherze, und Bimbos In-
                                                                                       telligenz wächst in’s Unheimliche.«114
Stresemannallee, Dessau,
zwischen 6. und 19.4.1933,
Fotograf: Franz (Boby) Aichinger,
Zentrum Paul Klee, Bern,
Schenkung Familie Klee                                                                 Lily und Paul Klee hatten aber nicht nur
© Zentrum Paul Klee, Bern,                                                             Bimbo, sondern auch Karla Grosch als
Bildarchiv
                                                                                       neues Familienmitglied ins Herz geschlos-
Abb. 17                                                                                sen und nach dem Tod von deren Mutter im
Katze Bimbo auf der Terrasse von
Klees Meisterhaus, Dessau, 1931,
                                                                                       September 1931 erwog Lily Klee sogar, die
Fotografin: Lily Klee, Zentrum Paul                                                    damals 27-Jährige zu adoptieren.115 Da
                                                                                       Grosch ihrer »Mami Klee«, wie sie diese
Klee, Bern, Schenkung Familie
Klee
© Zentrum Paul Klee, Bern,                                                             nannte,116 bei der Bewältigung des Alltags
Bildarchiv
                                                                                       helfend zur Seite stand, war sie ohnehin in
                                                                                       viele familiäre Angelegenheiten involviert
                                                                                       und entwickelte sich zu einer ihrer wichtigs-
                                                                                       ten Vertrauenspersonen. Lily Klee war sehr
                                                                                       um Groschs Wohlergehen besorgt und
                                                                                       mischte sich deshalb wohl, wie so manche
                                                                                       Mutter, ungefragt in vielerlei Privatsachen
                                                                                       ein, was der freiheitsliebenden »Adoptiv-
                                      besondere von Paul Klee im Sturm eroberte        tochter« äusserst widerstrebte. Im selben
                                      und fortan im Mittelpunkt der Gespräche          Brief, in dem Klees Spiele und Bimbos In-
                                      stand.112 (aBB. 17) Zu ihren sonntäglichen Be-   telligenz gelobt wurden, klagte diese:
                                      suchen bei den Klees brachte sie Bimbo oft
                                      mit und wenn sie verreiste, nahm das Ehe-        »Du glaubst nicht, was mir Lily mal wieder
                                      paar den liebgewonnenen Kater für einige         zugesetzt hat. Nach den Weihnachtsferien
                                      Tage zu sich in Pension.113 Ihrem Freund         mußte ich gleich zu ihr ziehen auf 14 Tage,
                                      Max Werner Lenz berichtete Grosch im Ja-         heute kam gottlob Klee zurück, also ist sie
                                      nuar 1932, als Bimbo bereits seit einem Jahr     von mir etwas abreagiert [sic]. Ich sähe
                                      bei ihr war:                                     elend aus, war ihr ständiges Lamento,
                                                                                       woher das wohl käme? ich müsse eher zu
                                                                                       Bett, solle mal zum Arzt, müsse atmen ler-
                                                                                       nen etc! letzteres zwingt sie mir nun wirk-
                                                                                       lich auf, manchmal bin ich leise einem
                                                                                       Wutausbruch nahe, der aber leider meist in
                                                                                       machtloser Verzweiflung endet.«117

                                                                                       Grosch fühlte sich von Lily Klees Fürsorge
                                                                                       und ihren Forderungen bisweilen eingeengt;
                                                                                       man bemühe sich zu sehr um sie und wolle
                                                                                       sie an sich binden, damit sie nicht plötzlich
                                      »zu Bimbo! bitte sehr, er ist noch schlank       »davonschwirre«.118 Benötigte sie einmal Zeit
                                      und rank! dafür sorgt Herrle durch tempe-        für sich alleine und wollte auf einer längeren
                                      ramentvolle Bewegungsspiele. Jägerspiel:         Reise etwas Abstand zu allem gewinnen, so
                                      piff-paff, puff! hinter Türen und Ecken lau-     musste beinahe »eine [A]rt Flucht insceniert
                                      ert man und erschreckt sich. oder Katzen-        [sic] werden«, damit man sich von ihr trennen
                                      fänger. der geht im ganzen Haus Trepp auf        konnte.119 Neben Groschs von Lily Klee als
                                      und ab und sucht Katzen. schließlich hat         an Egoismus grenzend beschriebenem in-
                                      er Bimbo, da sagt er: jetzt hab ich den          nerem Freiheitsdrang dürfte auch ihr Lie-
                                      Schönsten, jetzt brauch ich keine mehr:          besleben des Öfteren Anlass zu Meinungs-

ZWITSCHER-MASCHINE.ORG                NO. 5 / SPRING 2018             GRAF / KARLA GROSCH                                       31
Abb. 18                             verschiedenheiten gegeben haben.120 So cha-
Portrait-Kopf Max Werner Lenz von
                                    rakterisierte diese Grosch in Analogie zu ei-
Elsie Attenhofer, Ascona, 1933,
Fotograf: unbekannt, Stadtarchiv    ner Figur aus Kurt Weills Oper Die Bürgschaft
Zürich, VII.228 / Nachlass Elsie
                                    als ein Typ Mädchen, das »von Mann zu Mann
                                    tanzt u[nd] ihre Mutter allein sterben läßt«.121
Attenhofer

