Fahrpreissenkungen im SPFV als wirksame Maßnahme zur Verkehrsverlagerung?
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POLITIK Wissenschaft Fahrpreissenkungen im SPFV als wirksame Maßnahme zur Verkehrsverlagerung? Analyse der Nachfrageffekte reduzierter Ticketpreise im Schienenpersonenfernverkehr Klimapolitik, Schienenpersonenfernverkehr, Fahrpreissenkungen, Verkehrsverlagerung Die negative Bilanz der Treibhausgas-Emissionen im Verkehrssektor zwingt die deutsche Bundesregierung zu Maßnahmen, die unter anderem auch eine Förderung des Schienen- personenfernverkehrs (SPFV) vorsehen. Mit dem im September 2019 beschlossenen Klimapaket wurde eine Absenkung des Umsatzsteuersatzes auf Fernverkehrsfahrkarten angekündigt, die eine Reduzierung von Brutto-Fahrpreisen um etwa 10 % zur Folge haben wird. Während eine Steigerung der Fahrgastzahlen der DB Fernverkehr AG in der Vergangenheit maßgeblich durch die Ausweitung des Sparpreis-Angebotes induziert wurde, stellt sich die Frage, inwiefern eine weitere Absenkung des Preisniveaus zu einer signifikanten Verkehrsverlagerung beitragen kann. Fabian Stoll, Bastian Kogel, Nils Nießen D ie Verminderung von Treibhausgasen stellt weise die Erhebung einer Maut im Straßengüterverkehr seit Jahrzehnten eine umweltpolitische Ziel- zu weniger Straßentransporten bei. Auch die finanzielle vorstellung der Bundesregierung dar. Den- Förderung elektrischer Personenkraftwagen führte noch gelang es in Deutschland in den letzten nicht zu einem signifikanten Rückgang der CO2-Emissi- Jahren nicht, die Emissionen sektorenübergreifend sig- onen. Die Bundesregierung setzt auch in Zukunft ver- nifikant zu senken. Berechnungen des Umweltbundes- stärkt auf finanzielle Anreize, um Verhaltensänderungen amtes zufolge stiegen die jährlichen Treibhausgasemis- hinsichtlich der Verkehrsmittelnutzung herbeizuführen. sionen im Zeitraum 2014 bis 2016 um insgesamt 6 Mio. t So wurde im Rahmen des Klimaschutzprogramms der auf insgesamt 909 Mio. t CO2-Äquivalente an. Insbeson- Bundesregierung [2] angekündigt, Fernverkehrsfahrkar- dere vier Sektoren – Energiewirtschaft, Verkehr, verar- ten ab 1. Januar 2020 mit einem reduzierten Steuersatz beitendes Gewerbe und Landwirtschaft – sind hauptver- von 7 % zu besteuern. Bislang galt ein Umsatzsteuersatz antwortlich für diese Negativentwicklung. Seit dem Jahr in Höhe von 19 %. Für PKW-Nutzer wurde im Gegenzug 2000 waren in diesen Sektoren kaum Emissionsredukti- eine Verteuerung des Benzin- und Dieselpreises durch onen möglich (Bild 1). Auf den Verkehrssektor fielen da- die beabsichtigte CO2-Bepreisung angekündigt, die je- bei 2016 ca. 18 % der gesamten Treibhausgasemissionen doch frühestens ab 2021 in Kraft tritt und bis ins Jahr in Deutschland [1]. 2025 einen einstelligen Cent-Betrag je Liter umfassen Die steigenden Emissionen des Verkehrssektors zei- wird. Da der Umfang dieser Preisanhebung aus Verbrau- gen, dass die in der Vergangenheit beschlossenen Klima- chersicht zunächst kaum wahrnehmbar wäre, erscheint schutzmaßnahmen nicht ausreichend waren. So konnte allein hierdurch eine nachhaltige Verhaltensänderung weder eine deutliche Verkehrsverlagerung von der Stra- fragwürdig. ße auf die emissionsarmen Verkehrsträger Schiene und Eine Reduktion der Umsatzsteuer auf Fernverkehrs- Binnenschifffahrt erreicht werden, noch trug beispiels- fahrkarten wird damit begründet, dass das Bahnfahren im Vergleich zu Flugreisen günstiger gestaltet werden PEER REVIEW – BEGUTACHTET müsste, um einen Anreiz für klimagerechtere Verkehrs- mittelwahlentscheidungen zu schaffen. Im Dezember Eingereicht: 19.12.2019 2019 gab Dr. Richard Lutz, Vorstandsvorsitzender der Endfassung: 13.01.2020 Deutschen Bahn AG, eine DB-interne Prognose bekannt, 18 Internationales Verkehrswesen (72) 1 | 2020
