"Kein gut bestelltes Terrain" - Merkels Sozialpolitik - 27. August 2021 - Handelsblatt

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"Kein gut bestelltes Terrain" - Merkels Sozialpolitik - 27. August 2021 - Handelsblatt
Merkels Sozialpolitik – 27. August 2021

„Kein gut bestelltes Terrain“
Ökonomische Bilanz der Ära Merkel: Seit 2005 erlebte die Bundesrepublik tiefe
Krisen, aber auch beispiellosen Wohlstand. Es wäre die beste Zeit gewesen, um
Deutschland fit zu machen für die Zukunft. Doch Angela Merkel verlor früh ihren
Reformeifer.
von Prof. Bert Rürup

Das zweite Jahrzehnt dieses Jahrhunderts wird als eine "goldene Dekade" in die deutsche
Wirtschaftsgeschichte eingehen. Denn die Jahre 2010 bis einschließlich 2019 waren - trotz der
Turbulenzen der Euro-Krise zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts - durch eine ungemein
beschäftigungsintensive gesamtwirtschaftliche Belebung gekennzeichnet. Die Steuer- und
Beitragsquellen sprudelten kräftig, und die Staatsfinanzen sanierten sich im Zuge der
Niedrigzinspolitik der EZB geradezu von allein. Dieser ökonomische und finanzpolitische
"honeymoon" brachte es aber mit sich, dass die Herausforderungen des bald einsetzenden massiven
Alterungsschubs der Bevölkerung und die damit einhergehende Verringerung des Trendwachstums
zunehmend verdrängt wurden. Die letzten beiden von Angela Merkel geführten Bundesregierungen
nahmen es billigend in Kauf, dass die digitale Infrastruktur des Landes viel zu langsam ausgebaut
und der Wertschöpfungsanteil hochtechnologischer und wissensbasierter Produkte kleiner wurde.

Die Große Koalition der Jahre 2005 bis 2009 hat 2007 maßgeblich auf Drängen des
sozialdemokratischen Arbeitsministers Franz Müntefering die "Rente mit 67" beschlossen und zur
Überwindung der Megarezession in der Folge der globalen Finanzkrise ebenso beherzte wie
erfolgreiche Maßnahmen ergriffen und damit in der Summe eine gute Arbeit geleistet.

Die sich anschließende von der Union und der FDP getragene "bürgerliche" Koalition begann mit
der unrühmlichen "Mövenpick-Steuer" und war dann überwiegend mit der Euro-Krise, der
Aussetzung der Wehrpflicht und der Energiewende beschäftigt. In der gesetzlichen
Krankenversicherung wurde immerhin ein langfristiger Umstieg auf einkommensunabhängige
(Zusatz-)Beiträge eingeschlagen, der von der folgenden zweiten Großen Koalition unter Merkel
allerdings wieder zurückgenommen wurde. Und mit dem "Pflege-Bahr", einer freiwilligen privaten
Ergänzungsversicherung, wurde ein bestenfalls sehr zaghafter Umstieg auf mehr Kapitaldeckung in
der sozialen Pflegeversicherung angestoßen. Sozialministerin Ursula von der Leyen bemühte sich
dagegen ohne Erfolg um die Einführung einer "Zuschussrente", um den steigenden Risiken von
Altersarmut namentlich unter Frauen zu begegnen.
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Da der bevorzugte Koalitionspartner der Union, die FDP, bei der Bundestagswahl 2013 an der
Fünfprozentklausel scheiterte und die Zeit für eine mögliche "schwarz-grüne" Koalition auf
Bundesebene noch nicht reif war, wurden Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD für eine
neuerliche Große Koalition aufgenommen. Der strittigste Punkt in den Vorverhandlungen war die
Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns. Die SPD konnte sich gegen den
zähen Widerstand der Union durchsetzen.

Seit dem 1. Januar 2015 gibt es nun auch in Deutschland eine gesetzliche Lohnuntergrenze - von
zunächst 8,50 Euro pro Stunde. Dieser moderate Mindestlohn war eine überfällige Flankierung der
Hartz-IV-Gesetze. Anders als von vielen Ökonomen, einschließlich des Sachverständigenrats,
vorausgesagt, blieben massive Beschäftigungsverluste trotz eines spürbaren Anstiegs der
Stundenlöhne im unteren Lohnsegment aus. Den Empfehlungen der Mindestlohnkommission
entsprechend wurde die gesetzliche Lohnuntergrenze weitgehend parallel zur allgemeinen
Lohnentwicklung fortgeschrieben. Allerdings sollte man sich nicht der Illusion hingeben, dass eine
im aktuellen Wahlkampf von den Parteien des Mitte-links-Spektrums in Aussicht gestellte schnelle
Anhebung der Lohnuntergrenze von derzeit 9,60 Euro pro Stunde auf zwölf Euro ebenfalls ohne
Beschäftigungsverluste vonstattenginge.

