Kiel 2019: geographischer Dialog für die Zukunft? - GH

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Geogr. Helv., 75, 319–324, 2020
https://doi.org/10.5194/gh-75-319-2020
© Author(s) 2020. This work is distributed under
the Creative Commons Attribution 4.0 License.

              Kiel 2019: geographischer Dialog für die Zukunft?
                                                     Matthew G. Hannah
                            Geographisches Institut, Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland
                        Correspondence: Matthew G. Hannah (matthew.hannah@uni-bayreuth.de)

             Received: 28 July 2020 – Revised: 26 August 2020 – Accepted: 26 August 2020 – Published: 9 October 2020

       Kurzfassung. In conditions of unavoidably increasing mutual ignorance among human geographers about each
       others’ areas of expertise, the question of how to pursue dialogue in a mutually respectful way that promotes
       insight and learning is ever more pressing. The dialogue between Carolin Schurr and Peter Weichhart in Kiel
       in 2019 offers instructive examples of how this issue can be addressed. The first, shorter part of the contribution
       is devoted to the substantive question of the unity of geographic inquiry, which was the subject matter of the
       dialogue. The bulk of the discussion, however, is devoted to analysing the dynamics of the dialogue itself, with
       a special focus on the sometimes very subtle and unintended ways in which positionalities leave their mark.

1   Einleitung                                                     inhaltliche Frage der disziplinären Kohärenz wird die Mehr-
                                                                   heit des Beitrags dem Verlauf des Dialogs gewidmet.

Wird es in 10 oder 20 Jahren rückblickend als wichtig erach-       2   Kohärenz
tet werden, „dabei gewesen zu sein“ beim Dialog in Kiel im
Oktober 2019 zwischen Carolin Schurr und Peter Weichhart?          Schurr und Weichhart stellen einstimmig fest, dass die Viel-
Bei was im Kontext des komfortablen akademischen Alltags-          falt in der Geographie durch eine scheinbar unaufhaltsame
betriebs, weit entfernt von den Entbehrungen und Gefahren          Ausdifferenzierung nur noch größer wird. Damit wird es im-
der Feldforschung, wollen wir dabei sein? Genau bei solchen        mer weniger möglich (wenn es überhaupt je möglich gewe-
offenen Streitigkeiten, die laut dem „Mythos Kiel“ dort 1969       sen ist), dass einzelne Geographinnen und Geographen sich
stattgefunden haben. Wir wollen mindestens ein bisschen aus        irgendeinen ausreichend informierten synthetischen Über-
der Komfortzone des Vorhersehbaren geworfen, überrascht,           blick über das gesamte Fach erarbeiten können. Teilweise
mit der Abbröckelung der üblichen Höflichkeiten konfron-           als Ergebnis des Ausdifferenzierungsprozesses sei ein klares
tiert werden.                                                      „Zentrum’“ in der Geographie nicht (mehr) auszumachen.
   Nach diesem Maßstab müsste Schurr vs. Weichhart –                  Beide im Kieler Dialog 2019 vorgetragenen Reaktionen
Kiel 2019 enttäuschen: kein großer Streit; trotz wichtiger         auf diese Situation sind plausibel und vertretbar. Carolin
inhaltlicher Divergenzen zu viel Wohlwollen zwischen den           Schurrs eher gelassene, „zukunftsorientierte“ Würdigung der
Dialogpartner*innen. Aber gerade deswegen bin ich froh, da-        Vielfalt wird elegant mit ihrer Diskussion der Ideen from and
bei gewesen zu sein, weil die Art des Dialogs, der dort veran-     of the margins exemplifiziert. Peter Weichharts eher „her-
staltet worden ist, zunehmend wichtig wird. Gerade deswe-          kunftsorientierter“ Vorschlag einer „Werkzeugskiste“, um ei-
gen verdient der Dialog selbst genau so viel Aufmerksamkeit        ne Art „multiples Ersatz-Zentrum“ zusammenzuweben, steht
wie die darin vertretenen Positionen.                              in einer langen Tradition, deren Argumente nicht einfach von
   Die wichtigste Frage, die sich aus dem Dialog zwischen          der Hand zu weisen sind (vgl. z. B. Jessop et al., 2008; zum
Carolin Schurr und Peter Weichhart ergibt, lautet: „Wie sollte     Unterschied zwischen „Zukunfts-“ und „Herkunftsorientie-
ein öffentlicher Dialog gestaltet werden, um die unvermeid-        rung“ vgl. Wardenga, 2020).
lichen Wissensdefizite der unterschiedlichen Teilnehmenden            Ein einflussreicher Aufsatz von John Nystuen aus dem
möglichst respektvoll und einsichtsfördernd in Kontakt mit-        Jahr 1963 verdient in dieser Hinsicht unsere Aufmerksam-
einander treten zu lassen?“ Nach einem kurzen Ausflug in die       keit, weil er als Vergleichskulisse die Wichtigkeit des jewei-

Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
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ligen Kontextes klarmacht. Mitten in der damaligen „quan-          Philos Ansatz mit der von Schurr und Weichhart geteilten
titativen Revolution“ in der anglophonen Geographie steck-         Meinung überein, die geographische Forschung solle sich
ten Nystuens fachliche Kernbegriffe (direction oder orien-         nicht länger hinter der unhaltbaren Schimäre der „Wertneu-
tation, distance, connection und relative position) eine zu-       tralität“ verstecken, sondern zur Aufdeckung und Verände-
kunftsorientierte, abstrakte Perspektive ab, die gegen eine        rung gesellschaftlicher Missstände ihren Beitrag leisten.
rückwärtsgewandte Überbetonung der Differenz und Einma-               Diesen unterschiedlichen Kandidaten für Grundbegriffe
ligkeit in der traditionellen Regionalgeographie ausgerichtet      der Geographie ist gemeinsam, dass sie alle Substantive sind.
war (vgl. Nystuen, 1996 [1963]).                                   Es wäre auch wichtig zu fragen – nach dem alten Spruch
   Die von Weichhart vorgeschlagenen Begriffe – die ne-            „geography is what geographers do“ –, ob es hilfreich wä-
ben den drei schon von Nystuen ins Feld gebrachten Be-             re, das Problem des disziplinären Zusammenhalts mit Hil-
griffen Distanz, Richtung und Konnektivität auch „Räum-            fe von Verben anzugehen. Diese Möglichkeit wird systema-
lichkeit (spatiality), Ort (place), Mobilität, Skalen, Kontex-     tisch von Antje Schlottmann und Jeannine Wintzer ausgelo-
tualität, Struktur, Prozess, Agency, Differenz, Disparitäten       tet. Ihr Buch „Weltbildwechsel: Ideengeschichten geographi-
oder Grenze“ sowie wahlweise „Agencements/Assemblages,             schen Denkens und Handelns“ (vgl. Schlottmann und Wint-
Netzwerk, Rhizom oder das Konzept der sozialen Figu-               zer, 2019) ist um Praktiken organisiert (Vermessen, Erklä-
rationen“ einschließen – sind ganz anders zeitlich gefärbt         ren, Erobern, Vermitteln, Aufklären, Wahrnehmen, Gestal-
(vgl. Schurr and Weichhart, 2020:22). Sie stellen eine Art         ten, Differenzieren, Visualisieren, Modellieren), die mit der
Rettungsversuch dar in einer Situation, wo „unübersichtli-         Geographie lange Zeit verbunden gewesen sind.
che Differenz“ eher mit Zukunft, dagegen Allgemeinheit und            Hier lohnt es sich m. E. auch zu fragen, wie viele von die-
Zentralität mit Herkunft verbunden sind.                           sen Praktiken speziell „geographisch“ sind; nicht um einige
   Carolin Schurr zeigt sich offen für Weichharts Grundi-          auszuschließen, sondern um ihre unterschiedlichen Rollen in
dee, plädiert aber für eine flexible und im Prinzip potentiell     der Disziplin klar zu machen. Vermessen, Erobern, Gestalten
grenzenlose Werkzeugkiste. Obwohl ich ihr voll zustimme,           und Visualisieren wären dann primäre Kandidaten für einen
dass Exklusivität in Bezug auf Grundbegriffe gefährlich ist,       disziplinären „Kern“. Die restlichen Praktiken wären dann
würde ich selbst diese Gefahr laufen und Weichharts Liste          nicht so sehr „Brückenbegriffe“ wie im Falle von Grundbe-
als zu lang bewerten. Die Begriffe Kontextualität, Struktur,       griffen in Form von Substantiven, sondern Anlässe klarzu-
Prozess, Agency, Differenz, und Disparität spielen nämlich         machen, wie allgemeine wissenschaftliche Tätigkeiten spezi-
genauso wichtige Rollen in anderen Fächern wie der Ge-             ell von Geographinnen und Geographen gehandhabt worden
schichtswissenschaft oder der Soziologie – die Geographie          sind.
kann keinen Anspruch auf diese Begriffe erheben. Gegen-
über diesen Begriffen sollte sich die Geographie nicht ver-
schließen. Sie sollten durchaus eine große Rolle spielen, aber     3   Dialog, Positionalität und Unwissen
als Transmissionsriemen oder Brücken zu benachbarten Dis-
ziplinen sowie zu disziplinübergreifenden Ansätzen auf der         Eine wichtige disziplinübergreifende wissenschaftliche Tä-
Ebene der Sozial- und Kulturtheorie.                               tigkeit ist das Debattieren/Diskutieren. Einem Grundgedan-
   Mein eigener Versuch, den lang (z. B. von Nystuen sowie         ken von Schlottmann und Wintzer folgend wäre es wichtig
von Weichhart) als zentral bezeichneten, aber trotzdem in der      zu fragen, ob und inwiefern Debatten in der Geographie be-
Forschung bisher fast vollständig vernachlässigten Grundbe-        sondere Merkmale haben bzw. haben sollten. Für mich ist ein
griff „Richtung“ zu elaborieren und neu zu konzipieren, passt      plausibler Kandidat für ein solches wünschenswertes Merk-
generell ins Programm von Weichhart (vgl. Hannah, 2019).           mal von Philo im übertragenen Sinne entlehnt: positionale
Die Konzeption von Chris Philo, aufbauend zum Teil auf             Differenzierung. Eine Fähigkeit dazu ist „geographisch“: Ge-
dem Ansatz der welfare geographies von David Smith aus             rade in der Geographie sollte es uns leichtfallen, unterschied-
den 1970er und 1980er Jahren sowie auf der Faschismuskri-          liche diskursive und soziale Positionen differenziert zu „kar-
tik der Frankfurter Schule, positioniert „geographische Dif-       tieren“, statt sie pauschal unter einfachen master signifiers
ferenzierung“ als zentralen Begriff (vgl. Philo, 2014, 2017;       zusammenzupferchen (vgl. Rose, 1997). Das Spiel mit Vi-
Chris Philo, persönliche Korrespondenz, 2020).                     sualisierungen des geographischen Diskurses als „Krapfen“
   Philos Perspektive gründet auf der Einsicht, dass sich nicht    bzw. als „Donut“ könnte schon als Evidenz dafür verstanden
nur der Faschismus im engeren Sinne, sondern die meisten           werden.
Formen der Unterdrückung, Ausbeutung, Ausgrenzung und                 Selbstverständlich ist Positionalität an sich weder einfach
Ungerechtigkeit wesentlich aus Vereinfachungen („Nation“,          zu definieren noch allbestimmend. Wie Gillian Rose (1997)
„Rasse“, „Volk“ usw.) speisen. Die Geographie kann nach            schon bemerkt hat, sind die quasi-kartographischen Vorstel-
Philo eine besonders ausgeprägte Expertise – und zwar über         lungen hinter dem üblichen Gebrauch des Begriffs Positio-
das ganze Spektrum von quantitativen und qualitativen Me-          nalität zum Teil fragwürdig (vgl. Rose, 1997). Je näher be-
thoden – zur kritischen Analyse solcher Vereinfachungen in         trachtet, desto schwieriger wird es, die Vielfalt positiona-
ihren räumlichen Ausprägungen vorweisen. Insofern stimmt           ler Dimensionen (sozialer Status, geographische Lokation,

