Keiner soll verloren gehen - wie lassen sich Lücken in den Regelungssystemen überwinden?
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»Keiner soll verloren gehen – wie lassen sich Lücken in den Regelungssystemen überwinden?« Impulsvortrag zum Parlamentarischen Abend am 25.03.2020 Rainer Hinzen Vorwort Dr. Michael Bartels Sprecher des Brüsseler Kreises e. V., Vorsteher des Pommerschen Diakonievereins e.V. Für den Brüsseler Kreis, einen Zusammenschluss von 13 christlichen Sozialunternehmen in Deutschland, gehört der jährlich im Frühjahr stattfindende Parlamentarische Abend zu den bewährten Traditionen. 2020, im Jahr des 20-jährigen Bestehens des Brüsseler Kreises, war die Veranstaltung coronabedingt leider nicht durchführbar. So sind wir in der – hoffentlich einmaligen – Situation, Ihnen als von uns geschätzten Kontaktpersonen, Diskurs- und Kooperationspartnern aus Politik und Verbänden einen thematischen Impuls zuzusenden, der nicht coram publico gehalten werden konnte. Stellvertretend für die Mitgliedsunternehmen des Brüs- kehren werden. Die Schnittstellen und alles, was sich an seler Kreises hat Pfarrer Rainer Hinzen, Vorstandsvorsit- Konfliktpotenzial mit ihnen verbindet, sind nach Corona zender der Diakonie Stetten, die vielschichtige Proble- immer noch da, aber der Diskurs um deren Bewältigung matik von Schnittstellen der Sozialsysteme aus unteneh- wird dann wahrscheinlich aus einer veränderten Perspek- merischer Sicht aufgegriffen und seine exemplarische tive geführt werden. Darstellung mit grundlegenden Positionierungen des Brüsseler Kreises verbunden. Mit der Weiterleitung des Wenn etwas durch die Corona-Krise deutlich geworden Impulses wollen wir nicht nur dankbar die konzeptionelle ist, dann ist es der Wert von persönlichen Kontakten und Arbeit von Rainer Hinzen würdigen, sondern verbinden direkten Begegnungen. Sosehr sich auch durch die Di- damit zugleich weiterführende Anliegen: gitalisierung veränderte Kommunikationsmöglichkeiten ergeben: Nichts kann die direkte Kommunikation mit Die speziellen Probleme, die sich durch Abgrenzung oder Worten, Gesten, Tönen und Zwischentönen ersetzen. Überlappung der sozialen Sicherungssysteme ergeben, Diese Erfahrung haben unzählige Mitarbeiter*innen, die begleiten uns zum Teil schon seit vielen Jahren. Und sie in den Mitgliedsunternehmen des Brüsseler Kreises sozi- werden immer dann besonders deutlich, wenn Eck- ale Dienstleistungen erbringen, in den zurückliegenden punkte der sozialen Sicherungssysteme weiterentwickelt Monaten in ihrer alltäglichen Arbeit gemacht. Und dies werden, wie zuletzt durch das Bundesteilhabegesetz trifft insbesondere auch auf den Austausch zu, der zwi- (BTHG) geschehen. Die besondere Situation im Jahr 2020 schen sozialunternehmerischer Praxis und deren Stake- führt uns nun vor Augen, dass sich das Problempotenzial holdern aus Politik und Verbänden stattfindet. Insofern ungelöster Systemfragen angesichts existenzieller Erfah- ist der vorliegende Impuls nicht nur ein „Lebenszeichen“ rungen bzw. Bedrohungen deutlich relativieren kann. des Brüsseler Kreises im Jahr 2020, sondern zugleich Andererseits ist aber zu erwarten, dass alle beteiligten eine Einladung, den seit vielen Jahren erfolgreich prak- Akteure in der Post-Krisen-Phase mit den spezifischen Er- tizierten Dialog fortzusetzen. So freuen wir uns bereits fahrungen dieser Zeit und einer Ahnung um deren Kon- heute auf den nächsten Parlamentarischen Abend im sequenzen in die altbekannten Problemlagen zurück- Frühjahr 2021!