                                      Die beiden Frauen hätten in ihrem Wesen
                                    wohl nicht verschiedener sein können und
                                    trotzdem – oder gerade deswegen – verband
                                    sie eine herzliche, wenn auch manchmal
                                    schwierige Beziehung, die sich von einem
                                    gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis zu tie-              hinderte Grosch zuerst auch daran, sich auf
                                    fer Freundschaft und familiärer Verbunden-                 den erheblich älteren, am Friedrich-Theater
                                    heit entwickelte. Wie stark die Bande waren,               Dessau als Oberspielleiter tätigen Lenz ein-
                                    wurde insbesondere deutlich, als es zur Ka-                zulassen. In einem vertrauensvollen Brief
                                    tastrophe kam.                                             gestand sie ihm:

                                    GROSCHS LIEBESBEZIEHUNGEN                                  »Deine Liebe zieht mich zu dir – und ich
                                                                                               weiß nicht liebe ich dich eigentlich auch,
                                    »Ich frage mich nur oft, woher kommen                      oder ist es, weil das Gefühl in einem ande-
                                    meine verschiedensten Verbindungen zu                      ren Wesen, das vom Leben schon mehr
                                    dem anderen Geschlecht – und ich glaube                    mitgenommen worden ist, eine so starke
                                    sie kommen aus meiner innersten Selb-                      Bejaung [sic] zu finden, so unendlich wohl-
                                    ständigkeit, die mich für alles offen und                  tuend ist. […] Du weißt ja, daß ich einen
                                    empfänglich hält und [weswegen ich] letz-                  Menschen liebe, den Levedag; und hat er
                                    tenendes doch alleinsein kann [sic], viel-                 mir auch weh getan, und versuche ich auch
                                    leicht muß. […] Lily fürchtet, daß ich kalt-               damit fertig zu werden, immerwieder [sic]
                                    herzig spiele; nein, denn jedes neue Wesen                 muß ich mir eingestehen: ich liebe ihn ja
                                    ist für mich ernst zu nehmen, alles ist Ent-               doch noch […]. wenn aber eine große Liebe
                                    wicklung, man muß sich nur selbst treu                     und ihr Verlorengehen über einen gekom-
                                    bleiben und aufrichtig dem anderen ge-                     men ist glaubt man es gibt nun nichts
                                    genüber. Einer Verantwortung bin ich mir                   mehr […].«124
                                                          122
                                    stets bewußt.«
                                                                                               In Lenz fand Grosch einen unermüdlichen
                                    Diese im Januar 1932 für ihren Freund Max                  Zuhörer, dem sie ihr Innerstes ohne Hem-
                                    Werner Lenz       (aBB. 18)       verfassten Zeilen be-    mungen offenbaren konnte.125 Sie teilte mit
                                    leuchten Groschs »Tänze« mit dem anderen                   ihm sowohl Momente höchster Lebens-
                                    Geschlecht aus ihrer eigenen, subjektiven                  freude, als auch solche grösster Verzweif-
                                    Perspektive. So sah sie das Scheitern ihrer                lung. Und doch standen sich die beiden letz-
                                    verschiedenen Beziehungen letztlich in sich                ten Endes selber im Wege und versuchten
                                    selbst und in ihrem Bedürfnis nach selbst-                 einander, wie Grosch analysierte, aus lauter
                                    bestimmter Freiheit begründet. Diese Hal-                  Verantwortungsbewusstsein vor dem ande-
                                    tung dürfte massgeblich durch ihre vorhe-                  ren zu bewahren.126 Nach längerem Hin und
                                    rigen Erlebnisse beeinflusst worden sein.                  Her markierte Groschs Reise ins Tessin, die
                                      Nach dem Bruch mit Felix Klee verliebte                  sie alleine in den Osterferien 1931 unter-
                                    sich Grosch zunächst in den Bauhaus-Stu-                   nahm, schliesslich den Wendepunkt ihrer
                                    denten Fritz Levedag; mit ihm wünschte sie                 Beziehung.
                                    sich sehnlichst eine Zukunft sowie ein ge-                      In Morcote, einem kleinen Bergdorf un-
                                                                123
                                    meinsames Kind. Dieser Traum verwirk-                      weit von Lugano, fand Grosch ihren Lebens-
                                    lichte sich jedoch nicht und der aufgrund                  mut wieder und feierte mit toskanischem
                                    der Trennung noch lange verspürte Schmerz                  Chianti ihre »Wiedergeburt zum [M]ensch-

ZWITSCHER-MASCHINE.ORG              NO. 5 / SPRING 2018                       GRAF / KARLA GROSCH                                     32
Sie können auch lesen