Geogr. Helv., 75, 319–324, 2020                                                        https://doi.org/10.5194/gh-75-319-2020
M. G. Hannah: Kiel 2019: geographischer Dialog für die Zukunft?                                                           321

ethnische, Geschlechts-, Alters-, institutionelle oder sonsti-   mer*innen ist an sich eher uninteressant, weil absolut unver-
ge „Standorte“) voneinander sauber zu entwirren oder sauber      meidlich. Die Frage ist: Wie gehen sie damit um?
auf eine gemeinsame „Oberfläche“ zu projizieren, die ein-           Hier können wir vom Dialog zwischen Carolin Schurr
deutige Vergleiche erlaubt.                                      und Peter Weichhart durchaus etwas lernen. Wie anfangs er-
   Trotzdem lassen sich nach wie vor einige Dimensionen          wähnt, erhoffen sich viele Zuschauer*innen in einer solchen
der Positionalität klar als Vermittler von relativen Vorteilen   Situation wie in Kiel 2019 „klare Kanten“, etwas Krach.
bzw. Nachteilen identifizieren. Aufgrund der eigenen Posi-       Wenn wir aber in Erwägung ziehen, dass die unterschiedli-
tionalität – in diesem Fall des eigenen Karrierewegs über drei   chen Positionalitäten und Wissensbestände der Dialogpart-
Länder – fällt mir in der deutschsprachigen Geographie Ge-       ner*innen zwangsläufig auch große Wissensdefizite gegen-
schlecht als eine solche besonders deutlich auf. Dabei geht es   über der jeweils anderen Position implizieren, ist die Gefahr
gerade nicht um die „zählbaren“ Dinge wie die zunehmen-          groß – ich meine: sehr groß! –, dass Krach und klare Gegen-
de Besetzung der Professuren und Lehrstühle durch Frauen,        überstellungen weitgehend auf nicht ausreichend begründe-
sondern um subtilere, i. d. R. unreflektierte Wertvorstellun-    ten Meinungen fußen.
gen und Rollenerwartungen. Positionalität entfaltet ihre Wir-       Je nach akademischer Ausbildung und Erfahrungen – je
kung, anders gesagt, nicht nur und oft nicht primär auf der      nach Position — kennen wir alle pauschale Verurteilungen
Ebene der Absichten, Zielsetzungen, Personalpolitik usw.         von Ansätzen, bei denen wir selbst wissen, dass die urteilen-
   Andererseits sind positionale Fragen nicht allbestimmend.     den Kolleg*innen entweder selbst wenig bis nichts über den
In dieser Hinsicht bietet der veröffentlichte Dialog zwischen    betroffenen Ansatz gelesen bzw. erforscht haben, oder wenn
Reuben Rose-Redwood und Jonathan Smith einen erhellen-           doch (um ganz großzügig gegenüber diesen Kolleg*innen zu
den Vergleichspunkt zu denjenigem zwischen Schurr und            sein), dass sie es offensichtlich mit solchen eisernen Scheu-
Weichhart (vgl. Rose-Redwood and Smith, 2016). Obwohl            klappen getan haben, dass sie den Ansatz am Ende viel zu
die zwei Teilnehmer aus ähnlichen privilegierten Positionen      unterkomplex verstanden haben. Um es etwas überspitzt zu
argumentieren (weiße, männliche Inhaber sicherer akademi-        formulieren, das Muster der drastischen Vereinfachung der
scher Stellen) entwickelt sich ihr Dialog zu einer immer stär-   Differenzen, das Chris Philo als ideologische Wurzel vielen
keren Polarisierung zwischen inkompatiblen Perspektiven.         Unheils im politischen Bereich identifiziert, ist in der wis-
Positionalität ist nicht Schicksal.                              senschaftlichen Debatte analog schädlich.