2 »Keiner soll verloren gehen – wie lassen sich Lücken in den Regelungssystemen überwinden?« Pfarrer Rainer Hinzen, Vorstandsvorsitzender Diakonie Stetten e.V. Einleitung Immer wieder einmal bekomme ich zu hören, dass das In vielen Fällen kann eine Person Leistungen aus beiden System der Hilfen für Menschen mit Behinderungen und Systemen beanspruchen.6 ihre Angehörigen kompliziert und unübersichtlich sei. Ja, es könne passieren, dass man mit seinem Anliegen gera- Fragwürdig und viel diskutiert ist die Sonderregelung für dezu verloren gehe und irgendwie durch die Raster falle.1 Menschen mit Behinderungen, die in besonderen Wohn- Als Experten sprechen wir dann gerne auch von soge- formen (früher: stationären Einrichtungen) leben. Für sie nannten „Schnittstellenproblemen“. Diesem Themenfeld zahlt die Pflegeversicherung nur eine Pauschale von ak- will ich mich mit diesem Vortrag annähern, will aufzeigen, tuell 266 € pro Monat, ohne Rücksicht darauf, dass sie wo es derartige Probleme geben könnte. Oft, so werde im Rahmen ihrer Werkstattbeschäftigung Pflegeversiche- ich zeigen, liegt es nicht an den Schnittstellen in der Ge- rungsbeiträge entrichtet haben, und unabhängig davon, setzessystematik, denn die Vorschriften zur Koordination wie hoch der individuelle Leistungsanspruch je nach Pfle- und Zusammenarbeit der Reha-Träger sind ausführlich gegrad gegenüber der Pflegekasse wäre.7 und eindeutig.2 Aber es gibt eben auch eine Vielfalt von Umsetzungssystemen, die jeweils unterschiedliche Zu- Eingliederungshilfe und Jugendhilfe gangswege und Leistungsabgrenzungen haben. Oft auch Nach dem SGB VIII haben 1.003.117 Kinder, Jugendliche gibt es Probleme durch regionale Besonderheiten. und junge Menschen Leistungen erhalten.8 181.246 Kin- der und Jugendliche mit wesentlicher körperlicher und Gleichwohl erleben die Menschen in der Praxis oft eine geistiger Behinderung erhielten Leistungen der Einglie- mühsame Auseinandersetzung mit den Systemen, und es derungshilfe.9 bestätigt sich der Satz von Ernst Ferstl, einem österreichi- Aber ist denn die abgrenzende Unterscheidung durch schen Aphoristiker: die beiden Sozialgesetzbücher tatsächlich sachgerecht? „Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist in der Junge Menschen haben oft ihre Hilfebedarfe in vielfälti- Praxis weit höher als in der Theorie.“ ger Wechselwirkung. Der 13. Kinder- und Jugendbericht Ich werde Ihnen heute Abend beispielhaft aufzeigen, merkte im Jahr 2009 dazu an: „Diese Zuordnungslogik • wo solche Unterschiede spürbar sind, führt nach Auffassung der Kommission in der Praxis zu er- • werde zweitens versuchen, die Ursachen zu benennen heblichen Definitions- und Abgrenzungsproblemen, aus • und zum Schluss skizzieren, wo wir gemeinsam daran denen letztlich Verschiebebahnhöfe bzw. ‚schwarze Lö- arbeiten können, dass niemand verloren geht und mög- cher‘ in der Hilfegewährung für die Betroffenen resultie- liche Lücken überbrückt werden. ren.“ (13. Kinder- und Jugendbericht des BMFSJ, 2009). Teilhabe an Arbeit Drei Bereiche, in denen Die Zahl der Menschen mit Behinderungen, die im Ar- beitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen Menschen Lücken erleben beschäftigt sind, lag im Jahr 2017 bei 275.000 – mit stei- Eingliederungshilfe und Pflege 3 gender Tendenz.10 Das Verhältnis von Eingliederungshilfe und Pflege ist ge- Das ist eine hohe Zahl, die deutlich macht, wie schwierig kennzeichnet durch den Nachrang der Sozialhilfe und es für einen bestimmten Kreis von Menschen mit Behinde- die Deckelung der Leistungen der Pflegeversicherung der rungen ist, einen sozialversicherungspflichtigen Arbeits- Höhe nach. Dadurch kommt es zu vielfältigen Schnitt- platz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu bekleiden. stellen und Abgrenzungsfragen in erheblichem Umfang. Die Wechselquote aus den Werkstätten liegt seit vielen Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gab es im Jahren bei etwa 1%. Die Gründe hierfür sind vielfältig Jahr 2017 3.414.378 pflegebedürftige Menschen, die ei- und hängen mit den hohen Anforderungen von Arbeits- nen Anspruch nach dem SGB XI haben4 und 298.857 plätzen ebenso zusammen wie mit der Scheu von vielen Menschen mit Behinderungen, die Leistungen zur Pflege Arbeitgebern, sich auf Menschen mit Behinderungen nach dem SGB XII (in Zukunft SGB IX) erhielten.5 einzulassen. Für diesen Vortrag beschränke ich mich aber auf die Frage, ob das Hilfesystem selbst (noch) Hürden und Hin- dernisse bietet, die abzubauen wären.