Wissenschaft POLITIK demnach allein aufgrund der Absenkung der Umsatz- steuer und der damit verbundenen Reduktion der Brut- to-Fahrpreise um ca. 10 % mit einer Fahrgastzunahme von etwa fünf Millionen Fahrgästen jährlich (d. h. einem Nachfrageplus von ca. 3 %) gerechnet wird [3]. Aus ver- kehrswissenschaftlicher Sicht stellt sich die Frage, ob eine Nachfragesteigerung in dieser Größenordnung plausibel ist und ob diese mit einer signifikanten Ver- kehrsverlagerung vom Straßen- und Luftverkehr auf den SPFV einhergeht. Entwicklung der Verkehrsnachfrage und des Fahrpreisniveaus im Schienenpersonenfern- verkehr Bild 1: Indexreihe jährliche Treibhausgas-Emissionen in Mio. t CO2-Äquivalente in Das quasi als Monopolist auftretende Eisenbahn-Fern- Deutschland nach Sektoren Eigene Darstellung nach [1] verkehrsunternehmen DB Fernverkehr AG verzeichnet insbesondere in den vergangenen vier Jahren eine starke Zunahme der Fahrgastzahlen. Zuvor waren bis ins Jahr 2004 noch abnehmende Fahrgastzahlen zu beobachten, während in den Folgejahren zwar ein Aufwärtstrend er- kennbar war, der jedoch Schwankungen in beide Rich- tungen unterlag. Die zuletzt stark steigende Fahrgast- entwicklung führte dazu, dass die Verkehrsnachfrage 2018 mit 147,2 Mio. Reisenden [4] wieder derjenigen des Jahres 2000 entspricht bzw. diese sogar übertrifft. Be- merkenswert ist dabei, dass die Betriebsleistung im SPFV trotz der deutlichen Erhöhung der Fahrgastzahlen Bild 2: Indexreihe jährliche Fahrgäste und Betriebsleistung im Fernverkehr der in den letzten Jahren mit 142,2 Mio. Trassenkilometern Deutschen Bahn AG [4] beinahe unverändert blieb (Bild 2). Eigene Darstellung auf Basis von Geschäftsberichten der DB Fernverkehr AG für 2000–2018 Den zentralen Erfolgsfaktor der zuletzt steigenden Fahrgastnachfrage im SPFV stellt eine verbesserte Aus- Bild 3: Modal Split lastungssteuerung der Fernverkehrszüge dar, die sich in (% der Reisewege steigenden Reisendenzahlen je Zug ausdrückt. So stieg 101–500 km) im deutschen die mittlere Anzahl an Reisenden je Zug und Kilometer Reiseverkehr nach von 2014 bis 2018 um 18 % und liegt bei ca. 300 Personen MiD 2017 (eigene Berechnungen auf Basis von Geschäftsberichten Eigene Darstellung der DB Fernverkehr AG). Ermöglicht wurde dieser Ef- fekt durch eine entschiedene Sparpreispolitik mit Prei- sen ab 19,90 EUR je Relation, ungeachtet der Tatsache, dass nicht rabattierte Fahrkarten (Flexpreise) weiterhin auf einem hohen Preisniveau verblieben. Die Attraktivi- tät stark rabattierter Fahrkarten für den Endkunden wird in mehreren Presseberichten bestätigt. So ließ Bahn-Personenverkehrsvorstand Berthold Huber 2018 verlauten, dass 50 % der Fahrgäste einen BahnCard-Ra- batt, z. T. in Kombination mit Sparpreisen, nutzen, wei- Zwar folgt die Fahrgastnachfrage im SPFV derzeit ei- tere 30 % zum Sparpreis fahren, während lediglich 20 % nem erkennbar positiven Trend, doch darf diese Ent- den vollen Fahrpreis (Flexpreis) entrichten [5]. Ähnliche wicklung nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Ver- Ergebnisse wurden in einer Befragungsreihe unter Nut- kehrsverlagerung von der Straße auf die Schiene nicht zern des deutschen SPFV erzielt: Der Anteil der Spar- oder nur in sehr geringem Umfang erfolgt ist. Nur etwa preisnutzer stieg von 26 % im Jahr 2014 auf 32 % in 2016, 20 % der Reisen mit einer Reiselänge zwischen 101 und während der Anteil der Flexpreisnutzer (mit und ohne 500 km wurden entsprechend der repräsentativen Erhe- BahnCard-Ermäßigung) im gleichen Zeitraum von 36 % bung „Mobilität in Deutschland“ (MiD) 2017 im SPFV auf 24 % sank [6]. zurückgelegt (Bild 3) [7]. In der Erhebung neun Jahre zu- Die Entwicklung hin zu einem komplexen Fahrpreis- vor konnte sogar ein geringfügig höherer Wert (22 %) er- gefüge hat zwar zu einem Verfall des mittleren Fahrtent- mittelt werden [8]. Eine für umweltpolitische Fragestel- geltes je Fahrgast geführt, generiert in Summe jedoch lungen relevantere Messgröße, die Entwicklung der Per- bedeutende Mehrerlöse. So stieg der Erlös aus Fahrtent- sonenverkehrsleistung je Fernverkehrsmittel, lässt sich gelten je Zugkilometer im Zeitraum 2014 bis 2018 um aufgrund der im PKW-Verkehr fehlenden Differenzie- 14 % (eigene Berechnungen auf Basis von Geschäftsbe- rung nach Nah- und Fernverkehr nicht anführen. Ange- richten der DB Fernverkehr AG) und bestätigt somit die sichts eines noch immer ansteigenden PKW-Bestandes These, dass eine steigende Fahrzeugauslastung die Wirt- [9] und einer hiermit verbundenen Zunahme der absolu- schaftlichkeit des Betriebes positiv beeinflusst. ten PKW-Fahrleistung [10] ist jedoch davon auszugehen, Internationales Verkehrswesen (72) 1 | 2020 19
POLITIK Wissenschaft Bild 4: Gründe für die Nutzung der Fernbahn auf Basis von Befragungen Eigene Darstellung nach [9] und [10]) dass keine wesentliche Verlagerung der Personenver- Bei Reiseweiten ab ca. 500 km ergibt sich eine im in- kehrsleistung vom PKW auf die Fernbahn erfolgt ist. nerdeutschen Fernreiseverkehr von Jahr zu Jahr ver- schärfende Konkurrenzsituation zwischen Bahn- und Einflussgrößen auf die Verkehrsmittelwahl im Flugangeboten, wie auch in der Begründung des Klima- Personenfernverkehr paketes der Bundesregierung thematisiert wurde. Einer In Anbetracht der anhaltenden Dominanz des PKW-Ver- Befragung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verkehrs- kehrs sowie der wachsenden Konkurrenz des Flugver- flughäfen (ADV) zufolge sind die Angebotseigenschaften kehrs im Vergleich zum SPFV sind die relevanten Ein- Reisedauer, Abflugzeit und Preis die bedeutsamsten Ent- flussgrößen der Verkehrsmittelwahl für die einzelnen scheidungskriterien für innerdeutsche Flugreisende Verkehrsmittel zu betrachten. (Bild 5) [14]. Allerdings geben 63 % der Befragten an, im In Entfernungsbereichen bis 500 km erreicht der Landverkehr keine Alternative zum gewählten Flug vor- Flugverkehr noch keine signifikanten Marktanteile, so gefunden zu haben, sodass sich die Frage stellt, ob die dass der PKW-Verkehr die Hauptkonkurrenz des SPFV bestehenden Erwartungen an ein Fernbahnangebot hin- darstellt. In einer statistisch nicht repräsentativen On- sichtlich der gewünschten Reisezeit überhaupt realisier- line-Studie des Marktforschungsinstitutes Innofact im bar sind. 55 % der Befragten, die Landverkehrsmittel Auftrag des Fernverkehrsfahrkarten-Anbieters Trainline grundsätzlich in Erwägung gezogen haben, trafen ihre wurden im Jahr 2016 Bahnreisende nach ihrem wich- Flugentscheidung aufgrund von Reisezeitgewinnen. tigsten Beweggrund für die Wahl der Fernbahn befragt [11]. Die häufigsten Nennungen waren angenehme Ab- Konzeption eines Verkehrsmittelwahlmodells fahrtszeiten und Umsteigefreiheit („gute Verbindung“), für den Personenfernverkehr der Fahrkartenpreis sowie Pünktlichkeit ( je über 20 % In der Gesamtschau der genannten Befragungsergebnis- der Nennungen), während die Aspekte Ruhe und Kom- se lassen sich vielfältige und teils widersprüchliche Er- fort (ca. 12 %) oder Bordgastronomie (ca. 7 %) verhältnis- kenntnisse hinsichtlich der Priorisierung von Gründen mäßig selten genannt wurden. Die Ergebnisse wider- für oder gegen die Nutzung einzelner Fernverkehrsmit- sprechen größtenteils den Antworten von Bahnreisen- tel ableiten. Erschwerend ist davon auszugehen, dass den, die im Jahr 2018 durch den Verkehrsclub Deutsch- sich eine Prioritätenfolge u. a. in Abhängigkeit der Reise- land (VCD) befragt wurden [12]. Zwar stand hier nicht weite und des Fahrtzweckes unterscheidet. Eine ent- der wichtigste