   Was die Selektivität des positionierten Wissens streng im-       Zum großen Glück ist der Dialog zwischen Carolin Schurr
pliziert – was aber in wissenschaftlichen Kreisen eher un-       und Peter Weichhart nicht in eine solche wissenschaftlich
gern in den Vordergrund gestellt wird –, ist, dass jede Po-      unverantwortliche Richtung ab- bzw. auseinandergedriftet.
sition automatisch und untilgbar mit spezifischen Formen         Stattdessen haben beide zwei Tugenden zutage gebracht, die
des Unwissens verbunden ist. Unser Unwissen als solches          aus einem Sinn für positionale Differenzierung erwachsen:
kann nicht „überwunden“ werden, höchstens dehnen wir un-         Bescheidenheit, was das Ausmaß und den Geltungsbereich
ser Wissen mühsam durch Lektüre, empirische Forschung            des eigenen Wissens angeht, und genuine Neugier gegenüber
und anderweitige wissenschaftliche Tätigkeiten bescheiden        dem bisher Unbekannten.
aus. Das oft beschworene kumulative Wachstum des allge-             In den letzten Jahren ist – oft in Anlehnung an die Ide-
meinen Wissensbestandes ist kein Trost, ganz im Gegenteil:       en von Chantal Mouffe – immer wieder die Legitimität
Wir können selbst nur einen winzigen – und mit dem sich be-      des „Agonismus“ im Rahmen von Dialog betont worden
schleunigenden Wachstum dieses Wissensbestandes immer            (vgl. Rose-Redwood et al., 2018). Strukturell gesehen aber
kleiner werdenden – Bruchteil davon selbst detailliert in Er-    läuft die Haltung des Agonismus in tendenziell wachsender
fahrung bringen.                                                 Ermangelung von ausreichendem Wissen über die jeweils an-
   Die Aufteilung der Wissenschaft in einzelne Disziplinen       dere Position Gefahr, Lerneffekte eher auszuschließen als zu
ist hier zunächst eine praktische Hilfe. Die Grenzen einer       erzeugen.
Disziplin machen gleichzeitig die äußerste Grenze dessen            Carolin Schurr drückt die oben erwähnten Tugenden in ih-
aus, wofür wir im Bereich der Wissensaneignung einiger-          ren Fragen an Peter Weichhart aus, wie es war, zur Zeit des
maßen „verantwortlich“ sind oder gemacht werden können.          Kieler Kongresses 1969 als Geograph unterwegs gewesen
Wenn es aber, wie in der Geographie, für die einzelnen Wis-      zu sein, sowie in ihrer Offenheit für seinen Werkzeugkisten-
senschaftler*innen nicht mehr möglich ist, sich einen gleich-    Vorschlag. Peter Weichhart zeigt sich für Carolin Schurrs Ar-
zeitig flächendeckenden und ausreichend tiefgehenden Über-       gumentation offen, dass gerade Perspektiven am Rande der
blick über alle Forschungsrichtungen zu verschaffen, müs-        Disziplin (und der disziplinären Macht) besonders frucht-
sen alle Dialoge und Auseinandersetzungen zwischen un-           bar sein können. Die Übereinstimmung darüber, dass Fragen
terschiedlich positionierten Wissenschaftler*innen über die      der (Un)gerechtigkeit eine Art forschungsrichtungsübergrei-
Kohärenz oder Richtung der Gesamtdisziplin zu einem er-          fendes Bindeglied in der Humangeographie bilden könnten,
heblichen Grad aus gegenseitiger Ignoranz geführt werden.        setzt eine fundamental konstruktive gegenseitige Offenheit
Dies ist der engere Ausgangspunkt für den hiesigen Beitrag.      voraus.
Die bloße Präsenz der Wissensdefizite seitens aller Teilneh-