3 Drei Ursachen Oft wird im Zusammenhang mit diesen Abgrenzungen In der Josefs-Gesellschaft Köln, beispielsweise, einer der auch von „Schnittstellen“ gesprochen. Das ist eine et- Mitgliedseinrichtungen des Brüsseler Kreises, wurde vor was formale und technische Umschreibung der Tatsache, zwei Jahren ein außerordentlich gut ausgearbeitetes, dass sich das reale Leben von Menschen nicht so ein- kreatives Konzept zur angemessenen Hilfe erarbeitet, in fach einordnen lässt in gesetzliche Zuordnungsraster und dem eine ganz klare Orientierung an den Bedarfen der institutionelle Umsetzungslogiken. Und dann ist da ja Kinder und Jugendlichen im Vordergrund stand. Um Ih- immer noch die örtliche Lebenssituation mit regionalem nen einen Eindruck zu vermitteln, wovon ich rede, zitiere Wohnungs- und Arbeitsmarkt, individuellen Sachbear- ich aus diesem Konzept den Personenkreis: beitern der Sozial- und Grundsicherungsämter, der Ein- Kinder und Jugendliche mit z. B. atypischem Autismus • gliederungshilfe, der Gesundheitsämter, der Beratungs- bipolarer affektiver Störung mit manischer Symptomatik stellen, der Arbeitsagentur und Heimaufsichten und der • depressiver Störung • dissozialer Persönlichkeitsentwick- Datenschutz usw. lungsstörung • frühkindlichem Autismus • generalisierter In der lebendigen Erfahrung der Menschen, um die es Angststörung • paranoider Wahrnehmung • posttrau- dabei geht, handelt es sich oft um handfeste Schwierig- matischer Belastungsstörung (2 Personen) • psychosexu- keiten, problematische Unterstützungssituationen und eller Entwicklung mit unkritisch-distanzlosem Kontakt- auch Lücken in den Leistungen. verhalten • Verdacht auf Traumatisierung • Entwicklung Die Betroffenen haben in dieser Situation tatsächlich das einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung und Gefühl, „verloren zu sein“. möglicherweise dazu noch Lernbeeinträchtigung oder In der folgenden Grafik zeige ich drei Ursachen auf, die sog. geistiger Behinderung. meiner Meinung nach besonders wirkmächtig sind: Wie kann man bei einer solchen Symptomatik eindeu- Zuordnungslogik der Gesetze: tig unterscheiden, was denn nun geistige und seelische SGB VIII – SGB IX, SGB IX – SGB XI Behinderung oder ein erzieherischer Bedarf ist – in der Realität hält doch diese Kategorisierung nicht. Umsetzungslogik unterschiedlicher Reha-Träger Eingliederungshilfe und Pflege Gleich oder ähnlich schwierig ist die Abgrenzung von Eingliederungshilfe und Pflege durch das SGB XI, das die Heimaufsicht (Ordnungsrecht) im Widerspruch zur Idee des SGB IX Pflege von Menschen mit Behinderungen nach der Richt- linie der GKV-Spitzenverbände durch ein sehr diffiziles Fehlende barrierefreie Wohnungen, fehlendes Personal Zuordnungsverfahren bestimmt: Gemein- Ambulante Ambulante Eigene schaftliche Wohngemein- Wohngemein- Wohnung Ursache Nr. 1: Wohnform schaft schaft (nicht alle Gefahr von Lücken durch Zuordnungslogik per Gesetz (alle Vorausset- (nicht alle Vorausset- (nicht alle Vorausset- Voraussetzungen liegen vor) zungen liegen vor) zungen liegen vor) zungen liegen vor) Für diese „Fallen“ und „Lücken“ im System gibt es ver- Zweck des schiedene Ursachen: In zwei Bereichen ist die Zuordnung Zweck der Zweck der Zweck der Wohnens ist Eingliederungs- Eingliederungs- Eingliederungs- der Leistungen seit vielen Jahren höchst umstritten und hilfe hilfe hilfe nicht vorrangig EGH führt immer wieder zu Diskussionen und Leistungslücken: • Eingliederungshilfe und Jugendhilfe WBVG WBVG WBVG WBVG wird wird nicht wird wird nicht • Eingliederungshilfe und Pflege angewendet angewendet angewendet angewendet Eingliederungshilfe und Jugendhilfe Umfang der Versorgung Umfang der Versorgung Umfang der Versorgung ent- Umfang der Versorgung ent- In meinem Alltag erlebe ich immer wieder die zermürb- entspricht einer vollstationären entspricht einer vollstationären spricht nicht einer vollstationären spricht nicht einer vollstationären ten Eltern, Erzieher*innen und Lehrer*innen, die es nicht Einrichtung Einrichtung Einrichtung Einrichtung verstehen können, warum bestimmte Hilfebedarfe der EGH + EGH + EGH + EGH + Kinder gar nicht bei der Leistungsbemessung berücksich- §43a SGB XI SGB XI SGB XI SGB XI tigt werden.