Beweggrund für eine Bahnreise im Vor- sprechende Differenzierung geht aus den vorliegenden dergrund, sondern die Erhebung allgemeiner Gründe Daten jedoch nicht hervor. (Mehrfachnennungen möglich), was die Vergleichbar- Das Verkehrswissenschaftliche Institut der RWTH keit der Studienergebnisse erschwert, doch ist auffällig, Aachen (VIA) hat bereits vor einigen Jahren im Rahmen dass das Kriterium Fahrkomfort am häufigsten genannt einer Dissertation [15] ein realitätsnahes Modell für die wurde (ca. 46 %). Weitere, häufig genannte Kriterien wa- Prognose der Verkehrsmittelwahl im Personenfernver- ren der Fahrpreis, die (individuell nutzbare) Reisezeit, kehr entwickelt (so genanntes VIA-Fernverkehrsmo- der Mangel an alternativen Reisemöglichkeiten ( je ca. dell). Eine Anforderung an ein solches Modell war es, 32 bis 35 %), Umweltverträglichkeit (ca. 27 %), einfacher den Algorithmus zur Verkehrsaufteilung auf die Wahlal- Zugang (ca. 19 %) und Flexibilität beim Reisen (ca. 14 %). ternativen PKW, Fernbahn, Flugzeug und Fernbus nicht Ebenfalls durch den VCD wurden 2014 in statistisch nur durch stochastische Optimierung der Output-Varia- nicht repräsentativer Weise Beweggründe für die Nut- ble Modal Split zu begründen, sondern Verkehrsmittel- zung des PKW im Reiseverkehr abgefragt (Bild 5) [13]. wahlentscheidungen möglichst erklärbar im Hinblick Von beinahe allen befragten Autofahrern wurden die auf die Bedeutung einzelner Entscheidungsgrößen (z. B. Kriterien Erreichbarkeit von Orten, Flexibilität der Nut- Reisezeiten, Nutzungsbereitschaft, Kosten, Preissensibi- zung und Einfachheit der Planung ( je ca. 90 %) genannt, lität, Komplexität der Reisekette etc.) abzubilden (Tabel- sodass davon auszugehen ist, dass diese Kriterien zentra- le 1). Diese Vorgehensweise hat sich bereits bei einem le Vorteile der PKW-Nutzung im Vergleich zu der Nut- seit den 1990er Jahren am VIA eingesetzten Verkehrs- zung öffentlicher Verkehrsangebote darstellen. mittelwahlmodell für den Nahverkehr etabliert [16]. 20 Internationales Verkehrswesen (72) 1 | 2020
Wissenschaft POLITIK Bild 5: Gründe für die Nutzung des PKW und des Flugzeugs auf Basis von Befragungen Eigene Darstellungen nach [11, 12] Um einzelne Maßnahmen zur Veränderung eines Personenbezogene Verkehrsmittelbezogene Verkehrsangebotes bewerten zu können, wird die ge- Entscheidungsgrößen Entscheidungsgrößen samte, für eine spezifische Quell-Ziel-Relation typische Preissensibilität Zu-, Abgangs-, Umsteige- und (u. a. einkommensabhängig) Beförderungszeiten Reisekette für jede der vier Wahlalternativen in einzelne Elemente zerlegt. Das Fernverkehrsmodell berücksich- Nutzungsbereitschaft Nutzbarkeit der Beförderungszeit (u. a. fahrtzweckabhängig) tigt hierbei eine Reihe von relationsspezifischen Ein- gangsgrößen, z. B. alle relevanten Zeitaufwände im Fall Reiseweite Angebotsfrequenz des ÖV (fahr-/flugplanabhängig) einer Nutzung des SPFV (z. B. Zugangs-, Abgangs-, Um- Wohnort Kosten (u. a. fahrtzweckabhängig) steige- und Beförderungszeiten), und gewichtet diese fahrtzweckspezifisch. So wird im Modell beispielsweise Komfort unterstellt, dass längere Reisezeiten im Geschäftsreise- Tabelle 1: Entscheidungsgrößen für die Verkehrsmittelwahl im VIA-Fernverkehrs verkehr grundsätzlich kritischer beurteilt werden als im modell Eigene Darstellung Fall von Privat- oder Urlaubsreisen. Der im Fernreise- verkehr typischerweise hohe Anteil an kategorischen Nichtnutzern der Fernbahn, welcher selbst im Fall be- verkehrsrelationen (München – Bremen und Frankfurt deutender Verbesserungen des Bahnangebots als wenig – Basel) untersucht, wobei Quell- und Zielzellen der Ver- beeinflussbar gilt (vgl. [17]), wird im Modell durch eine kehre jeweils im innerstädtischen Bereich liegen. We- entsprechend