https://doi.org/10.5194/gh-75-319-2020                                                     Geogr. Helv., 75, 319–324, 2020
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4   Schattierungen der Offenheit                                       So fällt es Carolin Schurr strukturell gesehen leichter, sich
                                                                    zum Beispiel das Muster zu merken, wonach es im Grun-
Wenn wir – wie ich meine – zunehmend Dialoge und Debat-             de ausschließlich weiße Männer sind, die die Unmöglich-
ten aufgrund von Ignoranz oder Unwissen führen müssen,              keit eines allumfassenden synthetischen Blicks über das Fach
reicht es aber nicht, Carolin Schurr und Peter Weichhart für        als problematisch empfinden (vgl., Schurr and Weichhart,
ihre vorbildliche gegenseitige Offenheit zu gratulieren. Die-       2020:24). Peter Weichhart ist natürlich auch fähig, dieses
se Offenheit sollte zwar nicht unterschätzt werden: Wie oben        Muster zu erkennen, aber anders als bei Carolin Schurr ver-
schon argumentiert, ist sie viel besser als eine allzu häufig       langt es von ihm einen extra, unforcierten Schritt der „Selbst-
praktizierte (um es höflich auszudrücken) „unterinformier-          Provinzialisierung“, worin viele Mitglieder der dominanten
te“ Kampfhaltung. Es lohnt sich trotzdem, uns etwas genau-          Gruppen immer noch relativ wenig Übung haben.
er und detaillierter die unterschiedliche Art und Weise an-            Wichtig ist hier m. E. der Umgang mit dem eigenen
zuschauen, in der diese Tugenden von den beiden realisiert          Nichtwissen. Ganz im Sinne des seit Jahrzehnten kritisier-
worden sind. Dabei treten interessante Asymmetrien zu Ta-           ten erhöhten Leistungsdrucks spüren Mitglieder der unterre-
ge.                                                                 präsentierten Gruppen in der Wissenschaft einen stärkeren
   Mich interessiert im Folgenden vor allem die Art und Wei-        Druck, die unvermeidlichen Lücken im eigenen Wissensbe-
se, in der Peter Weichhart seinen Part im Dialog gespielt hat.      stand doch möglichst weitgehend zu schließen. Bei Mitglie-
Hier geht es mir nicht um eine persönliche Kritik: Ich be-          dern der dominanten Kategorien ist dagegen der schnellst-
wundere seine Arbeit und schätze seine Art der Interaktion          mögliche und fortdauernde Ausbau des eigenen Wissensvor-
mit Kolleg*innen jenseits dieses Dialogs. Die Positionalität        rats und der entsprechende Abbau der Ignoranz nicht unbe-
von Peter Weichhart ist auch nicht leicht auf einen Nenner zu       dingt so dringend.
bringen. Bei ihm wie bei uns allen kreuzen sich unterschied-           Daraus ergibt sich m. E. eine subtile Differenz in der ty-
liche Dimensionen auf komplizierte Art und Weise (siehe             pischen Haltung zum eigenen Unwissen, die im Austausch
oben). Er versteht sich selbst im Rahmen des Dialogs offen-         zwischen Schurr und Weichhart auch zu sehen ist. Die Neu-
sichtlich nicht als positional „privilegiert“. Trotzdem schrei-     gier, die Carolin Schurr gegenüber Peter Weichharts Erfah-
be ich ihm (wie übrigens mir selbst) wesentliche positionale        rungen rund um die Kieler Ereignisse 1969 zeigt, ist zwei-
Privilegien zu, die sich trotz seiner Intention auf unreflek-       fellos genuin, nicht aber unbedingt optional. Hätte sie sich
tierter, subtiler Ebene ausdrücken. Gerade weil seine privile-      gegenüber den damaligen Vorgängen und Erfahrungen in-