4 Je nach Wohnform besteht die volle Leistungspflicht der Die folgende Übersicht gibt einen guten Eindruck von Pflegekasse oder nur eine pauschale Abgeltung. der Vielzahl der Reha-Träger: Schon die Antragstellung und Teilhabeplanung ist kom- pliziert, die Prüfverfahren aufwendig und die Gefahr von Träger der Leistungslücken ist groß. Leistungen zur Leistungen zur Also: warum das Ganze? Teilhabe medizi- Teilhabe Unterhalts- Teilhabe sozialen In der Präambel der Richtlinien der GKV vom November (Rehabilita- nischen am sicherung an Teilhabe 2019 kann man lesen: „Es soll sichergestellt werden, dass tionsträger) Rehabili- Arbeits- und Bildung nach § 6 SGB IX tation platz Ergänzung eine Weiterentwicklung der Versorgungskonzepte für Menschen mit Behinderungen unter der Neuausrichtung Gesetzliche der Eingliederungshilfe ermöglicht wird, ohne dass dies Krankenkassen andererseits zu ungewollten Lastenverschiebungen zwi- Bundesagentur schen Pflegeversicherung und der Eingliederungshilfe für Arbeit führt.“11 Immer wenn im Blick auf Menschen mit Behinderungen Gesetzliche Unfall- von Lasten gesprochen wird, werde ich hellhörig und un- versicherung willig. Gesetzliche Renten- Ursache Nr. 2: versicherung Gefahr von Lücken durch Vielfalt der Reha-Träger Beispiel Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben: SGB IX Träger der Kriegsopfer- versorgung und Warum gibt es so wenige Übergänge von Menschen mit Kriegsopfer- fürsorge Behinderungen aus den Berufsbildungsbereichen und der Werkstatt auf den ersten Arbeitsmarkt? Gibt es da Hür- Träger der den oder Lücken im System? Jugendhilfe Ich zitiere dazu aus einer internen Stellungnahme der zu- Träger der ständigen Mitarbeiterin in der Diakonie Stetten: Eingliederungs- In einem internen Entwurf eines Arbeitspapiers des hilfe Deutschen Vereins12 heißt es: „Trotz der vielfältigen beruf- lichen Rehabilitationsleistungen ist der Zugang zum Ar- beitsmarkt und zu einer Beschäftigungssituation immer Versuche und Projekte einzelner Mitglieder des Brüsseler noch durch hohe Hürden gekennzeichnet. Das Reha- Kreises, die hier eine stärkere Verzahnung vorsehen, sto- bilitationssystem weist insbesondere dann Lücken auf, ßen auf Vorbehalte der Bundesagentur für Arbeit13 und wenn nacheinander verschiedene Leistungsträger zustän- wegen der Zweckbindung von Förderungen sowie steu- dig sind. Zudem wird der Schritt auf den allgemeinen Ar- errechtlicher Bestimmungen gibt es auch Vorbehalte der beitsmarkt teilweise noch immer durch zu beobachtende Eingliederungshilfeträger. Kooperationsmängel in der Zusammenarbeit der betei- Das SGB IX betont, wie wichtig es ist, dass der Antrag- ligten Akteure der Teilhabe an Arbeit vor dem Hinter- steller Leistungen „wie aus einer Hand“ bekommt und grund des gegliederten Systems der sozialen Sicherung die Zusammenarbeit der beteiligten Rehabilitationsträger erschwert.“ nahtlos im Hintergrund zu passieren habe. In der Verbesserung des Zusammenwirkens und der Ver- einfachung könnte ein Baustein für eine Verbesserung der Übergangszahlen liegen, um Hürden, die durch die Akteure des Hilfesystems aufgerichtet werden, abzubau- en.14 Auch dann bleibt es angesichts der Komplexität, Dynamik und der Regularien des Arbeitsmarktes immer noch eine große Herausforderung, Menschen mit schwe- ren und mehrfachen Behinderungen eine Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen, die es ihnen erlaubt, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.