positive Bewertung der Fahrtdauer im sentliche Kriterien zur Auswahl der zu untersuchenden PKW berücksichtigt. Die Gewichtung aller Entschei- Relationen stellten attraktive Reisezeiten des SPFV ge- dungsgrößen mündet in eine Berechnung so genannter genüber dem PKW sowie ein tägliches Angebot an Di- Verkehrswiderstände: Je beschwerlicher eine Reise an- rektflügen zwischen den Destinationen dar. Die beiden mutet, desto höher ist der resultierende verkehrsmittel- Relationen wurden auch aufgrund der sich deutlich un- spezifische Gesamtwiderstand. Werden die Gesamtwi- terscheidenden Reiseweiten ausgewählt (Tabelle 2). In- derstände der einzelnen Wahlalternativen zueinander in folgedessen kann von einer starken Divergenz hinsicht- Relation gesetzt, ergibt sich der Modal Split auf der un- lich der Attraktivität des Flugzeuges (attraktiver auf der tersuchten Relation. längeren Distanz) und des Fernbusses (attraktiver auf der kürzeren Distanz) ausgegangen werden. Bei der Berechnung des Modal Splits auf zwei bahnaf- Fernbahn wird mit dem angebotenen Stundentakt auf finen Beispielrelationen des Fernreiseverkehrs beiden Relationen auch in Bezug auf die Fahrtenhäufig- Die zum 1. Januar 2020 umgesetzte Reduzierung der keit ein solides Grundangebot bereitgestellt. Es handelt Fahrpreise im SPFV stellt eine aktuelle Fragestellung sich mit Ausnahme des Streckenabschnittes Hannover – dar, die den Einsatz des VIA-Fernverkehrsmodells nahe- Bremen um äußerst nachgefragte Verbindungen im legt. Zu diesem Zweck wurden zwei beispielhafte Fern- deutschen SPFV-Netz, wobei das weniger befahrene Internationales Verkehrswesen (72) 1 | 2020 21
POLITIK Wissenschaft Teilstück nach Bremen in die Untersuchung einbezogen bahn anstelle des PKW und aufgrund eines relativ dich- wurde, um die Auswirkungen eines Umsteigevorgangs ten Fahrplanangebots (60-Minuten-Takt) bereits eine zwischen Fernverkehrszügen in das Modellergebnis ein- hohe Bahnaffinität auf. Die Modellergebnisse zeigen, fließen zu lassen. dass ein gutes Drittel der Geschäftsreisenden (36,8 %) die Das VIA-Fernverkehrsmodell wurde sowohl für Ge- Fernbahn wählt. Privatreisende favorisieren die Fern- schäftsreisen als auch für Privatreisen angewandt. Eine bahn noch häufiger (44,3 %). Indessen unterscheidet solche Unterscheidung der Hauptreisezwecke ist erfor- sich die Flugaffinität zwischen den Fahrtzwecken erheb- derlich, da die Zeitkomponenten einer Geschäftsreise lich: Im Geschäftsreiseverkehr herrscht annähernd Pari- kritischer bewertet werden, als es bei der zeitlich in der tät zwischen Bahn- und Flugreisenden, Privatreisende Regel mit weniger Restriktionen behafteten Privatreise hingegen wählen nur relativ selten (14,0 %) das Flugzeug. der Fall ist. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zeigt Die Wahl des PKW spielt demgegenüber für Privatrei- sich hinsichtlich der Zahlungsbereitschaft dieser beiden sende (35,6 %) eine deutlich wichtigere Rolle im Ver- Gruppen. Geschäftsreisenden wird ein spontaneres Bu- gleich zu Geschäftsreisenden (25,7 %). Der Fernbus chungsverhalten zugesprochen und die Bereitschaft, in- scheidet u. a. aufgrund nicht konkurrenzfähiger Fahrzei- folgedessen teurere Fahrkartenpreise in Kauf zu neh- ten für Geschäftsreisende als Wahloption aus, während men, während Privatreisen eher restriktiveren Budget- er aufgrund signifikanter Preisvorteile noch für einen planungen unterliegen und somit tendenziell kostenop- kleinen Anteil der Privatreisenden (6,1 %) die gewählte timiert geplant werden (vgl. auch [17]). Alternative darstellt (Bild 6). Die erste beispielhaft untersuchte Fernverkehrsrela- Die Untersuchung der deutlich kürzeren Fernver- tion München – Bremen weist aufgrund einer deutli- kehrsrelation Frankfurt – Basel zeigt ebenfalls eine