gierte Position nicht gewollt und nicht offensichtlich ist – wie    different oder demonstrativ uninformiert gezeigt, wäre das
bei vielen von „uns“ –, lohnt es sich seine Aussagen unter die      wahrscheinlich von großen Teilen des Publikums als unver-
Lupe zu nehmen.                                                     antwortlich verstanden worden. Das heißt, sie fühlte sich ver-
   Der Hintergrund für diese Fokussierung lässt sich grob           mutlich zu einem gewissen Grad dazu verpflichtet, sich im
mit dem Hinweis auf eine sehr wichtige, grundlegende Ein-           Vorfeld so gut wie möglich über Kiel 1969 zu informieren
sicht vieler „Rand-“ bzw. „subalternen“ Theorietraditionen          – sofern sie es nicht schon vorher gewesen ist – und als gut
andeuten, die zum Beispiel in der feministischen Theo-              vorbereitet aufzutreten.
rie als „Standpunktepistemologie“ (standpoint epistemology)            Bei Peter Weichhart kann man zwar nicht eine gegentei-
bezeichnet wird (vgl. McDowell, 1992). Ob mit primärem              lige Haltung feststellen. Er trat im Kieler Dialog überhaupt
Bezug auf Geschlecht, Ethnizität, Behinderung oder inter-           nicht überheblich auf, gab unter anderem zu, dass er selbst
sektionale, hierarchisierende Konstrukte anderer Art – die          1969 in Kiel nicht dabei gewesen ist, zeigte auch für viele
Grundidee der Standpunktepistemologie ist, dass Mitglie-            Ideen und Perspektiven, die Carolin Schurr ins Feld geführt
der subalterngemachter oder ausgeschlossener Gruppen ge-            hat, genuine Offenheit und Neugier. Er hat auch durch die
nerell bessere Möglichkeiten als die Herrschenden haben,            Erwähnung von Begriffen wie „Assemblage“ gezeigt, dass
die Machtsysteme, durch die sie marginalisiert oder diskri-         er neuere Ansätze nicht einfach ignoriert. Trotzdem sind sei-
miniert werden, zu durchblicken. Dies ist nicht zuletzt des-        ne Beiträge zum Dialog deutlich weniger geprägt von einem
wegen der Fall, weil Mitglieder der dominanten Gruppen              positionellen Drang, eine solide Wissensbasis in den für sei-
i. d. R. kein oder weniger Interesse daran haben, die unge-         ne eigene Forschung eher weniger relevanten Bereichen auf
rechte Basis oder die oft subtilen Mechanismen hinter den           den Tisch zu legen.
eigenen Privilegien oder Vorteilen klar zu erkennen.                   Dies ist am klarsten in seiner Diskussion der unüberschau-
   Grob gesagt, Kolleg*innen wie Carolin Schurr, die aus            bar gewordenen Vielfalt der Ansätze sichtbar. Seinen viel-
einfachen oder intersektional verdichteten „subalternen“ Po-        gelesenen, 2008 veröffentlichten Überblick über die Sozi-
sitionen ihren Weg durch die Wissenschaft machen müssen,            algeographie zitierend, meint er, dass wir uns als Geogra-
haben i. d. R. eine klarere Sicht auf die disziplinären Macht-      phinnen und Geographen „auf einer großen Spielwiese“ be-
mechanismen, nicht zuletzt auf die gestaltende Wirkung von          finden „auf der sich zahlreiche wunderschöne Steckenpferd-
Positionalität jenseits der universell anerkannten Wichtigkeit      chen tummeln, deren Bewegungen aber weitgehend unko-
der hierarchischen Beziehungen zwischen Professor*innen             ordiniert und ohne gemeinsame Choreographie erfolgen. Je-
und niedrigeren Statusgruppen.                                      des dieser prächtigen Steckenpferde ist an spannenden Ein-