5 Ursache Nr. 3: Aber auch in anderen Bereichen in unseren Einrichtungen Gefahr von Lücken durch Rahmenbedingungen erleben wir zunehmend, wie schwer es ist, Mitarbeiten- und regionale Besonderheiten de zu finden, insbesondere dann, wenn sie körperliche Damit komme ich nach den Abgrenzungen durch unter- Angriffe zu erwarten haben oder in Situationen kom- schiedliche Gesetze und den befürchteten und erlebten men, die sie psychisch in große Problematiken bringen. Vollzugsdefiziten zur dritten Ursache, den Rahmenbedin- gungen und regionalen Besonderheiten. Drei Ansätze zur Überbrückung 3.1 Ordnungsrecht, regionale und individuelle Auslegung Regelungsbereiche der Sozialgesetzbücher Drei Beispiele aus der Praxis: VIII – IX – XI konsequent zusammenführen • In einem Haus, in dem überwiegend Menschen mit Be- Ein notwendiger Schritt zur Vermeidung von Leistungs- hinderungen wohnen, die im Rahmen der Eingliede- lücken, Definitionsproblemen, „Verschiebebahnhöfen“ rungshilfe unterstützt werden, haben wir eine Nacht- und Antragsfrust wäre aus meiner Sicht die konsequente wache im Einsatz. Ein Gebäudetrakt ist im Zuständig- gesetzliche Anerkenntnis, dass Menschen mit Behinde- keitsbereich des SGB XI, unterliegt also den Pflegericht- rungen die gleichen Rechte und Ansprüche haben wie linien. Es ist nicht erlaubt, dass die Nachtwachen bei- alle anderen Bürger. Ein Kind ist ein Kind und Anspruch der Bereiche sich gegenseitig vertreten können. auf Pflegeleistungen hat jeder. Punkt. • Ein junger Mensch mit Behinderung, der 18 wird, aber Das SGB IX bestimmt im § 2: „Menschen mit Behinde- noch in die Schule geht, gilt – zumindest in Baden- rungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geis- Württemberg – als volljährig. Für das Wohnangebot tige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in heißt das: Er muss aus dem Kinder- und Jugendbereich Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten ausziehen, weil Volljährige und Minderjährige nicht in Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Ge- einer Wohngruppe zusammenleben dürfen. Da er aber sellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs noch Schüler ist, gelten für ihn ordnungsrechtlich wei- Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung (…) liegt terhin die Vorgaben des Jugendbereiches – also durch- vor, wenn der Körper und Gesundheitszustand von dem gängige Präsenz einer Fachkraft, 24 Stunden, 7 Tage für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.“ die Woche. Konsequent angewendet müsste demnach zunächst die • Eine Wohngemeinschaft von Menschen mit hohem typische Leistung, in diesem Fall Jugendhilfeleistung oder und weniger hohem Unterstützungsaufwand will eine Pflegeleistung, erbracht werden, um dann zusätzlich die Mietwohnung beziehen. Die örtliche Feuerwehr ver- behinderungsbedingten Nachteilsausgleiche und Teilha- langt, dass ein zweiter Fluchtweg ausgewiesen werden beleistungen zu erbringen. muss und das Mietshaus den Brandschutzvorschriften Die Sorge besteht, dass fehlende Konsequenz an die- einer Behindertenwohneirichtung gemäß ausgestattet ser Stelle zu Leistungslücken führt und zu dem von mir wird. schon mehrfach benannten Gefühl der Verlorenheit der Menschen, die sich in diesem „Dschungel“ zurechtfin- 3.2 Wohnungsmangel den müssen. Das Angebot, insbesondere von Wohnungen, die barrie- Die Mitgliedseinrichtungen des Brüsseler Kreises setzen refrei sind, gut vom öffentlichen