hohe chen Reisezeitersparnis im Fall einer Nutzung der Fern- Bahnaffinität auf. Die Wettbewerbssituation auf dieser Relation stellt sich jedoch grundlegend anders dar. Etwa Reisezeiten München – Bremen Reisezeiten Frankfurt – Basel die Hälfte der Geschäftsreisenden (49,0 %) und etwas [min] [min] weniger Privatreisende (44,4 %) nutzen entsprechend PKW 450 220 der Modellergebnisse die Fernbahn als Reisealternative, Fernbahn 340 165 während das Flugzeug im Geschäftsreiseverkehr eine geringe (8,7 %) und im Privatreiseverkehr gar eine mar- Flugzeug 65 50 ginale (1,2 %) Bedeutung aufweist. Anders als auf der Fernbus 900 360 etwa doppelt so langen Fernverkehrsrelation München Tabelle 2: Reisezeitenvergleich der Verkehrsmittel PKW, Fernbahn, Flugzeug und – Bremen besitzt dagegen der PKW eine vergleichsweise Fernbus auf zwei Relationen (Mittelwerte) hohe Beliebtheit bei Geschäfts- (42,2 %) wie Privatrei- senden (45,6 %). Eine Fernbusreise stellt im Geschäfts- reiseverkehr weiterhin keine Option dar, ist jedoch für Privatreisende (8,8 %) etwas attraktiver im Vergleich zu der zuvor untersuchten Relation (Bild 7). Beurteilung der Wirksamkeit umweltpolitisch motivierter Fahrpreissenkungen Ausgehend von den zuvor ermittelten Marktanteilen der Verkehrsmittel auf den beiden Beispielrelationen wurde in einem weiteren Schritt eine Absenkung des unterstell- ten Brutto-Fahrpreises der Fernbahn um 10 % vorge- nommen. Dies führt für beide Relationen lediglich zu einem marginalen Anstieg des Marktanteils in einer Grö- ßenordnung zwischen 0,6 % bis 0,8 % für Geschäftsrei- Bild 6: Modal Split auf der Fernverkehrsrelation München – Bremen (Berechnungen sende (Bild 8) bzw. 1,1 % für Privatreisende (Bild 9). Der des VIA) Modal Shift erfolgt dabei zu Lasten der konkurrierenden Verkehrsmittel, wobei geschäftliche Flugreisen auf der Kurzrelation mit –1,1 % stärker betroffen sind, als auf der Langstrecke (–0,5 %). Die Ergebnisse für die beiden Re- lationen zeigen, dass infolge der Preisreduktion voraus- sichtlich nur in sehr geringem Umfang zusätzliche Kun- den für den Bahnverkehr gewonnen werden können. Die Größenordnung dieser Verlagerungswirkung kann nach Ansicht der Verfasser auf weitere Relationen des SPFV, die eine ähnliche Attraktivität hinsichtlich der Reisezei- ten und des Taktes bei gleichzeitiger Konkurrenz durch den Flug- und Fernbusverkehr aufweisen, übertragen werden. Hingegen ist zu erwarten, dass eine Umkehrung des Reisezeitvorteils zugunsten des PKW zu geringeren Verlagerungseffekten führt. Ist hingegen kein tägliches Bild 7: Modal Split auf der Fernverkehrsrelation Frankfurt – Basel (Berechnungen Flugangebot, aber ein attraktives Bahnangebot vorhan- des VIA) den, müsste untersucht werden, ob sich der Verlage- 22 Internationales Verkehrswesen (72) 1 | 2020
Wissenschaft POLITIK rungseffekt vom PKW zugunsten des SPFV verstärkt. Da sich die im Rahmen des Klimapaketes beschlossene Steuerreduktion für Fernverkehrsfahrkarten vor allem gegen die Preiskonkurrenz durch Billigfluggesellschaf- ten richtet, wurde dieser Effekt nicht untersucht. Die insgesamt geringe Nachfrageverschiebung auf den beiden Beispielrelationen ist vor dem Hintergrund der Fahrpreisbewertung durch den Endkunden zu inter- pretieren. Beispielsweise unterscheidet sich die Zah- lungsbereitschaft in Abhängigkeit des Fahrtzweckes: Bild 8: Prozentuale Nachfrageveränderungen durch eine Reduktion des Brutto- Während Geschäftsreisende i. d. R. eine Fahrkarte zum Fahrpreises der Fernbahn um 10 % auf der Relation München – Bremen (Berech- Flexpreis wählen, bevorzugen Privatreisende eher Spar- nungen des VIA) preisangebote. Eine Absenkung des Brutto-Fahrpreises um 10 % bewirkt im Fall des deutlich teureren Flexprei- ses zwar eine deutlichere Preisminderung