Geogr. Helv., 75, 319–324, 2020                                                         https://doi.org/10.5194/gh-75-319-2020
M. G. Hannah: Kiel 2019: geographischer Dialog für die Zukunft?                                                                     323

zelthemen und zweifellos sehr wichtigen Fragen orientiert“           Im Kieler Dialog 2019 sehen wir also m. E. einerseits
(vgl. Schurr and Weichhart, 2020:9, zit. nach Weichhart,          einen Austausch, in dem die von beiden Teilnehmer*innen
1998:410).                                                        praktizierte Offenheit und Neugier in einer Situation der
   Die unterschwellige Gelassenheit gegenüber den Grenzen         gegenseitigen Teil-Ignoranz Grund für „zukunftsorientierte“
des eigenen Wissens ist hier evident. Nicht nur der ästhetisie-   Hoffnung geben (Wardenga, 2020). Andererseits ist es im
rende Außenblick („wunderschöne“, „prächtigen“), sondern          Dialog auch klar, dass gute, menschliche Absichten – be-
auch die Phrasen „spannenden Einzelthemen“ und „zweifel-          sonders seitens Mitgliedern der dominanten Gruppe – nicht
los sehr wichtigen Fragen“ beweisen eine Haltung, wonach          ausreichen. Der reflektierte Sinn für positionale Differenzie-
die eigenen Wissenslücken für die Legitimität der eigenen         rung, der gerade geographische Debatten besonders respekt-
Perspektive nicht abträglich sind, besonders, wenn man die        voll und konstruktiv machen sollte, muss mit intensiverer
einem selbst nicht im Detail vertrauten Ansätze trotz man-        sprachlicher Reflexion unterstützt werden.
gelnden Wissens wohlwollend-positiv bewundert.
   Diese Haltung an sich macht das Problem nicht aus. Wie
oben ausgeführt, ist ein wachsendes Unwissen gegenüber            Datenverfügbarkeit. Für diesen Artikel wurden keine Datensätze
anderen Ansätzen unvermeidlich. Da ist es viel besser, die        genutzt.
nicht vertrauten Perspektiven irgendwie positiv und offen
zu betrachten, als abschätzig ohne vertretbaren Grund ab-
zuschmettern. Aber diese Haltung ist erstens positional be-       Interessenkonflikt. Der Autor erklärt, dass kein Interessenkon-
stimmt: Carolin Schurr hätte sich so eine Haltung nicht leis-     flikt besteht.
ten können.
   Zweitens, und ganz zentral für mein Argument, können
                                                                  Danksagung. Der Autor möchte Nadine Marquardt und Bene-
wir uns in solchen Dialogsituationen nicht allein auf wohl-
                                                                  dikt Korf für die Einladung zur Einreichung dieses Beitrags danken
wollende Absichten verlassen. Obwohl bestimmt gar nicht so        und außerdem dankt er Nadine Marquardt und einem/einer anony-
gemeint, trivialisieren Weichharts Formulierungen die An-         men Gutachter*in für ihre hilfreichen Kommentare und Kritik.
sätze, die er als Nicht-Experte von außen betrachtet. Um
diese Trivialisierung festzustellen, bedarf es keiner beson-
ders raffinierten Dekonstruktionsarbeit, ein Blick in den Du-     Begutachtung. This paper was edited by Nadine Marquardt and
den reicht. Der Duden liefert als zweite, figurative Defini-      reviewed by one anonymous referee.
tion von „Steckenpferd“ Folgendes: „von Außenstehenden
leicht als [liebenswürdige] Schrulle belächelte Liebhaberei,
der jemand seine freie Zeit widmet“ (vgl. Duden, 2020). Das
von Weichhart benutzte Suffix „-chen“ („Steckenpferdchen“)
verstärkt die Trivialisierung zusätzlich.                         Literatur
   Diese Bedeutung unterstützt die ganzen, weniger gut ge-
meinten Pseudokritiken, wonach wahlweise der Poststruk-           Duden: Steckenpferd, online aufrufbar: https://www.duden.de/
turalismus, der Postkolonialismus, queere Geographien oder           rechtschreibung/Steckenpferd, letzter Zugriff: 23. Juli 2020.
andere Ansätze irgendwie nicht ernsthafte wissenschaftliche       Hannah, M.: Direction and Socio-Spatial Theory: A Political Eco-
                                                                     nomy of Oriented Practice, Routledge, London, 2019.
Forschungsrichtungen seien, sondern Varianten einer perver-
                                                                  Jessop, B., Brenner, N., and Jones, M.: Theorizing sociospatial re-
sen, narzisstischen Art von nutzloser Wortspielerei. Weich-
                                                                     lations, Environ. Plan. D, 26, 389–401, 2008.
harts respektvolle persönliche Teilnahme am Dialog wird           McDowell, L.: Doing Gender: Feminism, Feminists and Research
hier ziemlich klar und gegen seinen Willen durch die respekt-        Methods in Human Geography, Trans. Inst. Brit. Geogr., 17,
losen Formulierungen untergraben.                                    399–416, 1992.
   Gerade anhand seines in meiner Erfahrung ungewöhnlich          Nystuen, J.: Identification of some fundamental spatial concepts,
offenen und konstruktiven Auftritts ist dies zutiefst bedenk-        in: Human Geography: An Anthology, edited by: Agnew, J., Li-
lich. Der Dialog zeugt von der dringenden Notwendigkeit,             vingstone, D., and Rodgers, A., Blackwell, Oxford, 590–599,
dass wir uns im Kontext des zunehmenden gegenseitigen                1996 [1963].
Nichtwissens bzgl. der Details anderer Ansätze nicht mit          Philo, C.: Well-being, mental health and the Smiths, in: Annual Lec-
der Feststellung zufriedengeben können, dass wir es „gut             ture, edited by: Smith, D. M., Queen Mary University of London,
                                                                     School of Geography, London, 26 November 2014.
meinen“, oder dass wir wohlwollend mit anderen in Dialog
                                                                  Philo, C.: Less-than-human geographies (Guest Editorial), Polit.
treten. Wir müssen einen Schritt weitergehen und unseren
                                                                     Geogr., 60, 256–258, 2017.
Sprachgebrauch ständig und reflexiv überprüfen. Sonst lau-        Rose, G.: Situated knowledges: positionality, reflexivities and other
fen wir Gefahr, unbewusste, ungewollte und uns selbst sowie          tactics, Prog. Human Geogr., 21, 305–320, 1997.
den Adressat*innen im Grunde unwürdige Unterstellungen            Rose-Redwood, R. and Smith, J.: Strange encounters: a dialogue on
über Kolleg*innen durch die Hintertür einzulassen.                   cultural geography across the political divide, J. Cult. Geogr., 33,
                                                                     356–378, 2016.