Nahverkehr erschlossen, sich darum dafür ein, dass die ausschließlich fiskalisch zentral und teilhabeorientiert gelegen und bezahlbar bedingten Abgrenzungen und Leistungsausschlüsse zwi- durch das Wohngeld der Sozialhilfe, ist sehr überschaubar. schen SGB VIII und SGB IX sowie zwischen SGB IX und SGB XI aufgehoben werden. Das ist im Sinne der Men- 3.3 Personalknappheit schen, führt zu erheblicher Verwaltungsvereinfachung Das schon mehrfach zitierte Konzept der Josefs-Gesell- und entspricht der UN-BRK, dem Diskriminierungsverbot schaft15 kann seit zwei Jahren nicht umgesetzt werden, des Grundgesetzes sowie dem Impetus des SGB IX. weil sich keine Mitarbeiter*innen finden, die mit diesen sog. „Systemsprengern“ arbeiten wollen oder können. Umsetzung der gesetzlichen Der im Jahr 2020 mit dem Deutschen Filmpreis ausge- Koordinationsforderungen nachhalten zeichnete Film „Systemsprenger“ mit der unglaublich Richtig gut finde ich im SGB IX, dass dort die Nachhaltig- eindrucksvollen Darstellerin Helena Zengel lässt erahnen, keit der Regelungen überprüfbar gemacht wird.16 warum dies so ist. So müssen die Rehabilitationsträger in Zukunft Angaben zu Anzahl der Anträge, Verfahrensdauer, Weiterleitung,
6 Ablehnung und Rechtsbehelfen wie Widerspruch und meinschaften könnten die jeweiligen lokalen Rahmenbe- Klage nach einheitlichen Vorgaben erheben. Das ist eine dingungen positiv, konstruktiv und kooperativ bearbeitet neue Regelung und sie ermöglicht allen am Verfahren werden. Beteiligten, eine transparente, gemeinsame Information In diesen regionalen Arbeitsgemeinschaften wäre auch darüber zu erhalten, wie wirksam das Gesetz ist. die Mitwirkung der jeweiligen Bundestagsabgeordneten Tatsächlich liegt der erste derartige Teilhabeverfahrens- hilfreich. bericht für 2019 vor.17 Ich bin sicher, dass viele Mitglieder des Brüsseler Kreises Auch wenn die Daten noch nicht vollständig sind und in ihren jeweiligen Regionen solche regionalen Arbeits- damit für 2019 einen begrenzten Aussagewert haben, gemeinschaften unterstützen würden. Das könnte ja so haben wir nun eine gemeinsame Datengrundlage zur nachher in den Gesprächen zumindest unter den Anwe- Diskussion der Wirksamkeit des Gesetzes. Insbesondere senden verabredet werden, an diesem Punkt in ihren je- können wir z. B. erkennen, ob die Kooperation der Reha- weiligen Regionen initiativ zu werden. Eine Unterstüt- bilitationsträger funktioniert, ob Anträge zügig bearbei- zung durch unsere jeweiligen Bundestagsabgeordneten tet werden und wie viel Klärungsbedarf durch Gerichte würde das Anliegen, „die volle, wirksame und gleich- besteht. Allerdings: Es muss natürlich auch angeschaut berechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“ von und ausgewertet werden, und da sehe ich uns gemein- Menschen mit Behinderungen, deutlich bestärken. sam in der Verantwortung. Zusätzlich schlägt der Brüsseler Kreis vor, diesen Teilha- bebericht noch durch eine regelmäßige „Kundenbe- Schluss fragung“ zu ergänzen, denn es ist eine Sache, wenn Die Bewältigung der Corona-Pandemie zeigt, wie hand- Behörden und Institutionen sich selbst beurteilen und lungsfähig Politiker sind, wenn die Herausforderung sehr statistische Daten weitergeben, eine andere Sache aber groß ist. ist, wie denn diese Verfahren erlebt werden. Die Fragen, mit denen ich mich in diesem Vortrag be- schäftigt habe, sind daneben weit weniger dramatisch. Regionale Arbeitsgemeinschaften initiieren Dennoch können