Zu den sozialpolitisch sinnvollen Entscheidungen dieser Regierung gehörten zweifelsohne die 2014
beschlossenen Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente wie bei der Rehabilitation. Diese
Leistungsverbesserungen waren in der Sache überfällig. Ebenfalls stellt das nach zähen
Verhandlungen 2017 von Sozialministerin Andrea Nahles durchgesetzte
Betriebsrentenstärkungsgesetz eine in mehrfacher Hinsicht kluge Modernisierung im Bereich der
betrieblichen Altersvorsorge dar. Allerdings lässt die Akzeptanz dieser neuen Möglichkeiten in der
Wirtschaft noch zu wünschen übrig.

Eine bedauerliche Folge der wirtschaftlich guten zurückliegenden Dekade war, dass der damit
verbundene kurzfristige finanzielle Spielraum von den beiden letzten von Merkel geführten
Regierungen genutzt wurde, um Leistungsausweitungen vorzunehmen, die vor dem Hintergrund des
bereits in wenigen Jahren einsetzenden massiven Alterungsschubs der Sache nach nicht zu
rechtfertigen waren und definitiv nicht geeignet sind, das Sozialsystem langfristig auf eine solidere
Basis zu stellen.

So konzentrierte sich die Politik auf Leistungsverbesserungen in der Rentenpolitik, die vorrangig
der vermuteten eigenen Wählerklientel zugutekommen sollten. Auf Drängen der Union wurde in
zwei Schritten eine neue Rente für Mütter eingeführt, deren Kinder vor 1992 geboren wurden. Die
Kosten dieser Leistungen betrugen allein im vergangenen Jahr rund zwölf Milliarden Euro.

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Parallel zur ersten Verbesserung der Mütterrente wurde - auf Drängen der SPD - die abschlagsfreie
"Rente ab 63" eingeführt, von der vor allem männliche Beschäftigte mit vergleichsweise hohen
Rentenansprüchen profitierten. Es liegt der Verdacht nahe, dass die SPD mit diesem Projekt die
Gewerkschaften ein Stück weit mit der Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre versöhnen
wollte. Ökonomisch wirkt dieser Verzicht auf Abschläge wie eine Subvention zum vorzeitigen
Ausscheiden aus dem Arbeitsleben. Immerhin ist auch diese Leistungsausweitung insofern nur
vorübergehend, als die Altersgrenze relativ zügig wieder auf 65 Jahre angehoben wird. Die
rentenpolitischen Großzügigkeiten werden allerdings gerade dann ausgabenwirksam, wenn der
demografisch bedingte Finanzierungsdruck markant steigt.

Durch die Coronakrise kommen in den nächsten Jahren weitere Kosten auf die Rentenversicherung
zu - insbesondere im Zusammenwirken mit dem Aussetzen des Nachholfaktors, der 2009 vom
damaligen Sozialmister Olaf Scholz als Gegenstück zur Rentengarantie im Falle von
Lohnsenkungen in die Rentenanpassungsformel eingefügt worden war. Bemerkenswert dabei ist,
dass die Aussetzung dieses Faktors offensichtlich ohne Kenntnis der Bundeskanzlerin stattfand, wie
Merkel in einer Bundestagssitzung auf die Frage des FDP-Politikers Johannes Vogel zu erkennen
gab.

Die nach langen Querelen und hartnäckigem Drängen der SPD zum 1. Januar 2021 doch noch
eingeführte Grundrente sollte das deutsche Rentensystem armutsfester machen. So begrüßenswert
diese bereits von Ursula von der Leyen eingebrachte Idee war, so schwächenbehaftet ist der
zwischen Union und SPD gefundene Kompromiss. Die mit einem hohen Verwaltungsaufwand nach
zähen Verhandlungen verabschiedete Lösung ist aufgrund ihrer hohen Zugangshürden bestenfalls
als halbherzig zu bezeichnen, nicht jedoch als zielgerichtet.

Ein anderes Ärgernis in der Wahrnehmung der Bevölkerung wurde unter Angela Merkel im Jahr
2013 abgeschafft: die Praxisgebühr, die zu Kostenersparnissen im Gesundheitswesen beitragen
sollte, indem auf nicht zwingend notwendige Arztbesuche verzichtet werden sollte. Diese 2003
unter der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) eingeführte Gebühr war in der Sache
vernünftig. Ihre Rücknahme im November 2012 war der Preis, den die schwarz-gelbe
Bundesregierung für die Zustimmung der SPD zum Betreuungsgeld zahlen musste.