https://doi.org/10.5194/gh-75-319-2020                                                          Geogr. Helv., 75, 319–324, 2020
324                                                           M. G. Hannah: Kiel 2019: geographischer Dialog für die Zukunft?

Rose-Redwood, R., Kitchen, R., Rickards, L., Rossi, U., Datta, A.,   Wardenga, U.: Vergangene Zukünfte – oder: Die Verhalndlung neu-
  and Crampton, J.: The possibilities and limits to dialogue, Dia-     er Möglichkeitsräume in der Geographie, Geogr. Z., 108, 4–22,
  log. Human Geogr., 8, 109–123, 2018.                                 2020.
Schlottmann, A. und Wintzer, J.: Weltbildwechsel: Ideengeschich-     Weichhart, P.: Entwicklungslinien der Sozialgeographie: von
  ten geographischen Denkens und Handelns, UTB, Bern, 2019.            Hans Bobek bis Benno Werlen, Franz Steiner Verlag, Stuttgart,
Schurr, C. and Weichhart, P.: From Margin to Center? Theoretische      1998.
  Aufbrüche in der Geographie seit Kiel 1969, Geogr. Helv., 75,
  53–67, https://doi.org/10.5194/gh-75-53-2020, 2020.

Geogr. Helv., 75, 319–324, 2020                                                          https://doi.org/10.5194/gh-75-319-2020
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