wir als Akteure im Rahmen des Föde- und wirksam machen ralismus und des gegliederten Rehabilitationssystems es Für den Menschen, der eine Unterstützungsleistung schaffen, die Rahmenbedingungen für benachteiligte braucht, ist es vor allem wichtig, dass diese Leistung ihn und beeinträchtigte Menschen in unserem Einflussbe- wirksam unterstützt. Welches Gesetzbuch ihm Ansprü- reich zu verbessern. che zuspricht, welche Rehabilitationsträger sich dazu ko- Nicht immer müssen wir die Welt retten, aber immer ordinieren müssen und welche Vorarbeiten dazu nötig können wir sie ein Stück besser machen. sind, interessiert ihn genauso wenig, wie es ihn interes- Wir sind keine Nörgler und Meckerer, keine Idealisten sieren muss, welche Produktions- und Lieferketten hinter und Traumtänzer, sondern wir sind diejenigen, die ver- dem Handy stecken, das er sich kauft. antwortlich und nachhaltig die Angebote auch tatsäch- Gleichwohl braucht es diese Koordination und Produkt- lich konzeptionieren und umsetzen können. ion bis zur Leistung. Im schlechtesten Fall wird er von ei- ner Institution zur nächsten geschickt, mehrfach begut- Drei konkrete Vorschläge stehen im Raum und achtet und kann sich am Ende noch vor Gericht darüber wir könnten alle, morgen früh mit der Umsetzung auseinandersetzen, ob das, was er bekommt, auch das beginnen: ist, was er braucht. 1. Die Ausrichtung der Sozialgesetzbücher VIII, IX und XI Darum begrüßt der Brüsseler Kreis, dass in § 96 Abs. 3 an den tatsächlichen Menschen mit ihren Bedarfen und SGB IX geregelt wird: „Ist die Beratung und Sicherung nicht an finanziellen Ängsten und Sorgen der Rehabilita- der gleichmäßigen, gemeinsamen oder ergänzenden tionsträger. Erbringung von Leistungen geboten, sollen zu diesem 2. Die Nutzung des Teilhabeverfahrensberichtes zur re- Zweck Arbeitsgemeinschaften gebildet werden.“ Und gionalen Evaluation und Steuerung und seine Ergän- zwar gilt das für alle „Stellen, deren Aufgabe die Lebens- zung durch Klientenbefragungen. situation von Menschen mit Behinderungen betrifft“ 3. Die Bildung von regionalen Arbeitsgemeinschaften (§ 96 Abs. 1 SGB IX). aller derjenigen, deren Anliegen die Verbesserung der Der Brüsseler Kreis hält die Bildung von regionalen Ar- Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen ist, beitsgemeinschaften für ein Instrument, dessen Einfüh- damit Lücken gemeinsam überbrückt werden. rung sich lohnen würde. In diesen regionalen Arbeitsge-
7 1 Eine Erfahrung, die mir persönlich immer wieder von Angehörigen 13 Beispiele: Josefs-Gesellschaft Köln, Konzept Arbeitsförderungs- berichtet wird. So auch Florian Jänicke in: DIE ZEIT MAGAZIN, zentrum mit Verknüpfung von BBB und BvB; Diakonie Stetten, 1/2020: „Florian Jaenicke: Ein glücklicher Mensch“: „Was aber Konzept „Campus“. Die Bundesagentur für Arbeit beharrt auf der alle Menschen, die sich um behinderte Menschen kümmern, „unvermischten“ Nutzung von Räumen und der eindeutigen Zu- kritisieren, ist die Bürokratie. Jede Woche müssen Anträge gestellt, ordnung von Fachkräften, also trennscharfen Abgrenzungen. Formulare ausgefüllt, Rezepte angefordert, Termine mit Reha-Aus- 14 Mein Kollege Michael Bartels hat dies im letzten Jahr im Blick dar- stattern, Ärzten und Therapeuten koordiniert werden. Das ist auf analysiert, dass dies ein Glaubwürdigkeitsthema der Politik und kräftezehrend. Manchmal führt es dazu, dass Familien auf Hilfen der Institutionen ist: „Die Zukunft der Demokratie und der in ihr verzichten, weil sie zu erschöpft sind, um den Aufwand auf sich wirkenden Institutionen und Organisationen wird wesentlich da- zu nehmen. Oder schlimmer noch, dass Krankheiten erst entste- von abhängen, ob und wie für die Bürgerinnen und Bürger die hen, weil die Genehmigungsverfahren so lange dauern.