In den 16 Jahren unter Kanzlerin Angela Merkel wurde das Sozialbudget massiv ausgeweitet. So
stieg die Sozialleistungsquote, also der Anteil der Sozialausgaben am nominalen
Bruttoinlandsprodukt, von 29 Prozent am Beginn ihrer Kanzlerschaft 2005 auf gegenwärtig mehr
als 33 Prozent. Da im gleichen Zeitraum das nominale Bruttoinlandsprodukt um rund 1,1 Billionen

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Euro zugelegt hat, entspricht dies einer Ausgabensteigerung von mehr als 450 Milliarden Euro oder
nominal 70 Prozent im Vergleich zu 2005. Dabei konnte die Bundeskanzlerin aufgrund der guten
wirtschaftlichen Lage der vergangenen Dekade aus dem Vollen schöpfen; denn die
Beitragseinnahmen stiegen seit der Finanzkrise bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie
kontinuierlich.

Allerdings hat sich der finanzielle Spielraum - auch Corona-bedingt - eingeengt. Dies zeigen die
erheblich gestiegen Ausgabenquoten der Sozialversicherungen. Das sozialpolitische Arbeitsfeld,
das Angela Merkel ihrer Nachfolgerin oder ihrem Nachfolger im Kanzleramt überlässt, ist daher -
im Vergleich zu ihrem Amtsantritt 2005 - wahrlich kein sonderlich gut bestelltes Terrain.

Bau- und Wohnungspolitik: Teurer wohnen mit Merkel

Lange Zeit galt die Bundesrepublik als Land, in dem Immobilien vergleichsweise günstig zu haben
sind. Diese Zeiten haben sich jedoch geändert, vor allem in den Großstädten. In Berlin stiegen die
Preise seit Angela Merkels Amtsantritt um 130 Prozent. Dies liegt auch daran, dass im ganzen Land
mit wenigen Ausnahmen zu wenig gebaut wird.

Bauen ist zwar Ländersache. Aber immer wieder gab es Forderungen, auch der Bund müsse etwas
gegen die Wohnungsnot tun. Statt die Grunderwerbsteuer zu senken und die Kosten den Ländern zu
erstatten, entschied sich die Bundesregierung, mit dem Baukindergeld eine neue Subvention
aufzulegen. Die Förderung ist umstritten. Die Bundesregierung behauptet, sie habe für viele

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Familien den Traum von den eigenen vier Wänden wahr werden lassen. Experten monieren
dagegen, das Baukindergeld habe die Preise noch mehr steigen lassen.

Vermögen und Ungleichheit: Der Mythos vom Ungleichland

Die Schere zwischen Arm und Reich geht auseinander. Die Mittelschicht erodiert. Immer wieder
bringen Politiker, Experten und Journalisten diese Warnungen vor. Gedeckt von den Fakten sind
diese Behauptungen in Gänze aber nicht. Zumindest in den 16 Jahren Merkel ist das Land nicht
wesentlich ungleicher geworden. Die Mittelschicht ist nahezu exakt so groß wie bei Merkels
Amtsantritt. Leichte Verschiebungen gibt es am unteren und oberen Ende der Einkommenskala. Die
Gruppe der Reichen ist etwas kleiner geworden, die Gruppe der Ärmsten etwas größer. Gegen
Armut sollte die Politik unbedingt etwas tun. Die Fakten geben jedoch nicht her, dass sich das
soziale Gefälle im Land unter Merkel im größeren Stil verschoben hat.

Wer Kapital zum Investieren hat, erlebte in der Ära Merkel goldene Zeiten. Trotz zweier
Börseneinbrüche in der Finanz- und der Coronakrise stieg der weltweite Aktienindex MSCI World
seit 2005 um über 150 Prozent. Die deutschen Börsen konnten da nicht mithalten: Rechnet man aus
der Entwicklung des Dax wie international üblich die Dividenden heraus, stieg der deutsche
Leitindex "nur" um 88 Prozent.

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Arbeit und Beschäftigung: Wunder unter Schmerzen

Die sinkende Arbeitslosigkeit in Deutschland verblüfft die ganze Welt, anerkennend wird von
einem deutschen Arbeitsmarktwunder gesprochen. Allerdings hat dies auch einen Preis: Die Zahl
der Beschäftigten in Tarifverträgen sinkt, genau wie die Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder. Und
die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten stagniert seit dem Amtsantritt Merkels auf hohem Niveau.

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