im Vergleich zum Sparpreis (Tabelle 3), allerdings weisen Geschäfts- reisende eine grundsätzlich geringer ausgeprägte Preis- sensibilität im Vergleich zu Privatreisenden auf. So wer- den Reisekosten meist nicht aus einem persönlichen Reisebudget, sondern auftrags- bzw. projektbezogen be- glichen; eine geringfügige Variation der Ticketpreise hätte daher nur eine Anpassung des Reisebudgets, selten jedoch veränderte Verkehrsmittelwahlentscheidungen Bild 9: Prozentuale Nachfrageveränderungen durch eine Reduktion des Brutto- zur Folge. Sind Unternehmen zudem zum Vorsteuerab- Fahrpreises der Fernbahn um 10 % auf der Relation Frankfurt – Basel (Berechnun- zug berechtigt und nutzen diese Möglichkeit, so ergibt gen des VIA) sich durch die Absenkung des Umsatzsteuersatzes bei gleichbleibendem Netto-Fahrpreis kein monetärer Vor- Fahrpreis Fernbahn München – Fahrpreis Fernbahn Frankfurt – teil. Privatreisende treffen Verkehrsmittelwahlentschei- Bremen [EUR] Basel [EUR] dungen zugunsten der Fernbahn zunehmend aufgrund Ist-Zustand Reduktion Ist-Zustand Reduktion der vielfältig vorhandenen Sparangebote. Jedoch ist die um 10 % um 10 % Höhe des Sparpreises bereits heute auslastungs- und re- Flexpreis 153,00 137,70 85,00 76,50 lationsabhängigen Schwankungen unterworfen, sodass Sparpreis 59,90 53,91 25,90 23,31 eine nur geringfügige Rabattierung um wenige Euro kaum bemerkt werden würde. Tabelle 3: Reduktion des Brutto-Fahrpreises um 10 % auf zwei Beispielrelationen Insgesamt basiert der Algorithmus des VIA-Fernver- (Recherchen des VIA) kehrsmodells auf der Annahme, dass sowohl Geschäfts- wie auch Privatreisende im Fernverkehr bei einem nur geringfügig veränderten Fahrpreisniveau andere Ent- Emissionsminderung erreicht werden konnte. Die in der scheidungskriterien höher gewichten als die Kosten der Vergangenheit im Verkehrssektor beschlossenen Klima- Beförderung. Dies gilt insbesondere angesichts niedriger schutzmaßnahmen erweisen sich daher als unzurei- Fahrkartenpreise im Sparpreissegment. Eine Variation chend. Im Rahmen des Klimapakets einigte sich die der Reisezeiten, notwendiger Umstiege bzw. Wartezei- Bundesregierung im September 2019 auf eine Reduzie- ten am Bahnsteig und der Flexibilität hinsichtlich einer rung des Umsatzsteuersatzes für Fernverkehrsfahrkar- gewählten Abfahrtszeit (Fahrplanangebot bzw. Takt) ten. Günstigere Fahrpreise sollen einen Anreiz zur Nut- sind daher bedeutsamere Stellgrößen innerhalb des Mo- zung der Fernbahn zulasten des innerdeutschen Flugan- dells und in der Realität, um den Anteil der Fernbahn- gebots bieten. nutzer zu beeinflussen. Im Rahmen der Ausarbeitungen konnte gezeigt wer- Jedoch stößt die Modellierung von Einflussgrößen den, dass eine deutliche Steigerung der Fahrgastzahlen auch an Grenzen, wenn deren Bewertung noch nicht aus im SPFV in der Vergangenheit vor allem durch die Ein- entsprechenden Befragungen der Verkehrsteilnehmer führung einer umfangreichen Sparpreispolitik der DB abgeleitet werden kann. Empirisch zu untersuchen wäre Fernverkehr AG mit Ticketpreisen ab 19,90 EUR erreicht in Zukunft beispielsweise, welche Nachfrageverände- wurde. Diese Feststellung deckt sich mit den Ergebnis- rungen sich durch eine deutliche Verbesserung der sen einzelner Studien, demnach das Fahrpreisniveau Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit des Bahnverkehrs er- eine wichtige Einflussgröße für oder gegen die Nutzung gäben. Dabei handelt es sich um stark subjektiv bewerte- der Fernbahn darstellt. Jedoch zeigen eigenständig für te Einflussgrößen, die einzeln nur sehr schwierig in Ver- zwei Fernverkehrsrelationen durchgeführte Berechnun- kehrsmittelwahlmodellen zu implementieren sind. gen, dass eine weitere Absenkung des bereits sehr attrak- tiven Sparpreis-Niveaus im