“ Wirkungszusammenhänge zwischen Deklaration und Realisation 2 Vor allem § 25 SGB IX. erkennbar sind. … Das Entscheidende ist und bleibt jedoch die Wirk- 3 Sehr gut und knapp formuliert eine Handreichung der Diakonie samkeit der Werte, der ‚Sitz im Leben‘ – und nicht die Theorie!“ Mitteldeutschland den inhaltlichen und sachbedingten Unterschied: 15 Konzeption für junge Menschen mit stark ausgeprägten Verhal- „Eingliederungshilfe und Pflege haben grundsätzlich unterschiedliche tensauffälligkeiten. Ein Gemeinschaftsvorhaben des Evangelischen Aufgaben. Die Aufgabe der Eingliederungshilfe ist die Förderung Johannesstifts Behindertenhilfe und Jugendhilfe, der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe am Leben Berlin, August 2017. in der Gesellschaft. Die Aufgabe der Pflege hingegen ist die perso- 16 § 41 SGB IX. nelle (pflegerische) Hilfe im Umgang mit den Folgen von Krankheit 17 https://www.bar-frankfurt.de/fileadmin/dateiliste/THVB/1_ und Behinderung zur Stärkung der Selbstständigkeit des Pflegebe- Teilhabeverfahrensbericht_2019.pdf, Aufruf am 14.05.2020. dürftigen“ (vgl. Handreichung der Diakonie Mitteldeutschland, S. 6). 4 https://www-genesis.destatis.de/genesis/online?operation= previous&levelindex=3&step=3&titel=Ergebnis&levelid=15890328 48315&acceptscookies=false, Aufruf am 09.05.2020. Davon werden 2.594.862 Personen zu Hause versorgt! 5 https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Soziales/ Sozialhilfe/Tabellen/liste-insg-altersgruppen.html, Aufruf am 09.05.2020. 6 Beispiele dafür sind: Selbstbeteiligung des mittellosen Pflegebedürf- tigen über die Leistungen der Pflegeversicherung hinaus, Leistungen zur Pflegevermeidung, Aufwendungen für Pflegepersonen, das sog. Rest-Pflegegeld oder die Kosten für eine selbst eingestellte Pflege- kraft. Siehe dazu die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages: „Das Verhältnis von Leistungen zur Pflege nach dem SGB XI gegenüber Leistungen nach dem SGB XII und dem SGB IX“, 30.08.2011, https://www.bundestag.de/resource/blob/ 410844/4b4c2398f2a40827664ac7608c2a1523/ WD-9-083-11- pdf-data.pdf, Aufruf am 09.05.2020. Impressum 7 § 43a SGB XI. Herausgeber: 8 https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Soziales/ Brüsseler Kreis e. V. Sozialhilfe/Tabellen/liste-insg-altersgruppen.html, Geschäftsstelle Alsterdorfer Markt 11, 22297 Hamburg Aufruf am 09.05.2020. www.bruesseler-kreis.de 9 https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Soziales/ Sozialhilfe/Tabellen/liste-insg-altersgruppen.html, Text und Redaktion: Aufruf am 09.05.2020. Dr. Michael Bartels 10 BAGüS: Kennzahlenvergleich Eingliederungshilfe der überörtlichen Vorsteher Pommerscher Diakonieverein e.V. Träger der Sozialhilfe 2017. Rainer Hinzen 11 Richtlinie der GKV-Spitzenverbände vom November 2019, Seite 2. Vorstandsvorsitzender Diakonie Stetten e.V. 12 Fachausschuss Rehabilitation und Teilhabe, Arbeitsentwurf aus der 65. Sitzung am 24. Oktober 2019, Berlin. Stand: August 2020
Brüsseler Kreis e.V Geschäftsstelle Alsterdorfer Markt 11 22297 Hamburg www.bruesseler-kreis.de
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