Privatreisegeschäft, aber Fazit auch eine nur geringfügige Absenkung des Flexpreis- Eine Zeitreihen-Betrachtung der jährlichen Treibhaus- Niveaus für Geschäftsreisende keine signifikante Ver- gas-Emissionen des Verkehrssektors in Deutschland er- kehrsverlagerung nach sich ziehen wird. Vielmehr ist gibt, dass entgegen der Klimaschutzziele der Bundesre- davon auszugehen, dass zukünftig insbesondere Verbes- gierung bereits seit Jahren keine deutliche verkehrliche serungen der Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit des Internationales Verkehrswesen (72) 1 | 2020 23
POLITIK Wissenschaft SPFV und eine generelle Angebotsausweitung aus- [10] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur: Verkehr in Zahlen 2018/2019. schlaggebend für weitere Fahrgaststeigerungen wären. 47. Jahrgang. Kraftfahrt-Bundesamt, Flensburg, Ausgabe 2018 Die mit dem Klimapaket umgesetzte Fahrpreisabsen- [11] N.N.: Neue Bahn-Studie: Ticketpreis wichtiger als Pünktlichkeit, 2017, www.zugreiseblog. kung kann daher voraussichtlich nicht das gewünschte de/bahn-studie-deutschland/ [Zugriff am: 31.10.2019] Potenzial entfalten. ■ [12] N.N.: Daten zum VCD Bahntest 2018/19, Ausgabe 2018 [13] Tischmann, H.; Krautscheid, T.: VCD Bahntest 2014/15 – Die Bahn im Vergleich mit Fernlinienbus und Auto, 2014, www.vcd.org/fileadmin/user_upload/Redaktion/ LITERATUR Publikationsdatenbank/Bahn/VCD_Bahntest_2014-2015.pdf [Zugriff am: 07.11.2019] [14] Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verkehrsflughäfen: Airport Travel Survey 2018 – Alterna- [1] Umweltbundesamt: Jährliche Treibhausgas-Emissionen in Deutschland nach Kategorie. tiven zum gewählten Flug?, Ausgabe 2018 Umweltbundesamt, 2018, www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/361/ bilder/dateien/2018-05-07_tt_thg_crf_plus_1a_details_1.0_ci.xlsx [Zugriff am: [15] Norta, M.: Ein Verkehrsmittelwahlmodell für den Personenfernverkehr auf der Basis von 07.11.2019] Verkehrswiderständen. 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DB AG, Berlin, 2019, www.deutschebahn.com/de/presse/pressestart_zen- (2018), Heft 10, S. 417-423 trales_uebersicht/DB-Chef-Dr-Richard-Lutz-Millionen-Kunden-fahren-ab-1-Januar- 10-Prozent-guenstiger-mit-uns--4710776 [4] DB Fernverkehr AG: Geschäftsbericht 2018 [5] Kranz, B.: Wie die Bahn mit neuem Super-Sparpreis Kunden locken will [online] – Die Bahn will mehr Autofahrer als Kunden gewinnen. Dauerhafte Sparangebote sollen dabei Fabian Stoll, M.Sc. helfen. Das Preissystem soll klarer werden. In: Neue Ruhr Zeitung (NRZ), 2018 [Zugriff Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Verkehrswissen- am: 30.10.2019], www.nrz.de/wirtschaft/wie-die-bahn-mit-neuem-super-sparpreis- schaftliches Institut, RWTH Aachen stoll@via.rwth-aachen.de kunden-locken-will-id214416503.html [6] Krämer, A.: Die Mobilisierung von preissensibler Nachfrage in einer digitalisierten Welt – Die Entstehung von vier Quasi-Monopolen im deutschen Fernverkehrsmarkt. In: Inter- nationales Verkehrswesen 70 (2018), Heft 1, S. 16-20 Bastian Kogel, Dipl.-Ing. [7] Follmer, R.: Mobilität in Deutschland – Tabellarische Grundauswertung. Deutschland. Institutsvertretung und Oberingenieur, Verkehrswis- infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH; Deutsches Zentrum für Luft- senschaftliches Institut, RWTH Aachen und Raumfahrt e. V.; IVT Research GmbH et al., 2018, www.mobilitaet-in-deutschland. kogel@via.rwth-aachen.de de/pdf/MiD2017_Tabellenband_Deutschland.pdf [Zugriff am: 31.10.2019] [8] Follmer, R.; Gruschwitz, D.; Jesske, B. et al.: Mobilität in Deutschland 2008 – Tabellen- band. infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH; Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. 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